Greifswalder Gespenster - Burkhard Wetekam - E-Book

Greifswalder Gespenster E-Book

Burkhard Wetekam

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Beschreibung

Auf blutiger Spurensuche in der Hansestadt Wo steckt der Biologe Malte Naujock? Den engagierten Naturschützer aus Greifswald zu finden, ist für Tom Brauer eine heikle Aufgabe. Denn nicht etwa Naujocks Familie macht sich Sorgen um ihn, sondern dessen heimliche Geliebte bittet den Privatermittler um Hilfe. Malte ist nicht das einzige Phantom im vierten Kriminalroman um Tom Brauer. Auch die Polizistin Sylke Bartel kämpft zwischen Museumshafen und Wallanlangen gegen schwer zu durchschauende Gegner. Eigentlich soll sie nur die unerfahrenen Kolleg:innen der Greifswalder Polizei schulen. Doch dann wird der pensionierte Regierungsrat Dr. Roland Krohnhorst tot aufgefunden und die zupackende Polizistin übernimmt die Teamleitung. Das junge Team ist jedoch wenig begeistert und geht eigene Wege. Als Sylke und Tom klar wird, dass es zwischen ihren Fällen Verbindungen gibt, bemüht sich Sylke um eine enge Zusammenarbeit. Oder geht es ihr um mehr? Tom ist verwirrt und begeht einen folgenschweren Fehler…

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Burkhard Wetekam

GREIFSWALDER GESPENSTER

»Greifswalder Gespenster« ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Gegebenheiten und Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Wolfram, den Freund der Biber

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

DER AUTOR

Prolog

»Du weißt, was du tun musst.« Unter der Maske klang die Stimme des Mannes dumpf und irgendwie verwaschen. Eine Hand, von der er nicht wusste, zu wem sie gehörte, presste seinen Kopf auf den Boden. Er konnte die feuchte Erde riechen und abgestorbene, faulige Biomasse.

»Was sagst du? Unterschreibst du?«

Er zog es vor zu schweigen. Das konnte er: schweigend protestieren. Eigenartigerweise verspürte er kaum Angst, nur eine sonderbare Form von Aufregung, gepaart mit Ungläubigkeit und der Lust, diesen Typen zu sagen, was er von ihnen hielt. Noch immer erstaunte es ihn, dass es solche Typen wirklich gab.

»Los, antworte!«

Ein Fußtritt traf ihn in die Seite, unterhalb des Rippenbogens. Für einen Augenblick blieb ihm die Luft weg. Hätte er nicht vorsichtiger sein müssen? War so etwas nicht zu ahnen, ja beinahe zu erwarten gewesen? Jetzt fühlte es sich doch ganz anders an, als er sich das ausgemalt hatte. Seine Hände krampften sich ins Gras, er spürte zarte Halme zwischen den Fingern, aber auch eine Gruppe fester Stängel, wie von Binsen. Konnte das sein? War es an diesem Ort, diesem Niemandsland zwischen Hafen und altem Friedhof, feucht genug für Binsengewächse? Es gab ja viele Arten, Hunderte mussten es sein, bekannt war vor allem die Flatter-Binse, Juncus effusus, mit ihren dichten, dunkelgrünen Horsten und den geradlinig aufstrebenden Halmen.

»Na, was ist?«

Der Kerl, der ihn bislang zu Boden gedrückt hatte, setzte nun einen kantigen Schuh auf seinen Nacken. Warum er das tat, wurde Sekunden später klar: Der Typ packte seinen linken Arm und drehte ihn schwungvoll nach oben. Zum ersten Mal machte ihm der Schmerz ernsthaft zu schaffen.

»Gut, dann eben anders. Wenn du bei Drei nicht gesagt hast, was ich hören will, breche ich dir einen Finger.«

Er versuchte ruhig zu atmen. Finger brechen! Waren die denn verrückt? Und so dämlich, bleibende Schäden zu hinterlassen? Um sich selbst zu beruhigen, begann er, die lateinischen Namen der ihm bekannten Binsenarten lautlos aufzuzählen: Juncus effusus, Juncus maritimus, Juncus subnodulosus, die aus Nordamerika eingewanderte und schon lange heimische Zarte Binse, Juncus tenuis, und nicht zu vergessen Juncus gerardii, die Bodden-Binse, die gern auf salzhaltigen Böden siedelt.

»Also: Du gehst jetzt nach Hause und unterschreibst das Papier, das in deinem Briefkasten liegt.«

»Arschloch. Sag deinem Chef, dass es so nicht läuft.«

Es war eindeutig nicht der richtige Moment, um über angemessene Formen von Kommunikation zu diskutieren. Seine Wange wurde noch fester in den lehmigen Boden gepresst. Er versuchte aus den Augenwinkeln etwas von dem Idioten zu erkennen, der ihn malträtierte. Aber er sah nur einen schwarzen Lederstiefel und ein Stück von einem Bein, das in einer Jeanshose steckte. Zwischen den Büschen hing die Morgendämmerung. Er liebte diese Zeit, gerade im Herbst. Fast jeden Tag drehte er hier eine Laufrunde.

»EINS!«

Der Mann gab seiner Stimme einen betont scharfen Klang. Aber war da nicht auch etwas Schwankendes? Die würden es nicht tun. Die blufften.

»ZWEI!«

Eine Hand packte seinen linken, kleinen Finger. Er musste schlucken. Jetzt war sie da. Die Angst. Er hatte es nicht wahrhaben wollen, aber jetzt hatte er Angst. Trotzdem sagte er nichts. Einfach nichts sagen. Nicht nachgeben. Sich nicht wegducken. Atmen und schweigen. Schweigen und atmen. Wenn er jetzt anfing, seine Grundsätze aufzugeben – wofür hatte er dann acht Jahre lang standgehalten?

»DREI!«

Das Knacken in seinem Finger war unverschämt laut. Und der Schmerz leuchtete greller als alles, was er bis dahin hatte leuchten sehen. Dieser Schmerz konnte einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Vielleicht empfand er den Schmerz deshalb als so unverschämt durchdringend, weil er sich angebahnt hatte. Es fehlte das Überraschungsmoment, das seinen Körper veranlasst hätte, eine größere Menge betäubendes Adrenalin auszuschütten. Der Schmerz raste seinen Arm hinauf und setzte seinen ganzen Körper unter Strom. Er wand sich jammernd auf dem feuchten Boden und rollte in eine Pfütze. Sein Magen rebellierte, er spuckte eine Portion Karottensaft ins schlammige Wasser, wo die orangefarbene Flüssigkeit ein florales, an den Jugendstil erinnerndes Muster ausbildete. Er krümmte sich zusammen und lag da wie ein Embryo, die kalte Nässe kroch wie ein Vorbote des Todes unter seine Jacke und sog sich in seine Jogginghose.

Als er wieder etwas klarer denken konnte, war der Maskenmann verschwunden. Er traute sich nicht, nach seinem entstellten Finger zu sehen, dem er zwischen den Oberschenkeln ein weiches Lager bereitet hatte. Stattdessen fiel sein Blick auf ein kleines, aber gut ausgebildetes Exemplar der Knäuel-Binse, Juncus conglomeratus. Die Schmerzstöße schüttelten den Namen spielend leicht aus seinem Gedächtnis. Auf dem Brachland war es also tatsächlich feucht genug für diese Art Binsen – eine überraschende und schöne Erkenntnis an einem sonst fürchterlichen Morgen.

