Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr: Eine Erzählung für Mädchen von 13-16 Jahren - Agnes Sapper - E-Book
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Agnes Sapper

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Beschreibung

In "Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr" entführt Agnes Sapper die Leserinnen in die Welt einer 15-jährigen Schülerin, die am Übergang von der Kindheit zur Jugend steht. Sapper verwendet einen einfühlsamen und zugleich realistischen Schreibstil, der die inneren Konflikte und Herausforderungen dieser Lebensphase authentisch einfängt. Die Erzählung zeigt nicht nur die Schwierigkeiten, die das letzte Schuljahr mit sich bringt, sondern beleuchtet auch Freundschaft, Identitätsfindung und die Suche nach einem Platz in der Welt. Mit einem klaren Fokus auf die Emotionen und Gedanken der Protagonistin wird die Geschichte zu einer wichtigen Reflexion über das Mädchenleben in der heutigen Zeit und herausfordernde gesellschaftliche Normen für diese Altersgruppe. Agnes Sapper, eine erfahrene Schriftstellerin und Pädagogin, hat sich zeitlebens für die Themen Jugend und Mädchenerziehung interessiert. Ihr umfangreiches Wissen über das Schulwesen und ihre eigenen Erfahrungen als Lehrerin fließen in die Erzählung ein und verleihen den Charakteren Tiefe und Glaubwürdigkeit. Sapper hat durch ihre zahlreichen Werke und Beiträge zur Kinderliteratur einen bedeutenden Platz in der deutschen Literatur eingenommen, und durch "Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr" bietet sie eine wertvolle Perspektive auf die Herausforderungen, mit denen viele junge Mädchen konfrontiert sind. Dieses Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für alle Mädchen im Alter von 13 bis 16 Jahren, die sich mit ihren eigenen Erfahrungen identifizieren möchten. Doch auch Eltern, Pädagogen und alle, die sich für die Themen Jugend und Bildung interessieren, finden in dieser Erzählung Anregungen und tiefere Einblicke in die inneren Welten der Heranwachsenden. Sappers einfühlsame Erzählweise regt zur Reflexion an und vermittelt Mut, die Herausforderungen des Erwachsenwerdens mit Entschlossenheit zu meistern. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Agnes Sapper

Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr: Eine Erzählung für Mädchen von 13-16 Jahren

Bereicherte Ausgabe. Ein Mädchen auf dem Weg ins Erwachsenwerden im 20. Jahrhundert
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Einführung, Studien und Kommentare von Sienna Parker
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2022
EAN 4064066436391

Inhaltsverzeichnis

Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr: Eine Erzählung für Mädchen von 13-16 Jahren
Unvergessliche Zitate
Notizen

Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr: Eine Erzählung für Mädchen von 13-16 Jahren

Hauptinhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel. Der erste Schultag.
Zweites Kapitel. Lene.
Drittes Kapitel. Häusliche Geschäfte.
Viertes Kapitel. Die Ringelnatter.
Fünftes Kapitel. Die Base.
Sechstes Kapitel. Lehrerin und Schülerin.
Siebentes Kapitel. Schulstunden.
Achtes Kapitel. Ausgeliehen.
Neuntes Kapitel. Schwierigkeiten.
Zehntes Kapitel. Heimlichkeiten.
Elftes Kapitel. Eine Einladung.
Zwölftes Kapitel. Bei der Königin.
Dreizehntes Kapitel. Fräulein Trölopp.
Vierzehntes Kapitel. Fragen, Antworten und ihre Folgen.
Fünfzehntes Kapitel. Eine Gesellschaft.
Sechzehntes Kapitel. Wiege und Sarg.
Siebzehntes Kapitel. Eine traurige Familie.
Achtzehntes Kapitel. Schulschluß.

VonAgnes Sapper.

Dritte Auflage.

Stuttgart.Verlag von D. Gundert.

Druck der Stuttgarter Vereinsbuchdruckerei.

Erstes Kapitel. Der erste Schultag.

Inhaltsverzeichnis

„Heute beginnt also dein letztes Schuljahr?“ fragte Herr Reinwald seine Tochter, die eben zum Ausgang gerichtet ins Zimmer trat.

„Ja, aber erst um neun Uhr,“ antwortete Gretchen und setzte sich noch einmal zu den Eltern an den Frühstückstisch. „Ich bin eigentlich viel zu früh daran!“

„Du siehst ja ganz anders aus, als sich’s für ein Schulmädel gehört, hast keine Schürze an, keine Tafel in der Hand und gehst in einem Schleppkleid!“

Gretchen und ihre Mutter lachten. „Das lange Kleid ist dir noch ungewohnt an unserem Kind,“ sagte Frau Reinwald, „sie ist nun eben kein ‚Schulmädel‘ mehr, sondern eine Fortbildungsschülerin.“ „Ja, Vater, du mußt auch ein wenig Respekt haben vor mir, ich bin fast schon so groß wie die Mutter; bitte, Mutter, steh einmal auf, der Vater glaubt es sonst nicht.“

Da standen sie nebeneinander, die Mutter zart und schmächtig, mit schlichtem, braunem Haar, die Tochter rosig und blühend, mit blonden, hoch aufgesteckten Zöpfen; und es war schwer zu sagen, welche von beiden größer war. Aber Herr Reinwald besann sich nicht. „Das beruht alles auf Täuschung,“ sagte er, „deine Zöpfe sind nur so prahlerisch aufgebaut. Die Mutter ist doch größer, und sie bleibt’s auch.“ Da lachte Gretchen und rief: „Ich weiß schon, wie du’s meinst, Vater. Die Mutter bleibt freilich größer,“ und mit stürmischer Zärtlichkeit umarmte sie die Mutter. Herr Reinwald verabschiedete sich nun, um seinem Beruf nachzugehen, und auch Gretchen machte sich fertig.

„Rufe im Vorbeigehen Lene, daß sie das Frühstück abräume,“ sagte Frau Reinwald.

