Grundlagen der globalen Kommunikation - Kai Hafez - E-Book

Grundlagen der globalen Kommunikation E-Book

Kai Hafez

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  • Herausgeber: UTB GmbH
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Globalisierung ist eine zentrale Vision unserer Zeit. Globale Kommunikation ist aber auch ein Konfliktfeld, in dem beharrende lokale Strukturen mit kosmopolitischen Formen der Weltbeobachtung und des Dialogs wechselwirken und Instabilität erzeugen. Ihre globale Vermittlungsfunktion erfüllen Politik, Wirtschaft und Medien noch nicht verlässlich. Menschen und Gesellschaften schwanken zwischen Vernetzung zu einer Weltgemeinschaft und nationaler Abschottung bis hin zu rassistischer Abwehr. Das Handbuch bietet die erste Gesamtübersicht aller wesentlichen Felder der globalen Kommunikation in organisierten Sozialsystemen (Massenmedien, Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft) und Lebenswelten (Netzgemeinschaften, Kleingruppen, Individuum) auf einer einheitlichen und interdisziplinären theoretischen Basis.

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Seitenzahl: 613

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Kai Hafez / Anne Grüne

Grundlagen der globalen Kommunikation

Medien – Systeme – Lebenswelten

UVK Verlag · München

Prof. Dr. Kai Hafez ist Inhaber der Professur für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Vergleichende Analyse von Mediensystemen / Kommunikationskulturen an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.

 

Dr. Anne Grüne ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.

 

 

 

© UVK Verlag 2021

‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.de

eMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

 

ISBN 978-3-8252-5551-0 (Print)

ISBN 978-3-8463-5551-0 (ePub)

Inhalt

Einleitung1 Theorie der globalen Kommunikation1.1 Allgemeine Kommunikationsmodi der globalen Kommunikation1.2 Kommunikationssysteme, Lebensweltwelten und deren Wandel1.3 Spezifische Kommunikationsmodi (Systemverbindungen) von Systemen und Lebenswelten1.4 Systemdependenzen und Lebensweltbeziehungen2 Massenmedien und Weltöffentlichkeit2.1 Systeme und Systemwandel2.2 Kommunikative Systemverbindungen2.2.1 Diskursanalyse2.2.2 Öffentlichkeitstheorie3 Politik – globale Kommunikation des Staates3.1 Systeme und Systemwandel3.2 Kommunikative Systemverbindungen3.2.1 Interaktion und Dialog3.2.2 Interaktion und Organisationskommunikation3.2.3 Beobachtung und Diffusion3.2.4 Diskursive (externe) Kommunikation4 Wirtschaft – globale Unternehmenskommunikation4.1 Systeme und Systemwandel4.2 Kommunikative Systemverbindungen4.2.1 Interaktion und Dialog4.2.2 Interaktion und Organisationskommunikation4.2.3 Beobachtung und Diffusion4.2.4 Diskursive (externe) Kommunikation5 Zivilgesellschaft und globale Bewegungskommunikation5.1 Systeme und Systemwandel5.2 Kommunikative Systemverbindungen5.2.1 Interaktion und Dialog5.2.2 Interaktion und Organisationskommunikation5.2.3 Beobachtung und Diffusion5.2.4 Diskursive (externe) Kommunikation6 Großgemeinschaften – globale Netzkommunikation6.1 Systeme und Systemwandel6.2 Kommunikative Systemverbindungen6.2.1 Interaktion und Dialog6.2.2 Beobachtung und Diffusion6.2.3 Diskursive (externe) Kommunikation7 Kleingruppen – globale Lebensweltkommunikation I7.1 Lebensweltstrukturen globaler Gruppenkommunikation7.2 Kommunikative Verbindungen der Lebenswelt7.2.1 Interaktion und Dialog7.2.2 Beobachtung8 Individuum – globale Lebensweltkommunikation II8.1 Lebensweltstrukturen globaler Individualkommunikation8.2 Kommunikative Verbindungen der Lebenswelt8.2.1 Interaktion und Dialog8.2.2 Beobachtung und Diffusion8.2.3 Diskursive (externe) Kommunikation und globale Handlungen9 Interdependenzen von Systemen und Lebenswelten9.1 Grundlagen der Interdependenz9.2 Globale horizontale Interdependenz9.3 Globale und lokale vertikale InterdependenzFazit und ZukunftsperspektivenDanksagungLiteraturverzeichnis

Einleitung

Die Globalisierung ist auf dem Markt der Ideen in der Gegenwart nahezu konkurrenzlos. Wie kein anderes Phänomen prägt sie unser Denken und stiftet eine die gesamte Menschheit verbindende Vision der Gleichzeitigkeit, der Verbundenheit und sogar der Gemeinsamkeit. Jenseits des Horizonts der Globalisierung warten nur noch die Sterne, über die wir noch keine sozialwissenschaftlichen Aussagen tätigen können. Diesseits der Globalisierung hingegen gibt es keine echten Fortschrittsvisionen, denn alle anderen sozialen Formationen – von der Familie über das Dorf bis zum Nationalstaat – gibt es ja bereits. Die Lokalisierung ist zwar irgendwie der Gegenpol zur Globalisierung, besitzt aber keinerlei echte Bedeutung als Fortschrittsidee für die Menschheit. Die Globalisierung entfaltet damit eine einzigartige geistige Anziehungskraft, obwohl sie noch unvollendet und in die Zukunft gedacht erscheint, was auch erklärt, warum sie zugleich ein politischer Kampfbegriff geworden ist. Zwischen Globalisierungsbefürwortern und -gegnern tun sich politische Gräben auf. Nach der Euphorie um Globalisierung kam die Ernüchterung und mit ihr wuchs die Gegnerschaft. Vision, Schimäre, Chamäleon – all das ist die Globalisierung.

Globalisierung der zwei Geschwindigkeiten

Der Begriff Globalisierung ist aus solchen Gründen in den letzten Jahrzehnten auch eines der bedeutsamsten Erklärungsmodelle der Wissenschaft mit erheblicher gesellschaftlicher Relevanz geworden. Er verweist auf nichts Geringeres als auf eine prinzipielle Neuordnung politischer, ökonomischer und sozialer Beziehungen mit Blick auf die Beseitigung oder Überwindung der bisherigen staatlichen und kulturell-sprachlichen Grenzen. Trotz dieses weitgehend geteilten alltagstheoretischen Verständnisses von Globalisierung kann von einer eindeutigen Definition des Begriffs auch im engeren wissenschaftlichen Diskurs allerdings nicht die Rede sein.

Das Konzept der Globalisierung, wie es in diesem Buch verwendet wird, bedeutet nicht einfach „Universalität“, die Vorstellung also, dass Menschen heute weltweit in ähnlichen Formen der (technischen usw.) Moderne leben, die sich auf mysteriöse Weise über den Erdball ausgebreitet hat. Globalisierung wird vielmehr explizit als „Konnektivität“ verstanden (Axford 2013, S.22). Es geht dabei um die Frage, wie Medien, Systeme und Lebensweltakteure mit vielfältigen Arten der menschlichen Kommunikation Grenzen überschreiten und ob und wie diese kommunikative Weltentgrenzung mit neuen Formen einer integrativen Welt- und Wissensgemeinschaft und -gesellschaft zusammenhängt.

Die Globalisierung ist gewissermaßen ein Mythos im umfassenden Wortsinn geblieben – nicht, weil sie gar nicht realisiert worden wäre, sondern weil die mit ihr verbundenen Phänomene ambivalent bleiben. Rückschläge der und Gegentendenzen zur Globalisierung lassen sich allenthalben erkennen. Der deutsche Soziologe Richard Münch hat die Herausforderungen der Globalisierung klar benannt. Er geht davon aus, dass die wachsende Interdependenz zwischen den Staaten von den nationalen Bevölkerungen vielfach keineswegs unmittelbar nachvollzogen wird, sondern dass sich politische, ökonomische und gesellschaftliche Eliten in einer Vermittlerrolle befinden, aus der heraus sie den Nationalstaat nach außen öffnen, während sie zugleich nach innen um Vertrauen für diese Politik werben müssen (1998, S.350ff.). Münch spricht von einer Spaltung zwischen der „Avantgarde“ einer „global denkenden Modernisierungselite und eine(r) umso heftiger auf nationale Solidarität pochende(n) Masse“ (ebenda, S.352). Eine weltbürgerliche Gemeinschaft zu schaffen, hält er für eine zentrale Gegenwartsaufgabe.

Trotz eines gewissen Unbehagens an den Konzepten der „Elite“ und der „Masse“ erinnert Münchs Analyse an frühere Unterscheidungen wie die von Richard K. Merton zwischen „Kosmopoliten“ (cosmopolitans) und „Einheimischen“ (locals) (1968, S.441ff.) oder an den Begriff der „Globalisierung der zwei Geschwindigkeiten“ von Kai Hafez (2009a, S.14ff.). Die Ungleichzeitigkeit der Globalisierung betrifft nicht nur soziale Gruppen, sondern auch organisierte Sozialsysteme, zum Beispiel die Massenmedien, die in den vergangenen Jahrzehnten eine „tektonische Verschiebung“ erlebt haben, weil technische und ökonomische Aspekte der Medienglobalisierung vielfach schneller vorangeschritten sind als inhaltliche und weil im angeblichen Zeitalter der Globalisierung weder mehr noch vielfältiger über die Welt berichtet wird als zuvor (Hafez 1999). Im Gegenteil: Die Ressourcen des Auslandsjournalismus sind knapper geworden, was folglich dazu beiträgt, dass strukturelle politische und ökonomische Interdependenzen zwischen Staaten wachsen, ohne dass das dialogische und diskursive Verständnis der Gesellschaften automatisch mitwächst, was wiederum innen- und außenpolitische Feindbilder und Konflikte anheizt (ebenda, vgl. a. Stone/Rizova 2014).

Ähnlich uneinheitlich verläuft auch die innere Entwicklung der vorgeblichen globalen Eliten. Selbst der liberale Gesellschaftsteil denkt und agiert vielfach alles andere als kosmopolitisch und bleibt tief verwurzelt in nationalem Habitus (Müller 2019a, 2019b). Die politischen und wirtschaftlichen Systeme tragen in ihrer ambivalenten Haltung gegenüber der Globalisierung zur Globalisierungsfeindlichkeit manch politischer Strömungen bei, wenngleich ihr Globalisierungstempo insgesamt ein höheres sein mag als das der Lebenswelten der Bevölkerungen. Zumindest erscheint die „Globalisierung des Alltags“ von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften bei genauerem Hinsehen wenn auch heterogen dennoch träger als die von Politik und Wirtschaft zu sein. Trotz zahlreicher „globaler Injektionen“ durch Waren, Massenmedien und punktuelle globale Mobilität in den Privatwelten von Menschen sind diese doch nach wie vor stark lokal geprägt. Die „Globalisierung der zwei Geschwindigkeiten“, die „Kluft zwischen Avantgarde und Massen“, die „tektonische Verschiebung“ der „Ambivalenzen“: All dies sind mehr oder weniger treffende Bilder für die heterogene Stellung von Systemen und Lebenswelten im Prozess der Globalisierung.