1

Tanja Grundler war pünktlich und sie stand genau dort, wo sie sich verabredet hatten: an der Spitze der Mole, auf einer kleinen Aussichtsplattform. Sie trug eine weinrote Daunenjacke und blickte hinaus auf die Dänische Wiek, besser gesagt: in einen weiten Raum undurchdringlicher Grautöne. Als sie Toms Schritte hörte, wandte sie sich um.

Sie mochte um die vierzig Jahre alt sein, ihre Gesichtshaut war hell und auffallend glatt, unter dem Saum der Kapuze lugten braun gelockte Haare hervor.

»Ich mag diesen Nebel«, sagte sie.

»Ich hasse ihn.«

Er wollte nicht ganz so schroff wirken und schob noch eine Erklärung hinterher. »Mir wäre da draußen beinahe ein Angler vor den Bug gefahren.«

Sie hatte ihre Hände tief in den Taschen ihrer Jacke versenkt. So tief, dass Tom darauf verzichtete, sie mit einem Handschlag zu begrüßen. Er beschränkte sich auf ein Nicken.

»Ich habe beobachtet, wie Sie in den Hafen reingefahren sind. Das war fantastisch.«

»Wieso fantastisch?«

»Kennen Sie Rain, Speed and Steam – das Gemälde?«

Tom schüttelte den Kopf.

»Kennen Sie William Turner?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Dann haben Sie etwas verpasst. Niemand malt Dunst und Nebel so wie Turner. Auf Rain, Speed and Steam sieht man einen Zug mit Dampflok, genauer gesagt, man ahnt, dass es diesen Zug gibt, so sehr verschwimmt er mit den aufgewirbelten Elementen. Und obwohl man diesen Zug kaum erkennt, hat man das Gefühl, dass er mit einer großen Geschwindigkeit durch diese Dunstwolken rast – das ist einfach fantastisch. Und daran musste ich gerade denken. Ihr Boot war allerdings etwas langsamer.« Sie lächelte mitleidig. »Sie interessieren sich nicht für Kunst, oder?«

»Nicht wirklich. Meine Freundin ist zwar Künstlerin, aber …«

»Ach ja? Ist sie hier?«

»Nein, sie ist in Philadelphia, da hat sie ein Stipendium bekommen und …« Er brach ab. Nie im Leben hatte er vorgehabt, mit einer ihm völlig unbekannten Frau über Clara und ihre etwas überraschende Reise in die Vereinigten Staaten zu plaudern. Es war ein merkwürdiger Anfang. »Lassen Sie uns über Ihr Anliegen sprechen«, sagte er und fragte sich, warum sie sich überhaupt mit ihm verabredet hatte. Wollte sie ihn testen?

»Ist das Ihr eigenes Boot?«

Er nickte.

»Und während Sie hier sind, wohnen Sie darauf?«

Wieder nickte er.

»Toll. Das ist … irgendwie romantisch, oder?«

Tom hatte inzwischen den dringenden Wunsch, zur Sache zu kommen. Ihm war kalt, in seinem Gesicht hingen Wassertropfen, die lange Fahrt ohne Sicht hatte ihn angestrengt. »Wenn man es schafft, nicht an die Unterhaltskosten zu denken, ist das eine schöne Sache. Die MATHILDA ist nicht mehr die jüngste. Ich werde in den nächsten Tagen einige Reparaturen durchführen lassen, hinten in Greifswald.«

Die Frau in der weinroten Jacke lächelte. »Na, da schlagen Sie ja zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, dass Sie extra meinetwegen …«

»Um ganz ehrlich zu sein: Wenn ich diesen Aufenthalt hier nicht sowieso geplant hätte, dann wäre ich gar nicht nach Greifswald gekommen.«

Seine Offenherzigkeit enttäuschte sie, das spürte er. Aber so war es nun mal: Die dürftigen Informationen, die sie am Telefon herausgerückt hatte, deuteten darauf hin, dass er vermutlich nicht helfen konnte.

»Also«, begann sie, »ich denke …«

Abermals unterbrach Tom sie. »Wäre es wohl möglich, dass wir das Gespräch woanders als auf dieser nasskalten Mole führen? Drüben auf der anderen Seite des Hafens ist mindestens ein Restaurant geöffnet.«

Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Entschuldigung. Aber ich möchte hier nicht zu vielen Menschen begegnen. Ich habe meine Gründe.«

Tom schluckte seinen Ärger herunter. Er war nun entschlossen, die Sache möglichst zügig zu beenden. Tanja Grundler schien das zu spüren. Sie wurde plötzlich nervös. Mit einer ruckhaften Bewegung öffnete sie ihre Handtasche und reichte ihm eine Fotografie. »Dieser Mann ist verschwunden. Ich habe mehrmals bei ihm geklingelt, er reagiert nicht auf Anrufe und seine Nachbarn haben ihn auch seit etwa einer Woche nicht mehr gesehen.«

Die Fotografie zeigte einen Mittvierziger, der mit zusammengekniffenen Augen in die Welt blickte. Sonnengebräunte Haut, leicht zerzaustes Haar, Dreitagebart. ›Das Bild eines Abenteurers‹, dachte er. »Haben Sie die Polizei eingeschaltet?«

»Hab’s versucht. Ich bin keine direkte Angehörige. Die Polizei hat mit seiner Frau gesprochen, die von ihm getrennt lebt. Sie hält das Verschwinden wohl für normal und dieser Meinung hat sich die Polizei dann angeschlossen. Aber ich mache mir große Sorgen um Malte.«

Tom blickte über die Frau hinweg. Aus dem Nebel über dem Greifswalder Bodden tauchte das Bild eines Beziehungsdreiecks auf: Eine gekränkte Nicht-mehr-Ehefrau, eine besorgte Geliebte und dazwischen ein cooler Naturbursche, dem vielleicht alles zu viel geworden war. »Haben Sie mal darüber nachgedacht, ob Malte sich vielleicht absichtlich zurückgezogen hat?«

Seine Möchtegern-Auftraggeberin nahm ihm ohne Vorwarnung die Fotografie aus der Hand. »Das ist genau die Frage, die ich jetzt nicht hören wollte. Das ist so eine Beamtenfrage.«

»Sorry, aber solche Fragen müssen möglich sein.«

»Er hat sich noch nie auf diese Weise zurückgezogen! Er ist sonst sehr verbindlich, sehr klar im Umgang mit mir. Ja, er fährt manchmal spontan eine Weile weg. Aber er hat sich dann bislang immer bei mir gemeldet. Und ich weiß, dass er in Gefahr ist.«

»Was für eine Gefahr?«

Sie wich seinem Blick aus. Es schien so, als merke sie, dass alles komplizierter war, als sie sich das ausgemalt hatte. »Ja«, sagte sie zögernd, »das muss ich Ihnen dann wohl erzählen.«