„Lene? Ja, wenn nur unsre gute Lene noch draußen wäre!“ antwortete Gretchen; „ich mag gar nicht mehr in die Küche, seitdem so ein fremdes Wesen darin haust!“

„Ich glaube es wohl, daß dir deine Lene fehlt, die bei uns war, solang du zurückdenken kannst; aber Franziska scheint mir auch ein tüchtiges Mädchen zu sein.“

„Ich schicke sie dir herein,“ sagte Gretchen, „und jetzt leb wohl, Mutter.“

„Viel Glück zum letzten Schuljahr!“

„Danke, ich bin furchtbar neugierig, wie es in der Oberklasse wird!“

Eilig ging nun Gretchen in den kühlen Herbstmorgen hinaus, der Schule zu. Ihr Weg führte sie durch lange, belebte Straßen. Schon seit ihrem ersten Schuljahr, in dem Herr Reinwald als Regierungsrat in die Residenz versetzt worden war, besuchte Gretchen das Institut von Fräulein von Zimmern. Von Klasse zu Klasse war sie aufgestiegen, und nun stand sie vor der letzten. Die schöne Feier der Konfirmation[1] lag eben hinter ihr, Herz und Sinn des jungen Mädchens waren noch bewegt von den tiefen Eindrücken dieser Zeit; heute aber, auf dem gewohnten Schulweg, überkam sie das Gefühl, daß nun alles wieder in das werktägliche Geleise übergehe, und die festtäglichen Empfindungen wichen einer nüchternen Stimmung.

Ähnlich ging es wohl auch ihren Altersgenossinnen. Manche derselben waren schon im Frühjahr konfirmiert worden, die meisten aber, wie auch Gretchen, erst im Herbst, und so wanderten sie heute zum ersten Male als konfirmierte Mädchen wieder dem Institut von Fräulein von Zimmern zu. Sie begrüßten sich als alte Kamerädinnen, freundschaftlicher oder kühler, je nachdem sie einander näher oder ferner standen; aber ein Paar fand sich mit besonderer Herzlichkeit zusammen und stand Seite an Seite, als könnte es gar nicht anders sein: das war Gretchen Reinwald und Hermine Braun, zwei Freundinnen, die seit dem ersten Schuljahr treu zusammen gehalten hatten und von den andern fast wie Schwestern angesehen wurden. Doch waren sie einander äußerlich nicht ähnlich. Hermine war kleiner als Gretchen, hatte ein schmales, blasses Gesichtchen, aber eines, das man gern ansah, denn es sprach eine große Herzensgüte aus den sanften Zügen. Mit den beiden zugleich trat Ottilie von Lilienkron in das Schulhaus, und die drei gingen im untern Stockwerk des Hauses auf eine Zimmertüre zu, die die Aufschrift „Oberklasse“ trug.

Als sie eintraten, fanden sie schon mehrere Mädchen versammelt. Eine derselben bemühte sich eben, einen Kleiderrechen, der sich von der Wand losgemacht hatte, wieder zu befestigen. Es war Elise Schönlein, eine wenig begabte Schülerin. Ottilie redete sie spöttisch an: „Ist das deine erste Leistung in der Oberklasse, daß du den Kleiderrechen von der Wand reißst?“

„Ich kann nichts dafür, das alte Ding hält nicht mehr, der Nagel fällt aus dem Loch. Helft mir doch!“ Hermine Braun kam zu Hilfe. Der Federkasten mußte als Hammer dienen, der Nagel wurde wieder eingeklopft. „So, jetzt hält es notdürftig,“ sagte Hermine befriedigt.

„Ja,“ entgegnete Ottilie, „für einen Tag vielleicht, dann fällt’s wieder herunter. Dies Zimmer ist überhaupt das unschönste Schulzimmer von allen, die wir noch gehabt haben.“

„Ja, und so kalt, man hätte schon ein wenig einheizen können.“ Die Neueintretenden stimmten mit ein in diese Klagen, und die ganze junge Gesellschaft war ziemlich mißvergnügter Laune, als sie sich auf den alten Schulbänken niederließen und in dem etwas dunkeln, kühlen Parterrezimmer auf den Anbruch des letzten Schuljahrs warteten.

Es hatte schon neun Uhr geschlagen, und die Mädchen, fünfzehn an der Zahl, waren alle versammelt, als die Türe aufging. In sicherer Erwartung ihrer Lehrerin wollten die Mädchen aufstehen. Gretchen, die immer etwas flinker als andere in ihren Bewegungen war, hatte sich respektvoll erhoben, aber unter der Türe erschien, statt der erwarteten Lehrerin, nur ein niedliches, kleines Mädchen, eine Schülerin der dritten Klasse. Es war Mathilde, die kleine Schwester von Hermine Braun. Errötend richtete das Kind aus: „Fräulein von Zimmern läßt den Großen sagen, sie sollen alle mit mir heraufkommen.“ Merkwürdig schnell waren „die Großen“ bereit, das Lokal zu verlassen und der Kleinen zu folgen, die die Treppe hinauf voranging.

„Was gibt’s wohl? Wohin sollen wir kommen?“ fragten die Mädchen einander, und immer größer wurde ihre Verwunderung, denn sie wurden durch beide Stockwerke hindurchgeführt, in denen sie die früheren Schuljahre zugebracht hatten, bis hinauf in den obersten Stock, den sie bisher nur betreten hatten, wenn sie in der großen Kammer ihre Handarbeiten aufbewahren wollten. Neben dieser Kammer war eine Türe, durch die noch nie eines der Mädchen geschritten war, die Türe selbst schien auch neu zu sein. Die kleine Führerin öffnete sie und rief in das Zimmer hinein: „Da sind jetzt die Großen,“ und dann sprang sie wieder die Treppe hinunter.

