Grundlos - Ulrike Kroneck - E-Book

Grundlos E-Book

Ulrike Kroneck

4,8

Beschreibung

Die verweste Leiche eines jungen Mannes führt Johanna Kluge und Jakob Besser von der Osnabrücker Polizeiinspektion in die niedersächsische Provinz, mitten in die Machenschaften von skrupellosen Drückerbanden. Auch Lena Salmann bringt eine zufällige Beobachtung auf einem abgelegenen Autobahnparkplatz in Berührung mit dem alltäglichen Bösen. Ein altes Trauma bricht wieder auf. Das führt fast zwangsläufig zu einem weiteren Mord. Kluge und Besser stehen vor einem Rätsel.

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Ulrike Kroneck

Grundlos

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013  – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Dementor3D / photocase.com

ISBN 978-3-8392-4170-7

1.

Am Sonntagabend hatte der schwere Himmel schon ahnen lassen, dass der November den Herbst in den Griff nehmen würde. Der Morgen war feuchtkalt, die Wolken senkten sich auf die tiefen Wiesen hinter dem Parkplatz und nahmen der Welt die Kontur.

Beklemmend und still, dachte Lena, als sie den Schlüssel aus dem Zündschloss zog. Sie blickte durch die gerade erst vom Morgenhauch freien Seitenfenster ihres Wagens auf die düstere graumetallene Rückfront der Fabrik auf der anderen Seite der Straße. Sie konnte die Fassade nur ahnen, denn es war noch stockfinster um halb sieben. Die Parkplatzbeleuchtung war seit gestern Abend defekt und noch nicht repariert worden. Wahrscheinlich hatten Halbwüchsige wieder versucht, auf Krähen zu schießen. Lena nahm ihre Aktentasche vom Beifahrersitz, zog die Handschuhe aus und stopfte sie in die Seitentasche.

Wie jeden Morgen hatte sie neben dem Wagen von Rita geparkt. Obwohl sie fast zur selben Zeit morgens das Haus verließen, konnten sie nicht gemeinsam fahren. Ihre Nachbarin fuhr in die entgegengesetzte Richtung mit drei Frauen aus zwei anderen Dörfern.

Lena hätte länger im Bett bleiben können. Sie wartete und lehnte sich noch einmal zurück in den Wagensitz. Sie rieb ihre Handflächen gegeneinander, nahm ihr Gesicht in die Hände und drückte ihre Wangen. Es war noch immer kalt im Auto, die kurze Strecke von fünf Kilometern bis zum Parkplatz reichte nicht, den Wagen zu erwärmen. Nun saß sie hier und hauchte den Atem gegen die kalte Scheibe. Die Fenster wurden milchig und beschlugen wieder. Sie fror in diesem blechernen Kokon und wartete wie an jedem Morgen in dieser Woche auf Franz. Sie zog den Atem scharf ein und es schauderte sie, während sie die Schultern hob, um sich gegen die feuchte Kälte zu wappnen, die sie ganz ergreifen wollte.

Sie war wie immer zu früh, nach zu wenig Schlaf aufgestanden. Wieder drückte sie ihre klammen Hände gegeneinander und zog die Handschuhe an. Sie waren aber mittlerweile so kalt geworden, dass sie nicht mehr wärmten. Sie krümmte die Finger und rieb sie gegen die eigenen Handflächen in den engen Handschuhen.

Eine Autotür fiel ins Schloss.

Sie zuckte zusammen und wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

»Bitte!«, hörte sie eine zaghafte, aber umso durchdringendere Stimme.

Dann startete ein Motor. Der Wagen schien am hinteren Ende des dunklen Parkplatzes geparkt zu haben. Lena blickte nach rechts über ihre Schulter, doch das Fenster der hinteren Tür der Beifahrerseite war so beschlagen, dass sie nichts sehen konnte. Sie hörte nur, wie ein Wagen aus der Parklücke fuhr. Dort hatte der Parkplatz eine kleine Erweiterung und lag um diese frühe Stunde noch völlig im Dunkel der hohen Fichten. Wenn man auf den Parkplatz nahe der Autobahnbrücke der A 30 an der Auffahrt Gesmold einbog, war diese Ausbuchtung nicht einzusehen, und normalerweise parkte dort um diese Zeit niemand.

Lena hauchte ein kleines Loch in die beschlagene Scheibe der Fahrertür, um den Wagen sehen zu können, wenn er an ihr vorbeifahren würde. Aber er schien direkt hinter ihrem Auto gehalten zu haben. Diffus nur konnte sie ihn hinter sich wahrnehmen. Der Wagen setzte einige Meter nach vorn und stoppte erneut. Durch das kleine Loch konnte sie jetzt einen dunklen, großen schweren BMW erkennen, Abgase aus dem Auspuff vermischten sich mit der kalten Feuchtigkeit der späten Nacht.

Ein junger Mann in einer zu dünnen, roten Jacke machte zwei Schritte zu auf den BMW, der vor ihm stand: »Bitte!«, rief der Junge noch einmal.

Der Wagen fuhr erneut einen Meter weiter und hielt wieder an. Jetzt sah Lena nur noch das Heck des Wagens und die Wolke der Abgase im Licht der Rückscheinwerfer. Sie ließ das Seitenfenster ein bisschen herunter, lautlos, als dürfe sie der Szene nicht beiwohnen. Sie sah, wie der Junge einen Schritt vorwärts machte und hinter dem Heck des Wagens stehen blieb. Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Der Junge öffnete den Mund, und Lena glaubte, er würde anfangen zu schreien, aber dann schloss er ihn wieder und begann zu weinen, leise, wie jemand, der seinen Kummer nicht mehr halten kann.

Der Wagen rührte sich nicht von der Stelle. Aber eine Männerstimme wurde laut. »Lass das Geheule.«

Der Junge machte einen Schritt auf das dunkle Auto zu und verschwand fast aus Lenas Blickfeld. Er schien sich in das geöffnete Fenster des Wagens zu ducken. »Bitte, wie soll ich das denn jemals schaffen!« Er schluchzte.

Der Mann am Steuer lachte und schnaubte durch die Nase. Kurz und knapp. Du Wicht. Du lächerlicher Mensch, formte das Schnauben die unausgesprochenen Worte in Lenas Kopf.

Der Junge klammerte sich jetzt an das geöffnete Fenster, als wollte er den Wagen festhalten. »Bitte!«

Lena sackte ein wenig in ihrem Sitz zusammen, sie wollte das nicht sehen, sie wollte das auch nicht hören. Ihr Herz hämmerte. Ihre Lippen waren trocken und sie fing an zu zittern. Das Zittern packte sie an den Schultern, und sie schlang ihre Arme um sich selbst, um dem Einhalt zu gebieten.

»Verdammt, lass die Karre, los, du Kretin. Und steig endlich ein.«

»Bitte, bitte, ich habe doch nichts, ich schaffe das nicht mehr …« Der Junge weinte.

»Wenn du es nicht schaffst, ist das dein Problem. Du hast alle Möglichkeiten.«

Der BMW setzte sich in Bewegung, der Junge kam ins Stolpern und fiel auf die Knie. Einige Meter weiter stoppte der Wagen erneut abrupt. Die Fahrertür wurde aufgerissen und der Mann stieg aus. Er war groß und dunkel in seinem dicken schwarzen Wollmantel.

