GRIMM - Suicide Love - Mika D. Mon - E-Book

GRIMM - Suicide Love E-Book

Mika D. Mon

5,0

Beschreibung

"Ich habe keine Angst vor dem Tod!" "Ich weiß", haucht seine raue Stimme leise. "Du liebst ihn ebenso wie ich." Sein Name ist Grimm. Er hat meine Familie getötet – und jetzt werde ich ihn töten. Allein auf diese Rache habe ich die letzten Jahre hingearbeitet. Dafür lebe ich. Aber als ich ihm endlich gegenüberstehe und ihm meine Klinge an den Hals halte, fühle ich meine Emotionen über mich hereinbrechen. Mein Name ist Grimm. Ich bin tot. Nur in den Momenten, in denen mir der Tod am nächsten ist, schlägt mein Herz. Aber du, deine Gefühle, deine Tränen, sie regen etwas in mir. Was ist es? Ich weiß es nicht – aber ich will mehr davon. Mehr von dir. Ein dunkler Liebesroman.

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Beliebtheit




Für alle, die ihr Herz an den Tod verloren haben.

Und für Hanna und Heinrich, die jetzt für immer vereint sind.

Vorwort

Hallo.

Mein Name ist Grimm.

Ich will dir meine Geschichte erzählen. Hör mir zu, wenn du möchtest.

Aber glaube nicht, dass es eine harmlose Liebesgeschichte wird.

Einhörner und Regenbögen gibt es bei mir nicht.

Bei mir erwarten dich keine sexy »Bad Boys«, die dich verführen.

Nein.

Meine Welt ist dunkel.

Meine Geschichte bitter.

Mein Leben ist der Tod.

Und meine Liebe ist Selbstmord.

Bist du bereit, mir zu folgen?

Lieber Leser, liebe Leserin,

du solltest dieses Buch nur lesen, wenn du dich stabil genug dazu fühlst. Es werden unter anderem sensible Themen wie Missbrauch, Gewalt und Suizidgedanken angesprochen. Wir möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir uns mit diesen Themen intensiv beschäftigt haben, die Inhalte mit psychologischem Rat verfasst wurden und wir ihnen mit allerhöchstem Respekt gegenübertreten.

Solltest du während des Lesens Redebedarf haben, laden wir dich herzlich ein, dich bei uns zu melden.

[email protected] oder Instagram: @mikadmon

Solltest du Selbstmordgedanken haben, wende dich unbedingt an deine Familie und Freunde und sprich mit ihnen darüber. Sie hören dir zu und können dir helfen!

Oder hole dir ärztlichen Rat bei deinem Hausarzt ein! Wenn du anonym bleiben möchtest, gibt es auch telefonische Seelsorge.

Kapitel 1

Lucia

Ist es noch eine Vergewaltigung, wenn man aufgehört hat, sich zu wehren? Wenn man einfach nur noch alles über sich ergehen lässt, damit die Schmerzen nicht so schlimm sind? Und wenn es der eigene Ehemann ist, der sich an einem vergreift?

Ich denke darüber nach, während er auf mir liegt und sich immer wieder rücksichtslos in mich treibt. Mein Kopf hängt vom Bett herunter und ich schaue kopfüber aus dem Fenster hinaus in die Wolken, die sich mit jedem Stoß seines Beckens gegen meines ruckartig bewegen. Es tut nicht mehr weh. Innerlich bin ich taub. Dennoch überzieht ein Tränenschleier meinen Blick. Er ist die Reaktion meines Körpers auf den ungewollten Eindringling und kein Ergebnis meiner Gefühle.

»Oh, Lucia, du geiles Stück«, knurrt mein Mann über mir, fasst grob unter mein schwarzes Seidennegligé, was er mich zu tragen gezwungen hat, und massiert grob meine Brust.

Er verwechselt meinen leicht offen stehenden Mund und meine glasigen Augen mit Erregung. Denkt, er würde mich in wehrlose Ekstase ficken.

Ich lasse ihn in diesem Irrglauben, denn je geiler es ihn macht, desto schneller ist es vorbei.

Komm schon, raff dich auf, dann hast du es bald hinter dir!

Also reiße ich meinen apathischen Blick von den Wolken los, werde aktiver, spreize meine Beine weit, öffne meinen Mund zu einem stummen Schrei und spanne meine Muskeln an. Die an meinen Armen, meinen Beinen, meinem Po, meinem Rücken, aber auch jene in meinem Inneren. Sie krampfen sich um seine Erektion und ich täusche ihm stöhnend und zuckend einen Orgasmus vor. Zumindest stelle ich mir vor, dass ein Höhepunkt so verläuft – denn ich hatte noch nie einen.

Das gibt ihm den Rest. Er lässt ein kehliges Grollen aus seiner Kehle kommen und spritzt seinen heißen Samen in mein Innerstes.

»Das war gut«, keucht er, nachdem die pumpenden Bewegungen seines Unterleibs abgeebbt sind und er sich aus mir entfernt. Lobend streichelt er mit seiner Hand über meine Brüste, hinauf zu meinem Hals, wo er seine Finger um ihn legt. Mein Mann zieht mich daran zu sich herauf, hält mich eisern fest und küsst mich hart und besitzergreifend. Dann lässt er endgültig von mir ab.

Schweigend ziehe ich mich von ihm zurück, rappele mich auf wackeligen Beinen auf und gehe zum angrenzenden Bad.

Ich spüre, wie sein Sperma meine Schenkel hinabläuft und ich kann es nicht erwarten, es von mir abzuspülen. Von außen und von innen. Ebenso wie seinen Schweiß, der auf meiner Haut klebt, und genauso will ich mir seinen Geschmack von den Lippen waschen.

Es ist nicht so, als ob mein Mann hässlich wäre. Sein trainierter Oberkörper ist bis zum Hals mit Tattoos bedeckt, sein Gesicht ist zwar rau, aber ansehnlich. Mit vollen Lippen und ebenso vollem Bart. Ein attraktiver Mann, mit einer wilden, dominanten und gefährlichen Ausstrahlung. Für manche Frauen mag er sogar ein Traummann sein – zumindest optisch – doch für mich ist er mein Alptraum.