In dem freundlichen, von der Sonne beschienenen Gemach, in das die Mädchen nun eintraten, stand Fräulein von Zimmern, eine würdige, ältere Dame mit grauem Haar. Sie ging der Mädchenschar entgegen und sprach freundlich: „Willkommen, meine Großen! Ihr seht euch ganz erstaunt um; nicht wahr, ihr wußtet nicht, daß hier oben ein so großes, helles Zimmer sei. Es steht auch noch nicht lange, ich ließ es erst in diesen Ferien ausbauen und für euch als Klassenzimmer einrichten. Möchtet ihr alle euer letztes Schuljahr recht glücklich darin verleben![1q]“

Ein Ausruf der freudigen Überraschung folgte auf diese freundliche Anrede. Die Mädchen sahen sich die neue Umgebung mit großem Wohlgefallen an. Das Zimmer war wirklich gemütlich eingerichtet: statt der Schulbänke und dem Lehrerpult stand in der Mitte ein langer, grüner Tisch und um denselben herum hübsche Rohrsessel. Wenn man da saß, konnte man sich an einen Familientisch versetzt glauben. Ein großer Strauß von bunten Astern prangte in der Mitte und fünfzehn kleine, duftende Resedensträußchen bezeichneten den Schülerinnen ihre Plätze. Die Fenster waren mit Vorhängen geschmückt und zwischen diesen hindurch sah man weit hin über die Häuser und Gärten der Stadt bis hinaus in die freie Landschaft.

Das war ein anderes Lokal als das düstere Parterrezimmer! Die Freude der Mädchen kam lebhaft zum Ausdruck, aber für den Dank wollten sich nicht so leicht die Worte finden. Gretchen hatte schon manchmal bei solchen Gelegenheiten die Sprecherin machen müssen, und als sie eben an eines der Fenster trat, sich des ungewohnten Fernblicks zu erfreuen, kamen einige der Freundinnen zu ihr und bedeuteten ihr durch leichte Rippenstöße, daß man ihrer bedürfe. Sie hatte kaum erfaßt, was von ihr erwartet wurde, als sie auch schon bei Fräulein von Zimmern stand und mit dem Ruf: „Wir danken Ihnen für diese wunderschöne Überraschung!“ auch den andern die Zunge löste.

Nie sehen die Menschen so strahlend aus den Augen, als wenn sie andern eine Freude bereiten, und so lag auch in den Zügen der Vorsteherin in diesem Augenblick ein solch herzgewinnender Ausdruck, daß die Mädchen, die von klein an nur mit ehrfurchtsvoller Scheu der gestrengen Lehrerin genaht waren, sich traulich um sie scharten und in fröhlichem Geplauder ihre Freude aussprachen.

Es wurde in dieser ersten Unterrichtsstunde, die Fräulein von Zimmern selbst gab, nicht so viel gearbeitet wie sonst, aber es war doch keine verlorene Stunde: in all den jungen Herzen war der Wunsch und Wille erweckt worden, sich dankbar zu zeigen durch treue Pflichterfüllung.

Um zehn Uhr wurde Fräulein von Zimmern bei ihren Schülern abgelöst durch Miß Hampton, eine Engländerin, die den Unterricht in ihrer Muttersprache zu erteilen hatte. Ehe die Vorsteherin das Klassenzimmer verließ, sagte sie zu Gretchen: „Komme um zwölf Uhr einen Augenblick in mein Zimmer, ich habe etwas mit dir zu besprechen.“ Gretchen hätte gerne gefragt: „was denn?“; sie konnte sich durchaus nicht vorstellen, was es sein konnte; ja sie gestattete sich auch während der englischen Stunde mit Hermine darüber zu beraten, da ohnehin keine musterhafte Stille am grünen Tisch herrschte. Die junge Engländerin, die heute ihre erste Stunde erteilte, verstand es noch nicht so recht, in der Klasse Ruhe zu halten. So erlaubten sich die Mädchen unter die englische Konversation auch deutsches Geplauder zu mischen, und Miß Hampton verließ nach der ersten Stunde entmutigt das Schulzimmer in dem Gefühl, daß sie sich, trotz ihrer guten Kenntnisse, der Aufgabe nicht gewachsen gezeigt habe.

Auf die englische Stunde sollte nach dem neuen Stundenplan ein französisches Diktat folgen; aber anstatt Fräulein Bertrand, die dieses Fach zu geben hatte, erschien zur großen Überraschung der Mädchen eine andere Gestalt. Es war Pfarrer Kern, der Pfarrer, der den Mädchen schon von der ersten Klasse an Religionsunterricht gegeben hatte, von dem auch die meisten Schülerinnen dieses Instituts konfirmiert wurden, und der bei ihnen allen nur „unser Pfarrer“ hieß. Auf dem Stundenplan für dieses Jahr stand aber keine Unterrichtsstunde von ihm, und deshalb sahen ihn fünfzehn Augenpaare erstaunt an bei seinem Eintritt. Der Pfarrer bemerkte es wohl, er begrüßte seine Schülerinnen freundlich und sagte dann:

„Ihr seht mich alle verwundert an, ja in Gretchen Reinwalds Augen lese ich ganz deutlich die Frage, die sie mir als kleines Mädchen schon einmal gestellt hat: „Was will der Mann?“ Diese stumme Frage will ich euch gleich beantworten. Fräulein von Zimmern ist der Meinung, daß alle Monate einmal eine der regelmäßigen Stunden ausfallen könnte zu Gunsten einer Stunde, die ich euch, meinen alten Schülerinnen, widmen würde. Wenn ich mich nicht irre, so sind wir so gute Freunde, daß wir wohl gerne einmal monatlich zusammenkommen und eine Stunde miteinander zubringen. Was meint ihr?“

Die freudige Zustimmung, die von allen Seiten erfolgte, kam den Mädchen aus dem Herzen, denn es war auch nicht eine unter ihnen, die lieber französisches Diktat gehabt hätte, als eine Stunde bei ihrem Pfarrer. Dieser setzte sich nun zu seinen Schülerinnen oben an den grünen Tisch, und blickte befriedigt über die auch ihm ganz neue Schulstube.

