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In "Kriegsbüchlein für unsere Kinder" gestaltet Agnes Sapper ein eindringliches und vielschichtiges Werk, das den Schrecken des Krieges in einer für Kinder angemessenen Form reflektiert. Ihre Prosa verbindet eine klare, angepasste Sprache mit nostalgischen Elementen und aufklärerischem Inhalt, wodurch sie sowohl schockiert als auch sensibilisiert. Das Buch dient nicht nur als Erzählung, sondern auch als Lehrmittel, das die Sorgen und realen Ängste einer kriegsgebeutelten Gesellschaft thematisiert, ohne dabei die kindliche Unschuld zu verlieren. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
„Begreifst nicht?“ sagte die Mutter, „wenn ich dir einen Nickel[1] gebe und[1q] sage, du sollst mir Salz holen, dann darfst du nicht hingehen und dir Gutele darum kaufen; gelt das wäre nicht recht? Da hat aber der russische Kaiser[2] vielleicht 1000 Mark hergegeben, hat zu seinen Leuten gesagt, sie sollen Büchsen mit Fleisch und Gemüse füllen für die Soldaten. Die haben aber das Geld für sich behalten, haben kein Fleisch und Gemüse gekauft, sondern sie haben Sand geholt und in die Büchsen getan und haben sie zugelötet.“
„Die Russen haben das getan?“ fragte Hans, der mit größter Spannung[2q] zugehört hatte.
„Ja die Russen, die Deutschen nicht, die tun so etwas nicht, die sind ehrlich.“
„Mit wieviel Jahren wird man denn ein Deutscher?“ fragte Hans wieder[3q], „ich möchte auch ein Deutscher werden.“
Sie lachten über den Kleinen und die Mutter streichelte ihm den Blondkopf: „Bist schon längst einer, Hans, schon seit du auf der Welt[4q] bist. Bist kein Russe, nein, sondern ein ehrlicher, deutscher Bub!“ Georg, der am Ladentisch lehnte, hatte aus den Worten der Mutter gehört, daß der Deutsche ehrlich sei; und er wurde ganz nachdenklich. Die fünf Pfennig, die für den Käs bestimmt waren, hatte er für Schokolade ausgegeben; wie die Russen, dachte er. Aber ich bin doch ein Deutscher. „Wenn einer einmal ein wenig unehrlich ist, deswegen bleibt er doch ein Deutscher, gelt Mutter?“ sagte er, „nur natürlich so etwas, wie mit den Büchsen, darf er nicht tun!“ Der Vater blickte von der Zeitung auf und sah Georg an. „Mit der kleinen Unehrlichkeit fängt's allemal an,“ sagte[5q] er, „es hat keiner gleich 1000 Mark. Aber wenn er zuerst um einen Pfennig betrügt, so kommt er immer weiter.“
„Das ist doch ein Unterschied, auf fünf Pfennig kommt's doch nicht an,“ beharrte Georg.
„Auf die Pfennige käme es vielleicht nicht an, aber auf die Ehrlichkeit, die darf eben keinen Flecken haben; da muß sich einer rein halten, schon als Bub, dann bringt er's auch als Mann zustand. Was meinst du, warum soll es leichter sein, auf 1000 Mark zu verzichten, die man sich erschwindeln kann, als auf fünf Pfennig? Wer das eine nicht kann, wird auch das andere nicht können.“
Jetzt wurde es Georg ganz angst; er würde doch nicht später einmal so etwas tun, wie es die Russen getan hatten?
„Gelt, dich drückt etwas,“ fragte die Mutter ihren Großen, der in sichtlichem Unbehagen dastand, „hast was auf dem Gewissen, Georg?“
„Ja, fünf Pfennig vom Käs. Die waren übrig und ich hab mir Schokolade dafür gekauft und schon gegessen, sonst möcht' ich sie gleich hergeben.“
„So, so!“ sagte der Vater und besann sich ein wenig. Eigentlich gehörte doch Strafe auf so etwas; aber er strafte so ungern. Während er sich so besann, faltete er das Zeitungsblatt zusammen, sodaß die erste Seite wieder obenauf lag mit der großen, frohen Siegesnachricht über die Russen. „Ja, ja,“ sagte er plötzlich und sah hell auf, „die Russen haben[6q] wir besiegt; die ganze Russenart müssen wir unterkriegen; denn etwas davon gibt's auch bei uns Deutschen, aber wir kämpfen dagegen an. Wir sehen's jetzt im Krieg, wohin das führt. Ehrliche Deutsche wollen wir sein, keinen Fünfer erschwindeln, dann gibt's keinen Sand in den Büchsen, gelt du?“—„Ja, Vater!“—„Da drüben ziehen sie die Fahne auf!“ rief der Kleine und sie traten alle unter die Ladentüre. „Ja, Sieg über die Russen und über die Russenart!“
Zu welcher Fahne?[7q]
Unter den vielen Deutschen, die sich in Paris aufhalten, war zur Zeit des Kriegsausbruchs ein Bankbeamter namens Kolmann. Er war von Geburt Elsässer; auch seine Frau stammte aus dem Elsaß[3]. In Straßburg hatten sie ihren Hausstand gegründet, dort waren auch ihre beiden ältesten Kinder, zwei Knaben, geboren, die jetzt sechs und acht Jahre alt waren. Später war die Familie Kolmann nach Paris übergesiedelt, wo dem Manne eine gute Stelle an einem großen Bankgeschäft angeboten war. Sie lebten nun seit drei Jahren in Paris und dort war zu den beiden kleinen Brüdern noch ein Schwesterchen gekommen. Für die Elsässer war das Eingewöhnen in Paris leicht gewesen; von Jugend an war ihnen die französische Sprache vertraut; sie sprachen auch mit ihren Kindern französisch und jedermann, der nicht näher mit ihnen bekannt war, hielt sie für Franzosen. Paul und Emil, die beiden kleinen Jungen, gingen mit den französischen Altersgenossen zur Schule.