Ich steige in die geräumige Regendusche und drehe den goldenen Hahn auf. Nach Chlor riechendes Wasser rieselt auf mich hinab. Den Kopf in den Nacken legend, lasse ich es mir direkt in mein Gesicht regnen und die Spitzen meiner nassen Haare kitzeln mich an meinem Po. Dann schalte ich den Strahl um auf die Duschbrause, nehme sie aus der Halterung und ziele zwischen meine Beine. Das Wasser wäscht meine intimsten Bereiche rein und ich frage mich, wie es wohl ist, einen wirklichen Orgasmus zu haben. Oft habe ich es versucht, aber nie geschafft. Auch dieses Mal gebe ich der Neugierde nach und lasse mich von dem Wasserstrahl massieren. Ich probiere es erst sanft, weil ich wund bin, aber als das nichts nützt, schalte ich auf den harten Massagestrahl. Aber ganz egal, was ich versuche, ich bin und bleibe völlig taub. Vielleicht, weil ich nicht mal weiß, was ich mir dabei vorstellen soll. Ich versuche es mit bekannten Schauspielern, die ich attraktiv finde und sogar mit Frauen. Aber nichts passiert. Also lasse ich es sein. Wenigstens bin ich dort jetzt wirklich gründlich gewaschen. Seufzend lehne ich meinen Kopf gegen die Glasscheibe der Dusche und schließe meine Augen.

Ich sollte aufhören, mich mit solchen Dummheiten zu beschäftigen. Es ist beschämend und töricht, sich nach einer Vergewaltigung selbst befriedigen zu wollen. Und – was viel wichtiger ist – ich habe andere Probleme.

Nachdem ich aus der Dusche gestiegen bin und mich mit einem der großen, weißen Handtücher abgetrocknet habe, kehre ich ins Schlafzimmer zurück. Mein Negligé habe ich wieder angezogen, weil ich keine Lust auf die Diskussion habe, die sonst folgen würde.

Mein Mann liegt in unserem großen, vom Sex zerwühlten Ehebett, die Decke nur halb über sich, sodass eines seiner muskulösen Beine herausschaut, ebenso wie sein Oberkörper.

»Na, meine Schöne«, sagt er sanft, als ich mich zu ihm lege und er mich gegen meinen Willen in seine Arme zieht. Er fängt an, mein Gesicht mit Küssen zu überdecken, und ich schiebe ihn von mir, um eine »zweite Runde zu vermeiden.

»Lass das, Dario. Du weißt, dass ich das nicht mag.« Viel schlimmer noch als die Momente, in denen er grob zu mir ist, sind die Momente, in denen er es nicht ist. In denen er den zuckersüßen, verliebten Ehemann heraushängen lässt. Nichts dreht mir mehr den Magen um, als seine Gefühle.

Gefühle, die ich nie erwidert habe und nie erwidern werde.

»Es gibt keine Frau, die so unromantisch ist wie du. Ein harter, schneller Fick und mein Schatz ist glücklich.« Schmunzelnd streicht er über meine Schulter, lässt seine Finger weiter wandern und umkreist meinen Nippel unter dem Seidenstoff.

Schnaubend stoße ich seine Hand fort und wiederhole mich. »Lass das! Kein Kuscheln. Wenn du noch mal ficken willst, tu es.«

Unschuldig hebt er seine Hand an und unterlässt es jetzt, mich zu betatschen.

Danke, Herr im Himmel.

»Dario …«, beginne ich, kurz bevor er einschläft.

»Mh?«

»Ich will morgen nach Europa fliegen.« Das Thema nervt ihn, also habe ich gewartet, bis er vom Sex befriedigt und müde ist.

»Kannst du es nicht einfach auf sich beruhen lassen, Lucia?«

»Du weißt, dass ich das nicht kann. Und je schneller es erledigt ist, desto eher haben wir Frieden.«

Frieden, dass ich nicht lache.

Ich bin so weit von Frieden weg wie mein Land Kolumbien vom Ende der Korruption.

»Also gut, wie du willst. Aber du wirst nicht allein gehen.«

»Wer soll mich begleiten?«, frage ich angespannt.

Dario überlegt, streicht sich mit seinen Fingern über den dunklen Bart und entscheidet dann: »Curcio.«

Mir fällt ein Stein vom Herzen, als er diesen Namen nennt. Curcio ist einer der wenigen Männer von Dario, den ich leiden kann.

»Danke!« Ich meine es ernst, also umarme ich meinen Mann dankbar. Er schickt mir ausgerechnet ihn mit, weil er mir damit eine Freude machen will, da bin ich mir sicher.

Dario lächelt und drückt mich an sich.

»Schon gut, mein Schatz. Und jetzt schlaf.« Er küsst mich auf die Schläfe, dann sinkt sein Kopf zurück auf das Kissen. Binnen weniger Sekunden hat Morpheus ihn in seine Arme gezogen. Doch für mich ist an Schlaf noch nicht zu denken. Zu aufgeregt bin ich, meinen Traum endlich in Erfüllung gehen lassen zu können.

Ich betrachte meinen schlafenden Ehemann. Mehr als einmal habe ich darüber nachgedacht, ihm einfach in der Nacht ein Messer durch die Kehle zu ziehen, ihn mit dem Kissen zu ersticken oder zu erschießen. Irgendwann werde ich es vielleicht tun. Wenn ich stark genug bin, um meinen Clan allein zu regieren. Auch, wenn das nie mein Ziel war. Irgendwann werde ich mich aus meinen Fesseln lösen und frei sein. Fliehen. So wie ich schon immer fliehen wollte. Doch bevor es so weit ist, gibt es etwas anderes, auf das ich mich konzentrieren muss. Das eine, das mein Herz am Schlagen und meine Lunge am Atmen hält.

Rache. Rache an den Mördern meiner Familie.

Kapitel 2

Lucia

In dieser Nacht träume ich von ihm. Dem Todesengel, der kam, um mein Leben zu zerstören. Ich träume von der Nacht, die alles veränderte. Die letzten sechs Jahre haben meine Erinnerungen verblassen lassen. Das Trauma, das ich erlitten habe, tat sein Übriges. Doch nachts, wenn er mich in meinen Träumen besucht, dann war alles wieder ganz klar.

Die Leichen meiner Mutter und meines Vaters, die blutüberströmt auf der Feier meines achtzehnten Geburtstags von Dario gefunden wurden. Rot. Rot. Überall klebt rotes Blut. Auf dem Perserteppich in Vaters Büro, an den hellen Gardinen, an den Möbeln.