Lena versuchte zu verschwinden, nichts zu hören, nicht mehr zu zittern. Aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Sie starrte auf den jungen Mann, der nun auf dem harten Boden hinter dem Auto hockte, und sie folgte seinem Blick nach oben, zu diesem riesigen Mann in dem schwarzen dicken Mantel. Sie sah ihn aus seinem Blickwinkel hoch über dem jungen Mann stehen, wie ein Berg über dem kleinen, grauen Jungen in seiner dünnen, roten Sportjacke und den lächerlich dünnen Turnschuhen.

»Bitte!« Der Junge kniete noch immer auf dem frostigen Boden. Er weinte und sah nach oben zu dem warm gekleideten Mann. »Bitte!«

Der große Mann sah auf ihn herab und rieb sich die Wange. Dann beugte er sich vor, und einen Moment dachte Lena, er wollte dem Jungen eine Hand reichen, um ihm aufzuhelfen. Aber er griff mit der Hand hinten in den Kragen der roten Jacke, zog ihn hoch und zerrte ihn hinter sich her zum Wagen und stieß ihn auf den Kofferraum. Der Junge versuchte sich mit seinen nackten Händen auf dem Kofferraumdeckel zu halten.

»Pass auf, dass du mir den Kofferraum nicht zerkratzt, du Idiot!«, sagte der Mann und zog ihn am Kragen zu sich hoch. Über den Jungen gebeugt stand er mit erhobener Hand.

Ein Druck legte sich auf Lenas Brust.

»Du Würstchen«, zischte der große Mann über den schmächtigen Jungen gebeugt, »du lächerliches kleines Würstchen. Du kannst nicht einfach so gehen.« Mit diesen Worten zerrte er ihn vom Kofferraum und zog ihn zu sich heran. Er sprach dem Jungen etwas ins Ohr. Dann schob er sich den Jungen am Kragen unvermittelt in Position und schlug ihm mit der Rückhand ins Gesicht. Gleichzeitig ließ er ihn los, der Junge strauchelte. Der Mann sah kopfschüttelnd auf ihn herab, wie auf ein ungezogenes Kind, das nicht das tat, was man von ihm erwartete, und spitzte seinen Mund, ein auffallend kleines Mündchen, für solch einen großen Mann.

Lena griff zum Sicherheitsgurt. Ihr Kopf rauschte. Sie tastete nach dem Öffnungsmechanismus. Irgendwie kamen ihr die Stimmen bekannt vor. Sie versuchte sich zu erinnern, aber sie konnte die Stimmen nicht zuordnen. Sie sah auf ihre Hände und spreizte die Finger, um das Zittern unter Kontrolle zu bringen. Sie schaffte es, die Tür zu öffnen, die Kälte streifte sie, und sie starrte weiter auf die dunkle Szenerie.

Der Mann hatte sich nach vorn zum Auto begeben, fuhr sich mit den Fingern in einer eigenartig manierierten Weise über die Haare und legte dann die Hand auf die Wagentüre. »Du bringst nicht genug Leistung, du bringst nicht genug Geld, wie willst du deine Schulden bezahlen?«

»Ich kann, ich kann nicht mehr!« Der junge Mann stieß einen kehligen Ton aus. »Ich will nach Hause!« Lena wusste, obwohl sie ihn nicht deutlich sah, dass er kaum erwachsen war. Die Stimme des Jungen kam ihr vertraut vor, aber sie war dunkler, als sie erwartete. Sie konnte sich an diese dunkle Stimme nicht erinnern und doch war sie ihr bekannt. Der dunkle Klang gehörte nach ihrer Vorstellung eigentlich zu älteren Männern. Eigenartig, dass ihr das jetzt durch den Kopf ging, dass der junge Mann eine zu dunkle Stimme hatte, zu dunkel für seine Ängstlichkeit.

»Aber René …«, stieß der Junge hervor. »Wo ist René?«

»Was weiß ich!«, herrschte der Mann. »Pass auf, Bursche: Dass du nicht auf falsche Gedanken kommst. Denk an deine Schulden. So einfach geht das nicht! Einfach abhauen!« Unvermittelt machte der Mann einen Schritt auf den Jungen zu und schlug ihm wieder ins Gesicht. Der Junge stolperte einen Schritt nach hinten und hielt sich seine Wange. Der Mann ging langsam auf den BMW zu und sah ihn dabei an: »Los, steig ein.« Auffordernd öffnete er die hintere Tür des Wagens und blieb stehen. Das Geräusch des Motors war kaum zu hören.

Lena versuchte endlich auszusteigen. Die ganze Zeit, während sie die beiden beobachtete, hatte sie aussteigen wollen. Aber sie blieb bewegungslos und starrte auf die beiden Männer. Sie wusste, dass sie nicht das tat, was sie wollte. Nun konnte sie ihre Finger nicht mehr kontrollieren. Sie wurde bewegt. Das Zittern hatte sie so ergriffen, dass sie verhindern musste, sich auf die Zunge zu beißen, ihre Zähne klapperten. Aber sie konnte den Anfall nicht unter Kontrolle bringen. Es war keine Angst, das wusste sie, aber sie zitterte, ihre Zähne schlugen aufeinander. Der Ring legte sich fester um ihre Brust, sie glaubte, nicht atmen zu können.

Ruhe, Ruhe, sagte sie sich. Sie zählte, zählte, sie zählte langsam bis zehn und versuchte gleichzeitig den Gurt zu lösen. Als sie es geschafft hatte, schob sie die Wagentür auf. Sie ging sofort in die Knie, als sie ausstieg, zwischen ihrem und Ritas Wagen. Mit den nackten Händen stützte sie sich auf dem angefrorenen Boden ab und schob sich hoch, ihr Atem war durch den Schock wieder da. Sie hielt sich am Dach des Wagens von Rita fest und schaute aus der Lücke zwischen den beiden Autos auf die freie Fläche des Parkplatzes.

Wo blieb eigentlich Franz?

Der Junge hielt sich noch immer die Wange und starrte auf den Mann, der neben seinem Wagen stand, dunkel und schweigend. An dem Jungen vorbei sah der nun unverwandt auf Lena, seinen Mund zu einem leichten Lächeln verzogen. Sie blieb bewegungslos, bis er sich mit einer nonchalanten Bewegung einfach umdrehte und sich auf den Fahrersitz schob. Irritiert schaute nun der Junge über seine Schulter und drehte sich um. Sein Blick fiel auf Lena, dann zurück auf die geöffnete Wagentür. Nach einem weiteren kurzen Blick zu Lena wandte er sich abrupt ab und stolperte auf den BMW zu, als hätte er Angst vor der plötzlich aufgetauchten Frau.

Lena hob die Hand. Ich winke ihm, diesem schmächtigen Kind, dachte sie, und setzte sich erstaunt über sich selbst in Bewegung. Der Junge stoppte, warf Lena noch einmal einen Blick zu. Dann lief er zum BMW, öffnete die hintere Wagentür, sprang in das Auto, die Tür fiel ins Schloss und mit einem Ruck fuhr der Wagen los.