Aber jetzt kam der Krieg. Er drohte schon in der letzten Woche des Juli und brachte schwere Sorgen und Überlegungen für viele Deutsche in Paris.
In dem Bankgeschäft, für das Kolmann arbeitete, waren mehrere junge Deutsche angestellt. Sie waren schnell entschlossen abzurufen; wußten sie doch, daß ihres Bleibens nicht mehr war, und daß sie jeden Tag ihre Einberufung erwarten mußten. So verließen sie Frankreich noch vor dem eigentlichen Ausbruch des Krieges und eilten in ihr Vaterland zurück.
Der Direktor der Bank, für den die plötzliche Abreise mehrerer Angestellter sehr störend war, sprach mit Kolmann. Er sagte ihm, daß er darauf rechne, ihn, den Elsässer, zu behalten. Im Kriegsfall käme ja Elsaß doch wieder an Frankreich. Die Elsässer würden alle gleich bei Beginn des Kriegs zu den Franzosen übergehen; daran sei gar nicht zu zweifeln.
Darauf entgegnete Kolmann, er habe in Deutschland gedient und würde im Kriegsfall einberufen werden.
„Dagegen gibt es ein sehr einfaches Mittel,“ meinte der Direktor; „Sie dürfen sich nur naturalisieren lassen, das heißt wieder Franzose werden. Im übrigen ist ja immer noch Hoffnung, daß es nicht zum Krieg kommt; die Gefahr kann auch wieder vorüber gehen. Einstweilen möchte ich Sie ersuchen, möglichst die Arbeit der abgereisten Kollegen zu übernehmen, wofür ich Ihren seitherigen Gehalt verdoppeln werde.“
Sehr nachdenklich kam an diesem Abend Kolmann vom Geschäft heim. Seine drei Kinder waren schon zu Bett gebracht. In einem reizenden, kleinen Salon erwartete ihn seine Frau.
„Wie spät du heimkommst,“ klagte sie. „Das kann doch nicht so weiter gehen! Der Direktor kann nicht von dir verlangen, daß du die Arbeit der Herrn übernimmst, die abgereist sind.“—„Ich muß es ja nicht umsonst tun. Der Direktor hat mich heute darum gebeten und mir den doppelten Gehalt angeboten.“
„O wie fein!“ rief Frau Kolmann, „den doppelten Gehalt! Ja, dann werde ich nicht murren, wenn du später von der Bank kommst; wir werden den Abend um so vergnügter verbringen. Gehen wir gleich heute noch ins Odeon? Oder wo feiern wir sonst diese frohe Botschaft?“—„Bitte, laß uns nur ruhig zuerst zu Abend essen. Ich bin wirklich müde und gar nicht in der Stimmung auszugehen.“
„Schade,“ sagte die junge Frau, „wie kann einer nicht in guter Stimmung sein, wenn man ihm unvermutet einen so glänzenden Gehalt anbietet? Aber ich will dich nicht plagen, mein Lieber; mich hat diese Nachricht wirklich in die allerbeste Stimmung zersetzt. Komm ins Eßzimmer, der Tisch ist gedeckt. Wir werden Champagner aus dem Keller holen lassen und auf das Wohl deiner Herrn Kollegen trinken, die ihren Gehalt im Stich gelassen haben und uns zu reichen Leuten machen. Wie töricht sie waren, so schnell abzureisen; es kommt garnicht zum Krieg gewiß nicht, ich habe es heute erst im Figaro gelesen.“
„Glaube den französischen Zeitungen nicht, sie lügen![8q]“
„Aber nein, gewiß nicht; was ich gelesen habe, kann nicht erlogen sein: der Zar hat dem deutschen Kaiser telegraphiert, er wolle keinen Krieg. Auch der König von England versichert, er habe den ernsten Wunsch, einen europäischen Krieg zu verhindern. Daß die Franzosen den Krieg fürchten, wissen wir doch ganz gewiß und ebenso, daß die Deutschen nie anfangen. Also, wie soll es einen europäischen Krieg geben? Komm, sei nicht so schwarzsichtig, laß dir das Essen schmecken. Denke nicht mehr an den Krieg. Du hast noch gar nicht nach den Kindern gefragt.“
„Ja, wie geht es ihnen?“
Die Mutter erzählte nun fröhlich, daß die kleine Mimi, die einjährige, schon die ersten Schrittchen allein mache und wie Emil und Paul zärtlich seien mit dem kleinen Liebling. Über diesem Geplauder wurde auch der Vater wieder heiter, die Kinder waren seine Herzensfreude.
