Selbstgerecht - Ulrike Kroneck - E-Book

Selbstgerecht E-Book

Ulrike Kroneck

4,9

Beschreibung

Mit einer halben Million Schwarzgeld verschwindet die Studentin Julia - und gerät in Lebensgefahr. Ist sie schuld am Tod ihres verheirateten Geliebten? Die Kriminalkommissare Johanna Kluge und Jakob Besser stoßen auf eine Spur von Gewalt und Unrecht, die schon vor Jahren begonnen hat - und auf zu viele Verdächtige.

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Ulrike Kroneck

Selbstgerecht

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

E-Book: Benjamin Arnold

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Pictorius / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4626-9

1. Kapitel

Sie merkte gleich, dass etwas nicht stimmte. Er klammerte sich mit beiden Händen an ihren Hüften fest, aber zog sie nicht an sich heran. Seine Hände rutschten ab, sein schwerer Körper legte sich, als sei er selbst gestoßen, auf ihren Rücken. Sie ließ das metallene Gestänge des Messingbettes, an dem sie sich festgehalten hatte, los und rutschte in die Kissen. Er keuchte, während er sich an sie krallte. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken. Er war schwer, und sie fürchtete, dass ihr die Luft wegbliebe. Sie fühlte, wie er nachgab und seinen großen Körper wie erschöpft auf sie fließen ließ. Er begrub sie unter sich, seinen rechten Arm noch um ihren Bauch gewunden.

»Was ist los, Carsten?«

Er schnappte nach Luft.

Sie versuchte, sich unter ihm wegzudrehen. Aber seine zweieinhalb Zentner zwangen sie, bäuchlings unter ihm liegen zu bleiben.

»Carsten.« Sie versuchte durchzuatmen und geriet ein wenig in Panik, weil der massige Körper bewegungslos auf ihr lag und sie ihren Brustkorb nicht heben konnte. Mit seinem rechten Arm unter ihrem Bauch schien er sie zusätzlich festzuhalten.

Fett und schwer, fuhr ihr durch den Sinn. Fett und schwer, dieser Carsten Rischmöller. Das hatte ihre Kommilitonin gesagt, als sie ihn ihr vor einigen Monaten in einer Bar von Weitem gezeigt hatte.

»Carsten!« Sie zog ihren Arm etwas an und drückte ihren zierlichen Körper in die Matratze, um ihre rechte Schulter zu drehen und sich unter ihm herauszuwinden. Gleichzeitig schob sie das Knie unter ihm hervor und hob ihr Gesäß in die Höhe.

In einer einzigen fließenden Bewegung gerieten die zweieinhalb Zentner über ihr aus dem Gleichgewicht und rutschten über den rechten Arm, der sie eben noch gehalten hatte, und über die Schulter zur Seite. Sie lag nun frei im Arm des bewegungslosen Mannes.

Erstaunt richtete sie sich auf: »Carsten?«

Er lag auf dem Rücken auf der linken Seite des großen Bettes, sein linker Arm hing über der Bettkante, und sein schwerer weißer Bauch legte sich rechts und links oberhalb der Hüfte auf das weiße Laken. Er hatte ein paar glatte rote Haare auf der Brust. Sein Penis lag schlaff inmitten der kräftigen roten Schamhaare. Carsten Rischmöller rasierte sich nicht.

Er wäre mir viel zu weiß, und wahrscheinlich riecht sein Schweiß sauer. Dieser Gedanke schoss ihr in den Sinn, während sie immer noch eher erstaunt als beunruhigt auf den reglos neben ihr liegenden Mann herabsah. Sein Schweiß roch nicht sauer, und sie hatte ihn in seiner Massigkeit sogar sexy gefunden. Das hatte ihre Freundin nicht verstanden.

»Carsten!«, rief sie ihn an und schlug ihm dreimal mit der rechten Hand auf die Wange. »Hey, Carsten!«

Carsten Rischmöller rührte sich nicht.

Nun legte Julia zwei Finger an den Hals ihres Liebhabers, um zu testen, ob er noch lebe. Sein offenstehender Mund schien dem zu widersprechen, aber sie tat das, weil sie es häufiger gesehen hatte. Sie fühlte nichts, aber das hatte nichts zu sagen, dachte sie.

»Ach du Scheiße.« Julia wich zurück auf die gegenüberliegende Bettkante und starrte auf den großen Mann. »Ach du Scheiße«, wiederholte sie leise und legte ihre Hand vor den Mund.