Beinahe hätte Tom laut gelacht. »Wenn ich etwas für Sie tun soll«, rief er, jetzt fast schon wütend, »dann müssen Sie mir noch viel mehr erzählen. Sie müssen mir alles erzählen. Und Sie müssen sich darauf einstellen, dass ich vielleicht weniger für Sie tun kann, als Sie hoffen. Ich will ganz ehrlich sein: Ich habe nicht die gleichen Möglichkeiten wie die Polizei. Telefone abhören kann ich nicht, Wohnungen durchsuchen auch nicht. Ich habe andere, aber insgesamt weniger Möglichkeiten. Und ich brauche Anhaltspunkte. Alles, was Ihnen einfällt. Orte, Kontakte, private und berufliche Probleme. Sie werden mich von Anfang an bezahlen müssen, unabhängig vom Erfolg meiner Arbeit. Denken Sie darüber nach, ob Sie mich wirklich engagieren wollen.«

Während er gesprochen hatte, war Tanja Grundler einen Schritt zurückgewichen, bis an das Eisengeländer der kleinen Plattform. Sie sah ihn überrascht an. Dann musste sie lachen. Es war ein etwas hilfloses, fast schon verzweifeltes Lachen. »Das war jetzt aber keine Bewerbungsrede, oder?«

2

Tom hatte sich darauf eingelassen, weiter über den Auftrag zu sprechen, nachdem Tanja Grundler sich ihrerseits darauf eingelassen hatte, das Gespräch in ein Restaurant zu verlagern. Sie gingen zurück über den Steinwall, von rechts trafen sie die mürrischen Blicke dreier Holzfiguren, die hier Wind und Wetter ausgesetzt waren. Verhangener Gesichtsausdruck, stoischer Geradeausblick, hängende Mundwinkel – war das die besondere Herzlichkeit, mit der man von Greifswald hinaus in die Welt blickte?

Sie passierten das Hotel Utkiek, das auf Betonstelzen errichtet war, dann folgte der futuristisch anmutende Sperrwerksbau, der das Landesinnere vor Überflutungen schützen sollte. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, auch auf den vereinzelten Booten im Hafen regte sich nichts. Ein Angler saß zusammengekauert auf einem Poller und hielt seine Angel so reglos ins Hafenbecken, dass man ihn für eine Statue hätte halten können.

Sie überquerten den Ryck auf der berühmten Wiecker Klappbrücke, aber an diesem dämmerigen Spätnachmittag schien sich niemand für das beliebte Fotomotiv zu interessieren. Die galgenartige Balkenkonstruktion erhob sich bedrohlich über dem braun-grünen Wasser.

Das Restaurant Il Ponte hatte nach der Nachmittagspause gerade erst wieder aufgemacht. Für die Gäste, die zum Abendessen hier einkehren würden, war es noch zu früh, sodass sie vorerst den gesamten Gastraum für sich hatten. Über den verschwundenen Mann wusste Tom nach wie vor nicht viel.

Seine potenzielle Auftraggeberin unterhielt sich weiterhin lieber über Kunst. »Die Klosterruinen von Eldena kennen Sie wohl auch eher nicht? Die berühmten Bilder von Caspar David Friedrich? Wundervoll! Sie zeigen, wie vergänglich die großen menschlichen Leistungen sind, aber sie trösten uns auch mit ihrer Schönheit. Wenn Sie schon hier sind, können Sie sich natürlich auch die ganz realen Ruinen ansehen.«

»Die sind in der Nähe, oder?«

Tanja Grundler schien ein Seufzen über Toms Unwissenheit unterdrücken zu müssen. Sie deutete über das Hafenbecken hinweg. »Zehn Minuten zu Fuß von hier. Ich denke, wir müssen Sie etwas fit machen, damit Sie bei Ihrer Künstlerfreundin mithalten können, wenn die aus Amerika zurück ist. Die Ruinen müssen Sie sich unbedingt ansehen, am besten morgen früh, da soll es wieder sehr nebelig werden. Das gibt eine fantastische Atmosphäre.«

»Leider muss ich dann das Boot startklar machen, um die erste Brückenöffnung nicht zu verpassen.«

Sie schüttelte den Kopf, fast schon verzweifelt über seine Ignoranz, und erzählte etwas von einem weiteren Bild, das im Pommerschen Landesmuseum zu sehen war: Der Greifswalder Hafen, gemalt von einem gewissen Johann Friedrich Boeck. »Ein majestätisches Segelschiff im Zentrum, dahinter Speichergebäude und die Altstadt mit ihren Kirchtürmen. Die Szene ist in ein ganz eigenartiges Licht getaucht, mit einem gelb-bläulichen Abendhimmel. Im Vordergrund drei Männer, sie wirken etwas unheimlich, weil man nur ihre dunklen Silhouetten sieht. Aber sie haben einen Topf über ein Feuer gehängt. So eine Suppe hat ja dann auch wieder etwas Gemütliches.«

»Vielleicht kochen sie ja auch Pech, zum Abdichten für einen Schiffsrumpf.«

Tanja Grundler gab ihre Bemühungen lachend auf. »Nein, Sie sind kein Romantiker, wirklich nicht.«

Tom wurde nicht schlau aus ihr. »Sollten wir vielleicht wieder über … «

Sofort unterbrach sie ihn. »Ja, ich bin einfach nicht auf Kurs – Entschuldigung. Aber diesen einen Satz muss ich noch loswerden: Wenn ich diese Gemälde betrachte, dann habe ich das Gefühl, mich an einem magischen Ort zu bewegen. Und das wiederum verzaubert die realen Orte. Wenn du dann zum Hafen gehst, hörst du die Rufe der Schiffer, das dumpfe Grollen, wenn sie Fässer auf die Mole rollen, du riechst das Holz, den Duft von Gewürzen …«

Gerade in diesem Augenblick schlug Tom aus der Küche eine Wolke entgegen, die mit dem Aroma von Knoblauch und gebratenen Sardellen gesättigt war. ›Greifswald an der Adria‹, dachte er. »Sie mögen es, sich in andere Welten zu versetzen, oder?«

Sie sah ihn von der Seite an. »Der Traum von einer anderen Existenz ist das, was mich am Leben hält.«

Damit waren sie endlich wieder beim Thema. Während Tom an einem starken, schwarzen Kaffee nippte, bekam er einen vorläufigen Überblick: Malte Naujock war studierter Biologe und engagierter Umweltschützer. Er hatte bis vor eineinhalb Jahren in einem Dorf im Landkreis gewohnt und dort ehrenamtlich ein Naturschutzgebiet betreut. Nach der Trennung von seiner Frau hatte er seinen unbefristeten Job bei der Kreisverwaltung gekündigt und war in die Innenstadt von Greifswald gezogen. Inzwischen lebte er von spärlichen Honoraren, die ein Lehrauftrag an der Universität und Schulungen für Angestellte aus Naturschutzbehörden abwarfen. Malte brachte den Sachbearbeitern praktische Naturschutzarbeit nahe, indem er mit ihnen spätabends oder frühmorgens in unwegsamen Flussauen Vögel, Biber und Reptilien beobachtete. Er erklärte den Büromenschen, wie alles zusammenhing und warum es sinnvoll ist, in einem Bibergebiet wasserdichte Schuhe zu tragen.

