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Und plötzlich ist die Provence kein friedlicher Ort mehr … Mit der Idylle der Haute Provence ist es in diesem Provence-Krimi schlagartig vorbei, als Valerie Baumann an einem heißen Augusttag ihren Mann tot im Pool der gemeinsamen Villa findet. So bleibt dessen geheimnisvolle Beziehung zu einer Frau ungeklärt, die auf provenzalischen Märkten Heilkräuter und -essenzen verkauft. Valerie bittet den Kochbuch- und Krimiautor Anselm Bernhard, mehr über diese Händlerin in Erfahrung zu bringen. Auch Kommissar Luc Vidal hat in Bezug auf Baumanns Tod Informationsbedarf. Während beide Männer verschiedenen Spuren in die Vergangenheit folgen, ereignen sich in schneller Folge mehrere Morde in der sonst so friedlichen Bergwelt. Schnell rücken das Pflanzenwissen der nach Baumanns Tod verschwundenen Markthändlerin, aber auch die Befreiung der Provence durch die Alliierten in den Fokus der Ermittler. Sie erkennen dabei viel zu spät das wahre Ausmaß der Niedertracht.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Tom Burger
Grün
Le vert de la Provence
Provence-Krimi
Tom BurgerGrün. Le vert de la Provence
Inhalt
Title Page
Erster Teil. Baumanns Verhängnis
Zweiter Teil. Das Grün der Provence
Dritter Teil. Raphaels Spiel
Anhang
Impressum
Dort, wo im Frühsommer leuchtendes Violett die Ebene bedeckt und bis an den bergansteigenden Wald gereicht hatte, lag jetzt eine graue Steppenlandschaft. Struppiges, von der Sonne verbranntes niedriges Strauchwerk flimmerte in der Luft des glutheißen Augusttages.
Valerie fiel das Atmen schwer. Scharfes Lavendelaroma, das von den verdorrten Zweigen ausströmte, klebte Bruchteile von Sekunden tief in Hals und Nase.
Anfänglich war der Schatten des Baumes, unter dem sie stand, eine Erleichterung gewesen, nachdem sie planlos durch die unerträgliche Hitze vom Pool in den Garten und dann um das Haus herumgegangen war. Aber nach wenigen Sekunden hatte sie wieder zu schwitzen begonnen. Erst einzelne Tropfen, die unter dem Haar hervorquollen, langsam und unangenehm kitzelnd über die Stirn und in den Nacken liefen und dann vertrockneten, eine klebrige Spur hinterlassend; dann beständiger werdende Rinnsale, die aus allen Poren traten, die Barriere der Brauen überwanden und brennend in die Augen liefen, das T-Shirt, ihre Unterwäsche, die Shorts an den Körper klebten und sie schließlich in eine widerwärtige Feuchte hüllten.
Es mochte halb zwei sein, vielleicht auch zwei Uhr. Genau wusste sie es nicht. Es würde noch Stunden dauern, bis die gnadenlose Sonnenbestrahlung abnehmen und das Atmen wieder etwas leichter fallen würde.
Sie hatte Durst. Mühsam gelangte sie zu der Erkenntnis, dass sie entweder hier verdursten oder das Risiko des Hitzschlages auf sich nehmen und zum Haus gehen musste.
Im Haus angekommen, war die Hitze nicht erträglicher. Zwar waren die Strahlen ausgeschlossen, aber jede Substanz um sie herum emittierte stickig schwere Ausdünstungen, die, wie es ihr schien, das Atmen noch schwerer machten, als es draußen gewesen war.
Sie holte Mineralwasser aus dem Kühlschrank und trank. Während sie lange und langsam schluckte, fühlte sie, wie die Flüssigkeit die schmerzende Kruste ihres Gaumens kühlte.
Vor der Fensterfront breitete sich die Terrasse aus. Der ockerfarbene Natursteinbelag umrahmte, wie ein Spiegel den Ansturm des Lichts reflektierend, unwirklich das Rechteck des Pools. Auf der Wasseroberfläche zeichnete sich kein Kräuseln ab, das einen Lufthauch angezeigt hätte. Eine perfekte türkisfarbene Fläche, aus der, in obszönem Kontrast, das tiefe Magenta von Edgars Körper herausstach. Sein Haar war wie ein Strahlenkranz um den Kopf herum auf dem Wasser ausgebreitet. Vom Nacken an, auf dem Rücken und den Armen hatte das zerstörerische Werk der Sonne bereits alle aus dem Wasser ragenden Hautpartien gezeichnet.
Das kalte Mineralwasser half ihr, Schluck um Schluck, ganz langsam wieder zum Denken zurückzufinden. Sie sah noch einmal auf den magentafarbenen Körper, schüttelte ungläubig den Kopf und griff dann zum Telefon. „Ich bin Valerie Baumann“, sagte sie, „mein Mann liegt tot im Pool.“
Der Mann am anderen Ende der Leitung fragte, ob es Fremdeinwirkungen gegeben habe. Fremdeinwirkungen? Was für eine absurde Frage! Nein, sagte sie, Sonne. Es sei die Sonne gewesen, diese mörderische Hitze. Er läge im Pool, mit dem Gesicht nach unten. Der Mann sagte, er würde Kollegen vorbeischicken und einen Arzt, der den Totenschein ausstellen müsse.
Die Polizisten verwendeten den Kescher, mit dem Edgar an jedem Morgen die Insekten von der Oberfläche abgeschöpft hatte, um ihn an den Beckenrand zu ziehen und ihn dann zu zweit aus dem Wasser zu heben und auf eine Gartenliege in den Schatten zu legen. Der Arzt schlich in kaum merklichen Bewegungen über die Terrasse, die Kleidung am Körper klebend, Bäche von Schweiß ausstoßend, mit distanziertem Blick den verbrannten Körper betrachtend. Die extreme Hitze hatte an diesem Tag bereits mehrere Opfer gefordert und er selbst schien kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Er fragte kurz nach Vorerkrankungen, Auffälligkeiten, besonderen Umständen des Tages und notierte Valeries Antworten, ohne sie ein einziges Mal anzusehen und ohne das geringste Interesse an dem Sterbefall.
Der jüngere Polizist fragte nach der Toilette. „Den Gang hinunter, zweite Tür links“, sagte sie. Als er sich im Bad die Hände wusch, schaute er in die Schränke neben dem Waschbecken: Körperpflegemittel, Kosmetikartikel, Medikamente und Potenzpillen. Eine Großpackung. Er sah hinein, mehr als die Hälfte der Pillen fehlte. Nun war der Mann, der diese Pillen geschluckt hatte, nicht beim Beischlaf an Herzversagen gestorben, sondern beim Sprung in seinen Pool. Was für ein bizarrer Weg des Schicksals.
„Und was passiert jetzt?“, fragte die Frau. Die drei Männer sahen sich fragend an. Schließlich zuckte der Arzt mit den Schultern und begrenzte sich auf eine vage Aussage. „Wenn Ihr Mann nicht hier in der Provence beigesetzt werden soll, sondern in Deutschland, dann wird es wohl noch eine behördliche Leichenbeschau geben.“ Er wischte sich die Stirn trocken und schloss seinen Bericht. „Mein Beileid“, murmelte er noch.
Anselms Augen brannten. Ein Tribut an die nächtliche Fahrt, die ihn bisher von Hamburg nach Lyon gebracht hatte. Er hielt unmittelbar neben den Erdöl-Tanks von Elf Aquitaine auf einem Parkplatz, drehte die Lehne zurück und sank schlagartig in einen Dämmerzustand. Um ihn herum lärmten vorbeifahrende Fahrzeuge auf der Autobahn, parkende Lastwagen mit laufenden Motoren, Menschen, die wie er die nächtliche Fahrt unterbrochen hatten und an diesem tristen Haltepunkt keine Mühen darauf verschwendeten, ruhig zu sein.
Worauf hatte er sich eingelassen? Valerie Baumanns Anruf hatte ihn am späten Nachmittag erreicht. Sie hatte sehr sachlich geschildert, dass Ed gestorben sei und sie seine Hilfe bräuchte. Ed war sein Verleger gewesen, aber rechtfertigte das ihren Wunsch nach Hilfe? Hilfe wobei? Valerie und er kannten sich kaum, sie hatten sich nur wenige Male gesehen. Trotzdem war er sofort aufgebrochen und hielt nun, wenige Stunden vor dem Ziel, an diesem desolaten Ort. Der Parkplatz bot kaum Ruhe, an Schlaf war nicht zu denken. Er beschloss, weiterzufahren.
Hinter Orange bog er von der Autobahn ab. Die Hitze hatte im Laufe des Morgens beständig zugenommen. Seine Hände klebten am Lenkrad, Schweiß rann ihm in die Augen. Mit dieser Temperatur hatte er nicht gerechnet. Sein räumliches Vorstellungsvermögen schwand. Ein kegelförmiger Berg tauchte unvermittelt auf, der eine Landschaft prägte, die in Agonie versunken schien.
Er erreichte Baumanns Haus am späten Vormittag. Auf den letzten Kilometern hatte er zunächst sein Ziel verfehlt, war in zahllosen Kurven durch eine imponierende Karstlandschaft talwärts gefahren, bis er schließlich seinen Irrtum bemerkte. Er fuhr zurück und fand eine abzweigende schmale Asphaltstraße, die durch Garigue in ein sanfter abfallendes Tal führte. Krüppeleichen, kaum höher als zwei Meter, Thymian, Rosmarin und Wacholder bestimmten das Bild, enge Kurven schmiegten sich an immer wieder hervortretende scharfkantige, von Flechten und Moosen überzogene Kalkfelsen.