Ohne den Blick von ihm zu wenden, verließ sie das Bett auf ihrer Seite und ging zum Fußende. Für einen letzten Versuch trat sie an die Bettkante und schüttelte ihn mit beiden Händen. Sie rief ihn nicht mehr beim Namen. Sie schüttelte ihn noch einmal zaghaft und trat einen Schritt zurück.

Scheiße, dachte Julia.

Er war tot. Sie hatte noch nie einen Toten gesehen, aber dieser Mensch sah tot aus. Sie blickte auf ihr Handgelenk. Aber die kleine Breguet, die er ihr gekauft hatte, hatte sie abgelegt. Carsten wollte sie immer pur. Hinterher genoss er es, auf dem Bett liegend zu betrachten, wie sie sich immer noch nackt Uhr und Perlen – Perlen am Hals einer Frau sind sexy, hatte er gesagt – wieder anlegte, die Dinge, mit denen er sie beschenkt hatte. So ließ er sich beweisen, dass er sie besaß.

Julia ging zum Sessel an dem kleinen Tisch, auf dem eine halbe Flasche Rotwein, ein Nachtischschüsselchen, ein voller Aschenbecher und zwei Gläser standen. Seine beigefarbene, in Leder gefasste Gucci-Businesstasche lehnte neben dem Stuhl. Sie sollte die Polizei informieren. Das musste sie jetzt wohl. Sie nippte an ihrem Glas und betrachtete den leblosen Mann. Es gab keinen Grund, sich zu beeilen. Sie nahm ihre Uhr und legte sie um ihr schmales Handgelenk. Zehn nach neun. Dann nahm sie die Perlen und schloss den Verschluss in ihrem Nacken. Schade, sie hatte in der Großen Straße einen wunderbaren Ziegenvelourledermantel gesehen. Heute hatte sie ihm davon erzählen wollen. Im nächsten Monat würde sie ihren 24. Geburtstag feiern.

Julia seufzte. Damit war es vorbei. Sie ging zur Ablage neben ihrer Bettseite und nahm das Geld in die Hand. Er hatte es ihr vor einer Stunde, kurz nachdem sie die kleine Wohnung betreten hatte, zu einer kleinen Rolle gedreht zwischen ihre Brüste gesteckt, anschließend mit wohlgefälligem Grinsen in ihren Ausschnitt gegriffen, ihre rechte Brust gepresst und an der Brustwarze gezerrt. Sie hatte das Geld später auf ihrer Seite des Bettes abgelegt, ohne es zu zählen. Es war immer genug gewesen. Manchmal so viel, dass sie sich wunderte, dass sie ihm so viel wert war. Es gehörte zu ihrem Spiel, dass er ihr Geld gab. Er fand es sexy, und sie fand es praktisch. Sie fühlte sich gut dabei, dass er sie so wertschätzte. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln.

Flüchtig blätterte sie die 50er durch. 20 Scheine. Sie bedauerte seinen Tod. Es tat ihr wirklich leid, nicht nur im Hinblick auf seine Großzügigkeit. Er hatte Geld wie Heu. Das fand sie jedenfalls. Ihrer Meinung nach war es so viel, dass er damit spielen konnte. Und das mit dem Geld war für ihn reine Unterhaltung gewesen. Für sie war es ein Spiel für den Lebensunterhalt. Immerhin war sie 25 Jahre jünger als er.

Sie ging in das Bad, das neben dem Schlafraum lag, und betrachtete sich im Spiegel, fragte sich einen Moment, was mit ihr los sei. Sie weinte nicht. War sie kalt, weil ihr solche Gedanken durch den Sinn gingen? Langsam schüttelte sie den Kopf und sah sich dabei nachdenklich in die Augen. Nein – sie lächelte ihr Spiegelbild an – sie war nicht kalt. Sie mochte Carsten. Sie warf einen Blick über die Schulter durch die offene Tür. Sie hatte ihn gemocht. Doch, er war ihr, obwohl sie das nicht gewollt hatte, irgendwie ans Herz gewachsen. Es tat ihr wirklich leid. Sie hatte ihn nicht mögen wollen. Das lief eigentlich gegen ihre eigene Absicht.

Sie griff auf den Spiegelschrank hinter die obere Kante und kontrollierte die Schachtel mit den blauen kleinen Pillen. Von den vier Pillen der Schachtel fehlten zwei. Ob zwei für ihn zu viel gewesen waren? Er hatte geglaubt, sie wisse nicht, dass er Erektionsprobleme hatte. Jedenfalls hatten sie nicht darüber gesprochen. Jetzt hatte sein Herz offensichtlich der Belastung von zwei Tabletten nicht standgehalten. Was Männer nicht alles machten, um als große starke Kerle dazustehen. Carsten Rischmöller lag immer noch in seiner Position. Das würde sich nicht mehr ändern.