Der Junge hatte braune Augen. So ein Unsinn, dachte Lena, er war doch viel zu weit entfernt, ich konnte seine Augen gar nicht erkennen. Sie legte ihre Hand auf die Brust und atmete tief durch. Ihr Brustkorb war eng, sie spürte den Stich im Rippenbogen und atmete vorsichtig bis an den Schmerz. So verharrte sie einige Atemzüge, bis sie wieder Luft holen konnte. Der Wagen wartete noch am Ausgang des Parkplatzes, um ein Auto auf der Landstraße vorbeizulassen. Als das Licht des passierenden Wagens das Wageninnere des BMWs für einen Moment erfasste, erkannte Lena einen Mann auf dem Beifahrersitz. Sie erschrak. Als der Wagen nach rechts abbog, konnte sie den Mann sehen – auch groß, auch dunkel, obwohl sie seine hellen Haare wahrnahm. Sein Profil mit dem vorgeschobenen Kinn zeichnete sich deutlich ab wie ein Scherenschnitt. Der Wagen bog auf die Landstraße ab und Lena versuchte, das sich entfernende Motorgeräusch zu orten, doch sie hörte nichts als den gleichförmigen Geräuschpegel des morgendlichen Autobahnverkehrs.

Langsam bewegte sich Lena in der Dunkelheit auf die Rückseite des Parkplatzes und tastete sich vorsichtig den Weg entlang zwischen den Hartriegelsträuchern, um auf die freie, ungepflasterte Erweiterung hinter dem Autobahnparkplatz zu gelangen. Auch wenn sie ihn nicht gesehen hätte, sie spürte noch die Anwesenheit des BMWs. Hier musste er gestanden haben. Vorsichtig ging sie mit vorgestreckter Hand noch einen Schritt weiter um die Hecke und stand direkt hinter dem Heck eines Autos. Der hochrädrige Wagen schien sich nach vorn in die Hecke zu drücken. Sie schauderte. Was machte dieser Wagen hier? Zaghaft suchte sich Lena den Weg zurück durch die Hecke zu ihrem Wagen, dessen Tür sie offen gelassen hatte.

Wo blieb nur Franz? Sie setzte sich hinter das Steuer und startete den Motor. Mittlerweile war der Wagen völlig ausgekühlt. Sie blickte auf die Uhr. Es war erst fünf nach halb sieben. Also noch gar nicht so spät. Sie war nur wieder zehn Minuten zu früh auf dem Parkplatz gewesen, Franz war noch gar nicht überfällig.

Sie schaute in den Rückspiegel. Dann streckte sie die Hände in ihrem Schoß vor sich, um zu kontrollieren, ob sie noch zitterten. Wenn sie die Hände anspannte, konnte sie das Zittern dämpfen. Sie wiederholte das einige Male und war froh, dass Franz nicht ausgerechnet jetzt kam. Sie richtete den Rückspiegel auf ihr Gesicht und blickte in ihre von der Kälte geröteten Augen. Mit der Hand fuhr sie über die scharfe Falte zwischen der Nasenwurzel und versuchte ihre Augen zu entspannen, damit Franz sie nicht unnötig fragte. Sie warf sich einen ungläubigen Blick zu. In dieser Verfassung hatte sie sich lange nicht mehr gesehen.

Ein grüner Audi, ein kleiner roter Panda und ein roter Kangoo kamen wie jeden Morgen fast zur selben Zeit an. Die zwei Männer aus dem Audi winkten in Richtung ihres Wagens, obwohl sie sie durch die Scheibe nicht erkennen konnten, aber vermuteten sie wohl darin, da der Motor ihres Wagens jetzt lief, und begrüßten anschließend die junge Frau aus dem Panda. Lena hatte sich im letzten Winter einmal morgens mit ihnen unterhalten, als sie sie nach einem Starterkabel fragten. Die vier fuhren seit einigen Jahren viermal in der Woche von hier aus nach Ibbenbüren. Heute war wohl der Kangoofahrer dran, denn er blieb gleich mit laufendem Motor stehen und die anderen stiegen zu ihm in den Wagen.

Jetzt könnte Franz aber endlich kommen, denn mittlerweile war er tatsächlich zwei Minuten überfällig. Lena wartete immer noch mit laufendem Motor. Sie konnte es Franz nicht übel nehmen, dass er so gut und lange schlafen konnte. Obwohl sie manchmal doch neidisch wurde. So wie jetzt, als Franz mit Schwung in die Einfahrt des Parkplatzes fuhr und sie anlächelte, während er rechts neben ihr parkte. Sie wartete, bis er seinen Wagen abgeschlossen hatte, dabei bedeutete er ihr mit einer freundlichen Grimasse und hochgerissenen Augenbrauen, dass er sich für seine Verspätung entschuldigte. Sie setzte den Wagen zurück, als Franz die Tür aufriss und sich auf den Beifahrersitz schmiss.

»Tut mir leid«, er drehte sich um und suchte den Sicherheitsgurt, der immer hinter dem Beifahrersitz klemmte, während sie sofort langsam auf die Ausfahrt des Parkplatzes zurollte, »aber ich …«, er sah sie von der Seite an und lächelte, »ich hab einfach nicht aus dem Bett gefunden heute Morgen!« Er grinste und hob die Augenbrauen. Seit drei Monaten hatte Franz eine neue Freundin.

Sie fuhr auf die Auffahrt und sah in den Rückspiegel, um sich in den Autobahnverkehr einzufädeln. Sie vermied ihn anzusehen. Er kam zu spät, weil es ihm gut ging, es war nicht seine Schuld, dass sie zu früh war. Als sie den ersten Lkw überholt und sich in ihr Tempo gefunden hatte, sah sie ihn kurz an. »Ich war zu früh, Franz!«

Franz lächelte und versuchte die Heizung im Wagen etwas höherzustellen, obwohl der Motor des Wagens noch immer nicht richtig warm war. »Es wird langsam Winter.« Er sah sie an, während er sich im Sitz zurechtrückte. »Ist was?«

»Nein«, sie konzentrierte sich ostentativ auf den Verkehr. Lena stellte den CD-Player an und tippte 26 ein. Das war ihre Bedingung gewesen, sich mit ihrem jungen Kollegen auf eine Fahrgemeinschaft einzulassen: keine Gespräche, keinen Small-Talk, entweder Schweigen oder Konserve. Da Franz nicht in der Lage war, ohne zu sprechen neben ihr oder irgendeinem Menschen zu sitzen, hatte sie nach einigen Wochen vorgeschlagen, gemeinsam irgendein Hörbuch zu hören. Heute war sie besonders froh, dass sie diese Verabredung hatten. Sie wollte diese bizarre Szene zurückdrängen, und sie wollte mit Sicherheit nicht mit Franz darüber sprechen. Warum auch?

»Irgendwas ist doch?«, beharrte Franz und zog sich seine Handschuhe aus. »Schweinekalt«, fuhr er fort, als sie nicht antwortete.

Auch das war ein angenehmer Zug an Franz, er war nicht wirklich interessiert und bestand nicht darauf, dass seine Fragen nach dem Befinden beantwortet wurden. Er sprach gern, aber oft reichte er sich selbst als Zuhörer.

»Ich habe zu spät Öl bestellt, jetzt ziehen die Preise wieder an!«

Normalerweise hätte Lena ihm sofort bedeutet, ruhig zu sein, aber jetzt sagte sie nur »Hm, hm« und war sogar gewillt, ihm weiter zuzuhören. Aber sie hatte Franz in der Zeit, die sie gemeinsam zu ihrer gemeinsamen Arbeitsstelle nach Osnabrück, der Zentrale der Stadtsparkasse, fuhren, so gut dressiert, dass er die spärliche Konversation nun einstellte und den CD-Player von sich aus ein bisschen lauter drehte. Seit viereinhalb Wochen hörten sie gemeinsam eine Uraltaufnahme der Buddenbrooks. Franz warf ihr noch einen fragenden Blick zu, lehnte sich dann aber zurück und schwieg.