„Unsere ganze Umgebung ist eine andere als bisher,“ sagte er, „und ebenso wird auch unser Unterricht ein anderer sein. Was uns vorgeschrieben war – euch zu lernen und mir zu lehren – das haben wir erfüllt, und für euch gilt es nun, das Gelernte auch ins Leben zu übertragen. Darüber, wie das geschehen kann, möchte ich in diesem letzten Schuljahr zu euch heranwachsenden Mädchen reden. Von eurer Arbeit wollen wir reden, von euren Vergnügungen; von euren Beziehungen zu den Eltern und Geschwistern, zu den Freundinnen, zu den Dienstboten; kurz von allem, was ich denke, daß euer Leben ausfüllt, oder von dem, was ihr gerne besprochen haben möchtet. Hat im Lauf des Jahres eine von euch den Wunsch, diese oder jene Frage auszusprechen, so mag sie es jederzeit tun, sei es nun mündlich oder schriftlich, auf einem Blättchen, das ihr mir zuschicken könnt, mit oder ohne Namensunterschrift. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Menschen sich oft scheuen, das auszusprechen, was ihre Seele am tiefsten bewegt. Mich wird es freuen, wenn ihr diese Scheu überwindet und mir manchmal Stoff gebt zur Besprechung solcher Fragen, die euch beschäftigen. In der heutigen Stunde wollen wir miteinander darüber reden, was euch dies letzte Schuljahr bietet und was es von euch fordert, und dazu möchte ich nun euern neuen Stundenplan sehen.“

Die Schülerinnen von Fräulein von Zimmern mußten sich immer schon am Schluß eines Schuljahrs den Stundenplan für das kommende Jahr schreiben, und wer die schönste Handschrift besaß, hatte die Pflicht und das Vorrecht, ihn auf ein größeres Formular einzutragen, das hübsch verziert im Schulzimmer hing. Ottilie von Lilienkron hatte in diesem Jahr den Plan geschrieben, sie brachte ihn nun herbei. Der Pfarrer nahm ihn zur Hand und saß bald in traulichem Gespräch mit seinen Schülerinnen. Diese merkten es wohl kaum, daß sie auch in dieser Stunde lernten, und doch übte der zwanglose Unterricht guten Einfluß aus. Indem der Pfarrer von der englischen Stunde sprach, wußte er die Herzen der Mädchen für die fremde, junge Lehrerin zu gewinnen, so daß sie sich im stillen vornahmen, ihr künftig nicht, wie sie es heute getan hatten, ihren Beruf noch schwerer zu machen.

Als bei Betrachtung des Stundenplans die Nähstunde an die Reihe kam, seufzte Gretchen tief auf und bekannte, daß ihr diese Stunde schrecklich sei, und sie nicht begreifen könne, warum man so pedantisch darauf aus sei, daß alles fadengerade genäht werde. Der Pfarrer hatte ganz teilnahmsvoll zugehört. „Davon verstehe ich freilich nicht viel,“ sagte er, „aber es kommt mir doch vor, als sei das Wort „fadengerade“ kein so übles Wort. Sage du dir bei der nächsten verzweiflungsvollen Näherei: Da, längs dieses Fadens geht der gerade Weg, und den will ich nicht verlassen, wenn er noch so mühsam ist. Hast du das durchgeführt, so hast du eine schwere Pflicht erfüllt, trotzdem es sich nur um einen Faden handelt, und seht, das ist’s gerade, was ich möchte, daß ihr so recht erfaßt: Nichts ist so klein in unsrem Tun, daß es nicht wert wäre, gut getan zu werden, und bei dem geringsten, was wir tun, können wir Gott vor Augen und im Herzen haben.“

Als der Stundenplan durchgesprochen war, schlug es zwölf Uhr. Der Pfarrer verabschiedete sich von seinen Schülerinnen für einen ganzen Monat und wiederholte seine Aufforderung, ihm Fragen zukommen zu lassen, wenn sie irgend welche auf dem Herzen hätten.

Erst jetzt fiel es Gretchen wieder ein, daß sie nun bei Fräulein von Zimmern erscheinen sollte. Im Hinuntergehen sagte sie zu Hermine Braun: „Warte ein wenig an der nächsten Ecke auf mich, damit ich dir gleich berichten kann,“ und dann verschwand sie hinter der Türe, an der angeschrieben stand: Zimmer der Vorsteherin. Diesen Raum hatte Gretchen in den vielen Schuljahren, die sie hinter sich hatte, nur sehr selten betreten und meist mit einem gewissen Bangen, denn hieher wurden die Schülerinnen nur beschieden, wenn Fräulein von Zimmern etwas Besonderes mit ihnen zu besprechen hatte, und dieses Besondere war selten etwas Angenehmes. Heute hatte nun Gretchen das Gefühl, daß unmöglich etwas Schlimmes kommen könne, und guten Muts trat sie zu der Vorsteherin, die an einem Schreibtisch saß, nun die Feder weglegte und Gretchens Gruß erwiderte.

„Gretchen,“ begann sie dann, „deine Mutter hat mir einmal mitgeteilt, du habest große Lust, Lehrerin zu werden. Ist das noch immer so?“

„O ja,“ sagte Gretchen, „in einer solchen Schule, wie unsere ist, da möchte ich gerne Lehrerin sein.“

„Gut, ich will dir deshalb einen Vorschlag machen. Es ist eine neunjährige Schülerin neu eingetreten, Ruth Holland, Tochter des Forstrats Holland[2]. Die Familie lebte bisher auf dem Land, und das Kind hatte in seiner Schule noch keinen französischen Unterricht. Sie sollte nun das Wenige nachlernen, was ihre Altersgenossinnen hier schon gelernt haben. Willst du nun, so kannst du dem Kind diesen französischen Unterricht erteilen, wozu ich dir Anleitung geben würde. Du kannst bei dieser Gelegenheit erproben, ob du wirklich Freude am Lehren und Geschick im Umgang mit Kindern hast. Was meinst du dazu?“

„Ich tue es furchtbar gern,“ rief Gretchen voll Eifer.