Die Renaissance rechtsradikaler Politik weltweit mit ihren Symptomen wie der Wahl Donald Trumps in den Vereinigten Staaten von Amerika, dem „Brexit“ in Großbritannien und rechtspopulistischen Regierungen in so unterschiedlichen Ländern wie Ungarn, Polen, Brasilien oder Indien – vom Islamismus ganz zu schweigen – ist als anti-globalistische Revolte zu deuten. Spätestens der Rechtspopulismus in Regierungsverantwortung beweist, wie wenig die Gesellschaften der Welt auf die Globalisierung eingestimmt sind und dass Vieles im Bereich der Internationalisierung in den letzten Jahrzehnten eher oberflächliche und kulturell unverdaute Warenzirkulation geblieben ist.

Selbst eine weltumspannende und – man könnte meinen verbindende – Pandemie wie die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 seit Beginn des Jahres 2020 verläuft nicht ohne globale Wahrnehmungsdiskrepanzen. Die Perzeption der globalen Pandemie scheint abhängig davon zu sein, wie lokal über sie kommuniziert wird. Keineswegs erzeugen diese medialen und öffentlichen Konstruktionen auf Knopfdruck globale Solidaritätsnarrationen, sondern es werden ebenso lokal existierende Länderklischees aufgewärmt, rassistische Reaktionen verstärkt und eine Deutung der Globalisierung als Hochrisikoangelegenheit bemüht. Die Überbetonung des Negativen in der Ferne ist dabei keineswegs neu oder besonders, sondern eine bekannte Begleiterscheinung der globalen Moderne. Die „Ferne“ ist in ihrer und durch ihre kommunikative Vermittlung noch nicht hinreichend nah gerückt.

Medien, Systeme und Lebenswelten in der globalen Kommunikation

In der zeitgenössischen Diskussion gibt es zahlreiche Versuche einer Ursachenanalyse für den populistischen Rückschlag: Rassismus und kulturelle Überforderung, soziale Deprivation oder eine Kombination aus beiden Faktoren (Geiselberger 2017). Bislang existiert allerdings kein Ansatz, der die Verantwortung bei kommunikativen Defiziten sucht, also im Bereich der von Münch als notwendig beschriebenen „Vermittlungsleistungen“. Die Vorstellung aber, man könne globale Kommunikation quasi als feste Variable voraussetzen, während alle anderen Motive des globalen sozialen Handelns schwanken, ist grundfalsch. Weltweite Konnektivität ist ebenfalls ein heterogenes Phänomen, dessen Bilanz sich dieses Buch widmet.

Bis zum heutigen Tag beschäftigt sich kein Werk wirklich umfassend mit den grenzüberschreitenden Kommunikationsprozessen innerhalb wie auch zwischen den sozialen Systemen und Lebenswelten dieser Welt. Dabei erscheint es recht offensichtlich, dass die organisierten Systeme der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, dass also Staat, Unternehmen, Verbände und soziale Bewegungen, über bessere Voraussetzungen zur globalen Kommunikation verfügen als viele Bürgerinnen und Bürger. Bei der globalen Kommunikation geht es um den Umgang mit räumlicher Distanz und um grenzüberschreitende Kontakte. Mit hoher Intensität und Nachhaltigkeit zu interagieren und sprachübergreifend lokale Diskurse in anderen Erdteilen zu verfolgen, kann ein aufwendiges Unterfangen sein, für das viele Organisationen und die globale Avantgarde der Zivilgesellschaft trotz Massentourismus und kultureller Austauschprogramme besser ausgestattet sind als die meisten Privatpersonen. Zieht man zudem die Wohlstandskluft zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern in Betracht, so wird deutlich, dass globaler Tourismus überhaupt nur einem kleinen Teil der Menschheit möglich ist. Statistisch gesehen ändert auch die Migration an diesem Sachverhalt wenig, denn weltweit leben lediglich etwa 3Prozent der Menschen außerhalb des Landes, in dem sie geboren wurden (IOM UN Migration 2018, S.18). Auf der anderen Seite zeigen globale soziale Bewegungen und internationale Netzgemeinschaften in welch faszinierendem Tempo zumindest ein Teil der Bevölkerungen globale Distanzen kommunikativ überwinden kann. Globales „Fremdverstehen“ und eine „globale Bürgergesellschaft“ sind keine Fantastereien mehr – das macht sie aber trotzdem noch nicht zu einer allumfassenden Realität.

Einen theoretischen wie empirischen Überblick über die disparaten Leistungen und Defizite der globalen Kommunikation zu verschaffen, ist die Intention dieses Buches. Dabei scheint die grundlegende Kapitelgliederung des Werkes nach sozialen Akteuren (Massenmedien, Staat, Unternehmen, Zivilgesellschaft, Großgemeinschaft, Kleingruppe und Individuum) statt nach Kommunikationsprozessen (wie Interaktion, Diskurs, Beobachtung) für eine Studie über globale Kommunikation erklärungsbedürftig zu sein. Zunächst einmal ist ersichtlich, dass Kommunikationsprozesse kopräsent sind, da sie die interne Gliederung der einzelnen Kapitel prägen. Die tiefere Ursache für den Hauptaufbau liegt aber in einer Herangehensweise begründet, die man als Mittelweg zwischen strukturalistischer und konstruktivistischer Betrachtungsweise bezeichnen kann. Im Rahmen der theoretischen Einführung wird ein System-Lebenswelt-Netzwerk-Ansatz vorgestellt, der davon ausgeht, dass Kommunikation kein frei flottierendes Epiphänomen ist, sondern nur verstanden werden kann, wenn die Kommunikatoren in ihren jeweils spezifischen Voraussetzungen und Fähigkeiten reflektiert werden.

Die Autoren dieses Buches schließen sich der Ansicht an, dass in der heutigen Globalisierungsforschung ein „Mangel an akteurs- und praxiszentrieren Studien“ besteht (Schmitt/Vonderau 2014, S.11) und dass das handelnde Subjekt wieder in die Analyse einbezogen werden muss, um zu einer überzeugenden Theoretisierung zu gelangen (Hay/Marsh 2000, S.13). Um ein Beispiel zu nennen: Ein egozentriertes globales Netzwerk eines Individuums ist etwas ganz Anderes als ein Unternehmensnetzwerk, was den prominenten Begriff der globalen „Vernetzung“ (u.a. Castells 2001) nur dann sinnvoll erscheinen lässt, wenn man die konkrete sozialtheoretische Verwendung mitdenkt. Globale Kommunikation wird also erst durch die Verbindung von kommunikationswissenschaftlichen Prozesstheorien mit sozialwissenschaftlichen Strukturtheorien verständlich. Im vorliegenden Werk werden auf der Prozessebene unter anderem Diskurs-, Interaktions-, Organisationskommunikations- und Diffusionstheorie sowie Ansätze der Inter-/Intra-Gruppen- sowie der interpersonalen Kommunikation und der Stereotypentheorie verwendet. Auf der Strukturebene kommen Theoreme der Mediensystemforschung und der Öffentlichkeitstheorie, der allgemeinen System-, Organisations- und Zivilgesellschafstheorie sowie der Lebenswelt- und Handlungstheorie zum Zuge. Da derzeit keine einheitliche Globalisierungstheorie zur Verfügung steht, haben wir uns bemüht, die unterschiedlichen Ansätze in der modularen Theoriebildung in einen möglichst stringenten Analyserahmen zu fügen, der die globale Kommunikation als Gesamtphänomen erklärt.

Trotz der Breite des Überblicks über verschiedene Teile der Gesellschaft müssen auch einige Leerstellen dieses Buches benannt werden, weil bestimmte Bereiche nicht einbezogen worden sind. Zum Beispiel sind weder dem globalen Wissenschaftssystem noch dem Kunst- und Kultursektor im engeren Sinne eigene Kapitel gewidmet worden. Bei den tatsächlich untersuchten Sozialsystemen sind im Bereich der Politik der Staat und nicht Parteien und Verbände, in der Wirtschaft die transnationalen Unternehmen und nicht der Handel und bei der Zivilgesellschaft NGOs und soziale Bewegungen, nicht aber Vereine und Verbände einbezogen worden. Die Darstellung der Großgemeinschaften beschränkt sich auf Netzgemeinschaften und bei der Reflexion der Kleingruppe ist ebenfalls nicht jeder einzelne Typus berücksichtigt worden. Dennoch wollen wir behaupten, dass das vorliegende Handbuch einen systematischen Überblick über die meisten zentralen Felder der globalen Kommunikation bietet, von den Massenmedien über organisierte Handlungssysteme bis hin zu wesentlichen Bereichen der Lebenswelten, und sie vielleicht erstmals in eine Gesamtschau fügt. Diese Arbeit betrachtet sich dennoch als Teil eines langfristigen Projekts im Bereich der kommunikationsorientierten Globalisierungsforschung, dem weitere Analysen folgen sollten.

Phasen der Globalisierungsforschung

Globalisierung, verstanden als Lehre der nationalen Grenzüberschreitung, ist einer der bedeutsamsten wissenschaftlichen Referenzbegriffe, der im 21.Jahrhundert allerdings in eine konzeptionelle Krise geraten ist. Der „seltsame Tod der ‚Globalisierung‘“ (Rosenberg 2005) hinterließ nicht wenige Protagonisten der Globalisierungsdebatte annähernd ratlos. Wie kam es zu dem raschen Niedergang des vielleicht schillerndsten wissenschaftlichen Paradigmas der Gegenwart? Ein Grund bestand sicher darin, dass der frühe „Hyperglobalismus“ von Autoren wie Anthony Giddens (2000), Ulrich Beck (1997), David Held und Anthony McGrew (2000, 2002) oder Manuel Castells (2001), der von der Globalisierung als einem geradezu allmächtigen Phänomen ausging, einfach zu vermessen gewesen war, um empirisch haltbar zu sein. Das Ende des Nationalstaates, die Transnationalisierung der Wirtschaft und die komplette Deterritorialisierung sozialer Beziehungen waren als Visionen zu weitgehend und zu anspruchsvoll, um realisierbar zu sein.

Gegen diesen ausufernden Normativismus formierte sich alsbald eine skeptische „zweite Welle“ der Globalisierungsforschung, die, wie es sich für einen ordentlichen Revisionismus gehört, die Grundannahmen des Feldes auf den Kopf stellte (Martell 2007). Aus Sicht der Kritiker wie Paul Hirst und Graham Thompson (1999), Colin Hay und David Marsh (2000), Terry Flew (2007) oder Kai Hafez (2005) war der Nationalstaat äußerst vital, die wirtschaftliche Globalisierung von begrenzter Tragweite und insbesondere die Vorstellung einer medial-kommunikativen Komplettvernetzung der Welt in weiten Teilen ein Mythos.