Und während ich inmitten des Massakers stehe und der Schwall von Rot über mich hereinbricht, sehe ich sein Gesicht. Diese Fratze des Todes, die direkt in meine Augen blickt. Aus jadegrünen Juwelen in schwarzen Höhlen sieht sie mich an.

Schweißgebadet wache ich in der Nacht auf.

Dario schläft friedlich neben mir, schmatzt und dreht sich zur Seite.

Ich schäle mich aus dem Laken, brauche frische Luft. Also nehme ich meinen dünnen, weißen Seidenmantel von dem Ledersessel neben dem Bett und werfe ihn mir über. Während ich den zarten Stoff eng um mich ziehe, eile ich barfuß über den Marmorboden auf den Balkon zu. Kaum habe ich die zweiflüglige Fenstertür geöffnet, sauge ich die erfrischende Nachtluft tief in mich auf, fülle meine Lunge damit. Um mich herum zirpen die Grillen, ein leichter Wind zieht durch das bergige Umland, lässt die Blätter, Kiefern und Zedern leise rascheln. Der große, zunehmende Mond steht in seiner Pracht am Himmel und malt einen silbrigen Glanz auf die Oberflächen der Pflanzen, die Dächer des Anwesens und auch auf meine blasse Haut.

Es ist eine Nacht ganz ähnlich derer, die mein Leben verändert hat. Mein Blick schweift über das Gebüsch. Dorthin, wo er gestanden hat. Dorthin, wo sich unsere Augen für einen Moment getroffen haben. Aber er ist nicht dort. Bloß ein schwarzer, leerer Schatten. Mein Puls beruhigt sich ein wenig, ich schließe meine Augen und schüttle meinen Kopf. Es wird Zeit, dass ich diesen Geist meiner Vergangenheit endlich loswerde.

Dass ich ihn töte.

Ich balle meine Hände zu Fäusten, lege sie auf dem Geländer ab und warte, bis sich auch der Rest meiner Unruhe gelegt hat.

Bald bist du diesen elendigen Dämon los, Lucia!

Heute Nacht werde ich keinen Schlaf mehr finden, dessen bin ich mir sicher. Daher gehe ich nicht zurück ins Bett, sondern gehe in das Ankleidezimmer und ziehe mich um. Das aufreizende Negligé tausche ich gegen ein langes, schwarzes Kleid. Dann steige ich die Treppen hinab und durchquere den Wohnraum, in dem zwei unserer Wachen stehen. Sie nicken mir höflich zu, wagen es aber nicht, mich nach meinem nächtlichen Ausflug zu fragen.

Ich verlasse die Villa. Im Garten begrüßen mich unsere beiden kupierten Dobermänner powackelnd. Kurz halte ich inne, um ihre langen, eleganten Schnauzen zu streicheln, ehe ich meinen Weg fortsetze. Auf der anderen Seite des akkurat gemähten Rasens finde ich mein Ziel. Ein kleines, steinernes Bauwerk, vor welchem ein betender Engel wacht. Die Angelo-Gruft. Die Gruft meines Clans, in welcher meine Familie ihre ewige Ruhe findet.

»Papa, Mama, Bruder ...«, begrüße ich die drei reich verzierten Urnen. Kleine, schwarze Bilderrahmen mit ihren Porträts stehen davor und Grablichter flackern rot und leise vor sich hin. Ich knie mich auf den Steinsockel vor sie und falte meine Hände zum Gebet.

»Ich wünschte, ihr wäret noch bei mir. Es tut mir leid, dass ich euch das die letzten Jahre so oft gesagt habe und euch sicher nach eurem Tod noch Sorge bereite. Aber ich wünschte einfach, deine tröstenden Hände könnten mich noch streicheln, Mutter. Ich wünschte, du könntest mich noch ein Mal mit so viel Stolz und Liebe ansehen, Vater. Und ich wünschte, ich könnte noch ein Mal mit dir Fangen spielen, Luis. So, wie wir es taten, als wir noch jung waren. Auch wenn du immer gewonnen hast. Weil du älter als ich und schneller warst.« Mit einem traurigen Schmunzeln betrachte ich das Bild meines Bruders. Er war ein schöner Mann, groß gewachsen, gut gepflegt und elegant. Fast wie ein Model. Ebenso wie ich hatte er sein Aussehen von unserer Mutter. Mit ihrem langen, dunklen Haar und ihrer zierlichen Gestalt war sie wie ein Engel in der finsteren Welt ihres Mannes. Vater war gegen sie wie ein raues Reibeisen. Die beiden verband eine innige Liebe. Das hat man immer und überall gespürt. Es war die Art, wie sie sich angesehen haben, wie sanft Vater Mutters Hand gehalten hat.

Außenstehende konnten sicher nicht verstehen, wie die sanfte Lara den Schwerverbrecher und Clanerben Jovan heiraten konnte. Aber wer glaubte, dass es eine Zwangsheirat war, wie sie mich vor sechs Jahren ereilt hatte, der irrte. So, wie mir erzählt wurde, trafen sie sich als junge Menschen auf dem Markt in dem Dorf am Fuß des Berges, auf welcher die Villa erbaut wurde. Sie war eine arme Bauerstochter und verkaufte das Obst ihrer spärlichen Plantage. Vater verliebte sich sofort in ihre großen, braunen Augen und in ihre schlanke Gestalt. Aber sie wollte ihn nicht, weil natürlich Gerüchte herumgingen, über die Familie auf dem Berg, die zur Mafia gehören soll. Jeden Tag kam Vater herunter ins Dorf, um sie zu besuchen. Und eines Tages, da wollte ihr eigener Vater sie verkaufen. Die Ernte war aufgrund der anhaltenden Trockenheit schon seit Jahren sehr schlecht und er wusste, dass die Angelo-Familie auf dem Berg ein Hausmädchen suchte. Für einen guten Preis hätte er seine Tochter wie eine Sklavin verkauft. Aber Jovan sagte seinem Vater, er müsse sich ein anderes Hausmädchen suchen, denn er wollte Lara heiraten. Lara war erstaunt, dass Jovan sie vor der Sklaverei bewahrte und sie zur Frau nehmen wollte, obwohl sie ihn stets abgelehnt hatte. Endlich sah sie hinter dem Clanerben auch die Güte und sie willigte ein. Die Aufregung war groß, denn immerhin war sie nur ein armes Mädchen und nicht gerade die politisch sinnvolle Braut für den Clanerben. Aber Jovan schwor meiner Mutter, sie immer zu lieben und zu beschützen. Und er hielt sein Versprechen bis zu ihrem Tod vor sechs Jahren.