»Für mich klingt das so, als ob da jemand ein wenig aus der Bahn geraten ist«, kommentierte Tom das, was ihm Tanja Grundler berichtete. Aber sie hob abwehrend die Hand. »Das stimmt so nicht. Ich würde es genau andersherum sehen: Malte ist von der breiten Straße der Kompromisse auf den Pfad abgebogen, der seiner inneren Wahrheit entspricht. Er hat sich von einigen Lebenslügen getrennt und ist sich dabei selbst ein Stück nähergekommen. Viel näher.«

»Bemerkenswert«, sagte Tom. Es sollte nicht abfällig klingen, aber er konnte den ironischen Unterton nicht vollständig unterdrücken. Er musste sich zusammenreißen. »So eine Richtungsänderung hat sicher ihren Preis, oder?«

Sie schien für einen Moment in sich hineinzuhorchen. »Es war ein tiefgreifender Bruch, ganz bestimmt. Das Verhältnis zu seiner Ex-Frau ist schwierig. Er hat auch eine neunzehnjährige Tochter, die sich anfangs komplett von ihm abgewandt hat. Inzwischen geht es wohl etwas besser. Aber entscheidend für Malte sind die Kontinuitäten: Er hat schon immer für die Natur gelebt – das kann er jetzt kompromissloser und ehrlicher. Er zeigt Menschen, wie lebendig die Welt abseits der Straßen ist, wie wunderbar alles zusammenwirkt. Und wie bedroht das ist, was scheinbar selbstverständlich neben uns her existiert. Das mag ich so an ihm: Diese Konsequenz und wie er ganz in seiner Leidenschaft für Pflanzen und Tiere aufgeht. So haben wir uns auch kennengelernt, bei einer Exkursion in seinem früheren Biberrevier. Ich war so hingerissen von der Art, wie er alles erklären kann. Er hat ein ganz eigenes, manchmal inniges, manchmal auch kumpelhaftes Verhältnis zu dem, was da fleucht und kreucht. Das klingt jetzt komisch, aber er ist mit der Natur tief im Innern verbunden, und das kann er so vermitteln, dass du das Gefühl hast …«

Sie hielt plötzlich inne und sah Tom peinlich berührt an. »Jetzt habe ich angefangen zu schwärmen. Und ich habe ‚du’ gesagt. Das ist ja hier alles sehr persönlich. Sollen wir beim Du bleiben? Ich mache mir wirklich große Sorgen um ihn.«

Tom musste lächeln. Eigentlich war es ihm wichtig, zu seinen Auftraggebern eine gewisse Distanz zu bewahren. Aber in diesem Augenblick empfand er für die Frau, die sich in einem Strudel der Gefühle drehte, zum ersten Mal Sympathie. »Gut, bleiben wir beim Du«, sagte er etwas onkelhaft. »Aber du solltest mir jetzt erzählen, warum du dir Sorgen machst. Habe ich das vorhin richtig gehört: Du glaubst, Malte sei in Gefahr?«

Tanja stellte ihre Tasse, die sie gerade erst zum Mund führen wollte, mit ernster Miene wieder ab.

»Nicht ohne Grund. Malte besitzt ein Stück Land, das er von einer Tante geerbt hat. Es liegt in einem Gebiet, das die Friedländer Große Wiese genannt wird, eine trockengelegte Moorlandschaft, von vielen Gräben durchzogen. Man kann dort nur in Maßen Landwirtschaft betreiben, die Bauern mähen das Gras, um es ans Vieh zu verfüttern oder für die Erzeugung von Biogas. Eigentlich nichts Spektakuläres. Nun soll aber auf der Friedländer Großen Wiese ein Windpark gebaut werden. Die Pläne existieren seit Jahren. Malte weigert sich, sein Land zu verkaufen oder zu verpachten. Er hat Bedenken, weil durch die Windräder Vögel und Fledermäuse getötet würden. Und von beiden gibt es da recht viele.«

»Kann denn ein einzelner Grundstücksbesitzer die Pläne blockieren?«

Sie nickte. »Maltes Land liegt so zentral im Planungsgebiet, dass der Windpark ohne seine Zustimmung nicht gebaut werden kann.«

»Seine Weigerung ist also der Grund, warum du dir Sorgen machst?«

Tanja presste die Handflächen aneinander. »Er hat anonyme Drohanrufe bekommen, sein Auto wurde zerkratzt und ein toter Vogel lag in seinem Briefkasten. Bei dem Projekt geht es um viele Millionen. Die Firma, die den Park geplant hat, steckt da seit Jahren Geld rein. Und die anderen Landbesitzer könnten mit den Pachtzahlungen gut verdienen. Ich weiß nicht, wer hinter diesen Attacken steckt. Es kommen einige in Frage.«

Instinktiv blickte Tom sich um, aber das nahezu leere Restaurant machte einen zutiefst friedlichen Eindruck. Nur ein Kellner lehnte seitlich an der Theke und blätterte in einem Notizblock.

»Hast du auch Angst?«, fragte Tom. »Ist das der Grund, warum du niemandem begegnen willst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Problem. Aber ich bin verheiratet und mein Mann weiß nichts von Malte und mir. Er ist Pastor in Ueckermünde. Das macht die ganze Sache kompliziert. Wenn mich hier zufällig jemand aus unserem wunderschönen, aber auch beengenden Ort sieht, zusammen mit einem unbekannten Mann, dann geht das Gerede los.«

Allmählich vervollständigte sich das Bild. Nach wie vor hatte Tom große Zweifel, dass er viel erreichen würde. Er stellte Tanja die Frage, vor der sie sich zu fürchten schien. »Ich hätte gern eine ehrliche Einschätzung von dir. Was, denkst du, ist mit Malte passiert?«

Sie hob die Schultern und zögerte lange mit der Antwort. »Ich … ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie ihn entführt. Eingesperrt, irgendwo in einem Keller. Vielleicht wollen sie ihn zwingen, das Land zu verkaufen. Oder schlimmer noch: Er wurde … ich darf gar nicht dran denken. Das ist es, was mir Angst macht. Wirklich.«

3

Sylke Bartel schob ihre Papiere zusammen und blickte den Anwesenden reihum in die Augen. »Vielen Dank, so viel für heute. Ihr wisst, das war unser letzter gemeinsamer Tag. Ich komme morgen Vormittag nochmal vorbei, um mich zu verabschieden. Philipp, kannst du noch einen Moment bleiben?«

Während die Kolleginnen und Kollegen der Greifswalder Polizei ihre Sachen einpackten, lehnte Sylke am Fensterbrett und nickte denjenigen zu, die den Schulungsraum verließen. Sie trug eine schwarze Stoffhose und eine meerblaue Bluse, hatte dieser eher gedeckten Kombination aber ein cremefarbenes Halstuch mit feinen, blutroten Streifen entgegengesetzt. Erst im Laufe des Tages war ihr aufgefallen, dass diese Farbgebung in einem Workshop, in dem es um die Aufklärung von Gewaltverbrechen ging, einen sonderbaren Eindruck erwecken konnte. Aber die jungen Kollegen schien es in dieser Hinsicht glücklicherweise an Interpretationslust zu fehlen.

Das Greifswalder Kriminalpolizeikommissariat hatte erst vor wenigen Monaten zusammen mit anderen Dienststellen das neue Polizeihauptgebäude in der Brinkstraße bezogen. Gänge, Wände, Böden – alles wirkte noch glatt und sauber, die modisch grünen Bauelemente erinnerten Sylke an Schulgebäude, die um jeden Preis hipp wirken wollten. Und dazu passte diese neu zusammengewürfelte Truppe aus Nachwuchskräften, die sich durch eine Kombination aus Übermotiviertheit, Naivität und Lässigkeit auszeichnete.