Es gibt jedoch Gründe dafür, warum auch das „Post Mortem“ (Rosenberg 2005) auf den Globalisierungsansatz ebenso verfrüht zu sein scheint wie der einstige Hyperglobalismus und wir uns mittlerweile in einer realistischeren „dritten Welle“ der Globalisierungstheorie befinden (Martell 2007). Absurderweise sind es gerade die einstigen Schwächen der Globalisierungsforschung, die nun für ihr Überleben sorgen. Globalisierung ist nämlich eigentlich immer ein Schlagwort geblieben, das zwar ein neues Raumkonzept für die Wissenschaft heraufbeschworen hat, dabei aber nie eine kohärente sozialwissenschaftliche Theorie geworden ist. Wenn eher klassische Ansätze wie der Neo-Institutionalismus, der Funktionalismus oder auch die Akteur-Netzwerk-Theorie heute so vital zu sein scheinen (vgl. Kap. 1.2), dann auch deshalb, weil die Globalisierungstheorie ihre Potenziale nie wirklich ausgeschöpft hat. Die Transformation älterer Konzepte der Sozialtheorie wie „Nation“, „Gesellschaft“, „Öffentlichkeit“, „Organisation“ oder „Gemeinschaft“ ist in der Globalisierungsdebatte selten überzeugend gelungen. Kernbegriffe der Diskussion wie „Transnationalisierung“, „Weltöffentlichkeit“, „Weltgesellschaft“, die „virtuelle Gemeinschaft“ oder das „globale Dorf“ (global village, McLuhan 1962) suggerieren eine einfache Deterritorialisierung bekannter Sozialkonzepte, ohne wirklich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der raumlose Zustand die Dinge substanziell verändert. Was vormals „Gesellschaft“ war, ist global keine Gesellschaft mehr, ebenso wenig wie Öffentlichkeit oder Gemeinschaft noch nach bekannten Regeln funktionieren. Dies aber bedeutet nichts anderes als eine Überforderung der Wissenschaft, denn es verlangt nach einer Aufgabe der Kompartmentalisierung von akademischen Fächern und Theorien (Axford 2013, S.3) und nach einer Interdisziplinarität, die bis heute nicht eingelöst worden ist.

Eine der Hauptursachen für die Stagnation mag dabei sein, dass Kommunikationsprozesse von den bekannten Vordenkerinnen und Vordenkern nie wirklich konsequent berücksichtigt wurden. Die Kommunikationswissenschaft, die eigentlich eine zentrale Rolle in der Debatte spielen sollte, wurde von den in der Diskussion führenden Soziologen und Philosophen zu einer Hilfswissenschaft degradiert, deren Prozesslogiken vielfach unter nebulösen Begriffen wie „Vernetzung“ verborgen blieben. Bei Vordenkern wie Giddens oder Held wurde die Beschleunigung und Deterritorialisierung technikbasierter Kommunikation geradezu zur unhinterfragten Prämisse einer Forschung, die sich fortan nur Gedanken darüber machte, wann der Nationalstaat diesem Druck der grenzüberschreitenden Kommunikation zum Opfer fallen würde (Hafez 2005, S.83ff.). Die Marginalisierung der Kommunikationstheorie hat eine der drei großen Ressourcen der Theoriebildung – Macht, Kapital, Kommunikation – an den Rand gedrängt und den Primat der anderen beiden (und den ihrer wissenschaftlichen Disziplinen) für Jahrzehnte gesichert.

Über die Ursachen für diese Ausgrenzung der Kommunikationstheorie kann man nur spekulieren. Lag es an der „Technophilie“, an einer übertriebenen Faszination für neue digitale Möglichkeiten? Ähnlich wie bei früheren theoretischen Auseinandersetzungen zwischen Modernisierungs- und Dependenztheoretikern waren die digitale Technikfixierung und die Unterbewertung sozialer Kommunikation immer auch Ausdruck eines Eurozentrismus, weswegen es nicht verwunderlich ist, dass die Globalisierungsdebatte vor allem von den anglo-amerikanischen Ländern ausging – und auch von dort aus scheiterte. Bei all dem hat die Kommunikationswissenschaft sicherlich auch eine Form der Selbstmarginalisierung betrieben, weil in ihr heute umfassende Makrotheorien weniger bedeutsam erscheinen als Teiltheoreme der Medienforschung oder der interpersonalen Kommunikation. Ein Fach, das sich die Makrotheorie der Öffentlichkeitstheorie oder der Systemtheorie (Habermas, Luhmann u.a.) von anderen Sozial- und Geisteswissenschaften borgt oder ihre Reflexion gleich ganz vernachlässigt, darf sich über seine Randstellung bei großen Wissenschaftsfragen nicht beklagen.

Dass einer der beiden Autoren dieses Buches frühzeitig globalisierungsskeptische Positionen äußerte, soll nun allerdings nicht bedeuten, dass das folgende Werk einfach der zweiten Welle der Globalisierungsdebatte zuzuordnen wäre. Zwar fließen zahlreiche revisionistische Fakten und Argumente in die nachstehenden Ausführungen und vor allem in die empirische Bilanz des gegenwärtigen Ist-Zustandes der globalen Kommunikation ein. Zugleich wird aber versucht, auf der Basis einer fundierten Kommunikationstheorie das zu tun, was man eigentlich der „dritten Welle“ der Globalisierungsforschung zuschreibt. Diese geht zwar nicht mehr von einer generellen, alles durchdringenden und überformenden Globalisierung aus, erkennt aber globale „patterns of stratification across and within societies involving some becoming enmeshed and some marginalised“ (Martell 2007, S.189). Auf der Basis einer skeptisch-revisionistischen Sicht der Dinge werden also zugleich Transformationspotenziale aufgezeigt, die auf eine tatsächliche neue Qualität der Globalisierung hinweisen, deren Auswirkungen auf die Welt heute allerdings noch recht unklar sind. Dieses Buch ist daher als ein realistisch orientierter Versuch einzuschätzen, auf der „dritten Welle“ der Globalisierungsforschung zu „reiten“.

1Theorie der globalen Kommunikation

Der nachfolgende theoretische Aufriss beginnt mit einer Einführung in grundlegende Kommunikationsmodi, die erforderlich ist, da das vorliegende Buch nicht nur von globaler Massenmedienkommunikation handelt, sondern politische und soziale Kommunikationsprozesse unterschiedlicher Art berücksichtigt. Im nächsten Schritt werden die Akteure der Kommunikation – organisierte und nicht-organisierte Sozialsysteme und Lebenswelten – in ihrem Verhältnis zu den Kommunikationsmodi vorgestellt. Es folgt eine Hinführung zu den jeweils spezifischen Kommunikationsformen der Sozialsysteme und Lebenswelten im globalen Raum. Den Abschluss bildet ein Kapitel, in dem die Wechselwirkungen und Interdependenzen zwischen den verschiedenen Kommunikationsweisen der Akteure im Sinne der Theorie der globalen Kommunikation grundlegend eingeführt werden.

1.1Allgemeine Kommunikationsmodi der globalen Kommunikation

Weltöffentlichkeit und Weltgemeinschaft: Synchronisation und Integration

Für die globale und grenzüberschreitende Kommunikation sind unterschiedliche Konzepte von Bedeutung. Am bekanntesten ist wohl das der „Weltöffentlichkeit“ (global public sphere, Volkmer 2014, Sparks 1998). Bei Massenmedien sind wir es gewohnt zu fragen, ob es eine Weltöffentlichkeit gibt. Werden Diskurse und damit Themen, Frames, Begriffe, Symbole und Bilder in verschiedenen nationalen Mediensystemen oder sogar transnational, das heißt durch Medien, die in mehreren Mediensystemen agieren, zeitgleich verhandelt? Man kann diese Frage als Synchronisations- oder auch als Koorientierungsproblem bezeichnen und es auf einfache Art wie folgt formulieren: Beobachten die Menschen dieser Erde unsere Welt mit Hilfe von Medien in ähnlicher Weise? Führt die journalistische Selbstbeobachtung tatsächlich zu einer „Synchronisation der Weltgesellschaft“ (Blöbaum 1994, S.261), indem sie uns ähnliches Wissen zur Verfügung stellt? Während der Begriff der „Öffentlichkeit“ weithin bekannt ist, spielen soziologische Konzepte wie „Weltgesellschaft“ oder „Weltgemeinschaft“ (Beck 1997, Richter 1990) in der Kommunikationsforschung kaum eine Rolle. Der Begriff der „Gesellschaft“ ist historisch eng mit dem Entstehen von medialer Öffentlichkeit verbunden. In einer Gesellschaft beobachten Menschen ihre Umwelt mit Hilfe von Medien (Kunczik/Zipfel 2001, S.47ff.). Der Begriff der „Weltgemeinschaft“ ist hingegen für die Kommunikationsforschung problematisch. Er evoziert ein anderes Problem als das der Synchronisation: das Interaktionsproblem, das zugleich ein Integrationsproblem ist. Während in Gesellschaften eine direkte Interaktion nicht unbedingt erforderlich ist, sondern Beobachtung mit Hilfe von Massenmedien von zentraler Bedeutung ist, entstehen Gemeinschaften durch Interaktion miteinander statt lediglich übereinander. Für Gemeinschaft, zumal für die lokale und stationäre Gemeinschaft, ist der zwischenmenschliche Dialog nahezu unabdinglich. Im Dialog optimieren wir unser Wissen und erzeugen den Wert eines gemeinsamen Wir-Gefühls.

Es lassen sich also zwei Grunddefinitionen festhalten: a) Vernetzung als interpretative Informationsverarbeitung ohne Interaktion ist Beobachtung; b) Vernetzung als kooperative und integrative Informationsverarbeitung ist Interaktion beziehungsweise Dialog. Beide Kommunikationsformen sind für die menschliche Existenz bedeutsam.

Zwar ist die Abgrenzung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft nicht so einfach, da auch „Nationen“ (im Unterschied zum Staat) Surrogatgemeinschaften in Großgruppen sind, die ein Wir-Gefühl entwickeln können, auch wenn keine direkte Interaktion zwischen allen Gemeinschaftsmitgliedern besteht. Hier könnte man den Begriff der „Diskursgemeinschaften“ einführen, die nicht durch direkte Interaktion, sondern durch eine weitgehend synchronisierte Öffentlichkeit zusammengehalten werden: Sprache, Geschichte und Kultur werden über Speichermedien hegemonial definiert, was die Vorstellung der Gemeinschaftlichkeit bedingen kann. Aber nationale Gemeinschaften sind ebenso wenig wie „virtuelle Gemeinschaften“ (Rheingold 2000) voll entwickelte Gemeinschaften im Sinne einer dichten Interaktion, eines ausgeprägten Wir-Gefühls und klarer Handlungshorizonte. Wenn ein starkes Wir-Gefühl vorherrscht, wie häufig im Falle von Nationen (Patriotismus, Nationalismus), dann ist dies in der Regel eine Mischung aus Diskurs- und Interaktionsgemeinschaft: Identifikation wird im direkten Kontakt mit einer kleinen Zahl der Mitglieder der Gemeinschaft eingeübt, basiert ansonsten aber auf geteilten Erfahrungen einer (durch Medien vermittelten) Diskursgemeinschaft. Der Begriff der „Weltgemeinschaft“ ist nun ebenfalls als eine solche Kombination vorstellbar. Kosmopolitismus, also eine über das Konzept der „Nation“ hinausweisende, die Menschheit als Ganzes umfassende Weltanschauung, entsteht durch a) direkte grenzüberschreitende Interaktionen der Menschheit miteinander, b) durch (repräsentative) direkte Interaktion zwischen bestimmten Sozialsystemen über Grenzen hinweg (z.B. Politik, Diplomatie) und c) durch global synchronisierte und von den Massenmedien vermittelte Wissensbestände, Werte und Perspektiven.