Bei dem Gedanken an die Liebesgeschichte meiner Eltern spüre ich, wie meine Brust enger wird und mir das Atmen schwerer fällt. Doch abgesehen davon rührt sich nichts in mir. Auch keine Trauer um den Verlust. Ich liebte meine Familie – und tue es noch immer. Aber der Schmerz ist längst zu einem tauben Gefühl geworden. Die Tränen sind versiegt und ich habe kein Verlangen danach, sie wieder heraufzubeschwören.

Dennoch finde ich an diesem Ort Ruhe. Ich unterhalte mich mit ihnen und bete für ihr Wohl im Himmel – oder wo auch immer sie jetzt sein mögen.

Bis zum Sonnenaufgang bleibe ich auf dem Sockel knien, selbst, als meine Beine mich längst quälen. Erst als der erste Sonnenstrahl von hinten durch die Pforte fällt und sanft die Urnen streichelt, erhebe ich mich, drehe mich um und gehe.

Ich gehe, um meine Abreise vorzubereiten.

Kapitel 3

Lucia

Dario schickt mich mit einem Privatjet los, weil er meint, es sei sicherer und wir so keiner aufmerksamen Behörde in die Finger kommen würden. Es ist das erste Mal, dass ich das Land verlasse. Noch nie bin ich weiter gefahren als in die nächstgrößere Stadt. Curcio lacht mich aus, als ich mich ihm gegenüber in den champagnerfarbenen Sitz festkralle und Stoßgebete zum Himmel schicke.

»Was gibts da zu lachen?!«, fahre ich ihn an. »Kümmer dich um deinen Kram!«

»Du bist mein Kram, Luci. Ich mache also alles richtig.« Und dann lacht er weiter, während ich tausend Tode sterbe. Erst als wir eine ganze Weile in der Luft sind und dieses ekelhafte Gefühl in meinem Magen verschwindet, beruhige ich mich etwas.

Menschen gehören definitiv auf den Boden!

»Wir wären besser mit dem Auto gefahren«, brumme ich.

»Und wären dann mit einem Kanu über den Atlantik gepaddelt?« Curcio hebt eine Augenbraue an. Mit seinen fast fünfzig Jahren ist er weitaus älter als ich und auch der grau melierte Dreitagebart lässt ihn nicht gerade jünger erscheinen. Doch in seinen dunklen Augen funkelt dieser intelligente Glanz und auf seiner Zungenspitze liegt stets ein messerscharfer Spruch. So manch hartgesottenen Mafioso hat er damit schon zum verblüfften Schweigen gebracht – und mich zum Schmunzeln. Er ist einer der wenigen, der sagt, was er denkt und sich nicht hinter scheinheiliger Höflichkeit versteckt. Wobei er ganz und gar ein Gentleman der alten Schule ist, welcher den Damen die Türen aufhält und den Mantel abnimmt. Ich habe ihn auch noch nie eine Frau schlecht behandeln sehen. Mit klugem Rat steht er meinem Mann stets zur Seite. Zudem ist er ein fantastischer Schütze, wenn auch kein guter Nahkämpfer. Dazu ist er zu klein und zu wenig muskulös. Generell hat mir Dario mit ihm nicht gerade den typischen Bodyguard mitgegeben, sondern eher eine Art Mentor. Aber das ist genau richtig so. Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen, doch was ich nicht kann, sind diese alltäglichen Dinge wie zum Beispiel in ein Hotel einchecken oder mich an einem Flughafen zurechtfinden.

Gemeinsam bilden wir also das perfekte Team für meine Reise.

Für meine Vendetta.

Wir landen auf einem kleinen Privatflughafen in der Nähe von Frankfurt und als ich den Jet verlasse, sehe ich mich verblüfft um. In Deutschland ist Hochsommer und doch gerade mal sechsundzwanzig Grad. Für mich nahezu Winterverhältnisse. Doch dieses Land ist durch und durch grün. Grüne Hügel, egal, in welche Richtung ich mich drehe.

»Gott, Luci, mach den Mund zu und gaff nicht wie ein Schlaganfallopfer«, meint Curcio, fasst mich am Arm und zieht mich mit sich mit. Ich setze meinen breitkrempigen Hut auf und halte ihn mit einer Hand fest, während ich hinter ihm herstolpere. Wir bekommen unsere Koffer ausgehändigt und verlassen den Flughafen sogar ohne Passkontrolle. Vermutlich denkt jeder, er wäre ein reicher Playboy und ich sein Sugargirl. Es macht mir nichts. Sollen sie doch alle denken, was sie wollen. Ich werde nicht lange hier sein. Nur wenige Tage. Meine Mission erfüllen und zurück nach Kolumbien kehren.

Curcio lässt uns ein Taxi rufen und wir fahren in die Stadt. In meinem Leben habe ich noch keine Hochhäuser gesehen, also nutze ich den Weg zu unserem Hotel, um die hohen Bauten wie eine Touristin zu bewundern. Alles, was ich kenne, ist unsere Villa, das Dorf, die Stadt in der Nähe und die Berge, Waffen, Geld, Drogen und Blut. Ja. Das etwa ist meine Welt.

»Komm, Fiffi«, sagt Curcio und spielt darauf an, dass ich wie ein Hund den Kopf aus dem Fenster gestreckt hatte. »Wir sind da.«

Er reicht mir seine Hand und hilft mir aus dem Wagen, nimmt mir auch meinen Koffer ab und erträgt mein weltfremdes Gehabe mit Fassung.

Als wir im Hotelzimmer ankommen, ruhen wir uns auf den beiden Betten aus. In Deutschland ist es Mittag und meine Mission wird heute Abend starten. Jahrelang habe ich auf diesen Tag hingefiebert und kann noch nicht fassen, dass es endlich so weit ist. Kann nicht fassen, dass ich wirklich hier bin. Mich meinem Dämon stellen werde. Ich bemerke, wie meine Herzfrequenz ungewöhnlich hoch ist. Meinen Puls kann ich in meinen Ohren rauschen hören.

»Nervös?«, fragt mich Curcio, der meine Anspannung bemerkt haben muss.