*

Lena hatte diesen Tag überstanden. Als sie den Wagen am Abend in der Garage abstellte, wurde ihr das klar. Sie hatte den Tag überstanden. Jetzt musste sie den Abend überstehen. Sie nahm die Einkaufstasche mit dem Gemüse, das sie in der Mittagspause in einem Supermarkt in der Großen Straße besorgt hatte, und stieg die dreistufige Treppe hoch zum Windfang vor ihrer Wohnungstür. Sie wohnte in einem kleinen Häuschen, das in einer 50er-Jahre-Siedlung stand, eines so akkurat wie das andere. Damals herrschte noch eine strenge Bauordnung, die den Winkel der Dachneigung genau vorschrieb. Ihr gefiel dieses Häuschen, die Ähnlichkeit mit den vier Nachbarhäusern, rechts und links und zwei gegenüber, ihr gefiel, dass sie sich ähnlich waren, dass es nichts Besonderes gab. Viele der Häuser in der Straße waren später umgebaut oder neu gebaut worden, jedes nach Vermögen, finanziellem und ästhetischem, und ohne Vorgaben für die Dachneigung.

Sie trug das Gemüse in die Küche, setzte die Aktentasche ab und hängte ihren kurzen Mantel an die Garderobe. Ja, sie hatte den Tag nur überstanden. Während sie den Porree wusch und in kurze Stangen schnitt, ging ihr dieser Satz wie in einer Endlosschleife durch den Sinn: Du hast den Tag nur überstanden. Seit zwei Jahren ging sie mit Rita, die nach dem Tode ihres Vaters in das kleine Haus schräg gegenüber gezogen war, ab und zu ins Kino, und sie hatte sich gefreut, dass diese unterhaltsamen Regelmäßigkeiten ihrem Leben eine Struktur gaben. Rita war eine zähe Frau, die sich vorgenommen hatte, ein Leben ohne Probleme zu führen. Diese energische Lebensbejahung strahlte sie aus, und Lena genoss ihre Gegenwart. Für morgen Abend hatten sie sich wieder verabredet, sie wollten in ein kleines Service-Kino in einem Nachbarort gehen, aber sie freute sich nicht mehr darauf.

Lena legte den Porree in Salzwasser und stellte die Herdplatte an. Dann ging sie in den Flur, zog die Schuhe aus und ihr Blick fiel auf ihr Spiegelbild. Blass war sie nicht, sie lächelte sich an, wie sie heute den ganzen Tag gelächelt hatte während ihrer Kundentermine. Sie legte den Kopf schräg und versuchte zu erkennen, ob sie anders aussah. Sie sah aus wie immer. »Du siehst doch auch noch super aus – für deine 45 Jahre«, hatte Franz vor ein paar Wochen zu ihr gesagt, als er im Liebesrausch eines 28-Jährigen von der Schönheit seiner jungen Freundin schwärmte und offenbar auch sie mit in die vergleichende Bewertung einbezog. Sie hatte gelacht und war versucht gewesen, an diesem Tag mit einem Tischlermeister zu flirten, der einen kleinen Kredit für eine Maschine aufgenommen hatte. Im Januar würde sie 46 Jahre alt werden.

Sie goss den Porree ab und bereitete das Essen genauso vor, wie sie es gestern geplant hatte, wartete, während der Porree abkühlte, auf dem Küchenstuhl sitzend und schaute aus dem Fenster. Sie sah Rita heimkehren, ihren Wagen verschließen. Rita winkte ihr mit ihrer Fellmütze zu und Lena hob die Hand zum Gruß und bemühte sich zu lächeln. Rita gestikulierte gut gelaunt und verschwand aus ihrem Blickfeld. Lena betrachtete absichtslos das gegenüberliegende Haus – dort wohnte ein freundliches Rentnerpaar mit einem alten Berner Sennenhund –, sah wie das Licht im Flur an- und wieder ausging.

Endlich erhob sie sich, wickelte den Porree in Schinkenscheiben, legte die Stangen in eine kleine Form, bestreute sie mit Käse und goss ein wenig Sahne an. Sie schob die Auflaufform in den Ofen, stellte ihn auf eine halbe Stunde, ging in ihr Wohnzimmer, legte sich auf das Sofa und löschte das Licht.

Als sie erwachte, war es zwei Uhr. Es regnete laut und ausdauernd, und die defekte Dachrinne ließ das Wasser auf die bleiernen Fensterbänke trommeln. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem monotonen Geräusch des Regens, der die Welt erfüllte, und dem Stakkato auf ihrer Fensterbank und wanderte zwischen den Geräuschen hin und her, hin und her. Als sie sich endlich aufsetzte, war es halb vier. Sie legte das Gesicht in die Hände und weinte.

2.

Johanna drehte sich noch einmal um im breiten Bett, spreizte die Beine und besetzte damit auch Pauls Seite. Paul war schon in aller Frühe aufgestanden, da er in Hannover an irgendeiner Sitzung in irgendeinem Arbeitskreis für die Koordination irgendwelcher sozialer Projekte teilnehmen musste, in dem um das wenige Geld, das zu verteilen war, gerangelt wurde. Sie wusste nicht genau, welcher Arbeitskreis das war, aber sie wollte es auch nicht zu genau wissen. Es war kompliziert und mühsam zu verstehen. Es gab genug komplizierte Dinge in ihrem Beruf.

Sie drehte sich noch einmal um und okkupierte das Bett bäuchlings. Ihr blieb noch eine ganze halbe Stunde, denn sie musste kein Frühstück machen für Stefan. Ihr Sohn war endlich – sie kuschelte sich bei diesem erleichternden Gedanken ein bisschen schuldbewusst in das dicke Kopfkissen – aus dem Haus. Endlich.

»Du hättest ihn ja nicht drängen müssen, Abitur zu machen, eine ordentliche Lehre nach der 10. Klasse ist doch durchaus ehrenwert. Es müssen schließlich nicht alle studieren!«, war Jakobs Kommentar gewesen, als sie ihren Sohn ein Jahr lang in die Schule getrieben hatte, nachdem er im ersten Anlauf nicht zum Abitur zugelassen worden war und letztlich seine Schullaufbahn mit einem Notendurchschnitt von 3,4 beendet hatte.

Sie drehte sich wieder auf den Rücken und streckte sich. Jakob Besser, ihr junger blasierter und schlauer Kollege, hatte gut reden. Wenn man Kinder hat, sorgt man sich um sie – egal warum. Das Telefon neben ihr klingelte, und sie griff ohne hinzuschauen nach dem Mobilteil, das sie – entgegen der Strahlenwarnung Pauls, der sich auch darum sorgte – in Reichweite platziert hatte. »Ja?«

»Jakob hier!«, meldete sich eine wache, klare Stimme.

»Ich habe gerade an dich gedacht.«

»Liegst du noch im Bett?«

Johanna sah auf die Uhr. Halb sieben. »Weil du mich so früh anrufst?«

»Nein, weil ich es rascheln höre und weil du an mich gedacht hast.«

»Du blöder Spinner. Was ist los?«

»Wir haben endlich eine richtige Leiche!«

Johanna stöhnte leise und setzte sich auf. Es war klar, dass Oberkommissar Besser nicht angerufen hatte, um mit ihr zu plaudern vor Tau und Tag. Die Routine der verwalteten Not, die sie tagtäglich hatte, strengte sie an und strapazierte sie, aber das sichtbar gewordene Elend hasste sie. Jakob dagegen schien sich zu freuen.