Die zentrale These, die in diesem Buch verfolgt wird, lautet: Massenmedien allein können allenfalls „Weltöffentlichkeit“, nicht aber „Weltgemeinschaft“ erzeugen. Letztere entsteht, wenn überhaupt, nur durch die Mithilfe anderer Sozialsysteme sowie in den Lebenswelten des Menschen. Globale Massenkommunikation ist nicht nur, wie wir sehen werden, in ihrem derzeitigen Zustand kaum in der Lage, Öffentlichkeiten und Weltwissen zu synchronisieren, da die nationalen Mediensysteme weitgehend isoliert bleiben. Sie ist auch durch die monologische Anlage von Medien – one-to-many statt face-to-face, person-to-person oder group-to-group – prinzipiell unfähig, gemeinschaftsbildende Dialoge zu erzeugen. Die folgende Abbildung 1.1 illustriert die beobachtende und Öffentlichkeit erzeugende Anlage des Mediensystems sowie die interaktive und Gemeinschaften erzeugende Anlage anderer sozialer Systeme und Lebenswelten.

Abb. 1.1:

Globale Kommunikation – Öffentlichkeiten und Interaktionen

Distanzwahrnehmung und Kosmopolitismus

Warum benötigen wir ein erweitertes Leitbild? Weshalb betonen wir den Aspekt der Interaktion, des Dialogs und der partizipativen Gemeinschaft? Natürlich gibt es Beispiele dafür, dass Medien und Öffentlichkeit Empathie und ein Wir-Gefühl erzeugen können. Mediale Diskursgemeinschaften können unter besonderen Bedingungen ein Gefühl der Solidarität und Verbundenheit unter Menschen schaffen, das weit über die übliche nationale gesellschaftliche Koexistenz und das Nebeneinander paralleler Lebenswelten hinausweist. Diese Momente stehen aber gerade in Kriegs- und Krisensituationen patriotischen Grundstimmungen gegenüber, bei denen Mediendiskurse über die Verbreitung von Feindbildern dazu beitragen, die Länder und Bevölkerungen voneinander zu trennen (Hafez 2005, S.69ff.).

Positive Facetten von Weltöffentlichkeit – etwa einer von Medien induzierten kosmopolitischen Solidarität mit Geflüchteten – sind äußerst instabiler Natur. Lilie Chouliaraki hat gezeigt, dass Mediennarrationen über „entferntes“ (distant) Leiden dann am erfolgreichsten an der Konstruktion eines Gemeinschaftsbewusstseins (Kosmopolitismus) mitwirken, wenn sie Leiden humanisieren, individualisieren und durch das Aufzeigen gemeinsamer Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten Nähe erzeugen (2006). Wie instabil solche Phänomene allerdings sind, konnte man etwa an der deutschen Flüchtlingsberichterstattung und der öffentlichen Meinung zu diesem Thema in den Jahren 2015/16 erkennen (Hafez 2016, Georgiou/Zaborowski 2017). Öffentliche Diskurse sind flüchtig, launisch und erratisch.

Adaptiert man die Koorientierungsansätze der interpersonalen Kommunikation für die Medien, so versteht man, dass Beobachtung ein komplexer Prozess ist, bei dem sich schnell Fehlinterpretationen einstellen, etwa die sogenannte „kollektive Nichtbeachtung“ (pluralistic ignorance), die durch Annahmen darüber entsteht, wie andere ein Phänomen deuten (Hafez 2002a, Bd.1, S.171ff., Bd.2, S.253ff.). Was denken die nicht-muslimischen Deutschen auf der Basis von Medieninformationen, was Muslime über Terror denken? Und liegen sie damit richtig? Chouliaraki ist daher dahingehend interpretiert worden, dass auch unter den Bedingungen internationaler Medienberichterstattung der Spannungszustand zwischen universellem Bewusstsein und einer spezifischen (lokalen) Involviertheit des Menschen dazu führt, dass in aller Regel globale Gemeinschaftlichkeit verhindert wird und die Selbstzuordnung zu einer partikularen Gemeinschaftlichkeit (Nation, „Kulturkreis“, Religionsgemeinschaft) unangetastet bleibt (Yilmaz/Trandafoiu 2014, S.7f.). Transkulturelle Fernkommunikation durch mediale Beobachtung ist also nicht oder nur eingeschränkt gemeinschaftsbildend.

Interaktion, Koorientierung und globale Übereinstimmung

Die Frage ist daher: Muss nicht zur Beobachtung und Synchronisationsleistung der nationalen Öffentlichkeiten ein echter grenzüberschreitender Dialog treten, der die nationalen Systeme besser integriert und das Individuum aus seiner lokalen Handlungsbegrenzung befreit? Zwar ist es richtig, dass historische traditionale Gesellschaften der Menschheitsgeschichte, die hochinteraktiven Stämme und Clans, die das Sozialleben in früheren Zeiten dominierten, zugleich hochgradig rassistisch und fremdenfeindlich waren und ihre Kriegsrate der moderner Gesellschaften durchaus ähnelte (Diamond 2013, S.142ff.). Die Frage muss also lauten: Warum mehr Interaktion, wenn doch erst die moderne Gesellschaft mit ihren Institutionen wie Staat, Medien und Öffentlichkeit Regeln für die dauerhafte Existenz von Menschen im Herrschaftsraum anderer Gruppen geschaffen hat? Die Antwort ist, dass erst die in der Moderne erfolgende Interaktion über Grenzen hinweg – out-group statt wie früher in-group – die Fortschritte der Vernetzung der Welt möglich gemacht hat. Es ist weniger die Beobachtung durch Medien als die direkte Interaktion zwischen Staaten, die, um beim Beispiel zu bleiben, ein System von völkerrechtlichen Aufenthaltsberechtigungen und Staatsbürgerschaften geschaffen hat. Die direkte Interaktion zwischen politischen Systemen und Staaten ist also, ebenso wie der Austausch auf anderen Ebenen der Gesellschaft, ein unverzichtbarer Bestandteil einer jeden Bilanz globaler Kommunikationsverhältnisse. Zwar führt nicht jede Form der Interaktion zu einem positiven kosmopolitischen Wir-Gefühl, weil in der Interaktion unterschiedliche Motive eine Rolle spielen können und auch Trennendes entdeckt werden kann. Zugleich besteht aber nur durch die direkte Interaktion überhaupt eine Chance, ein Wir-Gefühl als individuelles Erfahrungswissen zu etablieren, wie dies der Symbolische Interaktionismus behauptet.

Bislang gibt es keine auch nur annähernd kohärente Theorie der internationalen Gemeinschaft, die noch dazu Kommunikationsfragen zentral stellt. Es existieren aber zahlreiche Versatzstücke, wie die klassische Forschung der soziologischen Kommunikationstheorie, die allerdings eher kleingruppenorientiert ist. George Herbert Mead und Herbert Blumer haben im Symbolischen Interaktionismus verdeutlicht, dass Bedeutungen der Welt durch gemeinsame Interaktionen entstehen (Mead 1934). Dabei spielt die Interaktion mit sich selbst eine ebenso große Rolle wie die soziale Interaktion (Dialog). Die Grundlagen des Symbolischen Interaktionismus beschreibt Blumer wie folgt: „Weder betrachtet [der Symbolische Interaktionismus] die Bedeutung als den Ausfluss der inneren Beschaffenheit des Dinges, das diese Bedeutung hat, noch ist für ihn die Bedeutung das Ergebnis einer Vereinigung psychologischer Elemente im Individuum. Vielmehr geht für ihn die Bedeutung aus dem Interaktionsprozess zwischen verschiedenen Personen hervor. Die Bedeutung eines Dinges für eine Person ergibt sich aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in Bezug auf dieses Ding handeln“ (1992, S.25f.).

Diese interaktionistische Herangehensweise unterscheidet sich vom Koorientierungsansatz. Kommunikationsvorgänge werden demnach durch ein Dreischrittverfahren charakterisiert: Sind mehrere Akteure („A“ und „B“ bei Newcomb) auf ein bestimmtes Symbol („X“ bei Newcomb) orientiert, gelten sie als „koorientiert“, ihre jeweiligen Bedeutungsinterpretationen können verglichen und das Maß an „Einverständnis“ (agreement) kann gemessen werden. Im nächsten Schritt kann ermittelt werden, inwieweit die Akteure selbst annehmen, dass ihre Bedeutungsauslegung mit der des anderen übereinstimmt, woraus das Maß der „Übereinstimmung“ (congruency) bestimmt wird. Schließlich werden „Einverständnis“ und „Übereinstimmung“ in Bezug auf ihre „Genauigkeit“ (accuracy) verglichen (Newcomb 1953).

Direkte soziale Interaktion unterscheidet sich von der sozialen Koorientierung, die auf Beobachtungen im Alltag beruht oder aber vermittels Medien stattfinden kann. Sowohl Umweltobjekte als auch Medien kann man als X-Objekte betrachten, auf die Menschen (A und B) orientiert sind. Im Unterschied zur Interpretation von beobachtbarer Umwelt liefern Medien eine Art Beobachtungs-Beobachtung, die Beobachtung anderer wird zugänglich. Man kann auch von direkter und indirekter Beobachtung sprechen. Medien sind hier Ressourcen zur Aushandlung der Welt, sie können Wissen schaffen, aber Sinndeutungen müssen auch im gemeinschaftlichen Rahmen ständig neu interaktiv ausgehandelt werden, um der Gesellschaft Stabilität zu verleihen. Beide Beobachtungsformen sind auch für den Prozess der globalen Kommunikation bedeutsam.

Direkte Beobachtung der Welt erfolgt durch den physischen Prozess der Grenzüberschreitung durch Individuen (etwa im Tourismus, in der Diplomatie usw.). Eine auf Medien koorientierte Wahrnehmung der Welt vermittelt darüber hinaus Wissen, gelegentlich sogar kosmopolitische Grundstimmungen. Die direkte Interaktion des Menschen – gleich ob in der privaten Lebenswelt oder als Rollenträger in politischen und gesellschaftlichen Systemen – ist allerdings eine zusätzliche sinnstiftende und zudem für die emotionale Bindung der Weltgemeinschaft wichtige Funktion. Simultanität durch Beobachtung und durch Massenmedien (ebenso wie universelle menschliche Orientierungen und kosmopolitische Werte) sind also wichtige Voraussetzungen für das Weltverstehen. Sie sind aber noch nicht selbst das Verstehen, denn diese Kommunikationsprozesse vermitteln noch kein stabiles Bewusstsein der globalen Gemeinsamkeit (Axford 2013, S.32), das nur durch direkte Interaktion und Erfahrungswissen entstehen kann. Die erfolgreiche Koorientierung durch Massenmedien ist zwar eine notwendige Voraussetzung für globale Gemeinschaftsintegration, sie ist aber nicht hinreichend, solange die Rückverhandlung oder Weiterverarbeitung ausschließlich in getrennten Sozialsystemen und Lebenswelten stattfindet (Hafez 2002a, Bd.1, S.171ff., Grüne 2016, S.421ff.).

