Grenzverkehr - Thomas Fuchs - E-Book

Grenzverkehr E-Book

Thomas Fuchs

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Beschreibung

Eine Frau, ein paar Männer – und viele Gartenzwerge

Milena, die stolze Siegerin einer Misswahl in der Provinz, wird für ein Werbefoto für eine Wäschespinne gebucht. Doch sie will mehr vom Leben und zieht (auch sich) aus, um im Goldenen Westen ihr Glück zu suchen. Dort lernt sie einen veritablen Zoo von Überlebenskünstlern kennen.

Ein Sittenroman über die Herrschaft der Torheit, den Traum vom Westen, die Jagd nach dem Geld und der Sehnsucht, dem Schlamassel zu entkommen. Vergnüglich, spannend, ernst und mit einem guten Schuss Erotik, wobei unsere Heldin im Herzen immer „rein“ bleibt.

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Seitenzahl: 299

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Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
Lob
 
Vorspiel oder: Czech Mate
Metamorphosen
Jugend mit Gott
 
Copyright
Das Buch
Alles fängt mit einer Miss-Wahl in der Provinz an: Milena, die stolze Siegerin, wird auch gleich für ein Werbefoto für eine Wäschespinne gebucht. Doch sie will mehr vom Leben und zieht (auch sich) aus, um im angeblich Goldenen Westen ihr Glück zu suchen. Das wird für sie buchstäblich zu einer Grenzerfahrung, denn sie lernt einen veritablen Zoo von Überlebenskünstlern kennen, die bereit sind, fast alles für Geld zu tun.
Ein Sittenroman über die Herrschaft der Torheit, dem Traum vom Westen, der Jagd nach dem Geld und der Sehnsucht, dem Schlamassel zu entkommen. Vergnüglich, spannend, ernst und mit einem guten Schuss Erotik, wobei es die Heldin schafft, im Herzen immer »rein« zu bleiben.
Der Autor
Thomas Fuchs, Jahrgang 1962, war u. a. Werbetexter, Drehbuchautor, Script Doctor und Gagschreiber, einmal gar »Senior Story Consultant«. Er schreibt regelmäßig für das Satire-Magazin »Titanic«. Das vorliegende Buch ist sein erster Roman.
Für R.
I’ve seen a rich man beg, I’ve seen a good man sin,I’ve seen a tough man cry,I’ve seen a loser win and a sad man grin,I heard an honest man lie.I’ve seen the good side of bad and the downside of upand everything between
 