Die Zufahrt zu Baumanns Haus war nur schwer auszumachen. Dichter Bewuchs entlang der Straße schützte vor Blicken auf das Grundstück, lediglich die Schilder mit der Aufschrift Propriété privée, Privateigentum, die in wenigen Metern Abstand an einem Drahtzaun angebracht waren, der durch das Buschwerk überwuchert wurde, ließen erahnen, dass der schmale Kiesweg durch das Dickicht zu einem Haus führte. Er passierte ein Tor mit Gegensprechanlage und Videokamera. Die schwarzen Blechflügel des Tors waren an massiven Natursteinsäulen angebracht. Ein Schild informierte darüber, dass das Areal von einer Sicherheitsfirma kontrolliert wurde. Vor ihm lag ein großes provenzalisches Anwesen, eine Bastide aus ockerfarbenem Stein, zweigeschossig, mit wuchtigen steinernen Fenstersimsen und Zargen, die von hellgrauen Fensterläden gesäumt wurden. Gekrönt wurde das Anwesen durch eine imponierende Dachfläche aus provenzalischen Rundpfannen in leuchtender farbiger Vielfalt, die zwischen Kadmiumgelb und Zinnoberrot changierten. Trotz der strengen Architektur wirkte das Gebäude durch die warmen Töne des Natursteins freundlich und einladend.
Valerie Baumann erwartete ihn. Sie umarmten sich. Es war mehr ein Reflex. Der unwillkürliche Versuch, Trost zu spenden oder Trost zu suchen. Er hatte keine Erfahrungen darin, Trauernden zu begegnen. Er war sich in diesem Moment nicht einmal sicher, ob Valerie überhaupt trauerte. „Ich zeige dir dein Zimmer. Ich hoffe, dir gefällt es in Belle Lumière.“ Sie wirkte geschäftsmäßig, kühl, distanziert. „Du wirst dich ausruhen wollen. Willst du etwas essen, etwas trinken?“
„Eine Kleinigkeit zu essen wäre gut“, erwiderte er, „und dann muss ich ein wenig schlafen, ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten.“
Als er am späten Nachmittag erwachte, war das grelle Tageslicht einer erträglicheren Helligkeit gewichen, die Farben pastellener geworden. Die Temperatur war zurückgegangen, aber es war immer noch stickig warm. Seine Haut war von einem Schweißfilm überzogen. Es dauerte eine Weile, bis er sich erinnern konnte, wo er lag und warum er an diesem Ort war. Von draußen drang der rhythmisch auf- und abschwellende Gesang von Zikaden durch das angelehnte Fenster.
Anselm trat auf die Terrasse. Feinkörniger grauer Kies, der über absolut ebenem gestampftem Lehm gestreut war, wechselte mit großen, ungeschliffenen Granitplatten in strenger geometrischer Aufteilung. Aus dem rechtwinkligen Ensemble heraus schob sich der Pool, umrandet von einer weiten Bordüre aus flachen, warmgrauen Sandsteinquadern, in ein sorgsam angelegtes Arrangement tiefgrüner Ziersträucher, zwischen denen wenige leuchtende Blütenpflanzen farbige Akzente setzten.
Er fand Valerie im Schatten sitzend; lächelnd, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. „Gut geschlafen?“
Anselm nickte, dann sah er auf das Wasser, ein feiner Chlorgeruch ging von dort aus.
Valerie folgte seinem Blick. „Willst du schwimmen …?“ Sie machte eine kleine Pause. „In diesem Wasser lag der tote Ed“, ergänzte sie. „Es ist sauber. Die Filteranlage klärt den Pool innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Aber, ich weiß nicht, vielleicht bin ich zu empfindlich, ich habe überlegt, das Wasser auszutauschen. Was meinst du?“ Sie war aufgestanden, während sie sprach. Sie trug einen Badeanzug, ihr mädchenhafter Körper war ebenmäßig gebräunt. Sie war zierlich, schlank, die ausgeprägte Muskulatur ließ intensiven Sport erahnen. Er schätzte sie auf vierzig, höchstens fünfundvierzig. Sie war deutlich jünger, als Ed es gewesen war.
Anselm schüttelte den Kopf. Valerie war näher gekommen und hatte die Sonnenbrille abgenommen, sie sahen sich einen kurzen Augenblick schweigend an. „Warum bin ich hier?“, fragte er dann. „Wenn Ed bei einem Unfall gestorben ist, wäre vermutlich euer Anwalt ein geeigneterer Gesprächspartner für dich.“
„Du bist auf der falschen Fährte“, erwiderte sie. „Ed ist nicht beim Sprung in den Pool gestorben, Ed hat sich totgefickt!“
Anselm sah sie entgeistert, mit geöffnetem Mund und sprachlos an. Schließlich brachte er ein „Wie bitte?“ hervor.
„Du hast mich schon richtig verstanden. Er hat irgendein Flittchen überzeugt, ihn hier zu besuchen. Dann hat er sich so verausgabt, dass sein Herz versagte und plötzlich war es vorbei.“ Sie fixierte ihn, mit bohrendem Blick aus unergründlich dunklen Pupillen, der jede Nuance seiner Regung einzufangen suchte.
Anselm schüttelte den Kopf. „Das kann doch nicht wahr sein!“
„Ist es aber! Der Gärtner hat ihn gefunden. Er lag nackt auf dem Fußboden in dem Gästezimmer im Erdgeschoss. Die Situation war eindeutig.“
„Wie …?“
„Details?“ Valerie zog die Augenbrauen hoch. „Ein gebrauchtes Kondom lag neben dem Bett, eines lag zwischen seinen Beinen. Das Bett war total zerwühlt, mit Make-up-Spuren und eindeutigem Parfumduft. Ich habe lange gebraucht, um es so explizit aus dem Gärtner herauszubekommen. Beglückend war das nicht, das kannst du mir glauben. Alain hatte alles unternommen, um mir diese Details zu ersparen. Es war seine Idee, Ed in den Pool zu werfen, damit es wie ein Herzschlag aussieht und ich nichts erfahre. Er hat sogar Sophie, unsere gute Fee hier, hergeholt, damit sie das Zimmer auf Hochglanz bringt und keine verräterischen Spuren mehr bleiben.“
Anselm setzte sich auf einen der Terrassentische und starrte Valerie entgeistert an. „So etwas Bizarres habe ich noch nie gehört.“
„Für eine derartige Nummer muss man wohl auch Edgar Baumann heißen.“
„Böser Zynismus“, entgegnete er, fügte dann aber noch hinzu: „unter diesen Umständen aber eigentlich verständlich“.
„Ich kann im Moment nicht heulen. Am liebsten würde ich vor Wut schreien und ihm das Gesicht zerkratzen. Aber der Kerl ist tot. Er hat mich wie ein Stück Mist behandelt und in unserem eigenen Haus betrogen. Und dabei ist er dann auch noch krepiert. Was glaubst du, sollte ich empfinden? Und wie sollte ich mich verhalten? Hast du dafür konkrete Vorgaben? Und, falls es dich beruhigt, so neu ist die Situation nicht für mich. Ed hatte schon vorher Affären. Ach, was sage ich, Affären? Scheiß drauf, er hat rumgefickt. Wir haben uns nur immer wieder arrangiert. Neben seiner Schwanzfixiertheit hatte er ja auch gute Seiten. Manchmal konnte ich trotz alledem sogar Liebe empfinden. Aber von der idealen Ehe waren wir Lichtjahre entfernt.“
„Und du?“, fragte Anselm, „hast du auch rumgefickt?“
Valerie blieb einen Moment lang bewegungslos stehen und sah Anselm stumm mit versteinertem Gesicht an. „Ich gehöre nicht zu den Frauen, die in solchen Situationen die Kissen durchweinen und bei ihren Freundinnen Trost suchen. Ich habe mir manchmal woanders die Zuneigung und Bestätigung geholt, die Ed mir mit seinen Weibern vorenthalten hatte, wenn es das ist, was du meinst.“
„Und woher wisst ihr das mit dem Flittchen hier?“
„Nutte, Flittchen, Affäre … es ist doch völlig egal, wie man das bezeichnet. Sophie hat lange blonde Haare gefunden. Und wenn du in letzter Zeit mal im Verlag gewesen bist, dann weißt du, dass Blond dort die bevorzugte Farbe ist. Zumindest in Eds Umfeld. Er hatte hier aber noch ganz andere Sachen laufen, und deshalb wollte ich, dass du kommst …“
Sie ließ den Satz unvollendet und ging an ihm vorbei ins Haus. Als sie zurückkam, reichte sie ihm einen Umschlag. „Ed hatte auch noch etwas mit der hier. Ich will wissen, warum! Und warum sie!“ Sie zog einen Gartensessel heran, setzte sich, sorgfältig ihre Körperhaltung inszenierend, die Beine in einem leichten Winkel abgeknickt, die Arme zurückgelegt.
Der Umschlag enthielt das Foto einer Frau, die kein größerer Kontrast zu Valerie hätte sein können. Ein Schnappschuss, hinlänglich scharf, aber von geringer Qualität, der auf einem Markt oder Jahrmarkt entstanden war. Anselm erkannte einen Lieferwagen, einen Marktstand, ein Sonnendach, darunter eine Frau, etwa so alt wie Ed, vielleicht aber auch älter. Filziges, langes Haar umkränzte ein Gesicht, das früher einmal attraktiv gewesen sein mochte. Ihr Blick wirkte melancholisch und schien in eine entfernte Wirklichkeit zu sehen, ihr Mund war schmal und gerade. Der unförmige orangene Pulli, unter dem sich deutlich hängende Brüste abzeichneten, erinnerte Anselm an Sannyasin. Ihrem Äußeren schien die Frau nicht viel Interesse zu widmen.