Reizvoll ist es an dieser Stelle, das berühmte Bild des Orchesters, das Alfred Schütz für Symbolische Interaktion geprägt hat, auf die Weltgemeinschaft zu übertragen. Schütz sagt, dass, um gute Musik zu spielen, man nicht nur die richtigen Noten vom Blatt lesen können muss, sondern auch immer darauf achten sollte, wie die Kollegen spielen (Schütz 1951, S.94ff.). Sieht man die Welt als Orchester, dann reicht es nicht, sich beobachtend und mit Hilfe von Medien global zu koorientieren und mit der Welt zu synchronisieren, sondern man muss auch in eine direkte Kommunikation mit der Welt treten – Kosmopolitismus als Wert ist gut, globale Kommunikation als Praxis ist besser.

Diskursive Weltgesellschaft/dialogische Weltgemeinschaft: Kommunikationstheorien

Im Unterschied zur Weltgesellschaft bilden sich in der Weltgemeinschaft nicht nur gemeinsame Ethiken wie Menschenrechte und Kosmopolitismus aus (Albert et al. 1996, S.19, vgl. a. Etzioni 2004). Diese Ethiken können nur durch interaktives Handeln auf allen Ebenen entstehen, was den Übergang von der Weltgesellschaft zur Weltgemeinschaft zu einem intrinsisch kommunikations- und dialogbasierten Projekt macht. Emanuel Richter: „[Es] kommt in jenen Vorstellungen zum Ausdruck, die sich als ‚kommunikatives‘ Modell der Welteinheit klassifizieren lassen. Dieses erhebt die geradezu revolutionäre Ausbreitung von kommunikativen Austauschprozessen in allen Lebensbereichen zum neuen Bestimmungselement des globalen Zusammenhangs. […] In der abstraktesten Formulierung stellt sich diese Weltgemeinschaft als eine Art ‚kognitive Weltgesellschaft‘ dar, die in der Verallgemeinerung von Kommunikation schlechthin eine neue Form der Welteinheit erblickt. Diese systemtheoretische Einfärbung der Vorstellungen von der Welteinheit rückt also jenen Aspekt der Weltgesellschaft ins grelle Licht, der sich auf die Globalisierung von kommunikativen Austauschprozessen bezieht“ (1990, S.277).

Philosophen wie Immanuel Kant, Richard Rorty, Jürgen Habermas oder Nancy Fraser haben über Jahrzehnte immer wieder ihre Visionen einer „dialogischen Weltgemeinschaft“ formuliert (vgl. Linklater 1998, S.85ff.). Eine genaue theoretische Ausformulierung dieser Konzepte hat jedoch nicht zuletzt wegen der Zersplitterung der Geistes- und Sozialwissenschaften nie stattgefunden (Albert 2009). Neben den Theoretikern der sozialen Kommunikation, der internationalen Beziehungen und politischen Philosophie sind Medienphilosophen sowie Kommunikations- und Netzwerktheoretiker der modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft ergiebig, wenngleich auch sie selten auf globale Verhältnisse Bezug nehmen. Zu den bekanntesten Medienphilosophen gehört Vilém Flusser, dessen kardinale Unterscheidung zwischen diskursiver und dialogischer Kommunikation an der Wurzel unserer eigenen, in ähnlicher Weise Beobachtung von Interaktion trennenden Theoriebildung liegt: „Um Informationen zu erzeugen, tauschen Menschen verschiedene bestehende Informationen aus, in der Hoffnung, aus diesem Tausch eine neue Information zu synthetisieren. Dies ist die dialogische Kommunikationsform. Um Informationen zu bewahren, verteilen Menschen bestehende Informationen, in der Hoffnung, dass die so verteilten Informationen der entropischen Wirkung der Natur besser widerstehen. Dies ist die diskursive Kommunikationsform“ (2000, S.16). Auch Jürgen Habermas orientiert sich an dieser grundlegenden Unterscheidung zwischen Interaktion (beziehungsweise „kommunikativem Handeln“) und Diskurs, wobei er der Interaktion direkte Handlungskonsequenzen zuweist, während der Diskurs ein System der „möglicherweise existierenden Tatsachen“ ist, in dem das Individuum Informationen verstehen und deuten kann, ohne dass unmittelbare soziale Konsequenzen daraus entstehen (1971, S.21f.).

Flusser hat in seiner Medientheorie das bestehende Ungleichgewicht der Kommunikationsmodi in der Moderne beschrieben und ein Ende des Primats textbasierter Diskurskommunikation beschworen. Eine „Kommunikationsrevolution“ der Menschen sei erforderlich, so meinte er, ein „Abschirmen des Interesses der Menschheit gegen die sie programmierenden Diskurse“ (ebenda, S.47). Alphabetisierung der Moderne, Entwicklung des Buchdrucks, das Entstehen linearer Geschichtsschreibungen und der großen ideologischen Narrationen, inklusive moderner Nationalstaatsideen und moderner Kriege, sind bei Flusser aufs engste verbunden (ebenda, S.56). Die Bevölkerung wird in diesem Prozess zur „Masse“, die Lebenswelt wird kolonisiert. Man mag Flussers Sprache pathetisch und seine Betonung des repressiven Charakters der Mediendiskurse angesichts der von ihm selbst ja konstatierten Unverzichtbarkeit von Dialog und Diskurs (ebenda, S.16) widersprüchlich finden. Der Dualismus von diskursiver und dialogischer Kommunikation als Grundlage einer sozialen Kommunikationstheorie aber lässt sich in den Arbeiten zahlreicher Autoren erkennen.

Weiterführend ist Michael Giesecke sicher einer der interessantesten Autoren, die sich mit Fragen von Medien, Dialogen, Kommunikationsprozessen und Vergemeinschaftung beschäftigt haben. Gieseckes Denken ist grundlegend im Konzept der Kommunikationsökologie als dem Zusammenwirken artverschiedener Kommunikationsformen verankert (2002). Menschliche Kommunikation basiert auf durch Medien ermöglichtem Beobachten ebenso wie auf direktem lebensweltlichen Interagieren. Störungen und Pathologien entstehen aus Disbalancen, die das Zusammenwirken der verschiedenen Kommunikationstypen aus den Fugen geraten lassen (ebenda, S.35): bekannt sind hier seine „Mythen der Buchkultur“. Giesecke beschreibt die moderne Kultur des Westens und der Aufklärung als zu text- und beobachtungszentriert. Sein Beispiel: Hätte sich Kolumbus auf den herrschenden Diskurs seiner Zeit verlassen, hätte er sich nie auf die Suche nach neuen Welten gemacht. Erst die direkte Beobachtung – an den Küsten angeschwemmte Funde von toten nordamerikanischen Ureinwohnern oder Bambusstämmen – und die Interaktion mit Gleichgesinnten ermutigten ihn zu seinen Abenteuern (ebenda, S.114ff.).

Gerade das Internet betrachtet Giesecke als Chance für eine neue Vision der Informationsgesellschaft, die die kommunikationsökologische Balance, die durch monologische Buch- und Pressekulturen zerstört wurde, wiederherstellen kann. Dabei geht es nicht nur um eine Wiederbelebung des interpersonalen Dialogs, sondern vor allem um die Revitalisierung des Gruppen- und Mehrpersonengesprächs. Fraglich bleibt allerdings, wenn man den Hinweis von Giesecke weiterdenkt, welche theoretische Stellung man dem Gruppengespräch vor dem Hintergrund der Dichotomie von Diskurs und Dialog einräumen sollte: Steht es eher auf der Seite der „repressiven“ Verteilung medialen Wissens, indem es Medienagenden und -diskurse weitervermittelt; oder dient es der kreativen Aneignung und interaktiv-dialogischen Sinndeutung?

Interessant ist an Giesecke besonders, dass er die interkulturelle Fernbeziehung in seine Analyse einbezieht (2002, S.145ff.). Er bestätigt, dass bei interkultureller Kommunikation seit Jahrhunderten der Kommunikationsmodus der medialen Beobachtung dominiert hat, das Schreiben über und die Visualisierung von statt der Interaktion mit „Fremden“. Beobachtung statt dialogischem Austausch war ja auch der vorherrschende Modus des Kolonialzeitalters, das bis heute nachwirkt. Nach Giesecke haben wir in der Aufklärung eine Kultur der Neugierde, aber ohne echten Dialog, etabliert. Den Dialog bezeichnet er hingegen als Medium, um das „Gemeinsame der Menschheit“ hervorzubringen, und die neuen digitalen Medien erscheinen ihm als probates Heilmittel, auch wenn er hinzufügt: „Was immer mit dem globalen Dorf gemeint sein mag, es baut sich nicht allein auf dem Internet auf. Wir sind nicht nur durch Kabel, sondern auch durch andere Medien verbunden. Das ‚globale Dorfʻ bedarf unterschiedlicher Interaktions-, Kooperations- und Kommunikationsmedien, wenn es zusammenhalten und funktionieren soll“ (ebenda, S.376).

Integrationistische Systemtheorien

Literatur, die sich speziell mit der Frage der internationalen Kommunikation und Vergemeinschaftung beschäftigt, gibt es vergleichsweise wenig. Einige Pioniere haben jedoch die Auswirkungen von globaler Interaktion auf weltweite Vergemeinschaftung untersucht. Hier sind vor allem Autoren zu nennen, die Howard Frederick unter dem Label der „integrationistischen Systemtheoretiker“ zusammenfasst, wie etwa Karl W. Deutsch, Claudio Cioffi-Revilla, Richard L. Merritt, Francis A. Beer, Philip E. Jacob oder James V. Toscano (1993, S.202ff.). Das Credo dieser Arbeiten, die zum Teil schon in den 1960er Jahren entstanden, ist genau die oben mit dem Orchesterbild angedeutete Dynamik. Die internationale Integrationstheorie misst vor allem den Umfang von Interaktionen zwischen Einheiten wie Staaten und setzt diesen in Beziehung zum innergesellschaftlichen Kommunikationsaufkommen. Als empirische Basis dienen in diesen frühen Arbeiten üblicherweise der Brief- und Telefonkontakt, aber auch Daten des kulturellen Austausches etwa bei universitären Auslandsstudien. Die Hypothesen dieser sehr quantitativ orientierten Forschung sind Variationen der Grundannahme, dass nur eine interaktive und nicht nur koorientierte und beobachtende Welt ein stabiles Gerüst für eine Weltgemeinschaft sein könne. Karl W. Deutsch argumentiert, dass die Abwesenheit von Kommunikation zwischen Staaten zwar nicht notwendig zu Konflikten führen müsse, dass aber die Möglichkeiten der sozialen Kommunikation mit den Erfordernissen politischer, ökonomischer und sozialer Transaktionen auf anderen Feldern mithalten müssen (1970, S.58).

Mit anderen Worten: Ein Mangel an grenzüberschreitender Interaktion muss nicht zu Konflikten führen (vgl. a. Beer 1981, S.133, Rosecrance 1973, S.136ff.), aber eine Integration zu größeren Gemeinschaften etwa im Rahmen der Europäischen Union oder anderer internationaler Sicherheitsgemeinschaften hält er in einem solchen Zustand der Interaktionslosigkeit für undenkbar. Deutsch betont mit Nachdruck, dass eine Akzeptanz der politischen oder wirtschaftlichen Integration gleich welcher Art nur dann erfolgen könne, wenn Menschen diese Integration auch selbst erleben; nur so könne ein Wir-Gefühl (we-feeling) entstehen (1970, S.36). Er unterstreicht, dass solche Erfahrungen sowohl für politische Eliten als auch für die Gesellschaft an sich von Bedeutung seien (favorite societal climate, 1964a, S.51). Integrationstheoretiker betonen den Zusammenhang zwischen dem durch Medien vermittelten Image eines anderen Landes und menschlichen Beziehungen zwischen den Ländern, die sich durch Interaktionen wie Brief- und Telefonaustausch – heute würde man das Internet und andere Reisetätigkeiten hinzurechnen – ergeben (ebenda, S.54, 1964b, S.75ff.).