Everlast »What It’s Like«
Vorspiel oder: Czech Mate
Einmal, es ist schon ein paar Jahre her, habe ich richtig Geld verdient; aber das war Zufall. Ich las damals Drehbücher für eine Münchner Filmproduktion. Von den Büchern hörte ich nie wieder was, aber eines Tages beorderte man mich ins Büro. Man brauchte Fördergelder und wollte vor einem EU-Gremium größer wirken, weshalb ich als Head of Creative Department vorgestellt wurde. Der Kollege, der auf dem Gang Glühbirnen wechselte, war Head of Lights and Visual Effects. Während der Besprechung machte ich einen Witz, der dem Chef der EU-Leute gefiel. Der Elektriker schlief während der Rede des Produzenten ein. Am Ende bekam die Firma die Fördergelder. Der Head of Lights and Visual Effects wechselte wieder Glühbirnen, ich hingegen wurde tatsächlich Head of Creative Department, nun mit einem dem prätentiösen Titel entsprechenden Gehalt.
Der Produzent träumte von einem Blockbuster, der Hollywood Paroli bieten konnte. Den Stoff sollte ihm eine Autorin liefern, die vor zwanzig Jahren Miss Oberpfaffenhofen gewesen war. Dieser Ruhm verhalf ihr zu einem Werbefoto für eine Wäschespinne. Das Bild gefiel einem Bauunternehmer damals sehr. Der war jetzt jedoch mit einer Jüngeren in Monaco, und die Ex-Miss blieb missvergnügt in München zurück. Der Produzent sprach von einem »frechen Frauenfilm«. Es erforderte ein halbes Dutzend Mitarbeiter - alles Männer -, um aus dem Geschreibsel wenigstens etwas halbwegs Drehbares zu machen. Während wir am Text feilten, aß der Produzent mit seiner Autorin Lachs in der Pizzeria Villa Romana. Einmal bemerkte der Produzent, ihm wäre etwas Anspruchvolles auch lieber gewesen, Jane Austen hätte aber trotz mehrmaliger Anfrage nicht geantwortet.
Mein neues Dasein änderte mein Bewusstsein in einem Ausmaß, dass es geradezu marxistisch war. Zwar hielt ich München immer noch für die langweiligste Millionenstadt des Kontinents, aber es störte mich nicht mehr. Zu meinen Hobbys gehörte nun, schnöselige Bogenhausener Makler mit Gehaltsnachweisen zu verblüffen. Debilitäten und Demütigungen klaglos zu ertragen hielt ich jetzt für ein Zeichen von Reife. Statt mit der Stra ßenbahn, fuhr ich mit dem Taxi nach Grünwald. Oft musterten mich Taxifahrer im Rückspiegel und fuhren spätestens am Gasteig rechts ran, um mir ein Drehbuch zu präsentieren: »Ob man da nicht was machen könnte?« Ich gab die Drehbücher an meinen Produzenten weiter. Der verwarf sie alle.
Eines Abends, am Himmel tobte eines jener Gewitter, auf die die Bayern zu Recht stolz sind, saß ich wieder im Taxi. Der Fahrer musterte mich im Spiegel. Nach einer Kurve kam der Wagen ins Schleudern und schließlich zum Stehen. Der Fahrer stellte den Motor ab und sagte mit leicht slawischem Singsang: »Wir haben einen Platten.«
Ich glaubte ihm kein Wort, sondern hielt das Ganze für Teil einer Inszenierung, in deren Verlauf mir ein Drehbuch ganz besonders dringend ans Herz gelegt werden sollte. Man wird meine Überraschung verstehen, als er tatsächlich einen Wagenheber holte. Statt im Regen den Reifen zu wechseln, schlug ich vor, einen Kollegen zu benachrichtigen und die Kiste stehen zu lassen, doch František (»Ist nicht mein richtiger Name, aber Bayern denken, alle aus der ehemaligen Tschechoslowakei hie ßen František, da hab’ ich mich dran gewöhnt«) erklärte mir, warum das nicht ginge. Sein Chef glaubte nämlich, er wäre mit dem Wagen auf dem Weg nach Hause. Der Boss sollte auf keinen Fall mitkriegen, dass er schwarz arbeitete, deshalb schlug František mir einen Deal vor: Ich helfe ihm beim Radwechsel, dafür geht die Tour auf ihn. Ich war einverstanden.
Das nächste Mal sah ich »František« auf dem Oktoberfest. Er verabschiedete einen Niederländer mit einer beeindruckenden Kaskade holländischer Schimpfwörter. Ich fragte ihn, wie er holländisch fluchen gelernt hatte. Er erzählte es mir. In seiner Geschichte ging es auch um das Schicksal einer Frau. War zwar auch kein Jane-Austen-Stoff; aber interessant. Danach trafen wir uns öfter.
Meistens gingen wir im Glockenbachviertel Billard spielen, danach in eine Kneipe, und nachdem alle Kneipen zugemacht hatten, saßen wir in Františeks Taxi und quatschten weiter, während draußen vor den beschlagenen Scheiben das Münchner Nachtleben toste: ein einsamer Mann mit Hund; ein auswärtiger Fußballfan auf der Suche nach Bier. Wenn wir gingen, bezahlte František immer mit einem großen Schein, was ich in meinem frisch erworbenen Wohlstand etwas neureich fand, aber František meinte, das sei nun mal eine Marotte, von der er sich nicht abbringen lassen wollte. Er erzählte mir eine lange Story, wie er zu dieser Marotte gekommen war, aber die interessierte mich nicht. Ich wollte ihn überreden, die Geschichte der Frau seines Herzens aufzuschreiben, aber František weigerte sich. »In Literatur, Geschichte hat vielleicht Schluss, aber in Leben Geschichte geht immer weiter. Ohne Schluss kannst du nicht anfangen.«