»Wo?«

»Gerade noch bei uns!« Der Leichenfundort liege im Wald kurz vor der Grenze zu Nordrhein-Westfalen im äußersten östlichen Zipfel ihres Zuständigkeitsbereichs, erklärte Jakob: »Büscherheide nennt sich das nächste Kaff.« Sie solle, wenn sie nicht erst in die Dienststelle am Kollegienwall fahren wolle, direkt dorthin kommen. Die Grenze zu Nordrhein-Westfalen sei kurz hinter den Koordinaten, die Jakob ihr gleich aufs Handy schicken wolle. Johanna stimmte zu. Von ihrem Haus Am Nienort im Schinkel am östlichen Stadtrand war sie schon halb auf dem Weg über die Landstraße in die Ortschaften, die zu ihrem weitgefassten Gebiet gehörten.

Jakob wollte sich jetzt gleich auf den Weg machen. Er war häufig schon um sechs Uhr morgens im Büro, so auch heute, weil er die Morgenstunden für die effektivsten hielt. In intellektueller und auch spiritueller Hinsicht. Wenn Jakob Besser um sechs am Schreibtisch saß, hatte er schon eine halbe Stunde meditiert und war zu Fuß von seiner Wohnung in der Nähe der Universität gekommen.

Johanna duschte schnell, wusch sich die Haare und föhnte sie über Kopf, während sie das von gestern übrig gebliebene Stück Mohnkuchen aß. Sie warf einen Blick in den Spiegel und war zufrieden mit sich. Mir geht es gut, dachte sie, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und legte die kleine graue Strähne frei, die sich links neben ihrem Scheitel durch die Andeutung einer Locke zog. Mir geht es gut, dachte sie noch einmal. Und nun schauen wir, welcher arme Mensch dort im Wald liegt.

*

Jakob Besser kam ihr entgegen, als sie langsam über den Waldweg ging, den er ihr beschrieben hatte. Sie hatte ihren Kleinwagen vorn an der Landstraße stehen lassen. Dort standen bereits zwei Streifenwagen, ein Porsche und der Dienstwagen, mit dem Jakob gekommen war. Sie lobte sich für ihre Umsicht, dass sie ihre wetterfesten Wanderschuhe angezogen hatte, denn in der Nacht war das Wetter umgeschlagen und ein Tief hatte die Kälte des gestrigen Tages vertrieben. Es war drückend und in der Nacht hatte ein Dauerregen eingesetzt, der sie jetzt schon zermürbte. So wird der ganze restliche November sein, befürchtete sie. Jakob Besser presste die Lippen aufeinander, während sie auf ihn zuging, und statt die Hand wie sonst zum römischen Salve zu erheben, legte er ganz unvermittelt seinen rechten Arm um sie und zog sie an sich.

Überrascht schaute sie zu ihm auf und lächelte: »Was ist los, Herr Besser?« Jakob ließ sie los und ging neben ihr her. Der große Kerl mit der großen Klappe wollte wohl selbst in den Arm genommen werden. Sie lächelte ihn wieder an. »Danke für die liebe Begrüßung.«

Sie gingen gemeinsam auf den Tatort zu. Der Bulli der KTU war schon anwesend. Vor der Markise standen zwei Kollegen von der Meller Polizeiinspektion. Den einen von ihnen, Rolf Niederbäumer, hatte sie im letzten Jahr kennengelernt, weil zwei Trinker in Wellingholzhausen ihren Disput mit einem Messer und einer Jagdflinte ausgetragen hatten. Der Jäger hatte das nicht überlebt, weil er alkoholbedingt seine Flinte nicht entsichert und mit dem hohlen Klicken der Flinte den anderen in eine solche Rage versetzt hatte, dass er dessen Messerattacke zum Opfer fiel.

Niederbäumer grüßte Johanna und musterte Jakob, der ihm brav die Hand gab und dabei die Andeutung eines Dieners machte, mit leichter Skepsis. Er reichte ihnen je einen faserabweisenden Einmaloverall und Überschuhe. Links des Wegs war ein kleines Waldstück abgesperrt, die Kollegen von der Spurensicherung liefen dort bereits mit ihren Kapuzenmänteln herum.

»Obwohl in diesem Morast nichts zu finden sein wird«, meinte Niederbäumer und nickte in Richtung Tatort. Jetzt bemerkte Johanna, dass dort ein kleiner Bach, der am Rande des Weges floss, über die Ufer getreten war und die Leute, die sich darum kümmerten, den Ort zu sichern, ganz in der Nähe des Wassers herumstapfen mussten. »Im Sommer ist das nur ein Rinnsal, oder ganz trocken«, erklärte Niederbäumer. Er wies sie auf den kleinen Pfad hin, den die Kollegen gegangen waren, um nicht unnötig Spuren zu verwischen, machte aber erneut durch seine abwinkende Handbewegung deutlich, dass das seiner Meinung nach eigentlich überflüssig war.

Was für ein Wetter, um dort gefunden zu werden, dachte Johanna, schüttelte sich aber gleichzeitig, um diesen absurden Gedanken loszuwerden. Sie näherten sich der Szenerie, nein, keine gespenstische Szenerie, dachte Johanna, und verfluchte sich dafür, dass ihr diese trivialen Gedanken durch den Kopf schossen. Es wirkte eher wie ein Filmset, als würde an diesem sonst stillen Ort etwas in Szene gesetzt. Aber es war Dienstag, 20 nach sieben. Und sie war hier und nicht mehr im Bett und hatte dafür zu sorgen, dass alles nach den Regeln vor sich ging.

»Es ist alles wahr«, wandte sie sich unvermittelt an Jakob und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Er sah sie ernst an, als hätte er ihren zusammenhanglos vorgebrachten Gedanken verstanden, was bei Jakob durchaus anzunehmen war.

»Es tut mir leid, was ich vorhin am Telefon gesagt habe, es war …, ich war benommen, durcheinander.«

Sie waren an einer hohen Buche stehen geblieben. Johanna Kluge lächelte ihren Kollegen an: »Mensch, Jakob, das weiß ich doch.« Sie kam sich mütterlich vor, weil sie ihm ihre Hand besänftigend auf den Unterarm gelegt hatte, und zog die Hand wieder zurück.

Jakob Besser war schon seit knapp zwei Jahren bei der Kriminalpolizei, Fachkommissariat 1 Straftaten gegen Leben und Gesundheit. Aber außer einigen Selbstmorden, fahrlässigen Tötungen und der letalen Würgeattacke einer Psych­iatriepatientin gegen eine andere hatte er noch nichts, wie er fand, wirklich Spektakuläres erlebt. Er hatte auf eine »richtige« Leiche, bei der eindeutig Fremdverschulden vorlag, auf einen komplizierten Mordfall gewartet, bei der die Sachlage nicht von vornherein offenbar war, und manchmal theatralisch gejammert: »Meine Güte, in Kitzbühl um 18 Uhr bei der Soko gibt es fast jede Woche raffinierte Doppelmorde, aber hier in der 165.000-Einwohner-Stadt passiert gar nichts.« Jetzt stand er brav neben Johanna und wartete darauf, dass sie sich den Toten ansehen konnten. Johanna reichte eigentlich die Osnabrücker Kriminalstatistik mit 32 Tötungsdelikten in Stadt und Landkreis pro Jahr. In den unspektakulären, alltäglichen und lächerlich normalen Auseinandersetzungen der Menschen, mit denen sie in Kontakt kam, lag ein Elend, das sie manchmal in der Nacht bis in ihre eigenen vier Wände verfolgte.