Sie duschte, rubbelte sich die Haare trocken und cremte sich ein. Nachdem sie ihre Jeans angezogen und das kleine seidene Top übergestreift hatte, nahm sie ihr Handy aus ihrer großen Ledertasche, um die Polizei anzurufen. Sie überlegte, ob sie direkt die Nummer der Osnabrücker Polizei wählen sollte oder einfach 110, und ging in Gedanken versunken auf und ab. Was sollte sie sagen, warum sie erst jetzt anrief, etwa eine Viertelstunde später? Würde die Polizei, wenn sie käme, diese Zeitdifferenz überhaupt feststellen? Würden sie ihn untersuchen? Sie war unsicher.

Mit dem Handy in der Hand öffnete sie den Raum, der neben dem Schlafzimmer lag und Carsten Rischmöller als kleines Büro diente. Der Vorhang an der linken Wand vor der Tür zur Loggia war geschlossen. An der Wand hinter dem Schreibtisch fehlte das Bild. Als sie sich näherte, bemerkte sie, dass es auf dem Fußboden stand und gegen den Schreibtisch gelehnt war. Sie kannte das Motiv. Sie hatte es oft betrachtet, über den Schreibtisch gelegt, wenn er sich hinter ihr stehend abmühte. Sie hatte das Bild ausdauernd betrachtet und in allen Details in sich aufgenommen. Drei rote Mohnblumen in einer bauchigen Vase aus Ton, zwei auf die leinenfarbene Tischdecke gefallene Blütenblätter, gedeckte Farben. Es hatte etwas Trauriges, fand sie. Einmal hatte sie ihn beiläufig nach dem Bild gefragt, als er fertig war und sich eine Zigarette ansteckte. Es habe im Esszimmer seiner Mutter gehangen, die sich im Grabe umdrehen würde, wenn sie wüsste, dass er sie jetzt unter dem Bild fickte. Er hatte gelacht.

Der kleine Safe, der sich dahinter verborgen hatte, stand einen Spalt offen. Daher hatte er also das Geld für sie geholt. Wie unmodern für den Partner einer Sicherheitsfirma, Geld hinter einem Bild in einem Wandsafe aufzubewahren. Das gab es doch sonst eigentlich nur in alten Filmen. Vielleicht war der Safe bereits hier gewesen, als er die Wohnung mietete. Sie legte das Handy auf den Schreibtisch und öffnete die graue Safetür mit einem spitzen Finger.

Das war viel Geld. Das sah sie sofort. Es waren keine gebündelten Scheine, aber sie lagen in Stapeln, und angesichts der 20 50er, die sie eben gezählt hatte, die kaum einen Zentimeter hoch waren, mochte sie gar keine Berechnungen anstellen. Das war entschieden so viel, dass sie sich hinsetzen musste. Mechanisch griff sie nach ihrem Handy und steckte es bedächtig in die Hosentasche.

Langsam ging sie zurück ins Schlafzimmer. Carsten lag ein wenig schief im Bett, aber er hätte hier durchaus allein schlafen und im Schlaf einem Herzinfarkt erliegen können. Sie wusste, dass er manchmal in diesem kleinen Appartement übernachtete, wenn es im Büro später geworden war oder er geschäftlich ausging. Er wollte nicht noch einmal riskieren, wegen Alkohol seinen Führerschein loszuwerden. Seine Frau würde sich also nicht wundern, wenn er heute Abend, nach dem Geschäftstermin oder was immer er ihr vorgemacht hatte, nicht zurückkam. Julia betrachtete den toten Carsten, dessen schlaffer Penis bleich in den roten Schamhaaren lag. Sie hatten ja gerade erst angefangen, er war noch nicht gekommen. Er sah also nicht unbedingt aus, als habe er Sex gehabt.

Sie nahm ihr Glas, ging damit in die kleine Küche, spülte es ab und stellte es zurück in den Schrank. Die Plastikdose, in der Carsten seine »erste süße Belohnung« mitgebracht hatte, spülte sie ab. Er hatte nur diese Süßspeise essen können, zu seiner »zweiten süßen Belohnung« war er nicht mehr gekommen. Julia zog bedauernd den Mundwinkel nach oben, während sie die Dose sorgfältig mit dem Handtuch abtrocknete. Anschließend ging sie ins Bad und wischte die Dusche mit ihrem Handtuch trocken, nahm die Viagra-Schachtel vom Spiegelschrank und steckte beides in ihre große Ledertasche. Das Bad sah aus, wie das Bad eines kleinen Appartements eines Geschäftsmannes aussieht, der sich ab und zu zurückzieht: sauber, ohne Auffälligkeiten, keine Anzeichen für eine dauernd anwesende Frau.