„Keine solchen Ausdrücke, Gretchen! Das Eigenschaftswort ‚furchtbar‘ ist als Bestimmungswort für ‚gern‘ nicht zulässig.“

„Ich tue es sehr gern,“ verbesserte Gretchen, „aber ob es wohl die andern nicht auch alle gern täten? Zum Beispiel Hermine Braun, und sie, als erste, hat doch mehr Recht darauf, als ich.“

„Recht hat keine von euch darauf; übrigens hätte ich allerdings Hermine lieber als dich in Vorschlag gebracht, da sie durch ihre kleinen Geschwister mehr Erfahrung mit Kindern hat, als du; aber sie hat Musikstunden und deshalb weniger freie Zeit, als du. So frage denn deine Eltern, ob –“

„O, meine Eltern sind jedenfalls –“

„Nicht unterbrechen, Kind; es ist eine schlechte Gewohnheit, die bei Gebildeten nicht vorkommen sollte, merke dir das! Frage deine Eltern, und wenn sie einverstanden sind, dann kannst du gleich Donnerstag beginnen, im Klassenzimmer Nro. 3, nachmittags vier Uhr. Was wolltest du vorhin sagen?“

„Daß meine Eltern sich jedenfalls nur darüber freuen. Ist es wohl ein nettes Mädchen?“

„Ich glaube, daß die kleine Ruth ein gutes, aber etwas verschüchtertes Kind ist, das vielfach falsch behandelt wurde. Du mußt trachten, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie zu ermutigen.“

„O ja, das will ich tun, ich freue mich schrecklich – ich wollte sagen sehr – auf eine so herzige, kleine Schülerin!“

„Nun, so wollen wir das beste hoffen! Ich werde dir mit gutem Rat beistehen.“ Fräulein von Zimmern reichte Gretchen die Hand, diese verneigte sich, wie es in diesem Hause üblich war, ging sehr sittsam zur Türe hinaus und rannte dann nicht ganz so sittsam bis an die nächste Straßenecke, wo Hermine sie erwartet hatte.

In großem Eifer erzählte Gretchen von dem Vorschlag, den ihr Fräulein von Zimmern gemacht, und dann sah sie prüfend ihre Freundin an und fragte: „Hätte es dich sehr gefreut, wenn dir der Unterricht übertragen worden wäre?“

„Ach nein, wirklich nicht, ich habe so viel mit den Aufgaben meiner Geschwister zu tun, muß zum Beispiel täglich meiner Schwester bei den französischen Lektionen helfen, so daß es mir nichts Neues mehr ist; ich habe mir auch nie gewünscht, Lehrerin zu werden.“

„Ja, das weiß ich; dann freut mich’s um so mehr, daß Fräulein von Zimmern gerade an mich kommt. Ich denke es mir ganz reizend!“ Die Freundinnen trennten sich nun und Gretchen kam zu Hause gerade recht zum Mittagessen. Sie fand bei Vater und Mutter volle Teilnahme für all ihre Schulerlebnisse, und sie wußte dies Glück wohl zu schätzen.

Frau Reinwald war in den letzten Jahren mehrmals schwer krank gewesen, und so war Gretchen der Gedanke schon wiederholt nahe getreten, daß dies treue Herz bald aufhören könnte, für sie zu schlagen. Gegenwärtig aber war Frau Reinwald gesund, und Gretchen freute sich täglich darüber; es war eine stille Übereinkunft zwischen ihr und dem Vater, daß der Mutter alles Schwere möglichst abgenommen, und sie gehegt und gepflegt würde, obwohl Frau Reinwald selbst nie Rücksicht für sich verlangte. Aus diesem Grund war es auch Gretchen lieb, daß sie nicht mehr so viele Schulstunden hatte wie in den früheren Schuljahren und so der Mutter im Haushalt manches abnehmen konnte. Wenn sie nur schon mehr von den häuslichen Geschäften verstanden hätte, oder wenn Lene noch dagewesen wäre, sie anzuweisen! War auch Lene manchmal etwas grob gewesen, sie hatte doch Gretchen geliebt und wäre für sie durchs Feuer gegangen. Aber vor einigen Wochen hatte sie sich verheiratet.

Franziska, die nun draußen in der Küche waltete, war nie grob, nein, sie hatte feine Manieren und redete Gretchen mit „Fräulein“ an; aber Gretchen schien es doch, als ob sie ein wenig spöttisch gegen das junge Fräulein wäre, das sich bisher noch wenig um die Hausarbeit gekümmert hatte. So war es ihr unbehaglich zumute, als sie hörte, daß sie in der nächsten Woche zum erstenmal mithelfen sollte beim Wäsche legen und bügeln. Aber die Mutter machte ihr Mut: „Du bist ja nicht allein mit Franziska,“ sagte sie, „ich bin auch dabei. Wie schnell wird künftig alles erledigt werden, wenn meine große Tochter mithilft! Darauf habe ich mich schon gefreut, wie du noch ein ganz kleines Dirnchen warst!“

„Wirklich?“ fragte Gretchen, „dann muß es freilich nett werden, und ich freue mich darauf, trotz Franziska!“

Zweites Kapitel. Lene.