Ein Kollege von der Kriminaltechnik erhob sich und ging auf die Absperrung zu. »Sie können jetzt kommen, aber passen Sie auf, da vorn links vor dem kleinen Stamm«, er wies auf einen abgestorbenen Baumstumpf, »dort ist ein Loch, Meyer ist schon reingetreten und fast bis zum Oberschenkel versunken!« Er grinste und wies ihnen mit der Hand den Weg, obwohl nichts zu zeigen war.

»Danke«, nickten die beiden ihm dennoch zu und bewegten sich vorsichtig die letzten 20 Meter auf die drei Personen zu, die dort noch hockten. Von der Absperrung aus hatte eine kleine Buchengruppe den Blick versperrt, jetzt lag die Leiche vor ihnen. Johanna blickte kurz auf die Leiche, dann warf sie schnell einen Blick auf Jakob, der einen eigenartig starren Ausdruck annahm. Er legte die Hand auf den Mund, als hätte ihn eine plötzliche Gedankenschwere befallen.

Johanna ging auf den kleinen schmächtigen Dr. Schmitthals zu, der seinen Koffer zusammenpackte und sich erhob. Er reichte Johanna bis zum Kinn, obwohl sie auch nicht sonderlich groß war mit ihren 1,69. Er schien bei seiner Mutter in Diepholz gewesen zu sein, denn von Oldenburg, dem Sitz der Rechtsmedizin, hätte er es nicht so schnell schaffen können. Obwohl er mit seinem Porsche fuhr wie ein Irrer. Kleiner Mann mit Porschefimmel, schoss es Johanna durch den Kopf. »Guten Morgen, Dr. Schmitthals«, grüßte Johanna.

»Guten Morgen geht anders«, sagte Schmitthals und Johanna ärgerte sich über die Vorlage, die sie ihm gegeben hatte, und über die Banalität, die er angesichts des Toten von sich gab.

»Ja. Sie haben recht. Was ist mit seinem Gesicht geschehen?«

»Der Tod ist nicht schön, Frau Kluge«, sagte der kleine Schmitthals und grinste wieder. »Er wurde wohl den Ameisen und Rabenvögeln zur Speise!« Schmitthals bückte sich und griff nach seinem Koffer.

»Wie lange liegt er hier schon?«, fragte jetzt Jakob.

»Herr Besser, das kann ich Ihnen nicht so genau sagen, frisch ist er nicht.«

Jakob sah auf den Toten, dessen Gesicht nicht mehr existierte. Die Augenhöhlen waren leer, in der linken Wange fehlte das Fleisch und die Backenzähne waren zu sehen. Die Nase war nur noch eine kleine matschige Erhebung. »Dr. Schmitthals, wie lange schätzen Sie, liegt er hier schon?«, wiederholte Jakob ruhig. Johanna richtete ihren Blick auf Schmitthals, der sich zum Gehen wandte.

»Möglicherweise zwei bis drei Wochen. Genaueres kann ich Ihnen erst in einigen Tagen sagen.«

»Gewalteinwirkung?«, fragte Johanna und legte Schmitthals die Hand auf den Unterarm, als wolle sie ihn abhalten zu gehen.

»Möglich, Frau Kollegin, möglich. Es gibt einige Flecken, die von Verletzungen herrühren können, ich möchte ihn aber erst untersuchen.« Dr. Schmitthals ging nun auf das Absperrband zu und rief versöhnlich zurück: »Ich rufe Sie heute Nachmittag an, Frau Kluge.«

Johanna nickte ihm lächelnd zu und sah dann wieder auf das Opfer. Er war ein Opfer. Das war er auf jeden Fall. Ob er nun durch fremde Hand zu Tode gekommen war oder durch irgendetwas anderes. Ein Mensch, der von Vögeln gefressen wird, ist ein Opfer. Sie ging vorsichtig einen Schritt näher und hockte sich neben seinen Brustkorb. Diese lächerliche Sportjacke aus Ballonseide, im Ärmel zerrissen, ob von einem Kampf oder weil die Jacke fadenscheinig war, konnte sie nicht entscheiden. Dieser Mann war jung gewesen, als er starb. Das sah man auch jetzt noch. Ein junges Opfer. Sie richtete sich wieder auf und wurde gewahr, dass sie ihre Hand in der gleichen Weise vor ihren Mund hielt, wie Jakob es vorhin getan hatte. Sie legte ihre Hand auf ihre Brust.

»Diese Turnschuhe gab es neulich bei Aldi«, sagte Jakob und wies auf den rechten Fuß der Leiche, an dem noch ein Schuh war. Der linke lag in etwa zwei Meter Entfernung, nun versehen mit einer kleinen Nummer.

»Du gehst zu Aldi?« Johanna versuchte auf die andere Seite der Leiche zu gelangen, aber die Nähe des Baches machte es unmöglich. Also ging sie zu seinen Füßen und blickte auf seine Gestalt, lang und schmächtig, und versuchte, nicht weiter in das ausgemerzte Gesicht zu schauen.

»Natürlich nicht, aber mein Nachbar hat sich welche gekauft. Und wir sind zusammen gelaufen, da hat er sie mir gezeigt.«

»Wann war das?«

Jakob überlegte. »Mittwoch vor vier oder fünf Wochen.«

»Aldi führt aber seine Produkte in regelmäßigen Zyklen«, antwortete Johanna.

»Die hier sind aber neu!«

Johanna nickte. Er hatte recht. Diese Schuhe waren das einzig nicht Zerstörte an dem ganzen armen Kerl. Und sie schienen in der Tat nicht älter als ein paar Wochen. Ansonsten hatte sich kaum etwas gefunden. Keine Ausweispapiere, kein Handy – nur ein kleiner ganz gewöhnlicher Hausschlüssel war an einem Bändchen mit einer Sicherheitsnadel in einer ansonsten völlig leeren Tasche der dünnen Ballonseiden-Jacke befestigt.

Wie war dieser junge Mann in den Wald gekommen? »Habt ihr irgendein Fahrzeug gefunden?« Mit einem Blick auf den Leichnam präzisierte sie: »Vielleicht ein Fahrrad?«

Im unmittelbaren Umkreis des Fundortes war kein Fahrrad gefunden worden. Es gab auch keine Spuren von anderen Fahrzeugen, selbst die Radspuren der Forstfahrzeuge hatte der Regen aufgeweicht, und in den tiefen Spurrillen floss ein kleines Rinnsal den Weg entlang. Nach dem leichten Frost und der Kälte der letzten drei Tage hatte es heute Nacht anhaltend und stark geregnet, und auch vor zehn Tagen – hatte er da bereits hier gelegen? – hatte es eine zermürbende Regenperiode gegeben.

»Überhaupt regnet es viel zu viel«, meinte Jakob. Johanna nickte und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich konnte ihr Kollege Gedanken lesen.

Die Leiche wurde abtransportiert. Johanna Kluge und Jakob Besser beobachteten den Abzug der Kollegen an den KTU-Wagen gelehnt, in dessen Fond zwei Beamte mit dem Landwirt saßen, der den Toten gefunden hatte.