„Kennst du sie?“
Valerie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe sie nur einmal gesehen, an dem Morgen, als ich dieses Foto gemacht habe.“ Sie stand auf und ging erneut ins Haus. Wenige Augenblicke später kam sie mit einer Schachtel Zigaretten und einem Aschenbecher zurück. Sie hatte ein Kleid übergezogen. „Rauchst du?“
„Nein. Nicht jetzt.“
„Es war purer Zufall, dass ich das mitbekommen habe.“ Sie sog den Rauch der Zigarette tief ein. „Sophie kauft für uns mittwochs auf dem Wochenmarkt ein. Vor zwei Wochen hatte sie am Mittwochvormittag einen Termin. Ich dachte, dass es eine gute Gelegenheit für mich sei, einmal wieder zum Markt zu gehen. Weißt du, früher habe ich das immer gemacht, wie fast alle hier. Die Waren sind nicht besser oder frischer als im Gemüseladen oder in guten Supermärkten, aber es gehört einfach zum Leben dazu. Also habe ich ihr gesagt, ich würde einkaufen und bin dann gegen elf Uhr nach Prades gefahren. Ed war schon eine geraume Zeit fort.“ Sie machte eine Pause und sah gedankenverloren an Anselm vorbei in den Garten.
„Wo war er hin?“
„Ich hab keine Ahnung. Seit wir hier sind, war er viel unterwegs und hat recherchiert, irgendwelche Leute besucht, in Antiquariaten und Bibliotheken gestöbert oder offensichtlich auch Blondinen nachgejagt. Er hat mir nie viel darüber erzählt.“
„Er hat nie erwähnt, was er recherchiert?“
„Hin und wieder. Aber sehr vage. Er hätte einige historisch sehr interessante Sachverhalte entdeckt und wolle mehr darüber erfahren.“
„Hat er nichts dazu gesagt? Wo er was entdeckt hat, oder so?“
Valerie schüttelte energisch den Kopf. „Ich habe einmal nachgehakt, aber er hat darauf sehr ausweichend reagiert. Dann habe ich es dabei belassen und mir gedacht, dass er mir schon darüber erzählen wird, wenn er es für angebracht hält. Das war bei Ed kein so ungewöhnliches Verhalten. Vielleicht hing das aber auch alles mit anderen Frauen zusammen.“
„Und an dem Morgen, als du zum Markt gefahren bist, ist er auch wieder auf Recherchetour gegangen?“
„Ja. Er ist gleich nach dem Frühstück losgefahren. Das war so gegen neun. Als ich dann über den Markt geschlendert bin, habe ich ihn gesehen. Er stand nur wenige Meter von mir entfernt an einem Stand und unterhielt sich sehr angeregt und vertraut mit dieser Frau auf dem Foto.“
„Hat Ed dich auch gesehen?“
„Mit Sicherheit nicht. Die beiden wirkten völlig selbstvergessen. Sie standen auch nicht direkt an dem Marktstand, sondern ein wenig dahinter, zu dem Lieferwagen hin.“
„Waren noch andere Leute am Stand?“
„Keine, die verkauft haben. Das machte offensichtlich sie allein. Aber es gab einige Kunden, oder zumindest Leute, die sich für ihre Kräuter interessierten. Aber sie interessierte sich nicht für die Kunden, sondern nur für Ed.“
„Und dann?“
„Ich hatte zunächst den Impuls, zu den beiden hinzugehen. Es hätte ja eine alte Bekannte von Ed sein können, die er zufällig hier getroffen hatte. Dann haben die beiden sich aber ganz plötzlich und sehr innig umarmt. Und Ed hat sie geküsst. Auf den Mund.“ Sie machte eine Pause, als versuchte sie, sich die Szene noch einmal genau vor Augen zu führen. „Also, das war jetzt kein leidenschaftlicher Kuss, verstehst du? Aber sie küssten sich sehr herzlich, sehr lange und intensiv. Ich war ziemlich vor den Kopf gestoßen.“
„Was hast du dann gemacht?“
„Ed ging nach dem Kuss. In die andere Richtung. Als er weg war, bin ich zu dem Stand hingegangen, habe mein Handy herausgeholt und die Frau in einem unbeobachteten Augenblick fotografiert. Dann habe ich an einem anderen Stand etwas Gemüse gekauft und bin zurück zum Haus gefahren. Den restlichen Tag habe ich versucht, meine Fassung zurückzugewinnen. Ed kam dann am späten Nachmittag und wirkte etwas verstört. Ich dachte erst, er hätte mich auf dem Markt bemerkt, aber das war nicht so.“
„Du hast ihn nicht zur Rede gestellt?“
„Nein! Ich wollte, dass Ed von sich aus etwas sagt. Das hat er aber nicht getan.“
„Und jetzt ist es zu spät dazu, ihn zu fragen!“
Valerie nickte. Anselm sah, dass ihre Kiefermuskeln arbeiteten.
„Und was erwartest du von mir? Ich meine, du brauchst mich doch nicht als deinen seelischen Beistand, oder? Also, welche Rolle soll ich in diesem Drama spielen?“
„Sagte ich doch schon“, entgegnete Valerie schroff, „du sollst sie finden! Ich will wissen, wer sie ist, was sie macht, seit wann das mit Ed geht“.
„Und die Blonde?“
„Ich glaube nicht, dass die von Bedeutung ist. Das war vermutlich eine Zufallsbekanntschaft und Ed fand sie so scharf, dass er sich bei ihr völlig verausgabt hat. Als er dann tot am Boden lag, hat die das Weite gesucht. Von der werden wir kaum wieder etwas hören. Nein, ich will wissen, was mit der Frau vom Markt ist. Da lief irgendetwas, was auch für mich von Bedeutung sein kann. Oder für den Verlag, für Eds Familie.“
„Ich kann nur meine Rolle in dem Ganzen nicht erkennen!“
„Du schreibst Kriminalromane!“
„Das ist doch nun aber weit hergeholt. Ich schreibe in erster Linie Kochbücher. Das weißt du genau. Auch, dass die Krimis nur meiner Entspannung dienen. Und außerdem sind Krimis Geschichten, keine Realität. Man wird deshalb nicht zum Detektiv.“ Anselm war gereizt. Vermutlich benötigte Valerie tatsächlich eine Unterstützung, er hatte aber kein wirkliches Interesse daran, ihr zu helfen. Wenn sie sich in der Vergangenheit begegnet waren, hatte er sie stets als borniert empfunden, mit jenem Anflug von Überheblichkeit, den Franzosen gerne gegenüber Ausländern zum Ausdruck brachten.
Auch jetzt hatte Valerie kaum etwas von dieser Borniertheit abgelegt. Zudem hatte sie sich in den aprikosenfarbenen Polstern des Gartensessels geradezu drapiert. Ihr dunkler Teint und das tiefe Zinnober des Kleides harmonierten perfekt mit dem Sessel. Eine gut eingeübte Inszenierung, von der sie wusste, dass sie ihre Wirkung selten verfehlte. Sie sah ihn herausfordernd an.
Anselm stand auf, ging zum Pool und sah lange auf das Wasser. „Ich muss darüber nachdenken“, sagte er schließlich. Tatsächlich stellte er sich Eds Körper auf der Oberfläche vor und überlegte, wie der in diese lächerliche Sexgeschichte hatte hineingeraten können. Er kniete sich hin und befühlte die Temperatur. Das Wasser war lauwarm. Seit Wochen herrschte in der Provence hochsommerliches Wetter mit Extremtemperaturen. Es war eigentlich völlig logisch, dass das Wasser nicht kalt sein konnte. Ein Herzschlag als Todesursache konnte für niemanden glaubwürdig sein.
Die ganze Geschichte war geradezu grotesk. Es wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt dafür, wieder abzufahren, überlegte Anselm, und damit das Eheleben der Familie Baumann der Betrachtung durch die Presse und Valerie der Obhut ihrer Anwälte zu überlassen. Aber da war die Vertrautheit, die zwischen ihm und Ed im Laufe der Jahre gewachsen war und die in dieser Situation einen letzten Freundschaftsdienst rechtfertigte.
„Gut, ich kümmere mich um die Frau.“ Er dreht sich zu Valerie. „Für Ed“, fügte er hinzu.
Am Mittwochmorgen traf Anselm in der Küche auf Sophie. Eine kleine, rundliche Frau mit grellrot geschminkten Lippen, die ihn verstohlen kritisch beäugte. Er wusste, dass er keinen sonderlich guten Eindruck machte. Wie häufig, hatte er nach dem Duschen vergessen sein Haar zu kämmen, das jetzt in wirren, kurzen graubraunen Strähnen wie ein sturmgeknicktes Kornfeld wirken würde. Immerhin hatte er sich rasiert. Sein schlaksiger Körper wirkte neben ihrer Kompaktheit wie der von Don Quichotte neben dem von Sancho Pansa. Und wie dieser verfügte vermutlich auch Sophie über einen praktischen und gesunden Menschenverstand. Anselm hoffte in dem Kontext dieser Betrachtung, dass seine Aufgabe sich nicht zu einem Kampf gegen Windmühlen entwickeln würde.
Madame Baumann sei schon fort, sagte sie. Nach Avignon. Zu ihrem Anwalt. Sie solle ihm Frühstück machen.
Sie wirkte scheu. Was, wie Anselm mutmaßte, nicht ihr Naturell war. Sie schien ihm mehr die burschikose Frohnatur zu sein, die mit den ausladenden Hüften auf Dorffesten bei ausreichender Weinzufuhr gerne augenzwinkernd mit Männern kokettierte. Vielleicht war das aber auch sein Vorurteil. Jedenfalls begegnete sie ihm und seinem investigativen Tun in Valeries Auftrag mit Skepsis und sah Zurückhaltung offensichtlich als die derzeit gebotene Strategie an. Vermutlich wusste sie wesentlich mehr Details, die zur Klärung von Eds Tod beitragen könnten, als sie es vorgeben würde zu wissen, und tatsächlich wich sie Anselms Nachfragen aus. Stattdessen beteuerte sie, schüchtern lächelnd, nur die verwaltungstechnischen Details des Hauses Baumann zu kennen. Sie sei zuständig für das Reinigungspersonal, für Handwerker und Einkäufe, gelegentlich übernehme sie auch die Aufgabe einer Köchin. In der Zeit, in der Baumanns nicht in der Provence seien, kämen der Gärtner und sie einmal wöchentlich zum Haus, um alles in einem Zustand zu halten, der es Valerie und Ed ermögliche, jederzeit spontan anzureisen. Wenn es besonders warm sei, komme der Gärtner auch öfter, um die Anlage zu bewässern.