Dass die Angleichung internationaler politischer und ökonomischer Beziehungen einerseits und sozialer Interaktionen andererseits eine Wunschvorstellung ist, die nicht immer mit der Realität einhergeht, sondern, mit eigenen Worten ausgedrückt, „tektonische Verschiebungen“ zwischen den Beziehungsebenen die Regel sind (Hafez 1999, S.54ff.), haben die integrationistischen Systemtheoretiker dabei sehr frühzeitig erkannt: „Human relations are […] far more nationally bounded than movements of goods“ (Deutsch 1964b, S.84). Sezessionen wie die zwischen Großbritannien und den USA im 18.Jahrhundert etwa ließen sich auch auf Basis der kommunikativen Verbindungen nachvollziehen: zunächst war der Postverkehr zwischen England und den Kolonien ausgeprägter. Einige Jahrzehnte später jedoch hatte sich das Bild verändert, die Kolonien kommunizierten stärker miteinander, die sozialen Kontakte zu Britannien wurden immer spärlicher, wenig später brach der Unabhängigkeitskrieg aus (Deutsch 1964a, S.51). Die integrationistischen Systemtheoretiker konnten zudem nachweisen, dass der nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte multinationale Zusammenschluss europäischer Staaten den Briefverkehr und andere Interaktionen zwischen den Staaten verstärkte, was wiederum die europäische Idee in der Mitte der Gesellschaften ankommen ließ und den Eliten eine immer stärkere Integration ermöglichte (Clark/Merritt 1987, S.230ff.). Bis in die Gegenwart ist trotz der gewachsenen Kritik an der Europäischen Union und neonationalistischen Bewegungen wie dem Rechtspopulismus die europäische Idee selbst in Europa mehrheitsfähig. Hypothetisch könnte man fragen, ob mögliche Absatzbewegungen von der EU nicht auch damit erklärt werden können, dass gerade zwischen bestimmten Räumen (Nord- und Südeuropa oder Ost- und Westeuropa) eben noch immer zu wenig grenzüberschreitend kommuniziert wird – von dem Fehlen einer gemeinsamen europäischen Medienöffentlichkeit einmal ganz abgesehen.

Fazit: Dialog der „Kulturen“ in der erweiterten Lebenswelt

Unabhängig davon, ob man die quantitativen Methoden der früheren Forschung heute immer nachvollziehen kann (ist die Qualität mancher Interaktionen nicht bedeutsamer als die schiere Anzahl der Briefe, Telefonate und E-Mails?) oder ob man, wie in diesem Buch, Systemtheorie zur Handlungstheorie der Lebenswelt erweitern will (vgl. Kap. 1.2), weist die Schule der integrativen Systemtheoretiker dennoch den richtigen Weg. Dass das globale Integrationsdenken in der politologisch orientierten Sozialforschung entstanden ist, zeigt schon, dass weniger die Massenmedien, sondern vielmehr andere Sozialsysteme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie Individuen und Gruppen in den Lebenswelten für Dialogverhältnisse verantwortlich sind. Gerade in der Annahme, soziale Kommunikation sei ebenso wichtig wie politischer und ökonomischer Austausch, liegt eine geradezu revolutionäre theoretische Deutung, die Kommunikation zur zentralen Ressource der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung gleichrangig mit ökonomischen Verhältnissen und Herrschaftsbeziehungen macht.

Spätere kommunikationswissenschaftliche Forschungen wie die zum „Dialog der Kulturen“ oder zum „islamisch-westlichen Dialog“ konzentrieren sich wieder sehr viel mehr auf globale Medienkommunikation, Feindbilder und Images – Forschungsrichtungen, die ohne Zweifel gemäß der Flusser’schen Zweiteilung der Kommunikationsmodi in Diskurs und Dialog ihre Berechtigung haben, direkte Interaktionen aber eher am Rande berücksichtigen (Quandt/Gast 1998, Hafez 2003). Neuere Arbeiten der politischen Philosophie zur globalen Gemeinschaft benutzen zwar den Begriff des „Dialogs“ in einem interaktiven Sinn, ignorieren aber die kommunikationswissenschaftlichen Dimensionen des Problems (Linklater 1998, Etzioni 2004). Dass der „Dialog der Kulturen“ daher eine theoretisch nie recht zufriedenstellende Formel war, weil die ursprünglich bei Systemtheoretikern wie Deutsch angelegte Symbiose aus Gesellschafts- und Kommunikationsanalyse verloren gegangen ist, sei an dieser Stelle ausdrücklich festgehalten.

1.2Kommunikationssysteme, Lebensweltwelten und deren Wandel

Systeme und Lebenswelten

Nach Etablierung eines kommunikationstheoretischen dualen Leitbildes einer sowohl beobachtenden Weltöffentlichkeit wie auch interaktiven globalen Gemeinschaft fragen wir nun, welche Akteure in den internationalen Beziehungen als Kommunikatoren in Frage kommen. Vor einem näheren Eingehen auf Akteurstypen sind allerdings einige metatheoretische Betrachtungen erforderlich, um Missverständnissen im Zuge der Theoriebildung vorzubeugen. James N. Rosenau hat es als Aufgabe der Globalisierungstheorie bezeichnet, Mikro- und Makrointeraktionen von Individuen beziehungsweise Staaten und Organisationen im Blick zu behalten (2007). Saskia Sassen geht sogar einen Schritt weiter und betrachtet überlappende und wechselwirkende Prozesse zwischen den Akteuren als entscheidend (2007). Nicht alle Theoretiker sind so offen für unterschiedliche Akteure, Systeme und die Vielfältigkeit der Wechselwirkungen zwischen ihnen. Beispielsweise existieren radikale Handlungstheorien wie die von Bruno Latour, der von der Prämisse ausgeht, das Globale sei immer lokal, da man, egal wo man sei, lokal agiere und selbst ferne Reisen sich als Summe lokaler Stationen abbilden ließen, deren Rekonstruktion er als Aufgabe seiner spezifischen Form der Akteur-Netzwerk-Theorie beschreibt (2014, vgl. a. Gerstenberger/Glasman 2016). Der Einfluss von Beobachtungssystemen wie den Massenmedien oder anderen Sozialsystemen als vermittelnden Instanzen des (vermeintlichen) Weltwissens, die unser Handeln prägen, tritt hier stark in den Hintergrund. Globale Kommunikation ist demnach reine Interaktion handelnder Individuen.

Solche Positionen erinnern an den alten Streit zwischen System- und Handlungstheoretikern, der in diesem Buch allerdings zugunsten einer integrativen Perspektive wie der von Rosenau oder Sassen aufgelöst werden soll, wo unterschiedliche System- und Akteurslogiken in Systemen und Lebenswelten berücksichtigt werden. Der oder die Einzelne wird von Systemen nie völlig beherrscht, auch wenn sein/ihr Leben Rollenübernahmen erfordert, die sein/ihr Leben strukturieren, die er/sie aber zugleich permanent bricht oder eigenständig interpretiert, formell wie auch informell. Systeme beeinflussen zudem die Lebenswelten des Menschen, werden aber auch von diesen beeinflusst oder aber beide Akteursräume bleiben unvernetzt. Die grundlegenden Konzepte der Sozialtheorie wie soziales Handeln/Interaktion, Normen, Rollen, Strukturen und Systeme sollen bei unserer Analyse mitgedacht werden (zur Einführung vgl. Bahrdt 1997). Letztlich ist hier Habermas‘ Dualismus von System und Lebenswelt von Bedeutung (Habermas 1995), wobei noch die Frage zu klären wäre, wer hier wen „kolonisiert“. Eine differenzierte Sichtweise auf Kommunikationsweisen von Systemen und Individuen (Kap. 1.3.) und deren Wechselwirkungen (Kap. 1.4.) ist aus unserer Sicht jedoch unbedingt erforderlich.

System-Lebenswelt-Netzwerk-Ansatz

Eine zweite Vorbemerkung ist notwendig: Der Systembegriff, der hier verwendet wird, ist kein streng funktionalistischer. Zwar führen wir selbstbewusst Kommunikationsprozesse als Momente der Theoriebildung ein. Wovon wir allerdings Abstand nehmen wollen, ist eine rein prozessorientierte Theoriebildung, die die Akteure als Kommunikatoren zu bloßen „Objekten“ abstrakter Abläufe wie „Vernetzungen“, „Konnektivitäten“ und „Kommunikationsflüssen“ macht. Die moderne Netzwerktheorie tendiert dazu, eine Akzentverschiebung von sozialen Akteuren zu Netzen vorzunehmen, wobei die interne Logik von Systemen (z.B. Organisationen, Unternehmen, aber auch psychischen Systemen von Individuen) oder Lebenswelten weniger beachtet werden als die zwischen den Systemen oder Lebenswelten bestehenden Netzwerke und Austauschbeziehungen. Die internen Strukturen kollabieren quasi unter dem Druck der Vernetzung. Dazu Jan van Dijk: „Traditional internal structures of organizations are crumbling and external structures of communication are added to them” (2012, S.33). Ähnlich äußert sich auch George Ritzer mit dem Hinweis auf die Prozesssoziologie von Norbert Elias: „[F]ollowing Elias, in thinking about globalization, it is important that we privilege process over structure (just as we have privileged flows over barriers)“ (2010, S.25).

In diesem Buch stehen zwar Kommunikationsprozesse im Vordergrund; Systeme und Lebenswelten bleiben aber kopräsent. Netzwerke sind Beziehungen innerhalb oder zwischen Sozialsystemen (Endruweit 2004, S.26), sie sind aber nicht die Sozialsysteme selbst, die deshalb mitgedacht werden müssen. Unsere Perspektive ist daher weder die der Akteur-Netzwerk-Theorie Latours noch die der Netzwerk-Theorie von Castells, sondern sie ist am ehesten als System-Lebenswelt-Netzwerk-Ansatz zu bezeichnen. Dieser Ansatz ähnelt der von Roger Silverstone eingeführten und von Nick Couldry an der London School of Economics and Political Science (LSE) weitergeführten Sicht. Die Netzwerkmetapher wird dort als theoretisch zu anspruchslos für die Sozialtheorie angesehen, da sie die von den Handelnden erzeugten Interpretationen der Netzwerke unberücksichtigt lässt (Couldry 2006, S.104). Couldry spricht hier zu Recht von einem „problematischen Funktionalismus“, „so zu tun, als ob Medien das Soziale und die natürlichen Kanäle des sozialen Lebens und sozialer Auseinandersetzung wären, anstatt hoch spezifische und institutionell fokussierte Mittel der Repräsentation des sozialen Lebens“ (ebenda, S.104). Er wendet sich gegen den „Mythos des mediatisierten Zentrums“ und kritisiert die Tendenz der Kommunikationswissenschaft, Medien mit Gesellschaft gleichzusetzen (ebenda, S.105). Auch der deutsche Kommunikationstheoretiker Manfred Rühl äußert sich ähnlich: „Globale Kommunikationssysteme sind eingebettet in psychische, organische, chemische, physikalische, kurz: in nicht-kommunikative Mitwelten, die […] bei der Verwirklichung von Kommunikation mitwirken, ohne dazuzugehören. Kommunikationssysteme sind von der Mitwelt klar abzugrenzen, aber nicht zu trennen“ (ebenda, S.362).