»Vorfreude«, antworte ich mit fester Stimme. Und ich lüge nicht. Der Gedanke, was heute passieren wird, versetzt mich in freudige Erregung. Aber auch in Unglauben. Es fühlt sich noch nicht echt an. Das wird es erst, wenn ich sein Blut an meinen Händen spüre und auf meiner Zunge schmecke. Doch noch nie in meinem Leben war ich mir bei etwas so sicher. Meine Jugend bestand aus Unsicherheit und Unbehagen. Als zarte Seele war ich in eine skrupellose, kriminelle Gesellschaft aus herrischen Männern geboren, für die ich nichts weiter war als ein zerbrechliches Vögelchen im goldenen Käfig. Doch wenn ich überleben wollte, dann konnte ich nicht weiter dieses liebliche Wesen bleiben. Ich musste mich in dieser Welt behaupten, als die letzte Erbin des Angelo-Clans. Gegen meinen brutalen Ehemann und gegen all seine Schergen musste ich mich behaupten, darum kämpfen, mehr sein zu können, als der Vogel im Käfig.

Nein, ich habe nicht all die Jahre durchgehalten, um jetzt den Schwanz einzuziehen.

Entschlossen stehe ich auf, öffne meinen Koffer und hole meine Utensilien für den heutigen Abend heraus. Ohne mich vor Curcio zu genieren, ziehe ich mich aus. Tausche mein legeres Sommerkleid gegen eines, welches glänzend wie schwarzes Öl meine Haut hinabgleitet. Was ihm vorne an Ausschnitt fehlt, macht es hinten wieder gut, und das tiefe V bietet einen Blick auf meinen schlanken Rücken. Es ist kurz genug, um Aufmerksamkeit zu erregen, und lang genug, um nicht nuttig zu sein. Schwarze Highheels runden meine Ausgeh-Garderobe ab. Ich binde meine langen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz und lege meinen großen, metallenen Armreif an, an dessen Unterseite eine Klinge integriert ist. Mit einer Bewegung teste ich den Schnapp-Mechanismus und stelle zufrieden fest, dass alles wie geschmiert funktioniert. In meiner Handtasche verstaue ich zudem meinen Colt Mustang XSP. Eine kleine, wirklich leichte Schusswaffe. Nur für den Fall, dass es zu Schwierigkeiten kommt.

Curcio stellt sich im Bad hinter mich, als ich mich gerade zu dem Spiegel vorlehne und mattschwarzen Lippenstift auf meinen Lippen verteile. Ich hebe meinen Blick und sehe ihn dann. Dann drehe ich mich zu ihm um. Besorgt tastet sein Blick mein Gesicht ab, mustert Augen, Nase und Mund. Schließlich hebt er seine Hand und legt seinen Finger unter mein Kinn.

»Du bist dir sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«, fragt er.

»Klar. Damit jeder denkt, ich werde noch von meinem Daddy begleitet? Nein, danke!« Entschlossen wische ich seine Hand fort und straffe mich. »Ich habe diesen Tag die letzten Jahre wieder und wieder durchgespielt, Cio. Es wird nichts schiefgehen.«

»Wenn doch, wird Dario mich zu Hackfleisch verarbeiten.« Er massiert sich die Nasenwurzel und tritt einen Schritt von mir zurück. »Also gut, Luci. Du hast recht. Aber ich werde in der Nähe sein, falls du mich brauchst. Was, wenn er dich erkennt?«

»Es ist sechs Jahre her, Cio. Ich bin nicht mehr das Mädchen von damals. Blass und verheult und wie ein Geist. Nein. Er wird mich niemals erkennen können.«

»Nun gut. Sei vorsichtig.«

Ich nicke, atme durch und wende mich zur Tür.

»Ich muss jetzt los. Er wird bald dort sein.«

Zu diesem Date darf ich nicht zu spät kommen.

Zu meinem Date mit dem Tod.

Kapitel 4

Lucia

Steh auf!«, schreit mich Xavier an. Sein kahlrasierter Kopf glänzt schwitzig in der Mittagssonne, ebenso wie sein nackter Oberkörper, welcher in einer schwarzen Cargohose mündet. Seine langen Beine enden wiederum in schweren Kampfstiefeln. Ich liege keuchend vor ihm, wurde zum unzähligsten Mal von ihm auf den Boden geworfen. Mein ganzer Körper schmerzt und wird am Abend ein einziger blauer Fleck sein. Ich kann nicht mehr. Xavier versteht es, meine Grenzen zu finden. Und jeden Tag aufs Neue, lässt er sie mich überschreiten. Sei es, weil er mich rennen lässt, bis ich kotze, oder indem er mich verprügelt.

Dario hasst es. Er hasst es, dass ich mit seinen Männern trainiere, mit ihnen kämpfe, laufe und schieße. Er hasst es, dass ich nicht das schüchterne Prinzesschen bin, welches er sich an seiner Seite wünscht. Und doch gesteht er mir dieses Training zu, denn ebenso gut könnte er es mir verbieten, so, wie er es zu Anfang auch wollte. Doch mein Trotz und meine Ablehnung waren ihm genauso zuwider.

»Hör auf zu träumen und steh auf!« Xavier hat keine Geduld mehr, fasst mir an meinen Zopf und zerrt mich auf die Beine. »Ich dachte, du hast eine Mission, Lucia!«, brüllt er mich an.

Die habe ich. Meine Mission. Meine Rache. Vor meinem inneren Auge tauchen die Bilder meiner toten Familie auf. Und von dem Mann, den ich draußen im Dunkel gesehen habe. Sie geben mir Kraft. Dieses Gesicht des leibhaftigen Todes stößt mich über die Grenze meines Körpers. Leben kehrt in meine Muskeln zurück, ich wische mir das Blut vom Mundwinkel, hebe meine Fäuste und fokussiere Xavier. Dann gehe ich auf ihn los, bin zu schwach, treffe ihn nicht. Stattdessen landet seine Faust in meiner Magengrube. Keuchend wird die Luft aus meiner Lunge gepresst. Ich gehe wieder zu Boden. Aber alles, was ich sehe, ist dieses Gesicht vor meinen Augen. Sein Gesicht. Das Gesicht des Mannes, wegen dem ich all dies durchstehe. Und alles, was ich fühle, ist dieser alles verzehrende Zorn in meinem Inneren.