Sylke war sich in den letzten Tagen oft alt vorgekommen. Dabei war sie selbst auch noch gar nicht so lange bei der Kriminalpolizei. Offenbar waren die leitenden Kräfte der Meinung, dass ihre wechselvolle Karriere sie dafür qualifizierte, einen Haufen junger Leute in ein professionell arbeitendes Team zu verwandeln.

»Warum läuft es nicht, Philipp? Was denkst du?«

Der dunkelhaarige Mittdreißiger stand etwas verloren zwischen den u-förmig aufgestellten Tischen. Er war nicht groß, aber von kräftiger Statur, trug einen grauen Rollkragenpullover und einen Backenbart, der wohl seine Abenteuerlust hervorheben sollte. Seine linke Hand hatte er in die Tasche seiner Jeanshose eingehängt, die rechte fuchtelte ziellos in der Luft herum.

»Wir haben die Abläufe noch nicht verinnerlicht.«

»Welche Abläufe willst du denn noch verinnerlichen?«

»Na ja, Tatortuntersuchung, Zeugenbefragung, Gerichtsmedizin, Motivbewertung und dann die zirkuläre Struktur der …«

»Philipp, das ist doch alles Kinderkram. Die Arbeitsschritte kennt ihr. Wie konnte es trotzdem passieren, dass bei der Entführungslage die Überwachung der Ex-Frau des Verdächtigen vergessen wurde? Und warum habt ihr bei dem toten Obdachlosen im Stadtpark nicht gemerkt, dass es sich um eine Kopie des Falles von vor zwei Jahren handelte? Ich habe diese Übung einfach nur aus den Akten abgeschrieben.«

Während Sylke auf den jungen Polizisten einredete, hatte dieser nach seinem Mantel gegriffen und einen Apfel aus der Tasche gezogen. Es war Sylke schon mehrfach aufgefallen, dass Philipp in schwierigen Situationen Obst aß. Sie fand das einigermaßen kurios und hatte ihm insgeheim den Decknamen Fruchtzwerg gegeben. Kauend unternahm der Fruchtzwerg jetzt halbherzige Rechtfertigungsversuche. »Wir hätten das besser strukturieren müssen.«

»Ihr hättet miteinander reden müssen! Kommunikation ist alles.«

»Aber wir haben doch die täglichen Briefings angesetzt.«

»Lisa hatte gute Ideen, das hast du gar nicht mitbekommen. Du musst auch auf die hören, die nicht lautstark losquatschen. Ich hätte nicht gedacht, dass das so schwierig ist. Aber das scheinbar Einfache ist in Wirklichkeit wohl oft das Komplizierte.«

Philipp strich sich mit der freien Hand durch die Haare. »Ja, wir haben hier einige Defizite. Das sehe ich auch so. Die Kollegen …«

»Schieb es nicht auf die Kollegen«, unterbrach Sylke ihn. »Wenn du Dienstgruppenleiter werden willst, dann du bist dafür verantwortlich, dass jede und jeder sich mitteilt. Und dass alle die Zusammenhänge kennen. Ich hatte heute zeitweise das Gefühl, dass fünf Tage Schulung komplett an euch vorbeigegangen sind.«

Philipp verzog den Mund, bevor er grimmig in seinen Apfel biss. Es war Sylke nicht klar, ob er damit seine Verachtung für die Workshopleiterin oder Selbstkritik ausdrücken wollte. War sie zu streng? Überspielte sie mit ihrer Härte ihre eigene Ratlosigkeit? Während sie noch grübelte und Philipp versuchte, seinen halblangen Wollmantel überzuziehen, ohne ihn mit dem angebissenen Apfel zu berühren, öffnete sich die Tür. Eine uniformierte Kollegin steckte ihren Lockenkopf in den Seminarraum. »Entschuldigung, da ist gerade ein Anruf aus Wolgast gekommen. Die wollen wissen, ob das Team hier schon einsatzbereit ist.« Sie blickte zwischen Philipp und Sylke hin und her, wartete aber keine Antwort ab. »Da draußen wurde irgendwo eine Leiche gefunden.«

Obwohl er sich mit seinem Mantel regelrecht gefesselt hatte, schaffte es Philipp, sich an der Schläfe zu kratzen. »Damit erwischen die uns jetzt gerade auf dem ganz falschen Fuß. Ich würde sagen …«

»Das Team ist bereit und übernimmt die Sache«, sagte Sylke trocken. »Legen Sie alle Anrufe auf die bekannte Nummer um und leiten Sie alle Infos unverzüglich weiter.«

Die Sachbearbeiterin nickte und zog sich zurück. Philipp drehte sich verwirrt zu Sylke um. »Es ist doch noch gar nichts organisiert.«

»Dann tust du das jetzt. Das ist deine Chance. Ein perfekter Einstieg.«

Er schluckte und sah sie mit einem Kleine-Jungen-Blick an. »Und was machst du?«

»Meine Zeit hier ist zu Ende.« Sie kostete die lange Pause aus, die sie ihren Worten folgen ließ. »Aber wenn du willst, fahre ich noch mit raus zum Fundort der Leiche und unterstütze euch.«

4

Eine Gruppe Spaziergänger, drei Jugendliche mit Fahrrädern, eine Mutter und zwei Kinder im Grundschulalter – sie alle standen am hoheitlichen Flatterband und starrten einen Hang hinunter auf die von Bäumen bestandene Niederung. Zwischen den Büschen hindurch waren im Dämmerlicht des beginnenden Abends die Umrisse eines Körpers zu erkennen, ein korpulenter Mann im durchnässten Mantel, auf dem Bauch liegend. Einen halben Meter neben dem Toten plätscherte der Bach, als wäre nichts geschehen. Oder als wäre das, was geschehen war, im Lauf der Dinge nicht von Bedeutung.

»Seid ihr denn bescheuert!?«, rief Sylke den beiden Beamten zu, die zuerst am Fundort angekommen waren und sich um die Absperrung gekümmert hatten. »Sollen die Kinder wirklich direkt auf den Toten starren?«

Die beiden Uniformierten beeilten sich, die Schaulustigen wegzuscheuchen, und versetzten die Absperrung zwanzig Meter hangaufwärts. Sylke wusste, dass ihr Auftreten mitunter als barsch empfunden wurde, aber sie hatte kein Problem damit. Es war ihr wichtig, gleich im ersten Moment zu zeigen, dass sie von allen die volle Leistung erwartete. Philipp und Lisa, die beiden jungen Kriminalbeamten, sahen sich schuldbewusst an. Die Sache mit der Absperrung hätte ihnen ja auch auffallen können. Gemeinsam stiegen die beiden die feuchte Wiese hinab und beugten sich für eine erste Sichtung über den Toten. Lisa deutete auf eine Stelle am Hinterkopf, während Philipp vorsichtig den Mantelkragen anhob, um das Gesicht erkennen zu können.

Mit Unbehagen sah Sylke den beiden von etwas weiter oberhalb zu. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich in einer miserablen Stimmung war. Der erste kleine Fehler – und schon traute sie den beiden nicht zu, diesen Fall zu lösen. Oder war sie nur enttäuscht, dass sie selbst morgen wieder abreisen würde, um ihren Dienst in Stralsund aufzunehmen?

Vom nächsten Dorf näherte sich ein betagtes Feuerwehrauto. Es wurde höchste Zeit, sie brauchten Licht, bevor es ganz dunkel wurde. Wenigstens das klappte.