„Erzählen Sie mir was über den Gärtner“, forderte Anselm sie auf, und mit der Beantwortung dieser Frage zögerte sie nicht lange. „Ein missmutiger kleiner Mann ist das. Mir ist der unheimlich, taucht immer völlig lautlos hinter einem auf, ohne sich irgendwie bemerkbar zu machen. Ich bin jedes Mal zu Tode erschrocken, wenn die Baumanns nicht im Haus sind und er plötzlich hinter mir in der Küche steht.“
„Der Gärtner hat einen Schlüssel?“
„Natürlich. Der muss ja auch nachsehen, ob alles in Ordnung ist, ob nirgendwo etwas eingeschlagen worden ist, oder so.“
„Ist das schon mal vorgekommen? Ich meine, dass hier am Haus in der Abwesenheit von Baumanns etwas zerstört worden ist oder eingebrochen wurde?“
„Na ja, anfänglich schon. Hier haben sich immer irgendwelche Leute rumgetrieben, es ist mutwillig was kaputt gemacht worden und zweimal ist auch eingebrochen worden. Die haben aber nur Kleinkram und die Videoanlage geklaut und einmal wurde was aus der Speisekammer mitgenommen. Das waren keine richtigen Diebe oder Banden, wie das heute schon mal passiert. Nachdem die Baumanns diese Sicherheitsfirma beauftragt haben und das große Tor und die Videoüberwachung gekommen sind, da hat es dann aufgehört. Danach haben wir nie mehr etwas von Eindringlingen bemerkt. Aber kontrollieren muss der Alain trotzdem regelmäßig.“
„Alain, das ist der Gärtner?“
„Ja.“
„Und der wohnt hier? Ich meine, hier in der Nähe?“
„Oben auf der Hochebene, dem Plateau. Dort wo sie früher die Atomraketen hatten.“
„Die Atomraketen? Das klingt aber gefährlich. Was denn für Atomraketen?“
„Die Atomraketen der Franzosen eben. Die steckten da oben in Silos, die man in den Felsen gegraben hatte. Da sind ja sowieso überall Felsen und Höhlen und Löcher. Seit Ende der Neunzigerjahre sind die Raketen aber weg. Sagt man zumindest. Genau weiß das keiner, das ist ja alles geheim und streng bewacht.“
Von Sophie erfuhr Anselm auch, dass der Gärtner das Anwesen schon betreut hatte, bevor es Baumann gehörte. Sie wusste aber nichts von den vorherigen Besitzern und war selbst erst seit Anfang zweitausend für Valerie und Ed tätig. Davor hatte es mehrere verschiedene Haushaltshilfen gegeben, bis Ed den ständigen Wechsel leid gewesen war. Er hatte ihr einen festen Arbeitsvertrag, mit Sozialversicherung, Krankengeld und bezahltem Urlaub angeboten und sie hatte dieses Angebot nur zu gerne angenommen und sorgte sich jetzt, nach seinem Tod, um ihre Stellung.
„Wie sind Sie an den Job gekommen?“, fragte Anselm.
„Der Metzger im Ort hat mich empfohlen. Der ist mein Schwager.“
Anselm bat sie, ihm noch einen Espresso zu machen. „Machen Sie sich doch auch einen“, sagte er und schob den Korb mit den Croissants zu ihrer Seite des Tisches, an den sie sich im Laufe des Gesprächs gesetzt hatten. „Und nehmen Sie sich doch ein Croissant! Die sind ausgesprochen köstlich.“
Sophie klopfte auf ihre Hüfte und deutete dabei mit dem Kinn in Richtung der Croissants. „Zu viel Fett. Das setzt sich alles an meinen Hüften ab. Sehen Sie Monsieur Anselm, da drängen schon sehr viele Croissants nach außen.“ Jetzt lächelte sie kokett. „Aber einen Kaffee trinke ich gerne mit Ihnen.“
Anselm sah ihr dabei zu, wie sie geübt die Espressomaschine bediente. Eine große Cimbali. Sie servierte ihm eine frische Tasse, die, wie bereits zuvor, mit einer kleinen Papierunterlage auf der Untertasse versehen war. Sichtlich erfreut über den Verlauf des Gesprächs setzte sie sich und sah Anselm neugierig an. „Sie sind ein alter Freund des verstorben Monsieur Ed, nicht wahr. Und einer seiner Autoren, ein Kochbuchautor, sagte Madame Valerie. Es ist wirklich traurig, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen. Dabei hätten wir so viel Vergnügen beim gemeinsamen Kochen haben können und sie hätten dann alle zusammen wunderbar speisen können.“ Sie seufzte.
Kochen, dachte Anselm, das hätte in diesem Haus tatsächlich eine vergnügliche Beschäftigung sein können. In einer Küche von herrschaftlichen Ausmaßen mit einem monströs großen La Cornue-Herd im Zentrum und mehr Kochutensilien, als er sie in seiner eigenen Profiküche besaß. Die Umstände hätten andere sein müssen – vielleicht auch eine kühlere Jahreszeit, und natürlich ein lebender Ed und eine entspannte Valerie; Müßiggang statt Schnüffelei, die ihn ermüden würde, südliche Heiterkeit statt Misstrauen und Tod.
Aber die Umstände waren nun einmal nicht erheiternd. Sein Verleger war einem libidinösen Schub erlegen und die Witwe des Verblichenen bevorzugte unter allen denkbaren Reaktionen eine, die ihn dazu nötigte, in dessen Intimleben zu stöbern, dessen nicht vermuteten Bekanntschaften nachzuforschen und die bizarre Welt der Baumanns mit Pinzette, Skalpell und Vergrößerungsglas auf dem Seziertisch zu zerlegen. Eigentlich grenzte das ans Widerliche. Aber irgendwo in seinem Bauch spürte er ein vages Gefühl von Unruhe, das nicht mit den unappetitlichen Details einer dumm gelaufenen Fickgeschichte zu erklären war. Ed hatte in den vergangenen Jahren seine gesundheitliche Disposition hinlänglich herausgefordert, um deutlich jüngere Frauen zu beeindrucken, ohne dass er dabei Schaden genommen hatte. Es schien, dass er recht gut mit der Belastung hatte leben können. An diesem finalen Lustgewinn haftete ein wenig mehr als der Hauch des Unstatthaften. Es gab da in der Unschärfe des von Valerie beschriebenen Sachverhaltes etwas, was kratzte; das kaum wahrnehmbar von dem Eindruck ablenkte, den er in der kurzen Zeit seit ihrem Anruf in Hamburg gewonnen hatte. Etwas, von dem er wusste, dass es ihn zunehmend beunruhigen würde. Dem er würde nachgehen müssen, wenn die Unruhe nicht beständig werden sollte. Selbst, wenn es sich als Bagatelle, als Irrtum, als Überinterpretation eines Furzes herausstellen sollte.
Er musste mit Thomas Engler telefonieren und Klarheit darüber gewinnen, was in Köln, was im Verlag bekannt war oder kolportiert wurde. Engler, der alle Details aus Eds beruflichem Alltag kannte, der die Intrigen, die Gerüchte, die Halbwahrheiten und die beobachtete Faktenlage beurteilen und bewerten konnte, der gewiss mehr über Ed wusste, als es Valerie tat. Engler, der als Eds Berater maßgeblich seinen persönlichen Erfolg als Kochbuchautor geprägt hatte und mit dem ihn seit vielen Jahren eine zumindest vertrauensvolle Komplizenschaft verband. Richtige Freunde waren sie in diesen Jahren nicht geworden, da hatte Ed ihm tatsächlich näher gestanden, aber Engler war ihm gegenüber immer klar und konstruktiv gewesen. Ein messerscharf analysierender Zyniker einerseits, ein absolut verlässlicher Partner andererseits. Vielleicht konnte Engler das Quantum Unruhe in ihm besänftigen. Dann müsste er nur noch die Marktfrau finden, sie und Valerie miteinander bekannt machen und seine Aufgabe wäre erledigt. Dreitausend Autobahnkilometer und das Elend, bei widerwärtiger Hitze in der Provence zu sein. Alles in allem gab es Schlimmeres.
„Waren Sie an dem Morgen, als Monsieur Baumann starb, auch im Haus tätig?“, fragte er Sophie.
„Nein. Ich bin immer dienstags, mittwochs und freitags am Vormittag hier, und wenn Gäste am Wochenende zum Essen kommen, auch schon mal am Samstag. Alain hat mich an dem Vormittag angerufen.“ Sie holte ein Taschentuch hervor, schnäuzte sich und trocknete die feucht gewordenen Augen. „Es ist so schrecklich!“, fügte sie hinzu. „Dass Monsieur Baumann so etwas getan hat.“
„Was getan?“, fragte Anselm.
„Das mit der anderen Frau. Valerie … ich meine, Madame Baumann ist so schön, so jung und begehrenswert. Dass er da was mit so einem Flittchen anfängt!“, sie schüttelte energisch den Kopf. „Aber ihn hat ja gleich die gerechte Strafe getroffen!“ Jetzt nickte sie, sich selbst in ihrem Urteil zustimmend, dass Ehebruch nun einmal eine Todsünde ist, die automatisch und umgehend eine göttliche und vor allem drakonische Bestrafung nach sich zieht.