Der Rest ist schnell erzählt: Die Filmfirma machte pleite. Der Produzent brannte mit seiner Autorin in die Karibik durch, und der Konkursverwalter erklärte mir, ich sei mit meinem Gehaltsanspruch Gläubiger Nummer 607. Für den Elektriker gab es nicht mal mehr Glühbirnen zu wechseln, die hatte der Bankrotteur mitgehen lassen. Um die trübe Stimmung aufzuheitern, wollte ich mit František einen trinken gehen, doch alles, was ich fand, war ein Abschiedsbrief. Wenn ich seine Geschichte immer noch so gut fände, solle ich sie halt aufschreiben. Er für seinen Teil habe mehr Lust auf Leben als auf Literatur, und deshalb müsse er jetzt nach Japan. Ich wisse schon, warum. Und wenn Sie dieses Buch gelesen haben, wissen Sie es auch.
Metamorphosen
Milena kam aus Nehlavné Mesto, und wenn jemand nachfragte - »Woher bist du?« -, wusste sie nie, was sie sagen sollte. Geografisch wäre die Antwort noch am einfachsten gewesen: Vom hintersten Ende der Slowakei, kurz vor der Ukraine. Für die meisten Slowaken - und Tschechen erst recht - lag Nehlavné Mesto am Arsch der Welt; oder mit anderen Worten: So gut wie in Russland. Als Nehlavné Mesto noch Neberndorf hieß, war es ein Städtchen mit einem Schloss, das mal den Esterhazys gehört hatte. In den Siebzigerjahren wurden dort Märchenfilme gedreht, die auch im westdeutschen Fernsehen liefen. In den Fünfzigern rammte man in das Tal auf der anderen Seite des Berges eine Gießerei, die eine nicht enden wollende Flut von Lenindenkmälern gen Osten lieferte. Wer sich bei der Produktion der Denkmäler auszeichnete, bekam einen kleinen Messing-Lenin, den er sich ins Regal seiner Schrankwand stellen konnte; vorausgesetzt, dass es grade Schrankwände gab. Anlässlich des vierzigsten Jahrestages des slowakischen Nationalaufstandes sollte auf dem Marktplatz ein Lenin aufgestellt werden, der mit ausgestrecktem Arm zum Herzen des Sowjetreiches zeigt. Leider hatte Dr. Suchý schon damals ein Alkoholproblem. Der Lenin wurde verkehrt aufgestellt. Statt in Richtung Moskau zeigte der Russe nach Pressburg und darüber hinaus: nach Wien. Dr. Suchý wurde seines Postens enthoben und ins Archiv versetzt. In Nehlavné Mesto goss man weiter Bonzenbronzen. Die Gießerei war das Herz der Stadt. Ein stinkendes, schepperndes Herz zwar, jedoch versorgte es alle mit billigem Brot und schlechter Luft. In Nehlavné Mesto fuhr man selten nach Prag und noch seltener nach Pressburg, weil man dort als Provinzler verscheißert wurde, der kein österreichisches Fernsehen empfangen konnte und sich freute, wenn er eine Autogrammkarte von Karel Gott ergatterte.
Anfang der Neunziger brach der Markt für Lenindenkmäler überraschend zusammen. Wieder mal sollte die Zukunft besser werden. Die Zeiten, als der Ort von deutschen Kaufleuten, ungarischen Beamten und slowakischen Dienstmädchen bevölkert wurde, sehnten wenige zurück. Manchmal kamen österreichische Journalisten vorbei und verstanden nicht, warum. Die erste freie Wahl zum Bürgermeister gewann Dr. Suchý, der - wie er auf seinen Wahlzetteln erklärte - von den Kommunisten gemaßregelt wurde und das Regime bekämpfte, indem er Denkmäler umdrehte. Am Wahltag erklärte Dr. Suchý, dass nun alles anders würde. Dann wurde die Gießerei geschlossen. Aber auf dem Schloss drehte man wieder. Der Film hieß Harte Bohrer. Auch dieser Streifen fand im Westen sein Publikum.
Inzwischen war die Slowakei unabhängig, in Nehlavné Mesto argwöhnte man allerdings bald, dass die Tschechen die Slowaken nur in die Unabhängigkeit entlassen hatten, um selbst schneller in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Etwa so wie man die hässliche Schwester versteckt, damit die hübsche schneller unter die Haube kommt. Doch dann kam eines Tages ein riesiger Sattelschlepper mit viel Chrom, einem gigantischen Auspuff und achtzehn Rädern die Hauptstraße entlang und hielt neben dem Lenindenkmal. Der Motor lief noch, als ein zierlicher Amerikaner in einem rot karierten Holzfällerhemd ausstieg. Steve Krogulevic ließ seinen Assistenten Zigarren verteilen und erklärte allen, sie könnten ihn »Steve« nennen, falls ihnen die Aussprache des Nachnamens zu schwierig sei. Nun hatten weder Frau Červeňanová noch Herr Smrek Mühe, den Namen Krogulevic auszusprechen, aber sie nannten den Mann aus dem Sattelschlepper auch gerne Steve. Sie wollten, dass der Sägemühlenmillionär sich bei ihnen wohlfühlte.
Steve zahlte tausend Dollar in bar für den Bronze-Lenin und ließ eine Gruppe junger Männer das Denkmal abmontieren, während ein einsamer Punker auf einem Tesla-Tonband »Kick over the Statues« von den Redskins spielte und mit seinen Pogo-Tanzversuchen Steves Leibwächter nervös machte. Krogulevic ließ neben Lenins Fußstapfen ein Rednerpult und Lautsprecher aufbauen. Als er ans Mikrofon trat, versammelte sich vor ihm ganz Nehlavné Mesto. Hier hatten sie am Ersten Mai immer gestanden; und auch schon ganz früher, als der Platz noch nach Kardinal Tiso hieß. Aber diesmal war es anders; als Steve seinen Kaugummi aus dem Mund nahm und an den Mikrofonständer klebte, hörten sie zu.
 