Julia nahm ihre Ledertasche, warf einen bedauernden Blick auf Carsten Rischmöller und ging ins Büro. Vor dem geöffneten Safe überlegte sie einen Moment. Dann nahm sie das feuchte Handtuch aus der Ledertasche, griff damit in den Safe und schob vier Stapel 50er in ihre geöffnete linke Hand. Als sie den fünften nehmen wollte, entschloss sie sich, diesen zu teilen und die Hälfte zurückzulassen. Es wäre sicherlich besser, dass Geld im Safe läge, wenn er – von wem auch immer – geöffnet würde.

Julia warf noch einen Blick in das obere Fach, wofür sie sich ein bisschen strecken musste. Aber es war leer. So konnte sie sicher sein, nichts übersehen und liegen gelassen zu haben, was möglicherweise von Nutzen hätte sein können. Sie war überzeugt, dass Alexander sie irgendwann fragen würde, ob sie etwa Papiere habe liegen lassen. Der Gedanke an Alexander ließ sie noch einen Moment zögern. Er würde insistieren, alles von ihr wissen wollen, was Rischmöller gesagt habe. Alexander würde der Tod von Rischmöller nicht gefallen. Sie zuckte mit den Schultern. Wieso war sie sich da so sicher, vielleicht würde er sich freuen? Wäre befreit. Nein, Julia war sicher, dass Alexander sich über diesen Tod, der, ohne dass er davon wusste, einfach so stattgefunden hatte, nicht freuen würde.

Entschlossen schob sie die Safetür zu und drehte mit dem Handtuch an der antiquierten Nummernscheibe des Safes. Sie konnte nun nicht mehr an das restliche Geld. Aber sie konnte es auch nicht mehr zurücklegen. Der Gedanke an die Stapel in ihrer Ledertasche ließ ihr das Blut in die Wangen schießen. Jetzt konnte sie die Polizei auf keinen Fall mehr informieren. Ihr Herz klopfte.

Neben dem Bett stellte sie die Ledertasche noch einmal ab und ließ ihren Blick ein letztes Mal über den großen, fetten weißen Mann streifen. Sie nahm die leichte Daunendecke, die bei ihrer Ankunft bereits auf der Erde am Kopfende des Bettes gelegen hatte, und deckte ihn damit bis zum Bauchnabel zu. Sie drapierte die Daunendecke noch ein wenig, sodass das Arrangement in ihren Augen recht natürlich aussah. Abgesehen davon, dass ein toter Mensch nicht natürlich aussehen kann. Julia legte zögernd ihre schmale Hand auf die breite weiße Brust mit den roten Haaren und verabschiedete sich von Carsten Rischmöller: »Es tut mir leid«, sagte sie, nahm ihre Ledertasche und wandte sich ab. »Armes Schwein«, flüsterte sie in sich hinein.

Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Treppenhaus. Das Handy!, durchfuhr es sie, als sie auf den leeren Flur schaute. Schnell schloss sie die Tür und ging zurück an den Sessel, auf dem die Kleidung Rischmöllers lag. Sie griff in die Seitentasche des Sakkos, nahm das einfache Prepaid-Handy, das er für ihre Verabredungen benutzte, und steckte es in ihre andere Hosentasche.

Zum zweiten Mal öffnete sie die Appartementtür und nahm mit Erleichterung wahr, dass niemand zu sehen war. Sie eilte die Treppe vom zweiten Stock hinunter und war mit ihrem Verschwinden so sehr beschäftigt, dass sie sich keine weiteren Gedanken mehr machen wollte, wann und von wem Carsten Rischmöller, der dort oben lag, gefunden werden würde. Sie dachte daran, dass es nicht leicht werden würde, dieses Geld zu behalten. Damit sollte sie recht behalten.

2. Kapitel

Kriminalhauptkommissarin Johanna Kluge stand mit ihrem Kollegen Jakob Besser vor einem Mietshaus in der Roon­straße am Fuß des Westerbergs. Es war ein gut renovierter Altbau, bei dem man nicht an Materialien gespart hatte, ein schönes Haus mit Holzsprossenfenstern und erneuertem Sandsteinputz. Überhaupt gab es in dieser Gegend schöne Häuser. Sie selbst wohnte seit einem knappen halben Jahr in einer kleinen Wohnung nur drei Straßen weiter.