Es ist kurz vor Mitternacht, als ich diese Bar betrete. Diese eine Bar, in die er jeden Freitagabend einkehrt. Jahrelang habe ich seine Verhaltensmuster beobachten lassen. Wöchentlich habe ich Berichte erhalten. Es hat gedauert herauszufinden, woher er kommt, wo er wohnt. Doch letztlich stellte sich heraus, dass er in Frankfurt zu Hause ist und dazu noch der berüchtigtste Assassine des Valenti-Clans. Natürlich habe ich Dario angefleht, diesen Clan zur Rechenschaft zu ziehen, der so offensichtlich für die Ermordung meiner Eltern verantwortlich ist. Aber er lehnte es ab, weil er die Handelsbeziehung nicht riskieren wolle. Doch er gestand mir zu, wenigstens ihn zu jagen. Auch wenn er ihn zunächst für ein Hirngespinst eines traumatisierten Mädchens hielt. Ein Mann, der aussieht wie der Tod höchstpersönlich? Nein, das konnte nicht wahrhaftig sein. Doch die Fotos meiner Spitzel bewiesen es und überzeugten schließlich auch meinen Mann. Tausend Szenarien malte ich mir aus, wie ich ihn töten konnte. Doch letztendlich entschied ich mich dazu, ihn völlig in die Falle zu locken. Ihn zu erwischen, wenn er am verwundbarsten ist. Ich weiß, dass er hier sein wird. Weil er jeden Freitag hier ist. Allein sitzt er dann an einem Tisch, trinkt ein paar Gläser Wodka, spielt Pool, wirft Darts – ab und zu, wirklich selten sogar, nimmt er eine Frau mit nach Hause, die Interesse an seinem grotesken Aussehen zeigt. Heute Abend werde ich diese Lady sein. Dessen bin ich mir sicher. Noch konnte ich seinen Frauengeschmack nicht herausfinden. Er scheint völlig willkürlich zu sein. Von groß bis klein, von Blond bis Braun, von dick bis dünn war bereits alles dabei. Innerhalb der letzten zwei Jahre waren es lediglich eine Handvoll Frauen. Scheinbar haben wir sogar etwas gemeinsam, ich und mein Erzfeind – wir können beide Sex nicht viel abgewinnen.

In der Bar dröhnen mir harte Gitarrenklänge entgegen. Viele tätowierte Männer in Lederwesten oder mit langen Haaren und Bandshirts tummeln sich hier. Es riecht nach Bier und nach Qualm, der aus der Raucherecke herschwappt. Natürlich gibt es auch ein paar Ladys, die mich neugierig mustern. Niemand spricht mich an und doch scheinen alle Blicke auf mich zu fliegen. Ich ignoriere sie, lasse sie nicht an mich heran dringen und konzentriere mich auf das, was ich tausende Male in meinen Gedanken durchgespielt habe. Meine Augen suchen den Raum ab, obwohl ich ganz genau weiß, wo er sitzt, weil er immer dort sitzt. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich reibe meine Finger in meinen Handflächen und stelle fest, wie feucht diese sind. Meinen Puls spüre ich in meinem Hals vibrieren.

Ruhig, Lucia. Du kannst das. Du hast es so oft durchgespielt. Es kann nichts schief gehen!

Dennoch kribbeln meine Wangen und meine Fingerspitzen werden beinahe taub. Ich muss mich beherrschen, zur Besinnung rufen. Doch eine solche Welle an Gefühlen ist mir völlig unbekannt, daher fällt es mir schwer, mich zu kontrollieren. Das Adrenalin, welches durch meine Adern peitscht, bringt Leben in mein totes Herz. Ich schließe meine Augen, atme tief durch.

Genieße es, Lucia. Es ist dein Tag. Dieser eine Tag, auf den du so lange gewartet hast. Den es nur ein Mal geben wird.

Ja. Andere Mädchen in meinem Alter würden das wohl über den Tag ihrer Hochzeit sagen. Aber nicht ich.

Langsam gehe ich weiter, erblicke ihn. Er sitzt allein am Tresen, die Unterarme auf die Theke gestützt, dreht er das volle Schnapsglas zwischen seinen tätowierten Fingern, die aussehen wie die Knochen eines Skeletts. Allein sein Anblick lässt mich erzittern. Ihm wahrhaftig gegenüber zu stehen, dem Dämon aus meinen Träumen – nein, dem Dämon aus meiner Vergangenheit – erschüttert mich bis ins Mark. Ein Sturm aus Gefühlen schlägt auf mich ein, doch es gibt kein Entkommen.

Eins nach dem anderen, Lucia. Schritt 1: Neben ihn setzen.

»Darf ich?«, frage ich ihn mit meinem gebrochenen Deutsch und deute auf den freien Stuhl neben ihm. Obwohl er nur dort sitzt und sonst nichts macht, geht eine unheimliche Gefahr von ihm aus. Ich kann an seinen freien, tätowierten Armen sehen, dass sich an ihm nichts befindet als harte Muskeln, die allein dafür ausgelegt sind, zu töten. Unter dem schwarzen Shirt, welches eng an seinem Körper liegt, zeichnen sich seine Brust- und Bauchmuskeln ebenso deutlich ab. Ich muss vorsichtig sein.

Sein Kopf bleibt leicht nach unten geneigt, sein Gesicht geradeaus gerichtet, doch seine Iriden wandern in seinen Augenwinkel zu mir. Sie sind von einem intensiven Grün in den dunklen Höhlen des Totenkopfes, welcher seinen ganzen Schädel ziert. Diese Smaragde mustern mich, bevor sie sich wieder abwenden und er lediglich zwei Finger als auffordernde Geste von seinem Glas hebt.

Ahnt er etwas? Ist er deswegen so abweisend? Oder ist das das natürliche Misstrauen eines Killers? Verdammt. Meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding. Ich setze mich und bestelle bei dem Barkeeper zwei Jägermeister, muss mir den Mut antrinken, der mich verlassen hat. Schnell hintereinander kippe ich die Spirituosen hinunter.

»Ui, da ist aber jemand durstig«, stellt der Mann hinter der Bar mit erhobenen Augenbrauen fest.

Blutdürstig vielleicht.

Ich lächele den Barkeeper an und zucke die Schultern. »Ich bin neu hier und mit Alkohol lernt man besser andere Leute kennen.« Mein spanischer Akzent und meine holprige Aussprache verleihen meiner Ausrede Authentizität.

»Von wo kommst du denn?«, fragt er mich interessiert weiter.

Verdammt, ich will nicht mit dem Barkeeper flirten, sondern mich auf den Mörder neben mir konzentrieren.