»People of this utterly unpronounceable place«, begann Steve.
»Bürger von Nehlavné Mesto«, erklärte Herr Pieštanský, sein aus Prag eingeflogener Übersetzer.
»Als mein Urgroßvater vor über hundert Jahren von hier nach Amerika aufbrach, hatte er nichts als seinen Traum«, sagte Steve. »Doch wenn ein Mann an seinen Traum glaubt, gibt es nichts, was ihn aufhalten kann. Solange es richtige Männer gibt, werden Träume wahr. Ich werde euch helfen, eure Träume zu verwirklichen. Man wird von euch hören in der Welt. Oder - wie wir in Amerika sagen: I’ll put you on the map.«
Die Bürger von Nehlavné Mesto jubelten lange und ausdauernd. Sein Assistent flüsterte Steve etwas ins Ohr. Steve stutzte.
»Ist das wahr, Chuck?«, fragte er.
»Wir haben alles geprüft, Sir. Ihre Vorfahren stammen nicht aus der Slowakei, sondern aus Slowenien.«
»Aber wie konnte das denn passieren?«
»In der Landessprache heißen beide Staaten gleich: Republika Slovenská. Hier sehen Sie …«
Chuck deutete auf sein Dossier, aber Steve schaute in die Runde. Überall bewundernde, hingebungsvolle Blicke. Einige standen kurz davor, den Saum seines Holzfällerhemds zu küssen. »Ich kann die Leute hier doch nicht so einfach enttäuschen.«
Der Assistent wedelte mit seinen Aufzeichnungen. »Ihre Vorfahren stammen hundertprozentig aus Slowenien.«
»Und wenn wir einfach -«
Chuck blieb unbeirrt: »Außerdem verfügt das Land über eine Reihe interessanter Eckdaten. Slowenien ist die reichste ehemalige Teilrepublik Jugoslawiens.«
»Jugoslawien … liegt das nicht auf dem Balkan?«
»Slowenien liegt gleich bei Österreich, Sir.«
»Aber das hier doch auch, oder? Wir sind in Wien losgefahren …«
»Schon, aber Slowenien kommt bald in die EU.«
»Und die Slowakei?«
»Nicht, solange Meciar am Ruder ist.«
Steve überlegte und fasste einen Entschluss. Schnelle Entschlüsse waren schon immer seine Stärke gewesen. »Ich weiß, es ist hart, aber ich kann die Leute hier nicht mit einer Lüge leben lassen. Machen Sie den Sattelschlepper startklar.«
Während die Maschine blubbernd auf Touren kam, trat Steve wieder ans Mikrofon. »Ich habe noch mal nachgedacht, Männer. Ihr braucht meine Hilfe gar nicht.« Steve ignorierte das erstaunte Grummeln. »Ihr seid so gut, ihr schafft es auch allein.« Die Leute auf dem Platz tauschten verwirrte Blicke. »Und wenn es hier nicht klappt, dann zieht einfach in Welt. So wie mein Urgroßvater. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Good luck.«
Steve Krogulevic reckte beide Daumen in die Luft, dann ließ er sich von Chuck ins Fahrerhäuschen hieven. Ganz Nehlavné Mesto sah hinterher, als der Sattelschlepper mit dem Denkmal auf der Ladefläche vorsichtig um die Kurven bog und schließlich aus dem Sichtfeld entschwand. Es wurde wieder still in Nehlavné Mesto. Lenin hatten sie hinter sich. Aber die neue Zeit wollte einfach nicht kommen.
Damals begann Milena eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Kaum ein Schüler nahm Lehrer ernst, die vor ein paar Jahren noch predigten, was sich ein Rauschebart in einer Londoner Bibliothek ausgedacht hatte (»Kampf der Klassen, historische Mission der Arbeiterklasse etc.«), und nun genauso überzeugt verkündeten, was dem Hirn eines Schotten entsprungen war, der sein Leben lang bei seiner Mutter hauste (»Unsichtbare Hand, Arbeitsteilung als Quelle des Reichtums der Nationen usw.«). Milena teilte die Verachtung ihrer Mitschüler für den Lehrkörper nicht. Die Lehrer hatten Wohnungen, Autos und Familien. Die wollten sie behalten. Dafür machte man Kompromisse. Das war verständlich. Auch hielt sich Milena für keine Heldin. Wer weiß, was sie für Geld alles tun würde. Was sollte sie sich da über andere erheben? Schließlich musste Milena die Schule verlassen, weil die Ausbildung plötzlich Geld kosten sollte. Und Geld, das hatte Milena nicht. Noch nie gehabt.