Anselm beobachtete sie und überlegte, dass Ed nach Sophies Moralverständnis hätte eigentlich schon mehrfach sterben müssen, und dies bereits vor Jahren. Allerdings kam ihm auch der Gedanke, dass Sophie mehr Empörung zeigte, als sie eigentlich empfand. „Und dann, was haben Sie dann gemacht, als Sie hier angekommen sind?“
„Alain hatte einen Plan. Er hatte auch schon alles vorbereitet. Wir haben kurz darüber gesprochen, dass wir Valerie“ – dieses Mal korrigierte sie sich nicht – „diese Entwürdigung ersparen wollten. Gemeinsam haben wir Monsieur Baumann dann zum Pool getragen und hineingeworfen. Der war vielleicht schwer. Gut, dass der Alain so stark ist, und das bei seiner schmächtigen Figur.“
Anselm sah sie aufmerksam an. Sophie hatte tatsächlich Entwürdigung gesagt. Auf diesen Begriff wäre er erst nach längerer Überlegung gekommen und dazu hätte es eines entsprechenden Kontextes bedurft, in dem dieser Begriff hätte reifen können. Natürlich ist es entwürdigend für eine Frau, wenn der Partner sie betrügt. Und dann noch im eigenen Haus. Aber konnte das der Gedankengang der Haushälterin und des Gärtners sein, wenn sie den Hausherrn tot auffinden? „Und dann haben Sie alles gründlich geputzt und aufgeräumt?“
Sophie nickte stumm.
„Da gab es doch bestimmt einiges, was auf die Frau schließen ließ? Ich meine, abgesehen von den Make-up-Spuren, den blonden Haaren, dem Parfumduft im Raum? Vermutlich doch Zigarettenkippen, benutzte Gläser, eine vergessene Sonnenbrille oder …“, er zögerte leicht, „eine Kondom-Packung? Oder eine Pillenschachtel?“
„Mehrere Gläser standen auf dem Boden. Und es gab diese beiden benutzten Kondome. Die hat aber der Alain entsorgt. Da habe ich mich geweigert.“ Sie schüttelte sich angewidert.
„Und die Kleidung von Monsieur Baumann? Er war doch ein sehr ordentlicher Mann und hat sie gewiss sorgfältig abgelegt?“
„Wir haben nur seine Badeshorts und die Espadrilles gefunden. Und die lagen neben einer der Liegen auf der Terrasse.“ Sophie nippte den letzten Tropfen Espresso aus der Tasse. „Jetzt muss ich aber wieder arbeiten, Monsieur Anselm.“ Sie lächelte unverbindlich.
Sollte er weiterfragen? Details herauskitzeln? Ihr Fallen stellen und sie in Widersprüche verwickeln? Ganz der harte Ermittler sein? Er wusste, er würde nicht überzeugen. Er ließ den Dingen gern ihren Lauf; beobachtete Gesten, Mimik, Körpersprache; stellte Fragen, von denen die Befragten meist nicht einmal realisierten, dass es sich um solche handelte, und hörte aufmerksamer zu, als es den Antwortenden bewusst war. Er betrachtete sich selbst als unaufgeregt Suchenden. Er sortierte Fakten, und dies bevorzugt entspannt in der Sonne liegend, und er misstraute jeder Form von Aktionismus. Wenn Valerie in ihm den Bluthund erwartete, der erbarmungslos der von ihr skizzierten Fährte folgte, würde er sie enttäuschen müssen.
Unbeschadet seiner Vorbehalte begann er dennoch die Suche nach der Frau, die Valerie fotografiert hatte. Der Wochenmarkt von Prades war der Ort, von dem aus er hoffte, die Fäden zu jener mysteriösen Beziehung zwischen Ed und einer Markthändlerin aufgreifen zu können. Insgeheim hatte er damit gerechnet, Sophie dort zu treffen und durch sie schnell zu einem Ergebnis zu gelangen.Sie erschien dort aber nicht, oder er übersah sie.
Der Ort selbst war beschaulich und unspektakulär und vermutlich nur am Markttag stark von Touristen besucht. Viele der kleinen Läden hatten auffallende Holzfassaden, die bis an die Balkone der ersten Etage reichten, mit teilweise filigran ausgearbeiteten Säulenelementen. Man hatte diese Fassaden in allen Schattierungen von Lavendelblau, Chromoxydgrün, Ocker oder dunklem Siena vor das Mauerwerk gesetzt, und manche ließen an den übermalten Schriftzügen die wechselnden Inhaber oder angebotenen Waren der vergangenen Jahrhunderte erkennen.
Auf dem zentralen Platz und den angrenzenden Straßen gab es alles, was einen provenzalischen Wochenmarkt ausmachte: Stände mit Obst und Gemüse, Käse, Wurst und Schinken, Olivenöl, Wein, Kräutern, Fleisch und sogar einen Stand mit einer üppigen Fischauswahl, darunter ein großer Thunfisch, der im Ganzen auf dem Eis lag und bis zur Hälfte des Rumpfes bereits aufgeschnitten und verkauft worden war. Neben den Lebensmittelangeboten gab es Textilien, Bekleidung, Hausrat, Spielzeug, Matratzen; für Touristen die obligate provenzalische Keramik, Essenzen, Seifen und Körperöle mit Duftnoten von Lavendel, Thymian und Rosmarin. Anselm hatte nie die Begeisterung für Wochenmärkte verstehen können, die häufig ausgerechnet bei Mitmenschen auftrat, die sonst auf absolute Frische und untadelige Hygiene Wert legten. Hier lagen Lebensmittel ungeschützt in der Gluthitze, waren Staub und Insekten ausgesetzt; es war weder Anbau noch Herkunft noch Lagerung nachvollziehbar. Jeder der so authentisch provenzalisch wirkenden Gemüse- und Obsthändler würde Eide schwören, dass seine Produkte aus ökologisch unbedenklichem Anbau stammten und erst an diesem Morgen im heimischen Garten geerntet worden seien; die Verkäufer von Olivenöl würden die schonende Kaltpressung ihrer extra nativen Öle hervorheben und die Käsehändler die traditionelle handwerkliche Herstellung der angebotenen Laibe. Das alles war verständlich, schließlich lebten diese Menschen von dem Marktgeschehen und sie entsprachen so den Erwartungen der Besucher. Aber in dieser Umgebung von Lärm und von Duftschwaden, die aus in der Sonne schwitzenden Früchten und überwürzten Würsten, aus Lavendelgestecken, aus Körben mit getrockneten Küchenkräutern und Gewürzen emittierten, war es praktisch unmöglich, selbst mit einem geschulten Gaumen das tatsächliche Geschmackserlebnis der überall angebotenen Proben zu erfahren. Anselm schauderte.
Er ging mehrfach an den Ständen entlang und musterte die Gesichter der Händlerinnen. Die Frau, die er auf Valeries Foto gesehen hatte, konnte er aber nicht entdecken. Einige Händler sprach er an, hatte dabei aber Schwierigkeiten, den Dialekt des Midi zu verstehen. Die meisten kannten die Kräuterfrau vom Sehen, aber nur wenige wussten ihren Vornamen; Familiennamen spielen auf dem Markt keine Rolle. Er bekam den Tipp, sie auch auf dem Markt im Nachbarort Montigny zu suchen.
Schließlich ging er zu seinem Wagen zurück, sah auf die Karte und entschied, obwohl es fast Mittag war, noch nach Montigny zu fahren. Als er ankam, waren die Händler bereits damit beschäftigt, ihre Stände abzubauen, einige hatten schon den Platz verlassen. Man erzählte ihm, dass am Samstag auch Markt sei und er beschloss, dann noch einmal zu kommen.
Montigny war pittoresker als Prades, an einen steil aufragenden Hang gebaut, mit dunklen, schmalen mittelalterlichen Häusern, die sich über teilweise sechs Geschosse wie Rankgewächse den Steilhang hinaufzogen, dessen Grat von einer wuchtigen Burgruine gekrönt war. Er aß in einem der kleinen Restaurants am Marktplatz und fuhr danach Stunden ziellos durch die Gegend. Hin und wieder stieg er aus und ging kurze Strecken spazieren. Von der Provence kannte er bislang nur die Küste. Cannes, Nice, Saint Tropez, Cassis und die Landschaft im Hinterland, die man von der Autobahn La Provençale und der Küstenstraße aus sah. Die Provence, durch die er an diesem Tag gefahren war, zeigte sich anders. Die Landschaft hier war spröder als es die Küste mit dem azurblauen Meer und den grünen, weich fließenden Hügeln des Hinterlandes war, von denen sich in hartem Kontrast lediglich der Steilhang des Luberon und die Kalkhänge der Saint Victoire und der Alpilles abhoben. In dem Teil der Provence, die er an diesem Tag neu entdeckte, waren die Berge und Täler schärfer konturiert, einsamer und wilder; die Dörfer verschlossener und nicht so sehr, wie weiter im Süden, ganz zu den zentralen Plätzen hin orientiert.
Am späten Nachmittag kehrte er wieder in die Bastide zurück und legte sich in seinem Zimmer auf den Steinfußboden, der ihm kühler als das Bett erschien, kreuzte die Arme hinter dem Kopf und versuchte, die Gedanken zu ordnen, die ihm im Verlauf des Tages gekommen waren.