Am nächsten Morgen machte sich Kolmann frühzeitig auf den Weg zur Bank. Er wußte, daß viel Arbeit auf ihn wartete, und verabschiedete sich von Frau und Kindern mit den Worten: „Auf Wiedersehen um zwei Uhr.“ Zärtlich küßte er seine zwei Knaben, die mit der Mutter beim Frühstück saßen, ging auch noch in das Kinderzimmer, wohin ihn das Stimmchen der Kleinen lockte. Sie wurde eben von der „Bonne“ in ein weißes Kleid gesteckt und streckte verlangend dem Papa die Ärmchen entgegen. Nur einen Augenblick hatte er Zeit, das Kind auf den Arm zu nehmen; dann gab er es wieder der Kinderfrau zurück und verließ eilends das Haus.—Er war noch keine hundert Schritte gegangen, als ihm ein Junge ein Zeitungsblatt anbot: „Es ist der Krieg!“ rief der Junge, erhielt einen Sou und eilte zum[9q] nächsten Vorübergehenden mit dem Ruf: „Es ist der Krieg!“
Kolmann hielt mit vor Aufregung zitternden Händen das Blatt und las, daß die Franzosen über die deutsche Grenze geschritten und in die Vogesen eingedrungen waren. Daraufhin hatte Deutschland an Frankreich den Krieg erklärt.
Da wandte Kolmann seine Schritte zurück und nach wenigen Minuten war er wieder in seinem Haus, trat in das Zimmer, in dem seine Frau friedlich mit den beiden Knaben am Frühstück saß, und sagte auch nur die vier Worte: „Es ist der Krieg!“ Sie griff nach dem Blatt, das er ihr hinhielt. Sie las es. „Also wirklich?“ Nun mußte auch sie an den Krieg glauben. Das Blatt fiel ihr aus den Händen, Paul nahm es auf. Er las, was mit großen Buchstaben dastand, und weil er mit seinen Kameraden gern Krieg spielte, so dachte er sich hinein, wie die großen Leute nun wohl den Krieg führen würden. Vater und Mutter sprachen halblaut miteinander und sprachen deutsch, wie sie es meist taten, wenn das französische Dienstmädchen im Zimmer nebenan war. „Papa,“ fragte Paul—er redete französisch—„Papa, die Bonne hat gestern gesagt, die Russen und die Engländer halten zu uns, ist das wahr?“—„Zu uns?“ Der Vater sah seinen Jungen an. Er hatte nie mit ihm darüber gesprochen, daß sie Elsässer und also Deutsche waren, denn er wollte, daß seine Kinder sich ganz heimisch und wohl fühlten unter den französischen Kameraden. Und jetzt, in dem Augenblick, da Krieg ausbrach, war es noch bedenklicher, davon zu sprechen. „Bitte Papa, sage mir's!“ wiederholte Paul, „hält England zu uns?“
„Franzosen, Engländer und Russen halten zusammen,“ sagte Herr Kolmann ausweichend.—„Dann werden wir leicht fertig mit den Deutschen; oder haben die auch Freunde?“
„Ja, Österreich geht mit Deutschland.“
„Papa, wer wird's gewinnen?“
„Wir, Paul,“ sagte der Vater und er dachte dabei „wir Deutschen“, aber er merkte wohl, daß Paul dachte: Wir Franzosen. Paul war befriedigt; er forderte den jüngeren Bruder auf, mit ihm hinüber zu gehen ins Kinderzimmer, sie wollten Soldaten spielen.
Die Eltern blieben allein zurück. „Paul meint, wir seien Franzosen,“ sagte Kolmann. „Das ist ja nur gut,“ entgegnete seine Frau, „Elsaß kommt nun sicher wieder an Frankreich. Ich hörte es neulich erst sagen, ganz Elsaß freue sich auf einen Krieg und werde in der ersten Stunde zu Frankreich übergehen.“
„Was man wünscht, das glaubt man gern. Charlotte, ich glaube es nicht, und von all den Elsässern, die wie ich im deutschen Heer gedient haben, wird das keiner glauben. Denke an deinen Bruder; weißt du nicht mehr, wie er begeistert war für das deutsche Heer? Meinst du, daß er überginge zur französischen Fahne?“
„Der freilich nicht,“ sagte sie nachdenklich und nach einer Weile fügte sie hinzu: „Gottlob, daß du nicht in den Krieg mußt; es wäre ja schrecklich, wenn man nicht wüßte, zu wem man halten sollte.“ In sichtlicher Unruhe ging Herr Kolmann hin und her. Sie sah ihm nach.
„Was beunruhigt dich so?“ fragte sie teilnehmend.
Er schwieg.
„Sage es mir doch, lieber Freund,“ bat sie zärtlich.