Inhaltsverzeichnis

In den nächsten Tagen, als Gretchen eben von der Schule heimkam, sagte Frau Reinwald zu ihr: „Du hast einen lieben Besuch versäumt, Frau Bauer war da.“

„Frau Bauer? Die kenne ich gar nicht.“

„Die kennst du nicht? Deine Lene?“

„Lene! Ach, wie sonderbar, daß man nun Frau Bauer zu ihr sagt! Wie geht es ihr denn? was hat sie erzählt?“

„Mir scheint, es geht nicht sonderlich gut, sie hat viel Schwierigkeiten, und als sie davon erzählte, kamen ihr sogar die Tränen.“

„O, wenn Lene einmal weint, dann muß es schon recht arg sein! Ist denn ihr Mann nicht gut gegen sie?“

„Doch, der Mann wohl, aber du weißt ja, daß er Kutscher[3] ist und fast immer auf der Fahrt, dann ist Lene allein mit den drei Kindern, die sie angetreten hat, und die machen ihr das Leben recht sauer. Es sind drei wilde, verwahrloste Buben und überdies scheinen sie gegen Lene aufgehetzt zu werden. Es wohnt eine Verwandte, eine alte Base[4], wie Lene sagt, in der Nähe, die besorgte vorher den Haushalt und war gegen die Heirat. Die legt nun alles böse aus, was Lene tut.“

„Lene soll sie doch nicht mehr ins Haus lassen!“

„Sie kommt auch nicht, aber sie lockt die Kinder zu sich und fragt sie aus. Wenn Lene ihre Wohnung schön rein und ordentlich macht, wie sie es bei uns gewöhnt war, und nicht leiden will, daß die Kinder alles gleich wieder schmutzig machen, dann heißt es: ‚Die Base sagt, du seiest eine Putznärrin‘; wenn Lene sparen will, dann heißt man sie geizig, und wenn sie die Buben zurechtweist, dann sagen sie: ‚Wärest du nicht zu uns gekommen, wenn wir dir nicht recht sind!‘“

„Aber Mutter, das ist ja ganz empörend, nein, unsere gute Lene so zu behandeln! Die sind es gar nicht wert, daß sie sie bekommen haben!“

„Das mußte ich auch denken. Wie sollten sie glücklich sein, daß ihr verwahrlostes Hauswesen in Ordnung gebracht wird!“

„Ja,“ sagte Gretchen, „und gegen die Kinder ist sie gewiß immer gut. Weißt du noch, Mutter, wie sie sich um mich angenommen hat, wie du krank warst? Sie hat mit mir gespielt und mir Geschichten erzählt und ganz für mich gesorgt. So macht sie es gewiß auch mit den drei Buben, die jetzt doch ihre Kinder sind, und die sind so undankbar! Was hast du denn Lene zum Trost gesagt, Mutter?“

„Leider ist uns ein Besuch dazwischen gekommen, und ich konnte ihr nur noch versprechen, daß wir bald und oft nach ihr sehen würden. Du könntest manchmal nach deiner Nachmittagsschule zu ihr hingehen, von der Schule aus ist’s nicht mehr so weit.“

„Ja, das tue ich. Wenn dann nur die drei wilden Buben aus dem Weg wären!“

„Die sitzen wohl nachmittags nicht viel daheim, du wirst Lene leicht allein treffen.“

„Ich gehe zu ihr, so bald ich kann!“ Gretchen konnte ihre Gedanken gar nicht mehr von Lene losbringen, und ganz empört erzählte sie mittags dem Vater, was sie gehört hatte. Herr Reinwald beschwichtigte. Er meinte, aller Anfang sei schwer, sie würden sich allmählich schon besser zusammenleben.

„Aber die wilden Buben!“ rief Gretchen.

„Wilde können gezähmt werden[2q].“

„Aber die Base!“

„Basen können sich beruhigen,“ sagte Herr Reinwald in unerschütterlicher Ruhe. Das befriedigte Gretchen nicht, sie fand den Vater nicht teilnehmend genug.

„Die arme Lene, sie hat sogar geweint,“ sagte sie.

„Die ‚arme Lene‘ macht vielleicht auch manchen Fehler, ein Engel ist auch sie nicht. Ehe man so unbarmherzig den Stab bricht über ihre Angehörigen, müßte man doch mehr Einblick in die Verhältnisse haben.“

„Aber Lene hat ja der Mutter alles erzählt!“

„Eines Mannes Red

Ist keines Mannes Red,

Man muß sie hören alle beed.“

Dieser Spruch brachte Gretchen vollends in Verzweiflung. „O Mutter,“ rief sie, „sprich doch auch ein Wort für Lene, der Vater hat gar kein Herz mehr für sie!“ Frau Reinwald legte sich ins Mittel. „Sei nur zufrieden, ich gehe in der nächsten Zeit einmal hin und sehe, wie es steht.“

Gretchen war nun still, aber sie mußte immer an Lene denken, bis dieser Kummer durch den Gedanken an die französische Stunde verdrängt wurde, die sie heute zum erstenmal erteilen sollte. Sie hätte sich nur gefreut auf diese Stunde, wenn sie über einen Punkt beruhigt gewesen wäre: ob Fräulein von Zimmern den Stunden beiwohnen würde. Sie war überzeugt, daß sie allein ihre Sache viel besser machen würde und bald gut Freund wäre mit der fremden Kleinen, für die sie schon eingenommen war, ehe sie dieselbe kannte, aber in Gegenwart von Fräulein von Zimmern traute sie sich nichts zu. Als sie nun um vier Uhr ins Schulhaus kam, stürmten die Kinder alle die Treppe herunter, und es war ihr ganz eigen zumute, daß sie, als Lehrerin, dem Strom entgegen hinaufging.