Der Mann war immer noch fassungslos und begann wieder zu weinen, während er ihre Fragen beantwortete. Wilhelm Stübermeyer war Jäger und an diesem Morgen nach langer Zeit wieder in dem Revier unterwegs gewesen. Nein, er jagte eigentlich nicht mehr. Aber er ging morgens oft hierher, um sich auf einen Ansitz zu setzen, der ein wenig weiter den Bachlauf entlang mit Blick auf eine Wiese stand, auf den Morgen zu warten und die Vögel zu beobachten. Eigentlich hatte er zu Hause bleiben wollen bei diesem Regen, aber er konnte nicht schlafen, seit einigen Jahren schon schlafe er schlecht, und deshalb war er aufgestanden und doch gegen Viertel nach fünf in den Wald gegangen. In diesem Revier gäbe es einen Schwarzspecht, der sei ganz selten. Er schaute Johanna an und erklärte ihr, dass es immer nur einen Schwarzspecht gebe in einem Revier. Den habe er natürlich nicht in der Nacht sehen wollen. Aber er habe neulich einen Uhu gehört, das sei ganz wunderbar gewesen. Den habe er beobachten wollen. Abrupt hielt er inne und starrte vor sich hin. Johanna und Jakob sagten nichts und warteten, bis er wieder ansetzte.

»In diesem Wald bin ich seit 60 Jahren. Ich bin hier zu Hause, schon mit meinem Großvater war ich hier.« Er stockte wieder und schluckte. »Es war hier eigentlich friedlich.«

Wilhelm Stübermeyer hatte die Polizei informiert, genau um 5.47 Uhr war sein Anruf bei der zentralen Leitstelle in Osnabrück eingegangen. Zum Vögelbeobachten brauchte man kein Handy und so musste er, nachdem er auf den »armen Kerl« gestoßen sei, der genau auf seiner Route zum Hochsitz lag, bis nach Hause zurückgehen. Stübermeyer wohnte auf seinem eigenen Hof in der Nähe.

»Wann waren Sie denn zum letzten Mal an dieser Stelle?«, fragte nun Jakob.

Das sei mindestens vier, wenn nicht fünf Wochen her. Er sei meist auf dem unteren Ansitz, der über den nächsten Weg zu erreichen sei, zu dem er mit dem Auto fuhr. Aber heute Morgen wollte er zusätzlich auch nach dem Ansitz sehen, den er reparieren wollte.

»Und der Schwarzspecht?«, fragte Johanna. »Ich meine, der Uhu?«

Der Uhu brauche so ein großes Revier, deshalb sei er ja auch so selten geworden, dessen Gebiet reiche sogar noch bis zum Ansitz am Glanetal. Wilhelm Stübermeyer wies irgendwo in den Wald hinein.

Hier an dieser Stelle war also wahrscheinlich seit etwa vier Wochen niemand mehr gewesen. Außer dem Toten. Und vielleicht noch den Personen, die ihm das angetan hatten. Johanna Kluge war sich sicher, dass dieser Mensch nicht allein hierher gekommen war. Was sollte er auch hier?

»Können Sie versuchen, sich genau zu erinnern, wann Sie diesen Weg zuletzt gegangen sind? Das wäre sehr hilfreich für uns«, sagte Johanna und lächelte ihn ermunternd an. »Sie müssen das auch nicht hier in diesem Wagen machen. Überlegen Sie genau zu Hause, rekonstruieren Sie die Zeit. Wir werden Sie dann selbstverständlich noch einmal zu uns nach Osnabrück in die Polizeiinspektion bitten, damit Sie Ihre Aussage präzisieren.«

Stübermeyer nickte. Er würde mit Sicherheit heute oder morgen Bescheid sagen, er war ruhig und besonnen.

»Haben Sie diesen Mann irgendwann schon einmal hier gesehen?«, fragte ihn Johanna.

Stübermeyer verneinte das mit einem stummen Kopfschütteln und erklärte in entschuldigendem Ton, er habe ihn allerdings nicht lange angesehen, denn er sei sofort losgelaufen, um nach Hause ans Telefon zu kommen. »Obwohl ja eigentlich keine Eile mehr sein musste«, sagte er und schlug die Augen nieder, als sei es ungehörig, so zu denken. Er sei sich aber sicher, denn auf seinem Hof habe er ihn nicht gesehen und im Dorf im Supermarkt, dort kaufe er regelmäßig ein, habe er auch niemanden bemerkt, der ihm aufgefallen sei. Er kannte viele Menschen in der Gegend, denn bis zu seiner Pensionierung war er als Postbote unterwegs gewesen.

»Von so einem Hof, wie wir haben, kann man ja nicht leben.« Stübermeyer schüttelte den Kopf und Johanna befürchtete, dass er wieder weinen würde, aber er hob nur den Kopf, sah sie an und schnaubte resigniert. Das Angebot, sich in einem Polizeiwagen nach Hause bringen zu lassen, nahm er an und dankte Johanna, die ihn, den alten Mann, mütterlich ansah.

»Wie viel durch eine solche Gewalttat zerstört wird«, sagte Johanna zu Jakob, als sie nebeneinander zur asphaltierten Straße zurückgingen. Sie meinte damit nicht das Gesicht und den Körper des »armen Kerls«, sondern den alten rotgesichtigen Stübermeyer, der ihn finden musste und der in diesem Wald wahrscheinlich nie wieder in morgendlicher Ruhe Schwarzspechte und Uhus würde beobachten können.

3.

Es gab keine Anhaltspunkte, wer der tote junge Mann sein könnte. Er hatte nichts bei sich gehabt außer der Kleidung, die er am Leibe trug. Eine schwarze Jeans, ein grünes Sweatshirt mit dem Aufdruck ›Combat Mil Tec 44‹, Unterhose aus dem Sortiment von Netto und Socken von Lidl. Der Schlüssel, den er in seiner Jackentasche mit einer Sicherheitsnadel befestigt hatte, war ein einfacher BKS-Schlüssel, den man in jedem Schlüsselladen nachmachen konnte. Er gab keinen Aufschluss.

»Warum befestigt man einen Schlüssel in seiner Jacke?«, fragte Johanna eher rhetorisch.

»Man will ihn nicht verlieren«, bestätigte Jakob Besser.

Sie saßen sich gegenüber. Eigentlich hatte Kriminaloberkommissar Jakob Besser ein eigenes kleines Büro, anliegend an das der Kriminalhauptkommissarin Kluge, aber zu Besprechungen trafen sie sich bei ihr. Jakob war ohnehin häufiger in Johannas Büro, es gefiel ihm bei seiner älteren Kollegin und er hatte ihre Versorgung übernommen. Morgens teilte er ihr eine Tasse grünen Tee zu, den er in einer Thermoskanne mitbrachte, und erläuterte ihr die neuesten Nachrichten, die er nach den Sechsuhr- und Siebenuhrnachrichten bei ihrer Ankunft frei vortragen konnte.

Da er auch heute schon um sechs Uhr fit im Büro saß – in diesen Stunden habe man doch mal wirklich Zeit, sich auf seine Akten zu konzentrieren, meinte er –, hatte er die Meldung von dem Leichenfund im Wald entgegengenommen und Kriminalhauptkommissarin Kluge geweckt. Nun tranken sie den lauwarmen Tee. Johanna nippte an der kleinen China-Bone-Tasse. Auch die hatte Besser ihr mitgebracht. »Es ist kulturlos genug in den deutschen Verwaltungsbüros«, hatte er ihr vor zwei Jahren gesagt, als sie das Geschenk zu ihrem 42. Geburtstag auswickelte, das er ihr sozusagen als Einstieg mitbrachte, und auf einen kümmernden Ficus benjamini hinter ihrem Schreibtisch gedeutet. Ihre daraufhin laut geäußerte Vermutung, dass mit seinem Einstieg wohl einiges besser würde, hatte er souverän als Kompliment genommen: »Klug auf den Punkt gebracht, Frau Kluge. Ich bin eben Besser!«

»Aber benutzen kann man diesen Schlüssel auch nicht«, nahm Johanna den Faden wieder auf und stellte die Tasse auf den Schreibtisch.