Sie atmete tief ein. Die Luft war klar und frisch, gar nicht so nebelschwer wie in Greifswald. Als sie gerade den Hang hinabsteigen wollte, um sich ebenfalls ein Bild von der Situation zu machen, bemerkte sie etwas weiter bachaufwärts eine Bewegung. Sie suchte nach einem Durchlass im dichten Gebüsch, rutschte dabei aus und glitt auf dem Hosenboden zwei Meter abwärts. Fluchend schlug sie sich durch einen widerspenstigen Strauch und stand vor einem Mann, der sich an einem Stapel aus Ästen zu schaffen machte.

»Hey, was machen Sie denn hier!?«

Der Mann drehte sich um. Er war etwa fünfzig Jahre alt, untersetzt und steckte in einem olivgrünen Parka, der schon bessere Tage gesehen hatte. Er hatte ein rundliches Gesicht mit hängenden Wangen und kleinen, munteren Augen. An seiner Stirn klebten Strähnen seines dünnen Haars. Besonders intelligent sah er nicht aus.

»Ich repariere den Damm.«

»Hier ist möglicherweise ein Verbrechen passiert. Sie werden hier auf der Stelle verschwinden!«

Wieder dieser grobe Tonfall. Dieses Riesenbaby machte sie wirklich sprachlos. Hatte der denn gar nichts mitbekommen?

»Ich bin hier Naturschutzwart. Es ist mein Recht, den Biberdamm zu reparieren.«

»Sie haben im Augenblick überhaupt kein Recht. Zu gar nichts.«

Der Dicke sah sie erstaunt an. »Verdächtigen Sie etwa die Biber?«

Sylke war nicht klar, ob der Mann begriffsstutzig war oder über einen besonders merkwürdigen Humor verfügte. »Im Augenblick verdächtigen wir jeden. Absolut jeden. Von mir aus auch die Biber.« Der Dicke schien eine Spur blasser geworden zu sein. Er zog sich von dem Aststapel zurück. Sylke bemerkte jetzt, dass sich der Stapel tatsächlich fortsetzte und quer über den gesamten Bachlauf erstreckte. Es war ein nach allen Regeln der Kunst errichteter Damm: getragen von einem Gerüst aus Hölzern, das mit Lehm abgedichtet worden war. Solide Ingenieurskunst, ausgeführt von scheinbar tollpatschigen Nagetieren, die vermutlich nicht einmal ein halbes Semester Statik studiert hatten. Etwa zwei Meter vom Ufer entfernt hatte jemand eine Kerbe in den Staudamm geschlagen.

Einer beiden Streifenpolizisten brach geräuschvoll durchs Unterholz. Er hatte wohl von oben die lautstarke Diskussion mitbekommen.

»Das ist … äh … Herr Pölzner, unten aus dem Dorf. Er hat die Leiche gefunden.«

Sylke sah den Kollegen entgeistert an. Wieso hatte der nicht gleich bei ihrem Eintreffen … Ihre Missstimmung bekam neue Nahrung. »Das wird jetzt aber höchste Zeit, dass Sie das mal erwähnen!« Sie wandte sich Pölzner zu. »Kommen Sie doch bitte mal mit mir an die Seite.«

Der Dicke trennte sich nur ungern vom beschädigten Biberdamm. Gerade, als sie den Abhang hinaufstiegen, knallte ihnen gleißendes Licht in die Augen. Zwei Strahler auf Teleskopstangen verwandelten die gesamte Szenerie in eine Bühne, auf der ein Dutzend Personen ihre Rolle spielte, scheinbar routiniert, auf jeden Fall gefasst und mit Konzentration. Auch die Matschflecken auf Sylkes Hose waren nun gut zu erkennen. Ein Dornenzweig hatte zudem einen Riss am Oberschenkel erzeugt. Sie versuchte, ihren Ärger abzuschütteln, aber sie hatte das Gefühl, dass es nicht mehr lange gut gehen würde.

Oberhalb der Fundstelle trafen sie auf Philipp. Sylke erklärte ihm kurz, wer Pölzner war. Sie kaperten einen gerade eintreffenden Polizeibus für eine erste Befragung. Sylke wies Pölzner an einzusteigen und schloss die Tür, sodass der Zeuge nicht hören konnte, was sie mit Philipp draußen besprach. »Wie sieht es bei der Leiche aus?«

Philipp wirkte angespannt. »Massive Gewalteinwirkung am Hinterkopf. Stumpfer Gegenstand. Ob das tödlich war, weiß ich nicht, aber er hat auch Schlammspritzer im Gesicht. Vielleicht gab es einen Kampf. Auf jeden Fall müssen wir von einem Tötungsdelikt ausgehen. Wir sollten einen Fußabdruck vom Zeugen nehmen, um zu sehen, welche Fußspuren außer seinen noch zu finden sind.«

»Gut«, sagte Sylke zum Erstaunen des jungen Kollegen. Dann schob sie ihn in den Polizeibus und nahm neben ihm Platz. Pölzner beobachtete mit zusammengepressten Lippen, wie Philipp Schreibblock und Aufnahmegerät zurechtlegte. Er arbeitete den üblichen Fragenkatalog ab. Pölzner hatte die Leiche bei einem Kontrollgang gegen 16:30 Uhr entdeckt und die Polizei benachrichtigt. Er hatte den Toten nicht berührt, weil er sich sofort sicher gewesen war, dass da nichts mehr zu machen war. Aber er hatte ihn erkannt: Es handelte sich um Dr. Roland Krohnhorst, einen pensionierten Regierungsrat, der in der Gegend Jagdpächter war.

»In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Toten?«, fragte Philipp. Der Naturschutzwart zögerte einen Moment. »Verhältnis? Ich hab den nur flüchtig gekannt. Wir trafen uns gelegentlich hier draußen.«

»Sie sind doch sicher oft hier?«

»Ja, schon. Wir vom Heimatverein kümmern uns ja um das Gebiet. Die Biber breiten sich hier im ganzen Tal aus. Überall bauen sie Staudämme, es entstehen große Seen. Und dann …«

»Der Herr Krohnhorst, war der auch so begeistert von den Bibern?«

Pölzner lachte verlegen. »Na ja, die Biber sind jetzt nicht gerade sein größtes Hobby – gewesen. Aber er musste natürlich auch einsehen, dass sie hier vieles verbessern: Wir haben, seit die Biber da sind, mehr Fische und Insekten. Es gibt hier Prachtlibellen, die waren früher nie hier, wir haben sogar die Europäische Seekanne beobachtet, die steht auf der Roten Liste und …«

»Ja, interessant«, unterbrach Philipp ihn. »Noch mal zu Dr. Krohnhorst: Gab es da Konflikte wegen der Biber?«

»Wie … äh … was für Konflikte?«

»Na ja, diese ganzen Stauseen, das verändert ja die Landschaft. Man kommt nicht mehr so gut durch.«

»Gut, ja, das fand er wohl nicht so toll. Etwas weiter oben steht tatsächlich ein Ansitz unter Wasser. Aber die Tiere sind hier geschützt, da gibt es Gesetze, und gerade in diesem Gebiet soll speziell der Biber machen können, was er will.«

»Es gab also Streit.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber Sie haben doch gesagt, dass Dr. Krohnhorst die Biber nicht so toll fand. Woher kommt denn diese große Kerbe in den Damm?«

»Ja, die hat wohl irgendwer da reingemacht.«

»Vielleicht Dr. Krohnhorst?«

Pölzners Gesicht war zunehmend rot geworden. Obwohl es im Polizeibus nicht gerade warm war, glänzte seine Stirn. Er sah hilfesuchend zu Sylke rüber, aber Sylke schwieg und beobachte ihn mit einem sphinxhaften Lächeln.