Wenn ihr alle nur wüsstet, was für ein Monster hier sitzt!, denke ich wütend bei mir.

»Spanien«, lüge ich. »Gib mir noch einen.«

Er gießt den Kräuterlikör in mein Glas ein. Ich hebe es an und drehe mich zu dem Mann neben mir.

»Salud!«, proste ich ihm zu, versuche zu lächeln und hoffe, dass es nicht allzu sehr nach Zähnefletschen aussieht.

Irritiert hebt sich sein Kopf, doch anstatt mich anzusehen, hebt er nur sein Glas, wartet einen Moment und trinkt dann.

Gott, ist der schwierig! Er wittert definitiv etwas! Nein. Bleib entspannt. Gewinne seine Aufmerksamkeit. Lade ihn zu einem Poolspiel ein. Dort kannst du deine weiblichen Reize unter Beweis stellen.

Ja, das ist gut.

»Spielst du mit mir?«, frage ich süß und deute auf den Billardtisch.

Nun sieht er mich doch endlich an, wendet mir sein Todesgesicht zu und schaut in meine Augen. In dem Moment, als sich unsere Blicke kreuzen, zuckt Irritation durch seine Miene. Mir wird heiß und kalt zugleich, als er mich intensiv zu mustern beginnt. Mit aller Kraft halte ich mich davon ab, nervös auf dem Hocker herumzurutschen, sondern versuche, still sitzen zu bleiben und weiter zu lächeln. Ich könnte ihm jetzt und hier meine Klinge in die Kehle rammen. Oder in aller Ruhe meinen Colt auspacken und ihm den Schädel wegpusten. Der Gedanke beflügelt mich. Diese Macht über ihn beflügelt mich. Ich tue es nur nicht, weil ich nicht geschnappt und ins Gefängnis gesperrt werden will. Dies ist nicht der Ort, an dem ich ihn zu ermorden plane.

»Mh?«, frage ich auffordernd.

Seine schwarzen Lippen teilen sich. Ich sehe ihm an, dass er zu einer Antwort ansetzt, sie dann jedoch verwirft und stattdessen knapp nickt.

Er hat noch kein Wort mit mir gesprochen, als wir aufstehen und ich mir noch einen Jägermeister genehmige, bevor ich ihm zum Billardtisch folge.

Er nimmt die beiden Queues zur Hand und reicht mir einen mit ausgestrecktem Arm. Ich nehme ihn dankend entgegen. Dann sehe ich ihm dabei zu, wie er die Pool-Kugeln auf der samtig-grünen Oberfläche in der Form zurechtlegt und diese dann abzieht. Anschließend tritt er zurück und deutet mit der Hand, dass er mir den Vortritt lässt.

»Danke«, sage ich, stelle mich an den Kopf des Tisches, lehne mich vornüber und ziele mit dem Queue auf die weiße Kugel. Natürlich achte ich dabei darauf, mich elegant zu bewegen, den Rücken durchzustrecken und einen runden Po zu formen. Ich lege nicht viel Kraft in meinen Stoß, spiele das schwache Mädchen und die Kugeln stoben klackernd ein wenig auseinander. Beschämt lächelnd drehe ich mich zu ihm um.

»Das war wohl noch nichts. Du bist!«

Ohne etwas zu mir zu sagen oder mich für meine zaghafte Spielart zu belächeln, tritt er an den Tisch heran. Er legte den Spielstock auf seinen Mittelfinger und seinen Zeigefinger darüber. Dann sieht er zu mir herauf und sagt:

»Die Drei nach oben rechts.«

Seine Stimme ist tief, viel tiefer als ich angenommen hatte, ruhig und angenehm. Der Bass vibriert auf meiner Haut und stellt unwillkürlich die Härchen an meinen Armen auf. Innerlich angepisst darüber, dass der Mistkerl spricht wie ein Gott, reibe ich mir über die Haut. Es ist das erste Mal, dass ich ihn höre. Die ersten Worte, die er jemals an mich gerichtet hat. Die Drei oben rechts. Völlig banal und unspektakulär.

Die Muskeln und Sehnen an seinem Arm und seiner Schulter bewegen sich unter seiner Haut, als er mit dem Queue zustößt und die weiße Kugel klackernd gegen die rote Drei stößt und diese geradewegs im Loch oben rechts versinkt.

Er will angeben. Das ist gut. Das heißt, er steht doch auf mich! Triumphiere ich innerlich.

»Du die halben, ich die vollen«, kommentiert er und immer wieder wandert sein Blick zu mir. Tastet mich von oben bis unten ab, doch die meiste Zeit, verharrt er in meinem Gesicht, an meinen Augen. Ohne zu blinzeln, sieht er mich an, dass es mir beinahe Unbehagen bereitet. Ich habe viele Männer gesehen, die mich mit ihren Augen ausgezogen haben. Doch dieses laszive Funkeln in seinen fehlt. Ich muss ihn mehr reizen.

»Du bist ja scheinbar ein echter Profi darin. Ich weiß nicht mal, wie ich das Ding hier richtig halte«, sage ich und wedele ungeschickt mit dem Queue.

Den Oscar. Den verdammten Oscar habe ich verdient für meine schauspielerische Glanzleistung!

»Du hältst ihn eigentlich sehr gut«, ist nicht die Antwort, die ich mir erhofft habe.

»Wirklich?«, frage ich und versuche, mich dieses Mal noch dümmer anzustellen als beim ersten Mal. »Und jetzt muss ich sagen, wo welche Kugel rein soll?«

Er nickt.

»Dann die Zwölf in die Mitte links.« Diesmal gebe ich absichtlich zu viel Druck auf meinen Stoß. Die Spitze des Queues verhakt sich unter der weißen Kugel, welche in hohem Bogen vom Tisch fliegt.

Fast reflexartig fängt mein Todfeind sie aus der Luft.

»Foul.«

»Ups ... das wollte ich nicht.«

Er sieht mich wieder mit diesem undurchsichtigen Blick an, der mich beinahe nervös auf der Stelle treten lässt, ehe er die weiße Kugel an einen beliebigen Platz legt und mit einem »Vier Mitte links« seinen nächsten Zug ankündigt.

Klack.

Ratternd verschwindet die violette Vier im angekündigten Loch.