Die dritte Klasse hatte sich eben entleert, ein Kind saß allein noch auf der letzten Bank, und Gretchen konnte leicht erraten, daß das ihre künftige Schülerin war. So einsam im Schulzimmer zurückbleiben müssen, wenn alle Kamerädinnen hinausspringen, so auf der letzten Bank sitzen und warten, bis eine ganz fremde Lehrerin kommt, das ist keine glückliche Lage, und Gretchen mit ihrem warmen Herzen fühlte das sofort. Sie hatte eigentlich warten wollen, bis Fräulein von Zimmern sie in aller Form der Schülerin vorstellen würde, aber als sie das Kind so verlassen sah, kam es ihr anders. Schnell ging sie auf sie zu, setzte sich neben sie auf die Bank, legte den Arm um sie und sagte: „Gelt, du möchtest jetzt gewiß lieber mit den andern fort, als bei mir französisch lernen? Aber ich mach’s gar nicht lang; sieh, da legen wir meine Uhr her und sowie der Zeiger da auf halb ist, hören wir auf.“

Die Kleine antwortete nicht auf diese freundliche Anrede. Gretchen erinnerte sich an Fräulein von Zimmerns Wort: „verschüchtert“. Ja, so erschien sie und so zeigte sie sich auch, als jetzt Fräulein von Zimmern eintrat. Sie blieb sitzen, während Gretchen vortrat und grüßte. Fräulein von Zimmern, die sonst jede kleine Unhöflichkeit zu tadeln pflegte, übersah es bei diesem Kind und sprach milder, als sonst ihre Art war. Gretchen merkte wohl, daß es ihr am Herzen lag, die Kleine zu ermutigen.

„Das ist Ruth Holland, deine Schülerin; Ruth, sieh, das ist Fräulein Reinwald.“

Gretchen war ganz betroffen, sich so vorgestellt zu hören; aus dem Munde der Vorsteherin lautete das „Fräulein Reinwald“ gar zu ungewohnt.

Fräulein von Zimmern zeigte nun Gretchen, wo Ruth, die erst seit kurzem angefangen hatte, Französisch zu lernen, in ihrem Lehrbuch stand. Gretchen sollte zuerst die kleine schriftliche Arbeit korrigieren und die gelernten Wörter überhören, dann die neue Lektion durchgehen. Ein heller Platz in der vordersten Bank wurde für die kleine Schülerin bestimmt und dann wies Fräulein von Zimmern auf einen Sessel, den sich Gretchen vor den Platz der Kleinen stellen sollte. Gretchen wagte eine Einsprache.

„Ich säße viel lieber neben ihr auf der Bank, es ist viel traulicher; darf ich?“

„Die niedrige Bank ist für dich unbequem, doch magst du das einrichten, wie du willst.“

Im Nu saß Gretchen neben Ruth, schlang den Arm wieder um sie, während sie mit der andern Hand das Heft nahm, in dem eine Übersetzung zu korrigieren war. „La mère“ hießen die ersten Worte und auf „mère“ fehlte der Akzent; eifrig bemühte sich nun die junge Lehrerin, ihrer Schülerin zu erklären, warum dies kleine Zeichen nicht fehlen dürfe. Sie beachtete nicht mehr die Gegenwart von Fräulein von Zimmern, sie war viel zu sehr bei der Sache, und so bemerkte sie auch den wohlwollenden Blick nicht, den die Vorsteherin auf die kleine Gruppe warf, ehe sie nach einer Weile das Zimmer verließ.

Die halbe Stunde erschien Gretchen fast zu kurz, sie hätte in ihrem Eifer gerne noch weiter gemacht, aber sie dachte an ihr Versprechen und machte pünktlich Schluß. Sie half der Kleinen, ihr Jäckchen anzuziehen, freute sich an dem zierlichen Gestältchen und fing an, mit Ruth zu plaudern. Aber die Unterhaltung blieb ganz einseitig, und sobald das Kind fertig war, huschte es mit kaum hörbarem Gruß zur Türe hinaus. „Jetzt ist sie natürlich noch schüchtern, aber in der nächsten Stunde wird sie schon zutraulich werden,“ sagte sich Gretchen, während sie das Schulzimmer hinter sich abschloß, das ihr, still und unbelebt, wie es um diese Zeit war, fast fremd erschien.

Sie schlug nicht den Heimweg ein, es zog sie unwiderstehlich zu Lene, sie mußte einmal nach ihr sehen. In einem kleinen Gäßchen der Altstadt wohnte der Kutscher Bauer, ein sehr zuverlässiger Mann, den Lene in früheren Jahren oft für Herrn Reinwald zu Ausfahrten bestellt hatte. Gretchen war kurz nach Lenes Heirat schon einmal dagewesen, um ein Hochzeitsgeschenk zu überbringen. So war ihr die Wohnung nicht unbekannt. Man mußte an dem Vorderhaus vorbei durch einen Hof in das Hintergebäude gehen. Dort war der Pferdestall und die Wagenremise und daneben die kleine Parterrewohnung, die der Kutscher bewohnte. Gretchen klopfte an der Zimmertüre, und als niemand „herein“ rief und sie doch von innen Gepolter hörte, klopfte sie noch lauter. Da wurde die Türe aufgerissen und sie stand einem etwa zwölfjährigen Knaben gegenüber, der sie anredete: „Wollen Sie zum Kutscher?“ Gretchen wußte sofort, daß das einer der drei wilden Buben war; sie sah auch, daß ein zweiter mitten auf dem Tisch stand, sah, daß dieser Tisch tadellos weiß gefegt war und daß der Bub, der darauf stand, schmutzige Stiefel hatte. In einem Augenblick hatte sie das alles bemerkt; jetzt antwortete sie auf die Frage des Großen: „Ich möchte zu Lene, zu Frau Bauer.“

„Die ist nicht da.“

„Ist sie ausgegangen? Kommt sie wohl gleich wieder?“

„Sie ist ausgegangen, aber ob sie wohl gleich wieder kommt oder noch eine Stunde lang schwätzt, weiß ich nicht.“

„Schwätzen tut sie nicht, das weiß ich,“ rief Gretchen, deren Zorn gegen die Buben gleich hell aufloderte. „Ich kenne die Lene besser als ihr, sie war vierzehn Jahre bei uns!“

„Meinetwegen hätte sie auch vierundzwanzig Jahre bei euch bleiben können!“

„Ich wollte auch, sie wäre bei uns geblieben,“ rief Gretchen mit zunehmender Erbitterung, „bei uns hat sie es gut gehabt, ich habe sie so lieb und sie mich, und ihr seid so häßlich gegen sie!“