»Ich weiß es nicht«, sagte Pölzner schließlich.

»Aber Sie vermuten es.«

»Nein, ich weiß es nicht. Und ich will es auch nicht vermuten.«

»Wissen Sie, was ich glaube? Ich glaube, …«

Es war der Moment, in dem Sylke nicht mehr stillsitzen konnte. Sie griff Philipps Unterarm. »Lass uns draußen kurz weiterreden, ja?«

Mittlerweile war es beinahe dunkel geworden. Die Luft war kühl, fast schon winterlich kalt. Sylke schloss die Schiebetür des Polizeifahrzeugs. »Was war das denn jetzt? Du legst einem Zeugen lauter Dinge in den Mund und dann setzt du an zu einer Beschuldigung? Ist dir klar, was du damit anrichtest?«

Philipp verzog trotzig den Mund. Sylke fuhr mit ihrer Strafpredigt fort. »Wenn du ihn beschuldigst, musst du ihn darüber informieren, dass du ihn als Beschuldigten betrachtest. Du musst ihm seine Rechte erklären. Sonst ist alles, was du hier besprichst, hinfällig. Du bekommst einen Riesenärger mit der Staatsanwaltschaft.«

»Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte. Ich hätte ihm als Nächstes erklärt, dass ich seine Rolle bei dieser Sache für unklar halte und ihn ab sofort als Beschuldigten führe.«

Sylke schüttelte den Kopf. »Das ist doch Blödsinn! Es ist viel zu früh. Wir haben kein gerichtsmedizinisches Gutachten, keine Spurenuntersuchung, wir wissen nichts. Und du willst den armen Mann hier gleich zum Täter stempeln? Dann taucht der morgen mit seinem Anwalt auf und sagt kein Wort mehr. Abgesehen davon, dass du suggestiv vorgehst, verschlechterst du so deine Position. Selbst wenn du das Gefühl hast, er könnte der Täter sein – warte ab. Lass dir nicht sofort in die Karten schauen! Solange er denkt, dass wir nur seine Unterstützung benötigen, sagt er vielleicht interessante Dinge.«

»Um sich selbst zu entlasten.«

»Das kannst du dann ja einordnen, oder?«

Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete den jungen Beamten, der nervös seinen Bart bearbeitete. Sylke hatte beinahe Mitleid. Aber nur beinahe. »Ist nicht dein bester Tag heute, was?«

Er zuckte mit den Schultern. Sie gab ihm einen aufmunternden Stoß. »Pass auf. Du gehst jetzt wieder in den Bus, bedankst dich für die Aussage, und für morgen bekommt er noch mal eine höfliche Einladung aufs Revier.«

»Du willst ihn einfach so laufen lassen? Wir müssen noch nach seinem Umfeld fragen. Wer ist außer ihm hier noch aktiv? Wer hat was gegen Krohnhorst? Pensionierter Regierungsrat – hier gibt’s bestimmt noch Leute, die ihn nicht mögen.«

»Das machen wir alles morgen.«

»Wir?«

»Ich meinte natürlich: ihr.«

Sylke wandte sich abrupt ab. In diesem einen Punkt hatte Philipp recht: Sie musste sich raushalten. Unbedingt. Sonst würde sie am Ende noch für die unprofessionell geführten Ermittlungen mitverantwortlich gemacht. Sie sah zu, wie er wieder im Polizeibus verschwand, und ging ein paar Schritte den Hang hinauf, bis knapp unter die Hügelkuppe. Von dort oben wirkte die Szenerie rund um den Fundort der Leiche unwirklich. Das kalte Licht der Scheinwerfer ließ die Gestalten in den weißen Schutzanzügen aussehen, als wären sie von innen erleuchtet. Über der Fundstelle war ein Schutzzelt aufgebaut worden, die Beamten untersuchten das Opfer und durchkämmten das Unterholz, zwei Bestatter warteten am Rand des Geschehens auf ihren Einsatz. All das löste bei Sylke ein gewisses Kribbeln aus, das sie nur zu gut kannte. Da war Empathie mit dem Opfer, da war auch der Wunsch nach Gerechtigkeit, nach dem Finden eines gefährlichen Täters. Vor allem aber hatte sie ein dringendes Bedürfnis, das Wirrwarr von Informationen zu ordnen, die nebeneinander laufenden Aktivitäten zu steuern, ihnen Struktur und Richtung zu geben. Ordnung in eine Ermittlung bringen, jeden Schritt zur richtigen Zeit tun, wie ein Wanderer, der sich auf einem schmalen Grat bewegt – das empfand sie als zutiefst befriedigende Tätigkeit. Und da lag wohl auch der eigentliche Grund dafür, dass sie sich auf Umwegen bis zur Kriminalpolizei durchgeschlagen hatte: Sie wollte etwas verstehen, das im ersten Moment unbegreiflich erscheint. Und sie hatte große Lust, die Zügel in diesem Fall selbst in die Hand zu nehmen.

5

Als Tom aus dem Mietwagen stieg, hatte er sich verwandelt: Anstatt eines abgetragenen Pullovers trug er ein gebügeltes, dunkelgrünes Hemd und sein einziges Jackett. Am Morgen hatte er sich sorgfältig rasiert, gekämmt und mit Haargel eine stilvolle Frisur gebastelt. Seine Lederschuhe waren geputzt und entgegen aller Gewohnheit saß eine Brille mit Goldrand auf seiner Nase. Die Gläser hatten keine Funktion, aber die Brille ließ ihn deutlich seriöser erscheinen, also ungefähr so, wie er sich einen Investor mit viel Geld vorstellte. Als Leihwagen hatte er sich ein Fahrzeug der Oberklasse geleistet. Tanja Grundler würde sich über seine Spesenrechnung die Haare raufen.

Die Starkwind AG hatte ihren Hauptsitz in Anklam, unterhielt aber auch Niederlassungen in Frankfurt (Oder) und Potsdam. Das Unternehmen plante Windparks, meistens im Auftrag von Energiekonzernen oder Investoren. Das Dienstleistungsangebot umfasste außerdem die technische Überwachung des laufenden Betriebs, Instandhaltung und Reparaturen. So stand es jedenfalls auf der Internetseite, mit der sich Tom gründlich beschäftigt hatte.

Das Unternehmen war in einem unauffälligen, weißen Zweckbau am Stadtrand untergebracht, vermutlich noch aus der Vorwende-Zeit, aber grundlegend saniert und sehr gepflegt. Auf dem Flachdach erkannte Tom aufgeständerte Solarpanels. Er sah sich kurz auf dem rückwärtigen Parkplatz um, bevor er sich auf den Weg zum Haupteingang machte und sich am Empfang meldete. Wenig später stand ein Mittvierziger mit gelocktem Haar und leichtem Bauchansatz vor ihm und reichte ihm die Hand.