Innerlich knirsche ich die Zähne, weil ich mich absichtlich so von ihm vorführen lassen muss. Aber wenn ich eins gelernt habe, dann ist es, dass es Männer hassen, wenn eine Frau besser als sie in etwas ist. Dario ist fuchsteufelswild, wenn ich ihn beim Tennis abziehe. Mein Stolz ist in diesem Fall jedoch ein geringer Preis für meine Rache.

»Vielleicht zeigst du es mir doch lieber mal, bevor ich noch was kaputt mache«, bitte ich ihn, als ich die weiße Kugel für meinen nächsten Zug anvisiere.

Er zögert. Doch dann kommt er mir näher.

Mit einem unterdrückten Lächeln nehme ich seine Wärme und seine Präsenz dicht hinter mir wahr, die meine Haut mit einer Schicht aus heißer Lava zu überziehen scheint. Ich weiß nicht, warum, aber es ist fast unaufhaltsam und am liebsten würde ich mich winden, um den Brand auf meinem Körper zu löschen.

Es muss der Hass sein. Dieses alles verzehrende Feuer, das in mir lodert und mich die letzten Jahre Tag für Tag aufgefressen hat.

Er berührt mich nicht, als er sich über mich lehnt und mir sein Geruch in die Nase steigt. Ein Hauch von Zitrus mischt sich mit einer rauchigen Holznote zu einem so maskulinen Duft, das irgendwo in mir meine Hormone Purzelbäume schlagen. Doch ich habe keine Zeit, mich darauf zu konzentrieren, und es ist auch völlig egal, was sein Geruch und seine Stimme in mir auslösen. Es ist völlig natürlich, dass es meine Nerven bis zum Bersten reizt, meinem Erzfeind, dem Schlächter meiner Familie, so nah zu sein.

»Nicht von oben herab stoßen, du musst ...«

»Wie heißt du?«, platze ich ihm dazwischen.

Er zögert einen Moment, ehe er antwortet.

»Grimm.« Sein Name rauscht über mich hinweg wie ein Wirbelsturm. Ich weiß selbstverständlich, dass er sich so nennt. Ich weiß aber auch, dass es nicht sein wirklicher Name ist, sondern der, den er sich gegeben hat. Der Name von Valentis Häscher. Seinen wahren Namen habe ich nie herausfinden können und jetzt ist es wohl auch zu spät dazu.

»Ich bin Sofia«, stelle ich mich vor und rücke etwas nach hinten, sodass mein Po gegen ihn stößt. Sofort sehe ich an seinem Arm, der sich auf dem Tisch neben mir abstützt, wie dieser sich anspannt. Gleich darauf rückt er fluchtartig von mir ab und klammert sich an seinem Queue fest. Nanu? Irritiert blinzelnd sehe ich ihn an.

Ist er verdammt noch mal schüchtern?!

»Spiel jetzt«, befiehlt er schroff, woraufhin ich mich wieder dem Billardtisch widme und die Kugel anstoße. Ich habe nicht gesagt, welche Kugel ich worein befördern möchte, und so langsam verliere ich auch die Geduld. Diese ganze Farce laugt mich derart aus, dass ich es nicht mehr lange durchhalte. Wieso hat er mich noch nicht längst angegraben, wie es jeder normale Kerl getan hätte, wenn sich eine aufreizende Latina so offensichtlich anbietet? Mit seiner distanzierten Art zerstört er meinen ganzen Plan und so langsam dämmert mir, dass seine wenigen Frauenbesuche nicht an den wählerischen Damen liegen, sondern an ihm selbst. Wir hätten längst knutschend aus der Kneipe stolpern müssen!

Nein, du darfst jetzt nicht ungeduldig werden. Er ist schüchtern. Mach ihn betrunken. Dann ist er mutiger und einfacher zu töten!

»Hey Barkeeper!« Ich wedele mit meiner Hand in der Luft herum. »Ich glaube, wir könnten etwas Zielwasser gebrauchen! Bitte bring uns die Flasche Wodka her!« Der Schankwirt bringt uns die Spirituose herüber.

»Auf das Spiel, Grimm!«, ich gieße unsere Gläser voll und drücke ihm seins energisch in die Hand.

Abwartend sieht er mich an, aber als ich trinke, tut er es mir gleich. Sehr gut. Dann eben so. Ab sofort jubele ich bei jeder Kugel, die er versenkt, und fordere ihn danach auf, einen mit mir zu trinken. Das Gleiche mache ich, wenn ich eine einloche. So haben wir binnen weniger Minuten die halbe Flasche geleert und ich fange an, meine Drinks heimlich wegzukippen, da ich es mir nicht erlauben kann, mehr als angeheitert zu sein. Natürlich lasse ich ihn das Spiel gewinnen und obwohl er längst betrunken sein müsste, nimmt seine Präzision nicht eine Sekunde lang ab. Er taut auch nicht auf, wird nicht zugänglicher. Lediglich ein leichter Glanz in seinen grünen Augen verrät den Alkohol.

Letztendlich kehren wir zur Bar zurück, doch bevor er sich setzen kann, lege ich eine Hand auf seinen Unterarm.

Diesen einen Versuch habe ich noch. Ich muss ihn dazu bewegen, mit mir mitzukommen. Muss ihn von hier wegschaffen und ihm so nah kommen, dass ich mit einem Stich ohne Zweifel tödlich treffe!

Als meine Haut seine berührt, zuckt ein Impuls wie ein elektrischer Schlag durch mich hindurch. Er fühlt sich so warm und lebendig an. Seine Haut ist rau und weich zur gleichen Zeit und mir wird mulmig. Es ist, als würde ich in diesem Moment erst bemerken, dass ich drauf und dran bin, einen Menschen zu töten. Und kein Ding. Kein Etwas.

Nein. Er ist ein Monster! Versuch gar nicht erst, ein fühlendes Wesen in ihm zu sehen! Denn das ist er nicht! Egal, wie er sich anfühlt!

Sein Blick sucht meinen und er entzieht sich meiner Berührung nicht. Stattdessen schaut er mich fragend an.

Meine Kehle wird trocken und mein Herz rast vor Aufregung so in meiner Brust, dass sich das Rauschen in meinen Ohren mit dem Klang der Gitarren im nächsten Lied vermischt.

»Lass uns gehen«, hauche ich mit belegter Stimme, die ich nicht einmal schauspielern muss.

Verwirrt sieht er mich an.

»Wohin?«

»Zu dir ...«

»Wieso? Hast du kein Hotel?«