Einige Zeit widmete er der Betrachtung der wuchtigen dunklen Deckenbalken, die, ihrem natürlichen Wuchs entsprechend, vor Jahrhunderten grob behauen in das Natursteinmauerwerk gefügt worden waren. Im Laufe der Zeit waren sie vermutlich hart wie Beton geworden und würden auch einen Brand des Hauses unbeschadet überstehen. Ed hatte das Haus komplett renovieren lassen und der Architekt war sehr behutsam den Formen gefolgt, die durch die natürlichen Baustoffe des alten Gemäuers vorgegeben waren. Je nach Lage im Haus waren die Natursteinmauern unter dem alten Putz freigelegt und sorgsam verfugt worden. Lediglich die Außenwände hatte man mit einer zusätzlichen Isolierschicht versehen, neu verputzt und in einem zarten Safranton mit natürlichen Ockerfarben aus der Region gestrichen. Aber selbst an diesen Wänden waren die formgebenden Natursteine noch durch Wölbungen und teilweise sichtbar gelassene Steinkanten zu erkennen. Das ganze Haus war wunderbar harmonisch gestaltet und strahlte Ruhe und Erhabenheit aus.
Er dachte an die Frau auf dem Foto. Als Eds Geliebte schied sie für ihn definitiv aus. Dessen Interesse an Frauen war offensichtlich auch in der Provence auf Blondinen ausgerichtet gewesen, die in Deutschland vorzugsweise jung, schlank, groß und vollbusig sein mussten. Anselm hatte sich immer gefragt, wie eigentlich Valerie in Eds Beuteschema passte. Sie war fast androgyn, zierlich, mit kleinen Brüsten und brünett. Dennoch hatte sich Ed ihretwegen von seiner damaligen Frau getrennt. Valerie musste ihn mit nachhaltig wirkenden Argumenten überzeugt haben, die gewiss nicht rein verbaler Natur gewesen waren.
Vermutlich war es auch Valerie bewusst, dass die Marktfrau keine Konkurrenz darstellte, was bedeuten würde, dass sein Rechercheauftrag einem andern Ziel diente als dem, das Valerie ihm genannte hatte.
Welche Beziehung mochte tatsächlich zwischen Ed und der Marktfrau bestanden haben? Wo konnten sie sich erstmals begegnet sein? Wie war die Vertrautheit zwischen ihnen entstanden, die Valerie geschildert hatte? Warum hatte Ed diese Beziehung vor seiner Frau geheim gehalten?
Anselm entschied sich dazu, Eds Arbeitszimmer zu durchsuchen, dessen persönliche Aufzeichnungen, die Bücher und Zeitschriften, die er zuletzt gelesen hatte, die Straßenkarten in seinem Auto – in der Provence fuhr er einen Peugeot mit französischem Kennzeichen, der BMW mit deutschem Nummernschild stand in der Garage –, Quittungen von Einkäufen und Restaurantbesuchen, Notizen in seiner Brieftasche. Es gab mit Sicherheit Spuren, die Eds Verhalten plausibler erscheinen ließen; die ihm einen Weg zu der Marktfrau und der Blondine eröffnen würden. Im Gegensatz zu Valerie sah er diese Frau nicht als nebensächlich an. Letztendlich war sie nach seinem Empfinden mittelbar die Todesursache.
Auf dem Weg zum Arbeitszimmer beobachtete er aus dem Fenster zur Zufahrt einen Mann, der auf die Bastide zu schlenderte. Nach Anselms Einschätzung schien er um die vierzig zu sein, mit italienischem Einschlag, schwarzem, sehr dichtem Haar, leicht olivfarbener Haut und einem bulligen Körper, muskulös, aber auch etwas behäbig. Er trug trotz der Hitze einen Anzug, hatte sich aber das Jackett über eine Schulter gehängt und die Ärmel hochgekrempelt. Seine Krawatte hing achtlos weit aufgezogen vor der Brust.
Luc Vidal war noch nie beruflich in der Gegend von Prades gewesen. Es war ein ruhiger kleiner Marktflecken, umgeben von Karsthügeln, Dinkel- und Lavendelfeldern. Eine gemächliche Idylle und nicht die Welt der Gewaltverbrecher, in der er sich sonst bewegte. Er hatte auch nur deshalb eingewilligt, sich um diesen bizarren Fall zu kümmern, weil er für einige Stunden der stickigen Luft und der Hitze in Avignon entfliehen wollte. In der Zentrale hatten sie sich ausgeschüttet vor Lachen, als der Kollege, der den Anruf des Gerichtsmediziners entgegengenommen hatte, den Fall mit allen pikanten Details laut vortrug und nicht an deftigen Kommentaren sparte.
Ein Deutscher hatte seine körperliche Verfassung deutlich überschätzt und war nach Einnahme einer sehr großen Dosis Potenzmittel beim Geschlechtsverkehr an einer Herzattacke gestorben. Irgendwer hatte den toten Liebeshelden dann posthum in den Pool gestoßen und der von der Gendarmerie herbeigerufene Arzt hatte in den Totenschein „Herztod bei Sprung in den Pool“ geschrieben. Erst der Gerichtsmediziner, der die Leiche für die Überführung nach Deutschland freigeben musste, bemerkte, dass der Mann bereits tot war, als er im Wasser landete. „Entweder ist er vor Schreck bereits beim Springen gestorben, oder jemand hat einen Toten in den Pool gestoßen. Wozu das gut sein könnte, das ist nun wieder Ihre Angelegenheit“, hatte er Vidal erklärt.
Der Gerichtsmediziner hatte sich an der Darstellung seiner Erkenntnisse geweidet. „Der hatte genug PDE-5-Hemmer im Blut, um als Zuchthengst tätig zu sein. Für einen Mann Anfang sechzig ist das nicht ungefährlich. Sex stellt eine außerordentliche körperliche Belastung dar.“
„Das mag Ihre subjektive Einschätzung sein“, hatte Vidal erwidert.
„Absolut nicht! Es hängt zwar auch viel von dem Grad der Leidenschaft ab, aber bei Einnahme von PDE-5-Hemmern kann der Triumph der verloren geglaubten Männlichkeit zu einer Überschätzung des physisch Möglichen führen. Beim Sex steigt, wie bei jeder starken körperlichen Beanspruchung, die Herzfrequenz deutlich an und der Sauerstoffbedarf nimmt enorm zu. Gleichzeitig kommt es dabei zu einer Verknappung des Sauerstoffangebots. Die Durchblutung des Herzmuskels erfolgt nämlich nur während der Erweiterung der Herzkammern, der Diastole. Eine Steigerung der Herzfrequenz im Rausch der Lust ist dabei kontraproduktiv, weil damit eine Verkürzung der Diastole einhergeht.“
„Und was passiert dann?“
„Bei untrainierten Patienten mit koronarer Herzkrankheit kann dies einen Angina-Pectoris-Anfall oder einen Herzinfarkt auslösen. Man muss da schon aufpassen und die Beipackzettel studieren, wie bei jedem anderen Medikament auch. Baumann hatte eine extreme Konzentration von Clardonafil Hydrochlorid im Blut. Der könnte eine mächtige Erektion gehabt haben, bevor er starb.“
„Und, hatte er eine mächtige Erektion?“
„Soweit wir feststellen konnten, hat es kurz vor seinem Tod zumindest eine Ejakulation gegeben. Was nicht bedeutet, dass er Verkehr hatte. Genau werden wir das nie erfahren. Aber vermutlich hat der Mann noch einmal sein Bestes gegeben, es übertrieben und ist dann daran verschieden.“
Von Avignon hinauf in die Berge erschien Luc Vidal die Fahrt wie der Beginn eines Ferientages. Versonnen betrachtete er die Landschaft und bewunderte den eisernen Willen unzähliger Radfahrer, bei ihren kräftezehrenden Bergfahrten der mörderischen Hitze zu trotzen, die selbst jetzt, am späten Nachmittag, noch wie eine bleierne Glocke über dem Vaucluse lag.
Vidal hatte nach seinen ersten Informationen über den Toten ein exklusives Objekt erwartet, war nun aber von der Größe des aufwändig renovierten Hauses überrascht. Der Verleger hatte sich den Traum von einem Sommerhaus in der Provence ganz offensichtlich ein Vermögen kosten lassen.
Der Mann, der ihm öffnete, kam aus dem Norden. Seine helle Haut und erste Spuren der provenzalischen Sommersonne darauf, verrieten die Herkunft. Vidal vermutete in ihm den Fahrer des alten Range Rover mit deutschen Kennzeichen, der am Rande der Kiesfläche unter einem Baum geparkt stand. Der Mann war schlank, etwa einen Meter achtzig und ungefähr Mitte vierzig, wie er selbst. Die Nase wies eine Bruchstelle auf, an der das Nasenbein abgeflacht und verbreitert war, über seinen graublauen Augen wucherten dichte, honigfarbene Brauen. Ein starker Bartwuchs hatte jetzt am Nachmittag bereits wieder schwarze Stoppeln um den geraden Mund sprießen lassen, der leicht spöttisch verzogenen war.
„Commissaire Luc Vidal“, sagte er, und ließ seine Arme demonstrativ am Körper herabhängen, jeden Anschein einer persönlichen Geste vermeidend. „Police nationale Avignon. Sie verstehen Französisch?“
Anselm sah den Kommissar mit leicht geöffnetem Mund an, der Blick glitt rasch über sein Gegenüber. Er nickte dabei mehrere Male schwach. „Leidlich!“, sagte er und fügte hinzu: „Anselm Bernhard, ich schreibe für den Verlag des verstorbenen Monsieur Baumann. Seinetwegen sind Sie doch wohl hier. Oder?“
„Erscheint Ihnen das so selbstverständlich?“
„Nein!“ Anselm trat einen kurzen Schritt zurück und deutete mit einer vagen Geste an, Vidal möge eintreten. „Es ist eine reine Annahme.“
Der Kommissar ging an ihm vorbei in die Mitte der zweigeschossigen Eingangshalle, hob den Kopf und sah hinauf zur Galerie in der ersten Etage, an deren Wänden moderne Gemälde hingen. „Madame Baumann ist auch im Haus?“ Er drehte sich nach der Frage wieder zu Anselm um, der am Eingang stehen geblieben war.