René Jagel trug keine Krawatte, aber ein seidig glänzendes Hemd mit Stehkragen und eine Jeanshose, die so aussah, als habe er sie an diesem Tag zum ersten Mal aus seinem Schrank geholt. Tom war zufrieden, dass er mit seinem Outfit nicht allzu weit entfernt war von der Kombination aus Lässigkeit und Öko-Glamour, die in diesem Unternehmen angesagt war. Viel mehr hätte er aber auch nicht aufbieten können. »Becker, sehr erfreut«, sagte er mit fester Stimme.

In Jagels Büro gab es viel Glas und polierten Stahl, ein palmenartiges Gewächs sorgte für Karibik-Flair und an den Wänden hingen kunstvoll eingefärbte Fotos von Windrädern, die aus allen möglichen Perspektiven aufgenommen worden waren. Als sie mit dampfendem Kaffee am Besprechungstisch saßen, erläuterte Tom sein Anliegen: Er sei auf der Durchreise und interessiere sich, wie schon telefonisch angedeutet, für Gelegenheiten, in Windkraftanlagen zu investieren. Von der Starkwind AG habe er einen passablen Eindruck gewonnen, deshalb sei er persönlich vorbeigekommen.

»Das ist ungewöhnlich, so kurzfristig«, sagte Jagel mit einem feinen Lächeln, »aber zum Glück kann ich mir heute dafür eine Viertelstunde Zeit nehmen.«

Das Signal war einfach zu deuten: Jagel markierte Grenzen – nicht er wollte dem Investor dienen, sondern der Investor war der Bittsteller. Tom rückte seine nutzlose Goldrandbrille zurecht. »Dann lassen Sie uns doch gleich zum Wesentlichen kommen, Herr Jagel. Ich beabsichtige ein Engagement in Höhe von fünf bis zehn Millionen Euro.«

In Jagels Gesicht tat sich nichts. Entweder hatte er sein Minenspiel gut unter Kontrolle oder er war nicht auf der Suche nach Investoren. Vielleicht hantierte sein Unternehmen auch mit weitaus höheren Summen, als Tom erwartet hatte. Jagels Stimme klang so, als habe ein Sparkassenkunde angekündigt, mal wieder zweihundert Euro einzuzahlen. »An welchen Zeitraum dachten Sie?«

»So bald wie möglich.«

»Darf ich fragen, aus welcher Branche Sie kommen, Herr Becker?«

Tom versuchte sich an einem gepflegten Lächeln, bevor er antwortete. »Software, Fintech. Wir haben einige erfolgreiche Apps programmiert. Inzwischen habe ich meine Geschäftsanteile verkauft und bin jetzt Privatier.«

Diese Berufsbezeichnung schien Jagel fürs Erste zu genügen. »Wir haben mehrere Projekte in Vorbereitung«, erklärte er, »aber Sie wissen natürlich, dass Genehmigungen für neue Windparks in den letzten Jahren ausgesprochen schwer zu bekommen sind – vor allem in Deutschland. Haben Sie eine bestimmte Region im Blick?«

»Das Projekt auf der Friedländer Großen Wiese zum Beispiel.«

Der Geschäftsführer der Starkwind AG sah ihn überrascht an. Sein feines Lächeln verlor etwas von seiner Feinheit. »Woher wissen Sie davon? Wir haben bislang nichts veröffentlicht.«

»Man hat so seine Quellen. Ich hörte, es gebe Schwierigkeiten?«

Jagel zögerte einen Moment. Er schien nach einer angemessenen, also nichtssagenden Formulierung zu suchen. »Die Friedländer Wiese gehört zu den komplexen Projekten. Ich würde Ihnen etwas anderes empfehlen.«

»Woran liegt‘s? Das Gebiet ist doch perfekt: Kaum Besiedlung, für die Landwirtschaft nicht übermäßig wertvoll.«

»Es gibt da einige ganz spezifische Hindernisse«, sagte Jagel. »Aber wir haben in Brandenburg gerade ein vielversprechendes Projekt. Baubeginn wäre schon im kommenden …«

»Moment«, unterbrach Tom den Geschäftsführer, leicht ungehalten. »Was sind das für Hindernisse?«

Das linke Augenlid des Windkraft-Managers zuckte. Nahm er Tom den eigenbrötlerischen Investor ab? Oder spielte er das Spielchen nur mit, um herauszubekommen, wer sein kurzfristig angereister Gast wirklich war? Es gab ja einige Möglichkeiten: ein Journalist, ein Konkurrent, ein Spion aus der Naturschutzszene. Jagel ließ sich nicht in die Karten schauen. »Dazu kann ich nicht viel sagen. Es geht um Grundstücke und es geht um Greifvögel. Das Übliche.«

»Der Rotmilan? Die Viecher sind eine echte Landplage geworden.«

War das zu viel Anbiederung? Jagel lehnte sich zurück und betrachtete Tom mit schief gelegtem Kopf. »Ja, man kann sich darüber ärgern, aber natürlich respektieren wir die Naturschutzbelange vollumfänglich.«

Tom rümpfte die Nase. »Ich hatte gehofft, dass Sie mir bessere Auskünfte geben können.«

»Bei dem Projekt in Brandenburg sind solche Hindernisse kein Thema. Ich würde Ihnen gern …«

»Brandenburg interessiert mich nicht«, sagte Tom, jetzt etwas schärfer im Ton. »Ich würde gern wissen, warum Ihr Unternehmen nicht in der Lage ist, nach Jahren der Vorplanung auf der Friedländer Großen Wiese einen Windpark zu errichten.«

Das war zu viel; er musste aufpassen, nicht aus der Rolle zu fallen. Jagel sah ihn einigermaßen entgeistert an. »Darf ich fragen, warum Sie so auf diesem Projekt herumreiten? Es ist doch letztendlich egal, wo sich die Mühlen drehen.« Er lachte kurz auf, aber Toms starrer Blick ließ ihn schnell wieder verstummen.

»Oder sind Sie gar nicht hier, um zu investieren? Sind Sie Grundstückseigentümer, sind Sie von den Verzögerungen irgendwie betroffen? Ich habe volles Verständnis dafür.«

Er zweifelte also tatsächlich an den Absichten des Herrn Becker. Tom musste schlucken.

»Schauen Sie«, sagte er in einem eisigen Tonfall. »Ich denke mir das so: Wer in einem Fall Schwierigkeiten nicht aus dem Weg räumen kann, der schafft es auch bei anderen Gelegenheiten nicht. Ich gebe mein Geld nur in Hände von Leuten, die Probleme lösen, anstatt sie vor sich her zu schieben.«

Es kam wohl nicht oft vor, dass Jagel, Geschäftsführer und Mitgesellschafter eines Unternehmens mit mehr als 70 Mitarbeitern, derart angegangen wurde.

Sein feiner Kragen war kurz davor zu platzen. »Und ich, Herr Becker, biete Investoren nur Projekte an, die vertraglich abgesichert sind. Beim Windpark auf der Friedländer Großen Wiese fehlt dazu noch ein Daumenbreit, mehr nicht. Die Probleme werden gelöst, mit allen gebotenen Mitteln. Aber noch ist es nicht so weit.«

»Na also, das ist doch ein Wort. Sie regeln das. Und ich komme wieder, sobald es so weit ist. Mit welchem Zeitraum darf ich rechnen?«