Doch all das war Milena egal. In einem düsteren Moment ihres an düsteren Momenten nicht gerade armen Lebens hatte Milena befürchtet, sie würde unbemannt ins Grab sinken, aber nun hatte es sie voll erwischt. Sie war verliebt. Und was das Beste war: Sie wurde erhört! Von Gregor, dem einsamen Punker vom Denkmalssturz. Gregor, der auch Slowake, aber in Mähren aufgewachsen war, wohnte noch nicht lange in Nehlavné Mesto. Man munkelte, sein Vater sei ein hohes Tier in Brünn gewesen, aber man munkelte so vieles in Nehlavné Mesto. Wenn Mitschüler Milena ärgern wollten, behaupteten sie, ihr Vater sei Zigeuner. Die Wahrheit war, dass weder Milena noch ihre Mutter wussten, wer ihr Vater war, und dass Milena ob dieser und anderer Gerüchte über ihre Mutter (Affären, Alkohol, Ausschläge) eine einsame Jugend verbrachte. Dass sie sich oft um ihre kränkelnde Halbschwester Zuzana kümmern musste, machte die Teenagerzeit nicht einfacher. Meist wurde sie von den anderen gemieden. Milena ging oft an den Fluss unten am Schloss, vorbei an der Mühle, wo die Bäume noch grün waren, und las und las und las. Am liebsten mochte sie Stephen King. Wenn sie aus dem Wald zurück ins Tal lief, träumte sie davon, wie Carrie White telekinetische Kräfte zu besitzen. Aber anstatt anderen Leuten den Turm der katholischen Kirche von Nehlavné Mesto um die Ohren fliegen zu lassen, würde sie sich selbst wegbeamen. Egal wohin, Hauptsache weg aus diesem Kaff.
Doch jetzt war alles anders. Wenn sie Gregor lächeln sah, schien sogar Nehlavné Mesto lebenswert zu sein. Und dass all die Zicken, die sie gehänselt hatten, plötzlich neidisch glotzten, machte Gregor nur noch attraktiver. Mit ihm machte vieles Spaß, am meisten aber Sex. Er war zwar ziemlich überrascht, als er feststellte, dass sie noch Jungfrau war, was nicht hieß, dass Milena keine Ahnung von Sex hatte. Wenn ihre Mutter früher einen Typen loswerden wollte, musste Milena wach bleiben, weil die Mutter hoffte, die Anwesenheit des Kindes würde die Typen bremsen. Manchmal hatte Mutter recht behalten. Aber nicht immer.
Als die beiden eines Tages wieder an der Mühle im Wald lagen, sprachen Milena und Gregor über Gemeinsamkeiten - Gregor hasste seinen Vater genauso sehr wie Milena ihre Mutter - und die Zukunft. Gregor hatte sich bei einer Versicherung in Prag um eine Trainee-Stelle beworben. Auch für Milena gab es eine Chance. Ein müder alter Mann hatte sich am Morgen mit einem Flipchart in der Gaststätte am Markt aufgebaut, bunte Ansichtskarten von Kurorten verteilt und erklärt, dass Deutschland immer älter werde und dringend Pflegepersonal brauche. Als Milena am nächsten Tag an Gregors Haus vorbeiging, stand ein Krankenwagen vor der Tür. Die Sanitäter trugen eine abgedeckte Trage aus dem Haus, und bevor sie diese in ihren Krankenwagen laden konnten, rollte eine schwarze Tatra-Limousine mit weißen Rüschengardinen an den Seitenfenstern herbei. Der Tatra-Fahrer schlug vor, den Mann auf seine Bahre umzuladen. Er hatte alle Argumente für sich, denn der Mann war tot. Gregors Vater hatte sich erschossen. Neue Gerüchte schwirrten durch Nehlavné Mesto. In Wirklichkeit sei Gregors Vater ein noch viel höheres Tier gewesen. Und außerdem habe man ja schon immer gewusst, dass in der Gießerei nicht nur Denkmäler hergestellt wurden. Man munkelte von Semtec-Plastiksprengstoff und