„Ist sie!“, sagte der und deutete auf eine Gruppe hoher Sessel, die in der Halle für Besucher aufgestellt waren. „Es wird vielleicht einige Minuten dauern. Machen Sie es sich bequem.“ Während Anselm ging, um Valerie zu suchen, stützte Vidal sich auf eine der hohen Sessellehnen und sah hinaus auf die Zufahrt, die zwischen Zypressen in einer sanften Biegung von der Straße herabführte und in eine weite Kiesfläche mündete. Vor dem Eingang der Bastide standen große glasierte Blumentöpfe mit sorgsam beschnittenen Lorbeer- und Buchsstämmen. Um die Kiesfläche herum zogen sich ebenso sorgfältig gepflegte und geschmackvoll arrangierte Pflanzungen, die nach und nach in eine weitläufige Parklandschaft übergingen. Alles war regelmäßig bewässert worden und wirkte auch in der derzeitigen Hitze üppig und frisch. Die Baumanns beschäftigten einen talentierten und fleißigen Gärtner.
Ein warmer Lufthauch verbreitete sich in der Halle. Vidal drehte sich um und sah Valerie, die lautlos auf ihn zuging, neugierig an. „Ich bin Valerie Baumann“, sagte sie, „gibt es Probleme?“
Vidal schüttelte den Kopf. „Reine Routinefragen.“
„Welche? Alles lässt sich erklären. Sie haben doch nichts dagegen, dass Monsieur Bernhard bei unserem Gespräch dabei ist?“
„Ganz im Gegenteil.“ Vidal lächelte. „Vielleicht hat er ja eine Erklärung dafür, warum Monsieur Baumann in den Swimmingpool befördert wurde, als er schon tot war.“ Er setzte sich in einen der Sessel und hob fragend die Augenbrauen. Anselm erwiderte seinen Blick, blieb aber unbeeindruckt.
Valerie antwortete, ohne Vidal anzusehen. „Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Monsieur Vidal. Ich verstehe das nicht. Wieso war mein Mann schon vorher tot?“
Anselm beobachtete, dass ihre Hände bei der Ausführung des Kommissars ruhig blieben. Er hatte zumindest ein leichtes Zittern erwartet.
„Er starb, bevor er in den Pool fiel.“ Vidal lächelte sanft. „Es wurde also eine Leiche ins Wasser befördert. Und wir möchten gerne wissen, warum, und wer die Leiche in den Pool beförderte. Wir sind einfach etwas irritiert, Madame, und hatten gehofft, Sie könnten uns vielleicht helfen.“
„Kann ich nicht! Das ist alles sehr verwirrend für mich.“
Valerie schüttelte energisch den Kopf, Anselm betrachtete nachdenklich die zerschlissenen Flip-Flops an seinen Füßen, während Vidal einen zusammengefalteten Computerausdruck aus der Tasche zog, den er dann umständlich auf seinem Oberschenkel glättete.
„Sie haben bei den Kollegen angegeben, dass Sie mittags gegen ein Uhr nach Hause gekommen sind. Aus Aix, nicht wahr?“ Valerie nickte stumm. „Gibt es jemanden in Aix, der uns bestätigen könnte, dass Sie dort so, sagen wir mal, gegen elf Uhr, elf Uhr dreißig noch gewesen sind?“
„Ja, warum? Muss ich mich rechtfertigen? Weil mein Mann gestorben ist?“ Sie klang ärgerlich.
Vidal blieb unbeeindruckt. „Ihr Mann, Madame Baumann, ist mit großer Wahrscheinlichkeit beim Geschlechtsverkehr gestorben. Nachdem er zuvor eine sehr hohe Dosis Clardonafil eingenommen hatte, eine Erektionshilfe. Wenn Sie in Aix waren, so stellt sich für mich die Frage, mit wem er Geschlechtsverkehr gehabt und wer den Toten in den Pool geworfen hat. Woraus die weitere Frage resultiert, warum? Das sind unappetitliche Details. Aber ich muss trotzdem herausfinden, was passiert ist – es ist schließlich ein etwas ungewöhnlicher Vorgang.“
Valerie starrte Vidal ungläubig an und sank schließlich in den Sessel ihm gegenüber, zog die Beine an den Körper und umschlang sie mit den Armen. Anselm fand, dass es eine gute Inszenierung von Betroffenheit war. Er begutachtete noch einmal seine Flip-Flops, hob dann plötzlich den Kopf und zeigte ein bemühtes Lächeln. „Benzanafil!“, sagte er.
„Wie bitte?“, fragte der Kommissar.
„Ich sagte: Benzanafil. Sie haben eben gesagt, dass die Gerichtsmedizin bei Monsieur Baumann Clardonafil im Blut gefunden habe. Ed hat ein anderes Präparat genommen, das den Wirkstoff Benzanafil enthält. Schauen Sie einfach ins Bad, da finden Sie die angebrochene Packung.“
„Was macht das für einen Unterschied?“
„Einen großen. Ein anderes Medikament, eine andere Wirkungsweise, eine andere Intention. Bei dem Mittel, das Ed benutzt hat, setzt die Erektion später ein. Man kann nicht so spontan Sex haben. Ich benutze auch gelegentlich solche Mittel, deswegen weiß ich ein wenig Bescheid. Und wenn Ed Montagmorgen, mit wem auch immer, hier Sex haben wollte, dann würde er eine von seinen Pillen eingenommen haben. Da kannte er vermutlich die Wirkungsweise ganz genau. Warum sollte er ein Experiment wagen und ein anderes Mittel einnehmen? Ich hätte das nicht getan!“
Vidal sah ihn einen kurzen Moment irritiert an. „Sie meinen, Monsieur Baumann hätte das Mittel nicht bewusst eingenommen?“
„Denkbar ist das für mich.“
„Warum?“
„Es wäre eine elegante Art, jemanden zu töten. Ed hatte Herzprobleme. Wer das wusste, hätte sich diese Kenntnis zunutze machen können.“
„Interessant!“ Vidal sah zu Valerie, die über ihre Knie hinweg das Gespräch der Männer verfolgt hatte. „Wer wusste noch von seinen Herzproblemen?“
„Ich denke, seine Verwandten, engsten Freunde, Vertraute, Mitarbeiter“, antwortete Anselm für Valerie.
„Und hier, in seinem Lebensumfeld in der Provence?“ Vidal sah weiter Valerie an.
„Praktisch alle unsere Freunde und Sophie, die hier das Haus verwaltet. Vermutlich auch der Gärtner, mit dem Ed eine freundschaftliche Beziehung pflegte. So etwas wie Vertrautheit von Mann zu Mann.“ Valerie verbarg sich weiter hinter ihren angezogenen Beinen, während sie antwortete.
„Wenn wir einmal Vorsatz bei Monsieur Baumanns Tod annehmen, wer wäre denn der Nutznießer?“ Vidal machte sich Notizen auf dem Blatt Papier, das er auf dem Knie hielt. Er betrachtete angestrengt den Filzstift. Valerie schwieg eine Weile und beobachtete Vidal über ihre Knie hinweg, wie dieser den Filzstift fixierte.
„Einen wirtschaftlichen Nutzen habe ich, Monsieur le Commissaire. Ist es das, worauf Sie hinauswollen?“
„Wenn wir eine Tötungsabsicht nicht ausschließen können, ist es naheliegend, nach Motiven zu forschen.“ Er sah kurz vom Filzstift auf und Valerie in die Augen. Anselm folgte diesem Blick. Valerie hatte schöne Augen, mit großen, tiefschwarzen, von klaren weißen Augäpfeln umgebene Pupillen. Es war kein Anzeichen von Rötung darin zu sehen, wie man es bei einer vor Trauer weinenden Witwe hätte erwarten könnte.
„Sie widern mich an!“, sagte Valerie ruhig und ohne nennenswerte Betonung. Dann stand sie auf und ging.
Beide Männer beobachteten ihren filmreifen Abgang. Anselm meinte, in Luc Vidals Gesicht ein flüchtiges Grinsen entdeckt zu haben.
Valerie überlies es damit Anselm, die weiteren Fragen des Polizisten zu beantworten, bis dieser unvermittelt die Befragung beendete und sich verabschiedete. Anselm blieb im Türrahmen stehen und beobachtete Vidal, der zu seinem Auto zurückging, dabei einige Male stehen blieb, aufmerksam gärtnerische Details betrachtete und sich noch einmal umdrehte, um Belle Lumière anzusehen, wie Touristen den Papstpalast in Avignon. Er winkte Anselm, der ihn beobachtete, wie einem alten Freund zu. „Arschloch“, murmelte Anselm, vermutete aber, dass Vidal ihn ebenfalls nicht sonderlich mochte. Schließlich fuhr der Kommissar davon, Anselm war sich aber sicher, dass der an der Einfahrt noch einmal halten und die Schließtechnik des Tors und die Videoüberwachungsanlage unter die Lupe nehmen würde. Er selbst hatte dies auch bereits getan und sich gefragt, ob auf den Videobändern nicht vielleicht die Lösung des Rätsels zu finden sei. Sophie hatte ihn aber darüber aufgeklärt, dass die Kameras abgestellt würden, wenn Ed und Valerie im Haus waren. Beide mochten die Vorstellung nicht, von wildfremden Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes in ihrer Privatheit beobachtet zu werden.
Er fand Valerie schwimmend und verfolgte ihre geübten Züge. Sie glitt durch das Wasser, wendete am Ende des Pools mit einer geschmeidigen Drehung und kam zügig auf ihn zu, ohne dabei merklich den Kopf aus dem Wasser zu heben. Am Beckenrand ließ sie abrupt die Beine nach unten sinken, schob die Schwimmbrille ins Haar und sah Anselm an.