Insbesondere in der auf Talcott Parsons zurückgehenden struktur-funktionalistischen Systemtheorie werden schnell ablaufende funktionale Prozesse in Relation zu stabilen Strukturen gesetzt, auf der Basis der „Annahme eines systemimmanenten Bedürfnisses nach Selbsterhaltung, also nach Integration und Kontinuität“ (Kunczik/Zipfel 2001, S.69). Selbst Niklas Luhmann leugnet letztlich nicht das Vorhandensein solcher Strukturen, auch wenn seine „funktional-strukturelle Systemtheorie“ die Dynamik der Prozesse betont und die Schwergewichte in Abgrenzung von Parsons verlagert (Kneer/Nassehi 1997, S.116). Die Akteure lösen sich also gerade bei Parsons nicht in den Netzwerken auf, sondern sie bleiben als autonome Strukturen erkennbar, auch wenn sie sich funktional anpassen und von den (Kommunikations-)Prozessen beeinflusst werden können. Auch der Soziologe und Luhmann-Interpret Armin Nassehi folgt einer ähnlichen Grundidee, wenn er einerseits die erstaunliche Hartnäckigkeit sozialer Strukturen betont, andererseits aber die steigende Komplexität moderner (digitaler) Kommunikate erkennt, wobei er ausdrücklich die Frage eines durch digitale Kommunikation erfolgenden sozialen Strukturwandels offenlässt (2019). Im Gegensatz dazu behaupten Netzwerktheoretiker einen Primat des „Relationismus“ vor dem „Substanzialismus“ (Nexon 1999); sie sind der Ansicht, dass die Prozesse die Strukturen sind.

Wir sind hingegen der Meinung, dass eine sinnvolle Analyse zunächst von der Kopräsenz von System- und Lebensweltstrukturen einerseits und Kommunikationsprozessen andererseits ausgehen sollte, zugleich aber offen sein muss für:

die mögliche Verschachtelung von System- und Lebensweltstrukturen (auch in den Organisationen stecken informelle Lebenswelten wie auch in den Lebenswelten die Systeme einflussreich sein können) (Kneer/Nassehi 1997, S.142f.);

die mögliche dominante Prägekraft der Strukturen mit Blick auf die Kommunikationsprozesse (strategisches Handeln);

die mögliche dominante Prägekraft der Kommunikationsprozesse mit Blick auf die Strukturen (kommunikatives Handeln).

Die ganze Debatte erinnert an die Auseinandersetzung in der Lehre der Internationalen Beziehungen zwischen Neo-Institutionalisten (wie Robert O. Keohane und Joseph Nye) und Funktionalisten (wie David Mitrany). Unser System-Lebenswelt-Netzwerk-Ansatz will den Dualismus von Akteuren und Funktionen zugunsten einer pragmatischen Sichtweise aufgeben, die durchaus Raum für einen starken Einfluss funktionaler (auch technischer) Prägungen der Prozesse der globalen Mediatisierung lässt, Systemen und Lebenswelten als den Polen in globalen Diskursen und Dialogen aber zugleich die Möglichkeit einer prägenden Gestaltung nicht abspricht. Eher als der pure Neo-Institutionalismus oder der Funktionalismus entspricht also das System-Lebenswelt-Netzwerk-Denken unserer eigenen Herangehensweise. Netzwerktheorie lässt sich nämlich mit anderen Theorien wie der System- oder der Lebenswelttheorie durchaus koppeln (Häußling 2005, S.269ff.). Diese Form der „modularen Theorie“ halten wir für sinnvoll, um den Widerspruch zwischen Strukturalismus und Funktionalismus kreativ zu verarbeiten.

Globale Zentren und Peripherien

Eine letzte Vorbemerkung ist erforderlich, die den Aspekt des Postkolonialismus anspricht. Wer Strukturen analytisch stark macht, muss sich unweigerlich mit der Frage beschäftigen, ob eben diese Strukturen nicht nach weiteren Differenzierungen verlangen, etwa was das Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern oder zwischen ehemals kolonisierten und kolonisierenden Staaten betrifft. Johan Galtungs Vorstellung von einem strukturellen Imperialismus der Weltgesellschaft, die (Macht-)Zentren und (Macht-)Peripherien ausbildet (1973), wird uns in diesem Buch latent ständig begleiten, etwa wenn es um die Ausprägung von Diskurs- und Dialogstrukturen im Kontext bestimmter Formationen wie der OECD, der Europäischen Union oder auch geolinguistischer Einheiten wie der spanischsprachigen oder arabischsprachigen Welt geht.

Dennoch sind wir der Meinung, dass solche Strukturvariablen eher universell als partikular und schon gar nicht kulturspezifisch zu deuten sind. Sowohl die inneren Kommunikationsabläufe in Systemen und Lebenswelten als auch die Interdependenzverhältnisse zwischen Systemen und/oder Lebenswelten als Umwelten (siehe unten) lassen weltweite frappierende Ähnlichkeiten über politische und kulturelle Systemgrenzen hinweg erkennen, wo kulturübergreifende Strukturmuster wie Nationalstaaten, transnationale Unternehmen, soziale Bewegungen, Gemeinschaften und Lebenswelten vorhanden sind. In diesem einen Punkt unterscheiden wir uns also nicht von den Vertretern des Relationismus. Globale Strukturunterschiede bilden reale Machtunterschiede ab; sie sind aber keine absoluten Kulturunterschiede, sondern gerade durch Prozesse der globalen Beobachtung und Interaktion in stetigem Wandel begriffen.

Inventarisierung: Global kommunizierende Sozialsysteme und Lebenswelten

Wendet man sich nach diesen Vorbemerkungen nunmehr einer Inventarisierung der Akteure globaler Kommunikation zu, so lassen sich – noch vor der Beschreibung komplexer Lebenswelten – unterschiedliche Systemgrößen erkennen: Individuen als psychische Systeme ebenso wie organisierte und nicht organisierte Sozialsysteme. Grenzüberschreitende Kommunikation kann zwischen gleichen wie auch ungleichen Polen entstehen, also zwischen den politischen Systemen oder auch zwischen Individuen und organisierten Sozialsystemen usw. Sie kann zudem – entsprechend den eingeführten Kommunikationsmodi – primär im Modus der Beobachtung oder der Interaktion in Erscheinung treten oder aber, was von großer Bedeutung für die nähere Funktionsbestimmung sein wird, Mischformen erzeugen, da die wenigsten Systeme und Akteure nur beobachten oder interagieren. Allerdings gibt es systemspezifische Logiken, deren Herausarbeitung zu den primären Anliegen des Buches gehört.

Für die nähere Bestimmung der akteursspezifischen globalen Kommunikationsmodi ist die Unterscheidung zwischen Individuen, organisierten und nicht-organisierten Sozialsystemen bedeutsam. Organisierte Sozialsysteme benötigen nicht nur eine Organisationsidee, sondern auch eine Organisationsstruktur (Hauriou 1965), was sie von nicht-organisierten Systemen abgrenzt. Nicht-organisierte Sozialsysteme sind zum Beispiel „Gemeinschaften“, die eine Idee, aber keine Struktur und Organisation vorweisen können (auch wenn sich aus Gemeinschaften Organisationen bilden können, die dann allerdings nicht mehr nur als Gemeinschaften anzusehen sind, sondern eben als Organisationen). Umgekehrt aber haben Organisationen immer auch eine Gemeinschaftsidee, ein Leitbild, eine Identität. Organisierte Sozialsysteme sind zudem handlungsorientiert. Die Politik als dominantes Supersystem der Gesellschaft (Gerhards/Neidhardt 1990) ist primär für die Herstellung von Sicherheit und Ordnung zuständig, die Wirtschaft für die Absicherung der materiellen Ressourcen, die Medien für die unabhängige Beobachtung aller anderen Systeme usw.

Medien, Politik und Wirtschaft als (trans-)nationale Systeme

Die spezifischen Logiken der einzelnen Systeme haben jedoch dazu geführt, dass diese in sehr unterschiedlicher Weise transnationale Zweitsysteme ausbilden (Vereinte Nationen, transnationale Unternehmen, transnationale Medien usw.), deren Kommunikationsregeln sich von der Grenzüberschreitung nationaler Systeme unterscheiden. In der Tendenz agieren Massenmedien als nationale (lokale) Mediensysteme, die das „Ausland“ als Informationsressource benutzen, während die Informationsverarbeitung allerdings in einem lokalen Mediensystem stattfindet, das durch eigene Organisationsstrukturen, Personal und Ressourcen ausgestattet ist. Die kommunikative Grenzüberschreitung solch nationaler Massenmedien bezeichnet man als „Auslandsberichterstattung“ (Hafez 2002a). Der sogenannte „Auslandsrundfunk“ besteht ebenfalls aus nationalen Medien, die allerdings den Kommunikationsfluss umdrehen. BBC World, RT, Voice of America und viele andere solcher Sender produzieren speziell für ausländische Publika (was ihre Autonomie gefährdet und sie oft de-facto zu einem Teil des politischen Systems macht).

Transnationale Strukturen haben Medien hingegen nur sehr spärlich entwickelt. Die meisten als international geltenden Medien sind eigentlich nationale Fabrikate mit einem globalen Anspruch (z.B. CNN) (Hafez 2005, S.23ff.). Dies gilt sogar für Medien wie den arabischen Fernsehsender Al-Jazeera, der in geolinguistischen Großregionen wie der arabischen Welt grenzüberschreitend Geltung erlangt hat. Internationale Nachrichtenagenturen sind noch am ehesten transnational ausgerichtet, da sie Informationen aus und für die meisten Länder der Welt liefern. Indem sie aber der Endproduktion durch die Medien vorgeordnet sind, sind sie eher als mediales Subsystem, denn als eigenständiges Mediensystem zu betrachten. Im Bereich der Massenmedien können die kommerziellen Strukturen durchaus transnational verflochten sein – spätestens bei der journalistischen Endproduktion aber gilt das nationalstaatliche oder zumindest nationalsprachliche Prinzip.

Was die Konturen des politischen Systems angeht, muss man zwei Ebenen unterscheiden: das im Ansatz vorhandene transnationale System (UNO, EU usw.) und den Nationalstaat. In der Politik kommuniziert der Staat sowohl im Rahmen transnationaler Organisationen, er verfügt aber auch über eine Tausende Jahre alte Geschichte der Diplomatie, des Austauschs zwischen Staaten, und diese Form der Internationalität und der Außenpolitik ist bis heute in den internationalen Beziehungen dominant. Auf Grund der Erfahrung der Weltkriege hat man im 20.Jahrhundert die Transnationalisierung etwa in Form der Vereinten Nationen oder kollektiver Sicherungsbündnisse wie der NATO vorangetrieben. Interaktionen spielen sich heute innerhalb dieser transnationalen Organisationen wie auch bi- und multilateral direkt zwischen unabhängigen Staaten ab.