Libyen. Die Gerüchte schwirrten und schwirrten, was am Ende selbst Dr. Suchý nicht recht war. Einerseits konnte er bei der Gelegenheit gegen alte Seilschaften wettern, aber andererseits war auch ihm klar, dass das Gerede für den momentan eher potenziellen Wirtschaftsstandort Nehlavné Mesto unvorteilhaft war. Deshalb war er froh, als wieder eine Filmcrew anrückte, um auf dem Schloss Harte Bohrer Teil II zu drehen. In der Gerüchteküche wurden nun andere Gerichte gekocht. Sobald Gregor seine Zusage aus Prag erhalten hatte, nahm Milena das Angebot aus Deutschland an. Sie verabschiedeten sich mit Tränen und Küssen und schworen, einander jeden Tag zu schreiben.
Jugend mit Gott
Bad Wolpertshofen in Bayern sah auch in Wirklichkeit so wie auf der Ansichtskarte aus, die der müde alte Mann in die Luft gehalten hatte. Die meisten »Patienten« des örtlichen Sanatoriums waren gesund, was aber nicht bedeutete, dass sie pflegeleicht waren. Immer hatten sie was zu mäkeln. Nur wenn an den Wochenenden die Verwandten kamen und über Erbschaftsangelegenheiten sprachen, wurden die Patienten einsilbig.
Milena fand Deutschland seltsam. Bislang hatte sie gedacht, die Deutschen würden am liebsten Mercedes oder BMW fahren. Aber in Wolpertshofen hieß die mit Abstand populärste Marke Rollator. Der Kurort selbst wirkte wie eine Kulisse aus einem Disney-Märchenfilm, und auch die Wälder drum herum sahen aus wie frisch aufgeräumt. Bei Nehlavné Mesto gab es noch Wölfe und Bären, in den hiesigen Wäldern dagegen war das aufregendste Wesen ein Urlauber aus Preußen. Außerdem wusste Milena nicht, was sie von Leuten halten sollte, die freiwillig Cola und Brause zusammenkippten und das Zeug auch noch tranken. Allerdings war niemand an Milenas Meinung interessiert. Man erwartete, dass sie Gänge scheuerte und Bettpfannen auswechselte. Milena sprach ein paar Brocken Deutsch und machte anfangs den leichtsinnigen Versuch, dem Zivi Bernd den Unterschied zwischen Tschechen und Slowaken zu erklären.
»Is det nich’ allet detselbe?«, fragte Bernd hinter einem Schleier aus Cannabis-Rauch.
»Nein.«
Bernd zog an seiner Tüte und sann.
»Na, ooch ejal. Jibtet überhaupt berühmte Tschechen?«
Milena überlegte, welcher Tscheche in Deutschland wohl am bekanntesten sein könnte.
»Havel? Václav Havel?«
Bernd fing an zu kichern. »Det is jut. Det is wirklich jut. Havel!«
Er gab Milena einen freundlichen Klaps auf die Schulter. »Mensch, det is doch een Fluss. Kenn’ ick. Glei’ bei mir um die Ecke. Ick komm do’ aus Ballin. Streng da ma’n bissken an.«
Milena überlegte. Da gab es noch diesen Schlagersänger. Leider fiel ihr der Vorname nicht ein.
»Gott?«
»Gott soll eena von euch sein? Nu, werd’ ma’ bloß nicht größenwahnsinnig, Mädel!«
Nachdem ihr Tagewerk getan war, zog sich Milena auf ihre Kammer zurück, schrieb einen langen mit Herzchen verzierten Brief an Gregor und steckte die Nase in ein Buch. Unten vor dem Fenster genossen die Kraftfahrer ihren Feierabend.
»Quirin, mir woidd’n doch amoi wieda a Spritztour noch Holland umi machen?«
»Naa.«
»Aber, Quirin, du woast doch z’Holland drent. An Joint. A weng an Spaß hob’n. Und oiss fier hundert Guld’n.«
»Holland ist doch Scheiße, Xaver. Das ist doch oiss offiziell.«
»Ja, aber wuist ebba grod no Sex mit deiner Oid’n hob’n, Quirin?«
»Naa, aber fahr’n ma doch na de Tschechei.«
»Oiso, i woaß ned.«
»Doch, Xare, da is billig und guad.«
»Huren? Bei dene Zigeiner?«
»Und es is glei um d’Eck umi. Mir kannt’n am Sonntag friah hifahr’n und san rechtzeidi z’ruck, dass ma no in d’Kircha kennan.«
»I glaab, Quirin; Tschechei is a guade Idee.«