„Ist er weg?“
Anselm nickte. „Ich dachte, du wolltest erst das Wasser austauschen, bevor du wieder in dem Pool schwimmst?“
„Ich glaube, ich erspare mir diese sentimentalen Anwandlungen.“ Sie legte die Hände auf den Beckenrand und zog sich mit einem kraftvollen Schwung aus dem Wasser. Der nasse Badeanzug zeichnete jede Pore und Wölbung ihres Körpers nach, auf ihrer gebräunten Haut glänzte das Wasser und unterstrich damit die Kontraktion und Entspannung der Muskulatur. Sie ging an ihm vorbei. Sein Blick folgte ihr. Für einen Moment überkam ihn Lust. Er spürte das Bedürfnis, mit den Fingerspitzen über ihren Rücken zu fahren, ihre Schultern zu berühren, ihren Körper zu fühlen und den Duft ihrer Haut zu atmen.
„Was hast du auf dem Markt erfahren?“, fragte sie.
„Sie ist eine Autorität auf dem Gebiet der Heilpflanzen und heißt Pauline. Mehr war nicht herauszubekommen. Sie war selbst nicht auf dem Markt. Weder in Prades noch in Montigny. Ich versuche es Sonnabend noch einmal.“
„Pauline sagst du? Das hätte Eds Vater gefallen.“
„Warum?“
„Der alte Baumann hieß Paul und war ein ausgesprochener Provence-Freak. Streng genommen hat er Ed und mich zusammengebracht. Weil ich Französin bin. Aber das ist nun eine ganz andere Geschichte.“ Sie lachte leise. „Hast du Lust, uns was zu kochen? Ich hatte hier noch nie einen Kochbuchautor zu Gast. Ich möchte das eigentlich ausnutzen.“
„Du nutzt mich ohnehin schamlos aus. Aber ich kann ja mal nachsehen, was Sophie in deiner Küche hinterlassen hat. Mehr als eine Kleinigkeit ist aber nicht drin.“ Er ging auf die Terrassentür zu und verharrte einen Moment dort. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr um.
„Was läuft hier? Du spielst vor der Polizei die Ahnungslose und riskierst dabei eine weiterführende Ermittlung. Dein Personal räumt sorgfältig alle Spuren beiseite, die zur Klärung hätten beitragen können, nur um angeblich dir die Entwürdigung zu ersparen. Die Blondine, die Ed zur Strecke gebracht hat, interessiert dich nicht, dafür aber eine alternde Marktbeschickerin, die nun ganz und gar nicht als eine seiner Affären infrage kommt. Und mich zitierst du aus Hamburg her, um irgendwelche Ziele zu verfolgen, die nur du kennst.“
„Du kennst das Ziel. Ich habe es dir genannt. Ich will wissen, wer diese Frau ist. Was zwischen ihr und Ed lief. Welche Geheimnisse die beiden verband. So einfach ist das! Du bist hier, weil ich dir vertraue, weil du Französisch sprichst und der einzige Mensch bist, von dem ich Hilfe erhoffen kann. Ich kenne sonst keine Männer mit deinen Talenten.“
Du spinnst, dachte Anselm, sagte aber nichts. Er betrachtete sie einen Moment lang schweigend, wobei ihm bewusst wurde, dass Valerie dies nicht nur wahrnahm, sondern sich auch ganz selbstbewusst inszenierte. Sie hatte sein Interesse an ihrem Körper erkannt und spielte diese Karte.
„Baumann hat sich intensiv mit der Befreiung der Provence beschäftigt.“ Capitaine Nicolas Gauthier sprach, ohne seinen Partner Vidal zuvor begrüßt zu haben. „Wir haben mehrere Zeitungsannoncen entdeckt, in denen er Zeugen für die Tage vor und nach der Landung der Alliierten gesucht hat. Ich habe mich schlau gemacht. Die Aktion begann am fünfzehnten August vierundvierzig und lief unter dem Codenamen ,Operation Dragoon‘. Nach zwei Wochen hatten die alliierten Truppen praktisch die gesamte Provence von den Deutschen befreit.“
Vidal sah müde über das Lenkrad auf die Landschaft des Plateau de Vaucluse, während er Gauthiers Ausführungen folgte. Für die Fahrt von den Baumanns zurück nach Avignon hatte er einen Umweg durch die Berge eingeschlagen, eine CD von Norah Jones eingelegt und den Blick auf die herbe Schönheit der Karstfelsen genossen. Bemüht fragte er dann trotzdem, was an den Anzeigen so wichtig sei.
„Er hatte ein Postfach, das einige Tage nicht geleert worden ist“, antwortete Gauthier. „Nicht alle Briefe auf diese Anzeigen waren freundlich.“
„Ich habe eigentlich keine große Lust, aus dieser Sexgeschichte einen richtigen Fall zu machen. Gibt es zwingende Indizien für einen Zusammenhang?“ Vor ihm taucht unvermittelt ein Château in der einsamen Bergwelt auf. Die harmonische Fassadengestaltung begeisterte ihn.
„Nein, aber ich dachte, du solltest es wissen.“
„Neunzehnhundertvierundvierzig. Ewig lange her. Deswegen wird vermutlich keiner mehr in den Pool gestoßen. Und schon gar nicht, wenn er schon tot ist.“ Vidal fuhr im Schritttempo und reckte den Kopf nach rechts, während er sprach, um möglichst viel von dem Château sehen zu können. Es bestand aus zwei Gebäuden, dazwischen zog sich eine etwas niedrigere, zinnenbewehrte Mauer, durch die das Haupttor in den Hof führte. Je ein Rundturm erhob sich am Anfang und am Ende des Ensembles, daran schlossen sich ummauerte Gärten.
„Ich könnte einmal meinen alten Vater fragen. Der war Geschichtslehrer und hat die Zeit damals ja auch selbst miterlebt. Der muss da so um die sechzehn gewesen sein.“
„Gute Idee!“ Im Rückspiegel verschwand das Château jetzt hinter Bäumen. Die Straße führte schnurgerade in einen dichter werdenden Wald hinein. „Gibt’s sonst noch was?“
„Nichts Besonderes. Ich lege alles auf deinen Schreibtisch und geh jetzt nach Hause.“
Vidal widmete sich wieder der Landschaft. Die Straße wand sich in ein weit ausladendes Tal. Links ragte über mehrere Kilometer ein gewaltiges Felsplateau empor. Er hielt an und suchte auf der Karte nach einer Orientierung. Das Felsmassiv faszinierte ihn. Rocher de la Marlène. Er glaubte, davon schon einmal gehört zu haben, konnte sich aber nicht mehr genau daran erinnern und entschied, bei der nächsten Gelegenheit einen Ausflug dorthin zu machen.
Gauthiers Notizen lagen oben auf einer Reihe von Akten. Vidal sah flüchtig auf die Papiere. Von keinem dieser Fälle würde der unmittelbare Weltuntergang noch an diesem Tag ausgehen. Gauthiers Entscheidung für das Privatleben war die einzig richtige. Aber Gauthier hatte Familie. Frau und Kinder waren vermutlich ein guter Grund, Arbeitstage auch einmal als beendet anzusehen. Für Vidal waren der Sportkanal und die Mikrowelle zu den wichtigsten Bezugspunkten seines Privatlebens geworden. Er aß, ohne wahrzunehmen, was es war. Er trank, nur um in einen Zustand flauschiger Gelassenheit zu gelangen. Meist Bier aus Dosen. Früher hatte er sorgfältig Weine ausgewählt, um den Genuss der jeweiligen Speisen zu vervollkommnen. Seine Freundschaften begrenzten sich zunehmend auf Menschen, die, wie auch er, nicht die Aufrichtigkeit zeigen konnten oder wollten, dass eigentlich keinerlei Bezug zu dem Leben des jeweils anderen bestand. Man kannte sich und gab sich der Illusion von Nähe hin. Selbst der Sex war schleichend einem ehr belanglosem Ritual gewichen.
Aber es gab Julie. Seit wann kannten sie sich? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Irgendwann hatte sich zwischen ihnen ein Zustand ausgeprägt, den er als eine Beziehung betrachtete. Aber wann hatten sie zuletzt miteinander Zeit verbracht? War es eine Woche her? Oder anderthalb? Er rief an und fragte.
„Du tickst nicht ganz richtig, Luc!“, empörte sich Julie. „Wir haben uns jetzt mehr als vier Wochen weder gesehen noch gesprochen. Ich sollte eigentlich gleich wieder auflegen. Du gehst hier morgens raus und meldest dich dann einfach nicht mehr.“
„Ich hab Stress. Ich weiß, das klingt abgedroschen und blöde. Aber es ist nun mal so. Und du hättest ja auch anrufen können.“
„Hab ich! Mehrfach. Meine Nummer hättest du auf deinem Telefon eigentlich sehen müssen. Das hat dich aber anscheinend auch nicht motiviert, mal zurückzurufen.“
„War scheiße von mir. Tut mir leid. Aber …“
„Nichts aber, Luc. Wer glaubst du bin ich? Und vor allem, wer glaubst du, dass du bist?“
„Du hast völlig Recht. Gib mir eine Chance, das wieder gutzumachen.“
„Luc Vidal als Dackel. Das ist grotesk. Ausgerechnet du! Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass wir ein Paar sind. Das wäre mir nämlich in den letzten Wochen aufgefallen. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob du ein Freund bist oder nur einer von vielen Irrtümern in meinem Leben.“
„Hast du einen neuen?“
„Luc! Ich bin achtunddreißig. Mein Alltag besteht aus Aufstehen, in überfüllten Bussen zur Arbeit zu fahren, in einem tristen Büro zu arbeiten, umgeben von Familienvätern, die einer Frau in meinem Alter zugestehen, eine Affäre zu sein und sonst nichts. Danach fahre ich mit überfüllten Bussen wieder nach Hause und kaufe in meinem kleinen Laden um die Ecke das Nötigste ein. Da sind mit mir noch einige rüstige Rentner, die mir immer mal wieder Komplimente machen. Et c’est tout!