Die in der frühen Globalisierungsdebatte vielfach erwartete Auflösung des Nationalstaates hin zur Transnationalisierung der Politik ist allerdings ungeachtet der zum Teil vorhandenen multinationalen Bündnisse (wie der EU) oder der internationalen Governance-Regimes (z.B. Kyoto-Protokoll im Umweltbereich) nicht erfolgt (Frei 1985, Brand et al. 2000). Der Nationalstaat ist nach wie vor der primäre Ort globaler Politik. Aus diesem Grund beschäftigen wir uns im vorliegenden Buch vor allem mit Außenpolitik-Kommunikation. Es ist wichtig, Diplomatie als einen Kommunikationsprozess zu verstehen, in dem Interaktion und Dialog in Verhandlungen eine zentrale Rolle spielen, zum Teil auch der Trialog mit Hilfe von Mediatoren. Auch Gewaltakte oder angedrohte Gewaltakte können eine Form zwischenstaatlicher Kommunikation sein – allerdings sind Gewalthandlungen eher monologisch und unilateral. Das politische System ist zudem ein zentraler Bestandteil öffentlicher Kommunikation, es beobachtet, wird von anderen Systemen und in Lebenswelten beobachtet und beeinflusst die Synchronität der mediatisierten Weltöffentlichkeit.

Ähnliches gilt auch für das Wirtschaftssystem. Auch hier ist eine Transnationalisierung im Ansatz erfolgt, etwa in Form großer wirtschaftspolitischer Einrichtungen der Weltbank, des IWF, internationaler Finanzabkommen und Handelsverträge. Es gibt zudem einen fortgeschrittenen Trend zu transnationalen Wirtschaftsunternehmen (Transnational Corporations/TNCs), die gemeinhin als „Global Players“ bezeichnet werden. In der zweiten Welle der Globalisierungsforschung wurde allerdings die Dominanz dieser Entwicklung und die Vorrangstellung des Transnationalen im Wirtschaftssystem bestritten (Hirst/Thompson 1999).

Es wäre demnach also falsch, die Politik oder die Wirtschaft als rein grenzüberschreitende Kräfte zu betrachten. Vielmehr sollten wir von gleichzeitig ablaufenden Trends von globaler Homogenisierung (im Sinne der global governance der Transnationalisierung von Wirtschaftsräumen oder Unternehmen) und nationaler Heterogenisierung (Nationalstaatspolitik und Protektionismus) sprechen. Die vorhandenen transnationalen Unternehmensstrukturen jedoch eröffnen ein eigenes Forschungsfeld. Anders als zumeist im Bereich der Politik geht es hier nicht länger um Kommunikation zwischen Systemen, sondern um Binnenkommunikation in grenzüberschreitenden Systemen, die nach besonderen Regeln verläuft, da die Organisationsziele und -programme im Grundsatz nicht mehr verhandelt werden müssen und die Mitgliedschaft in einer grenzüberschreitenden Einrichtung geklärt zu sein scheint. Die globale Integration, die Theoretiker wie Karl W. Deutsch im Bereich der Politik noch zu fördern versuchten, ist hier bereits vollzogen, was neue Horizonte für die multikulturelle Kommunikation und Idee der Gemeinschaftlichkeit erzeugen könnte.

Globale Zivilgesellschaft und Großgemeinschaften

Auch jenseits des politischen und wirtschaftlichen Systems gibt es in der Gesellschaft zahlreiche organisierte Sozialsysteme, die global vernetzt sein können. Die globale Zivilgesellschaft (global civil society) ist seit den 1990er Jahren ein viel diskutiertes Phänomen (Kaldor 2003, Anheier et al. 2001). Hauptakteure der Debatte waren zunächst internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) wie Amnesty International, Greenpeace usw., also Organisationen, die sich aus der Zivilgesellschaft heraus zu globalen Netzwerk-Organisationen entwickelt hatten: eine Parallele zur Transnationalisierung im Bereich von Politik und Wirtschaft. Mit der massenhaften Verbreitung des Internets kam dann ein zweiter Grundtyp zivilgesellschaftlicher globaler Akteure hinzu: soziale Bewegungen wie die Anti-Globalisierungsbewegung. Soziale Bewegungen sind keine Mitgliederorganisationen, sondern Hybriden aus organisierten und nicht-organisierten Sozialsystemen, mit einem organisierten Kern – den sogenannten „Bewegungsorganisationen“ (social movement organizations) – und einer losen Gemeinschaftsstruktur, die sich um eine zentrale Idee und Symbole herum bildet (della Porta/Diani 2006). Diese strukturelle Unterscheidung hat, wie wir sehen werden, Konsequenzen für die Kommunikationsformen. NGOs und SMOs etwa haben unterschiedliche Präferenzen im Bereich der Öffentlichkeit durch Massenmedien oder das Internet oder artverschiedene Formen der grenzüberschreitenden Binnenkommunikation.

Soziale Bewegungen sind jenseits ihrer organisierten Kerne jedoch als nicht-organisierte Sozialsysteme/Gemeinschaften zu betrachten. Sie bestehen aus freiwilligen Sympathisanten, sind prinzipiell organisationsschwach, basieren dafür aber umso mehr auf einer zentralen Idee und einem starken Wir-Gefühl der Mitglieder. Die Idee der geistigen und emotionalen Verbundenheit ist in sozialen Bewegungen meist ausgeprägter als in Organisationen. Die Handlungsorientierung und Funktion sind hingegen oft unklar. Gemeinschaften gibt es auf verschiedenen Ebenen: Man unterscheidet traditionelle Gemeinschaften wie die Familie oder das Dorf, in die man hineingeboren wird, von Neu-Vergemeinschaftungen (Nation, Vereine, Freundeskreise usw.).

Gemeinschaften funktionieren nicht nur lokal, sondern auch virtuell, digital, als Netzgemeinschaften, Volksgemeinschaften, Solidargemeinschaften, Weltgemeinschaften usw. Großgemeinschaften ohne Organisation sind vor allem Diskursgemeinschaften und nur sehr eingeschränkt auch interaktive Gemeinschaften. Nicht nur haben Medien für Großgemeinschaften eine verbindende Funktion im Sinne des Diskurses, es gibt auch spezifische Netzgemeinschaften, deren (scheinbare oder tatsächliche) Interaktion immer dynamischer verläuft. Dank des Internets haben wir tatsächlich einen Trend zur Neo-Vergemeinschaftung zu verzeichnen. Man spricht etwa von Diasporagruppen im Netz und jede erdenkliche soziale Differenz kann sich in Netzgemeinschaften äußern. Virtuelle Gemeinschaften ermöglichen dem Individuum, die von Giesecke hervorgehobenen Gruppendialoge zu führen (Rheingold 2000). Dabei darf man das Kommunikationsverhalten in Netzgemeinschaften, wie wir sehen werden, allerdings nicht leichtfertig mit „dialogischer Interaktion“ gleichsetzen, da das globale Raumverhalten ein ganz anderes ist als bei grenzüberschreitender Kommunikation durch Individuen und in Realgruppen.

Globale Lebenswelten: ein Desideratum der „interkulturellen Kommunikation“

Zu den skizzierten systemischen Akteuren kommen nun Akteure und komplexe Kommunikationsprozesse in Lebenswelten hinzu. Auch Individuen und Kleingruppen beobachten und interagieren grenzüberschreitend, und zwar selbst dann, wenn sie dies nicht im Kontext bestimmter Gemeinschaften oder Organisationen, sondern informell, dafür aber in einem „realen“ Raum tun. Der Begriff der Gemeinschaft wird daher um den der Kleingruppe ergänzt, da hier die persönlichen Kontakte der Gruppenmitglieder zwingend notwendig sind und nicht – wie bei der Großgemeinschaft – identifikatorische und imaginierte, selbst oder fremd gewählte Zuordnungen über die Mitgliedschaft entscheiden. In der Lebenswelt der Menschen ist dort, wo man vom „gesellschaftlichen Leben“ spricht, das Aufeinandertreffen in nicht-gemeinschaftlichen Gruppen sogar eher die Regel (im Kino, auf der Straße, im Supermarkt usw.). Eine klare Trennung zwischen Großgemeinschaften und gemeinschaftlichen oder nicht-gemeinschaftlichen Kleingruppen ist insofern möglich, als Großgemeinschaften, abgesehen von Sondersituationen wie Netzgemeinschaften oder bestimmten Formen der Versammlungskommunikation, keine interaktiven Gemeinschaften sein können, was bei Kleingruppen aber generell der Fall ist.

In Hinblick auf die lebensweltlichen Kontexte individueller, gruppen- oder gemeinschaftsförmiger Kommunikation gilt es nun, die Frage zu beantworten, ob es zu einer Verschiebung von nationalen/lokalen hin zu globalen, also inter- oder transnationalen, Lebenswelten kommt? Eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung „globaler Lebenswelten“ ist im bisherigen Argumentationszusammenhang nicht nur die individuelle Beobachtung der Welt, etwa durch die Angebote der Medien, sondern ebenso das Vorhandensein unterschiedlicher „interkultureller Kommunikationssituationen“ in sozialen Alltagswelten.

Das für diese Antwort prädestinierte Forschungsfeld der „interkulturellen Kommunikation“ liefert allerdings angesichts konzeptueller Uneinigkeiten bisher keine ausreichend belastbaren Erkenntnisse. Denn bis heute hält sich hier die Idee des Einzelnen als Träger einer bestimmten, objektivierten „Kultur“ als verbreitetes Paradigma (u.a. Maletzke 1996, Hofstede et al. 2010). Dieses ist allerdings hochgradig problematisch, da es dem Individuum keinen Raum für eigenständige Kommunikationsleistungen zugesteht und essenzialistische Kulturraumvorstellungen bedient, wonach Individuen einer nationalen oder gar supranationalen Gesellschaftsordnung identische Sets an Weltdeutungen aufweisen und sich in ihren Handlungsmustern kaum unterscheiden würden. Zwar teilen Individuen in Gruppen und Gemeinschaften bestimmte handlungsprägende lokale Erfahrungszusammenhänge und sie können durch die gemeinsame Beobachtung von nationalen Mediendiskursen durchaus koorientiert sein. Aus der bloßen Lokalisierung von Menschen in bestimmten Weltregionen aber grundsätzlich differente, national geprägte Kommunikationsformen abzuleiten, ist empirisch wie theoretisch angesichts der Diversität menschlicher Daseinsformen nicht haltbar und im Sinne der zuvor diskutierten integrationistischen Überlegungen sogar politisch gefährlich, wenn nämlich indirekt eine problemorientierte Perspektive grenzüberschreitender Verständigung eingenommen und per se von zum Teil unüberbrückbaren Differenzen ausgegangen wird, die Kommunikation erschweren (Hansen 2011, S.179ff., S.251ff., vgl. a. Kapitel 7.2.1). In der globalen Interaktion steht ja nicht prinzipiell in Frage, dass Individuen mit unterschiedlichen kulturellen, sozialen und geolinguistischen Sozialisationserfahrungen Differenzen überwinden können, sondern vielmehr unter welchen Bedingungen, in welcher Form und mit welchen möglichen Wandlungserscheinungen dies in der grenzüberschreitenden Alltagskommunikation geschieht.