„So? Woher wißt Ihr denn das? Hat sie uns schon verklagt?“

„Wenn sie euch auch nicht verklagt hätte,“ entgegnete Gretchen, „so hätte ich das schon selbst gemerkt, wenn du gleich sagst: ‚sie schwätzt!‘ und wenn der andere dort auf dem frisch geputzten Tisch herumsteigt, daß Lene gerade wieder von vorn anfangen muß zu putzen!“

„Was kümmert’s Euch?“ rief trotzig der Große, „das ist unser Tisch und unsere Stub, da habt Ihr nichts drein zu reden! Wir können tun, was wir mögen, und Euch geht’s nichts an!“

„Das geht mich freilich an, wenn ihr meine Lene so unglücklich macht,“ rief Gretchen in höchster Erbitterung und mit Tränen der Erregung.

Der Große lenkte ein. „So schlecht sind wir auch nicht, daß wir jemand unglücklich machen! Da ist doch die Bas viel unglücklicher, die heult den ganzen Tag, weil sie aus dem Haus gemußt hat und ganz allein ist, und Eure Lene ist noch nicht ein einziges Mal zu ihr hinübergegangen und hat ihr noch nie einen Teller Suppe gebracht. Das ist doch auch nicht recht, das schreit zum Himmel, sagt die Bas.“

Gretchen horchte hoch auf. „Ist denn die Base arm?“ fragte sie.

„Wenn sie doch keinen Verdienst mehr hat!“

„Das weiß gewiß die Lene nicht!“

„Was wird sie’s nicht wissen!“

„Nein, sie weiß es nicht,“ beharrte Gretchen, „man muß es ihr nur sagen, dann bringt sie der Base gleich etwas!“

Der Kleine, der mittlerweile doch vom Tisch heruntergestiegen war, hatte nun auch etwas zur Sache zu bemerken.

„Ich hab’ der Bas einmal ein Stück Fleisch zugetragen,“ erzählte er, „dann wie die neue Mutter dahintergekommen ist, hat sie mich gescholten. Ja, und sie will uns gar nimmer zur Bas hinüber lassen, die ist ihr schon zu gering, und alles will sie schöner haben, als es vorher war, weil sie der Hochmut plagt, sagt die Bas.“

Gretchen mußte an ihren Vater denken, er hatte wohl recht, Lene machte vielleicht auch nicht alles ganz gut. „Es ist aber auch recht schön bei euch,“ sagte sie begütigend; „wie ich voriges Jahr einmal in eurer Stube war, um den Kutscher zu bestellen, da hat es anders ausgesehen.“

„Schön ist’s, das ist richtig,“ gab der Große zu, „wer ins Haus kommt, rühmt, daß es bei uns so sauber aussehe,“ und er sah mit Stolz um sich.

„Und gut ist sie auch, die Lene!“ rief Gretchen eifrig. „Wie ich noch klein war, hat sie mir am Sonntagnachmittag oft Geschichten erzählt und vorgelesen und mit mir gespielt. Mit euch hat sie gewiß auch schon gespielt?“

„Nicht ein einziges Mal!“

„Aber vorgelesen oder erzählt?“

„Das ist bei uns nicht der Brauch, das hat sie halt bei euch getan, aber wir sind ihr viel zu gering.“

Gretchen dachte nach. „Mir hat sie auch nie erzählt, wenn sie sich über mich hat ärgern müssen, bloß wenn ich brav war. Aber paßt auf! Wischt den Tisch schön ab, macht alles sauber, daß ihr’s gefällt, wenn sie heimkommt, und dann sagt zu ihr: Einen schönen Gruß von deinem Gretchen und du sollst uns heute abend die Geschichte von der Feuersbrunst im Gefängnis erzählen. Dann tut sie’s gewiß und die Geschichte ist wunderschön.“

„Was kommt darin vor?“ frug der Kleine.

„Ich kann’s jetzt nicht erzählen, ich muß nach Hause, und Lene kann’s viel schöner als ich.“ Gretchen ging.

Sie war nicht mehr so entrüstet wie am Anfang ihres Besuchs, sie dachte ein wenig milder über die Buben und über die Base, sie fühlte, daß da große Schwierigkeiten zu überwinden waren, und es stand fest bei ihr, die Mutter mußte zu Lene kommen und alles ins gute Geleise bringen.

Während sie in diesen Gedanken heimwärts ging, wurde in der Stube des Kutschers der Tisch abgerieben und alles, was in Unordnung geraten war, aufgeräumt. Der dritte Bruder kam nun auch heim. Er ahnte nichts von der neuen Ordnung der Dinge; als er sich aber beikommen ließ, einen Apfelbutzen auf den Boden zu werfen, was die beiden andern noch vor einer Stunde ebenso gemacht hätten, wurde er von seinen Brüdern hart angelassen, so daß er große Augen machte. Sobald er aber erfaßt hatte, um was es sich handelte, daß nämlich die Mutter dafür gewonnen werden sollte, eine Geschichte von der Feuersbrunst im Gefängnis zu erzählen, trat er in das Komplott ein, und so kam es, daß Lene alles in tadelloser Ordnung vorfand, als sie nach einiger Zeit von ihren Ausgängen heimkam. Sie merkte gleich, daß etwas nicht war, wie sonst. Es herrschte Frieden, Ruhe und Ordnung, und sie selbst wurde mit einem gewissen Interesse angesehen, wie wenn sie eine neue Erscheinung wäre. Und in der Tat sahen die Kinder sie daraufhin an, daß sie so innig geliebt wurde von einem jungen, feinen Mädchen. Sie dachten daran, daß dieses Mädchen Tränen vergossen und gesagt hatte, Lene sei unglücklich und sie seien schuld daran.

„Was schaut ihr mich so an?“ fragte Lene.