Wie hat dieser Mensch gelebt, und wo? Johanna sah die abgerissene Kleidung vor sich und versuchte das Bild des nicht existierenden Gesichts, das sich wieder in ihr Bewusstsein schob, zurückzudrängen. Wahrscheinlich hatte er kein Zuhause.

»Vielleicht wollte er aber irgendwann dorthin zurückkehren?«, sagte Johanna nun laut und griff zur Teetasse.

»Wohin?«, fragte Jakob.

»Nach Hause«, sinnierte Johanna. »Vielleicht hat er kein Zuhause«, ließ sie Jakob noch einmal an ihren Überlegungen teilhaben, »aber er wollte irgendwann in sein Zuhause zurückkehren.«

»Zu seiner Mutter?«

»Zuhause muss nicht immer bei Mutter sein«, meinte Johanna und atmete ein, »aber oft ist es das.«

»Fehlt dir dein Sohn?«

»Stefan hat keinen Schlüssel mehr. Er ruft uns an, wenn er kommt.« Johanna war sich aber gar nicht so sicher, dass er keinen Schlüssel mehr von ihrer Wohnung hatte. Er hatte häufig Schlüssel verloren und sie hatten unzählige nachgemacht. Sie war der Ansicht, dass in ihrem Haus am Stadtrand von Osnabrück ohnehin an so vielen Stellen eingebrochen werden konnte, und zudem hatte sie sich bis jetzt noch nicht durchringen können, sich den guten Ratschlägen ihres Arbeitgebers anzuschließen und ihr Haus diebstahlsicher zu machen. Also konnte auch ihr Sohn durchaus solch einen BKS-Schlüssel mit sich herumtragen. Aber er würde ihn sicher nicht in der Jackentasche befestigen.

»Ein junger Mann ohne Wohnung, aber mit einem Zuhause irgendwo.« Jakob stand auf. »Ich werde veranlassen, dass in der Stadt in Wohnheimen und Außenwohngruppen nachgefragt wird. Wann haben wir Sitzung?«

Die Sitzung der Mordkommission, die unter Johanna Kluges Leitung eingeteilt worden war, sollte sich um 14 Uhr treffen. Jakob zog sich in sein Büro zurück und Johanna rief Dr. Schmitthals in Oldenburg an. Schmitthals sei »zu Tisch«, teilte die Sekretärin mit, und Johanna bat um sofortigen Rückruf.

Zehn Minuten später rief Schmitthals zurück. »Ich hatte doch gesagt, dass ich Sie unmittelbar anrufen werde, wenn ich etwas Vorläufiges sagen kann. Sie sind sehr ungeduldig.« Dieser Ansicht war Johanna eigentlich nicht, fand aber, er hätte sie informieren können, bevor er »zu Tisch« gegangen war, sagte das aber nicht und wartete geduldig, was er ihr vortragen wollte.

»Das Opfer wurde ganz sicher geschlagen. Ohne zu viel vorwegzunehmen, bin ich ziemlich sicher, dass er mehrere Rippenbrüche hat, eine Fraktur des rechten Unterarms und ein mittelgroßes Loch im Schädel. Mehr kann man jetzt nach der ersten Sichtung noch nicht sagen – die …«

»Ist er an dem Loch im Schädel gestorben?«

»Das kann ich ohne genauere Untersuchung nicht sagen, wirklich Frau Kluge, das wissen Sie doch.«

»Selbstverständlich. Aber wir können davon ausgehen, dass dieser Mensch durch jemand anderen ums Leben gebracht wurde?«

»Das können Sie in der Tat! – Und wie schön Sie das wieder ausgedrückt haben!«

Johanna hasste die verkürzte Sprache der Branche, die das, was es war, so scheinbar verharmloste. »Durch Fremdeinwirkung« klang für sie immer nach Versicherungsunternehmen, die Haftungen bei »Glasbruch ohne Fremdeinwirkung« ausschließen. Sie nannte gern alles beim Namen. Und ihr schien die Fremdeinwirkung auf diesen Mann von solch durchschlagender Wirkung, dass es jemand »getan« hatte, nicht nur gewirkt. Es war ein Täter zu suchen, der dem Opfer dieses angetan hatte.

Dr. Schmitthals schätzte das Opfer auf etwa 20 Jahre, auch hier konnte er sich noch nicht festlegen, ihm fehlten bereits einige Backenzähne. Größe etwa 182 Zentimeter, bei etwa 65 Kilo Gewicht sehr mager. Er hatte mittellange, braune Haare. Mehr könnte er erst nach Abschluss der Untersuchungen in der Außenstelle des Gerichtsmedizinischen Instituts der Medizinischen Hochschule Hannover in Oldenburg sagen, die sicherlich zwei bis drei Tage dauern würden.

Die Besprechung am Nachmittag brachte keine neuen Ergebnisse. Es gab keinen vermissten jungen Mann, auf den die Beschreibung zutraf, die Befragungen in den Wohnheimen der Stadt, der Bahnhofsmission waren noch nicht abgeschlossen und hatten bis jetzt nichts ergeben. Sie beschlossen, nicht lange zu warten und über die Presse noch heute eine Personenbeschreibung zu veröffentlichen und zur Mitarbeit bei der Zeugensuche aufzurufen.

Sie trugen zusammen, was sie über das Opfer wussten, Johanna formulierte die Beschreibung des Opfers, und sie versorgten die Regionalpresse. Als sie am Abend ihren Mantel anzog, um nach Hause zu gehen, steckte Jakob seinen Kopf durch die Tür.

»Bis morgen«, sagte er und verharrte, als er ihren Blick auffing.

»Ach, Jakob, kommst du noch mit, ein Bier trinken? Paul kommt heute erst spät am Abend, er ist in Hannover und ich habe keine Lust, allein zu Hause zu warten und vor der Glotze zu hängen.«

»Möchtest du dich gepflegt unterhalten?«

Sie lachte. »Ja. Mit wem könnte ich das denn sonst?«

»Das ist in der Tat schwierig. Ich führe deshalb häufiger Selbstgespräche.«

Johanna Kluge löschte das Licht und nickte ihm in einem Versuch von wohlwollender Herablassung zu, während er ihr die Tür aufhielt. Sie gingen gemeinsam die Treppen hinunter. Es war halb zehn Uhr, als sie das Gebäude verließen, und genauso dunkel wie am Morgen, als sie diesen Tag zusammen begonnen hatten. Lediglich der Regen hatte nachgelassen, doch die Luft war feucht und schwer.

*

Es war nach elf, als Johanna nach Hause kam. Sie hatten versucht, nicht über den Fall zu sprechen, sondern über Filme. Jakob hatte eigentlich vorgehabt, in ein kleines Kino zu gehen, das manchmal Originalfilme mit Untertiteln zeigte. Johanna war beeindruckt von seiner Disziplin, mit der er manche Dinge verfolgte. »Um mein Englisch auf Vordermann zu bringen«, sagte er immer, aber sie war sich nicht sicher, ob er nicht genauso gut Englisch sprach wie Latein und Griechisch. Sie hing lieber zum Abspannen vor dem Fernseher und zog sich eine amerikanische Komödie rein, einen Film zum Zeitvertreib und zum Hirnausschalten.