Am nächsten Morgen fragte Milena Bernd, wie viele Gulden eine D-Mark seien.
»Hundert Gulden sind achtundachtzig Mark«, antwortete Bernd ohne nachzudenken. Milena war baff. Das wären ja fast zweitausend slowakische Kronen. Bernd krümelte schon den nächsten Shit in die Tüte. »Soll ich dir was mitbringen?« Milena lehnte dankend ab und schrubbte weiter den Fußboden.
Der Einzige, der in Wolpertshofen den Unterschied zwischen Tschechen und Slowaken kannte, war Joseph Stiermaier. »Du weißt schon, dass wir euch unter dem Führer die Freiheit geschenkt haben«, erklärte der Besitzer einer Gartenzwerg-Fabrik gleich bei ihrer ersten Begegnung. Stiermaier mochte Slowaken. Er war mit ihnen zusammen 1941 an der Ostfront vor Moskau gestanden, und drei Jahre später hatte er beim Slowakischen Nationalaufstand gegen sie gekämpft. Sagte er. Stiermaier war nämlich bei allen großen Schlachten des Zweiten Weltkrieges dabei gewesen und außerdem noch bei einigen, von denen man noch nie gehört hatte. Aber das lag daran, dass Stiermaiers Mission bei diesen Kämpfen streng geheim gewesen war. Sagte er. Milena kannte den Krieg aus den Erzählungen ihres Opas. Er hatte kein anderes Thema als den Krieg. Sie besuchte ihren Opa möglichst selten. Die alten Geschichten interessierten sie so sehr wie der Unterschied zwischen Radler und Alsterwasser. Aber an Ultimo endete ihre friedliche Koexistenz mit Joseph Stiermaier abrupt. Milena war schon seit dem frühen Morgen schlecht gelaunt. Sie hatte ihre Gehaltsabrechung bekommen. Nachdem Bernd ihr erklärt hatte, was von ihrem Bruttogehalt alles abgehe (und der technische Direktor erwähnte, was für das Zimmer abgezogen würde), sah Milena, wie wenig unterm Strich blieb, und rastete aus.
»Wer ist dieser Eichel, und warum kriegt er mein ganzes Geld?«, rief sie über den Flur. Zu ihrer Überraschung registrierte sie, dass die Patienten auf dem Gang ihr freundlich zunickten. Erstmals. Milena hätte diesen Eichel erwürgen können. Aber als sie in Stiermaiers Zimmer kam, wollte der, dass sie an seiner Eichel Hand anlegte. Er strich über seinen albernen Spitzbart und nuschelte was von »Blasen«. Das tschechische Wort für »Dummkopf« heißt Blázen, und so hoffte Milena für einen Augenblick auf ein Missverständnis, doch als Stiermaier die Decke zurückschlug, war kein Zweifel mehr möglich. Dann kam es zu einem von Stiermaier in dieser Art nicht erwünschten Körperkontakt, und fünf Minuten später war Milena fristlos entlassen. Das war hart, aber vielleicht hätte sie Stiermaier nicht den Katheter rausreißen sollen.
Daheim in Nehlavné Mesto harrten die Leute derweil unverändert der Dinge, die nicht kamen. Milena und ihre Schwester Zuzana teilten sich wieder ein Zimmer, während Milenas Mutter vor dem Fernseher saß, Kräuterlikör trank und fragte, wann Milena endlich ans Heiraten dächte. Milenas Mutter war eine verdiente, leidenschaftliche Trinkerin. Solange Menschen Alkohol trinken, gab es immer welche, die nur aus Höflichkeit bei festlichen Anlässen nippen oder mit Ginger Ale oder Pfefferminztee Alkoholgenuss vortäuschen. Milenas Mutter sah auf diese Simulanten verächtlich herab. Ebenso verachtete sie diejenigen, die tranken, wenn sie Kummer oder Sorgen hatten. Die Trinkerei der Mutter diente nur einem Ziel: dem lang anhaltenden, wenn möglich immerwährenden Besoffensein. In den letzten Jahren der kommunistischen Herrschaft wurde sie zu einer Entziehungskur geschickt. (Mancher in Nehlavné Mesto hämte, während dieser Kur hätte Milenas Mutter zum ersten Mal gemerkt, dass sie zwei Töchter hatte.) Nach ihrer Rückkehr dauerte es zwei Tage, bis sie - randvoll mit Slibowitz - durchs Treppenhaus kegelte und so allen unüberhörbar klarmachte, dass sie wieder im Hause war.
Milenas Mutter wusste sehr wohl, dass das Leben einer Trinkerin gefährlich war. Die größte Gefahr hieß Arbeit. Wie viele in ihrer Jugend durchaus zu den schönsten Hoffnungen berechtigenden Säufer wurden im späteren Leben durch Arbeit vom Pfad der Erleuchtung abgebracht! Nein, Arbeit und Saufen, das passte einfach nicht zusammen, und da Milenas Mutter ein Mensch war, der keine Halbheiten duldete, entschied sie sich konsequent fürs Saufen.
Am Abend zwinkerte Milena Zuzana verschwörerisch zu, und beide schenkten ihrer Mutter reichlich nach, damit sie wie geplant besoffen entschlummert war, wenn eine weitere Folge der amerikanischen Sitcom Friends begann. Die Folgen waren alt, liefen in der Originalfassung und wurden aus dem Off von einer slowakischen Sprecherin erläuternd kommentiert (»… und jetzt kommt Chandler Bing und macht wieder eine sarkastische und lustige Bemerkung. Monica - gespielt von Courtney Cox - lacht herzlich.«). Ihre Lieblingsstelle war, wenn Chandlers Freundin Janice entsetzt »Oh my god!« sagte. Das musste man nicht übersetzen, und wichtig war sowieso was ganz anderes: Nämlich, dass es auf dieser Welt scheinbar einen Ort gab, an dem Dreißigjährige wie Zwanzigjährige aussahen, den intellektuellen Horizont von Zehnjährigen hatten und dennoch einen Lebensstil pflegten, von dem man in Nehlavné Mesto nur träumen konnte. Zuzana glaubte, ein bisschen so auszusehen wie Monica. Milena, die Zuzana eher an ein zu blasses und zu schmales Schneewittchen erinnerte. Wenn Milena es gelang, die Gaumenspalte zu ignorieren, die das Gesicht der Jüngeren von Geburt an entstellte. Die Hebamme hatte die Missbildung sofort als »Wolfsrachen« diagnostiziert. Dieser Begriff wird heute selten verwendet, weil er als diskriminierend gilt. Zuzana half das allerdings wenig. Also sagte Milena nichts, sondern strich ihrer Halbschwester nur lächelnd über den Kopf.
In Nehlavné Mesto war also alles beim Alten, nur Gregor hatte sich verwandelt. Die Prager Versicherung hatte aus dem ehemaligen Punker einen servilen Mistkäfer in Schlips und kurzärmeligem Hemd gemacht, der Milena in einem Brief mitteilte, dass eine arbeitslose abgebrochene Physiotherapeutin (»Die Kollegen grinsen immer anzüglich, wenn ich erzähle, dass ich mit einer Masseuse zusammen bin.«) nicht zu seinem Status als jung-dynamischer Versicherungsfachmann passe. Das Briefpapier zierte der Kopf von Gregors Firma, und im Postskriptum pries er eine besonders günstige Berufsunfähigkeitsversicherung an. »Man weiß ja nie, was kommt«, waren Gregors letzte Worte.
Als der Brief kam, betrank sich Milena zum ersten Mal neben ihrer Mutter vor dem Fernseher. Wer weiß, wenn nicht am nächsten Morgen das Angebot vom Supermarkt im Briefkasten gewesen wäre, hätte Milena vielleicht wirklich den Nächstbesten geheiratet, und alles wäre anders gekommen.
So aber stand sie mit Hunderten von Frauen in der Kneipe am Markt und trug sich in Bewerbungsbögen ein. Danach musste sie einen Fragebogen ausfüllen. »Meinen Sie, dass Mitarbeiter mit ihren Kollegen über die Geschäftsführung diskutieren sollten?« Milena war gewitzt genug, Antwort C) - »Stimme ich überhaupt
Verlagsgruppe Random House
 
 
 
 
 
 
 
Vollständige Taschenbuchausgabe 06/2009
Copyright © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration und -gestaltung: © Eisele Grafik Design, München
eISBN : 978-3-641-03269-2
 
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