Eigentlich war ihre Wohnung ein bisschen zu teuer für eine Hauptkommissarin, dachte Johanna mit Blick auf die Fassade dieses Hauses. In diesem Haus hier zu wohnen, hätte sie sich auf keinen Fall leisten können. Aber sie hatte nicht viel Zeit gehabt im letzten Winter, um sich eine Wohnung zu suchen, und letztlich war die Miete für ihre Zweieinhalbzimmerwohnung erschwinglich. Sie hatte sonst keine großen Ausgaben.

Jakob Besser ließ seine Kollegin Johanna Kluge mit einer einladenden Bewegung durch die geöffnete Haustür eintreten. Der uniformierte Beamte, der zuerst eingetroffen war, hatte sie vor dem Haus erwartet. Der blau-silberne Streifenwagen stand halb auf dem Bürgersteig, davor parkte der Wagen der Kollegen der Kriminaltechnischen Untersuchung, und vor den Eingängen der anliegenden Häuser hatte sich bereits eine kleine Gruppe Menschen versammelt, die darauf warteten, etwas zu erfahren.

»Es ist nicht nur der Mob, der das Unheil sucht«, beugte sich Oberkommissar Jakob Besser zu seiner Kollegin herunter und drückte seine Brille auf die Nase.

Johanna stimmte ihm zwar zu, sagte das aber nicht, sondern stieg, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, in die zweite Etage. Sie wollte nicht von ihrem asketischen, wenn auch nicht durchtrainierten, so doch zähen und jüngeren Kollegen überholt werden.

»Nicht schlecht, Johanna«, lobte Jakob, als sie vor der Wohnungstür des Appartements standen, zu der sie gerufen worden waren.

»Eine Stunde strammes Wandern mit dem Hund meiner Nachbarin. Das bringt’s.« Johanna betrat das Appartement. Der Blick von der Etagentür fiel direkt über den kleinen quadratischen Flur durch die geöffnete Tür auf das riesige Kingsizebett.

»Das ist die Zweitwohnung eines betuchten Mannes«, wollte Johanna, am Türrahmen des Raumes stehend, ihrem Kollegen über die Schulter zuwerfen. Aber er war bereits neben ihr, und so schaute sie zu ihm auf.

»Meinst du?«

»Ja, eine Wohnung zum Vögeln.«

Jakob Besser sah seine Kollegin mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du kennst dich ja aus.«

»Ja das sieht man doch«, sagte Johanna und ließ ihn stehen. »Nicht, weil es Carsten Rischmöller ist, der da im Bett liegt.«

Vor einer halben Stunde war bei der Polizeiinspektion die Nachricht eingegangen, dass Carsten Rischmöller in seinem Stadtappartement tot aufgefunden worden sei. Johanna Kluge als zuständige Kommissarin war mit ihrem Kollegen Besser losgeschickt worden. Männliche Leiche, ungeklärte Todesursache. Eine portugiesischstämmige Putzfrau habe die Polizei informiert, sagte der Beamte, der im Flur stand. Sie sei noch hier.

Die junge Frau saß links vom Flur in der kleinen Küche auf einem von zwei Thonetstühlen an einem kleinen Tisch. Johanna Kluge stellte fest, dass sie sich eine Putzfrau anders vorgestellt hätte.

»Guten Tag. Johanna Kluge«, stellte sich Johanna vor und reichte der Frau die Hand. Sie war gut gelaunt und nicht verschreckt.

»Maria Sosas«, erwiderte die junge Frau, streckte ihr die Hand entgegen und blieb sitzen.

»Sie haben die Leiche gefunden?«, fragte Johanna freundlich.

»Ja, ich habe einen Schlüssel für die Wohnung und komme immer am nächsten Tag, wenn Herr Rischmöller mal eine Nacht hier bleibt.« Maria Sosas fuhr sich mit der Hand durch die Haare und wartete auf weitere Fragen.

Maria Sosas hatte keinen Akzent, und Johanna wunderte sich, warum der Beamte, der zuerst mit ihr gesprochen hatte, von einer »portugiesischen« Putzfrau geredet hatte. Ihr wäre das nicht als erste Beschreibung eingefallen. Diese junge Frau war attraktiv und selbstbewusst.

»Sind Sie Portugiesin?«, fragte Johanna Kluge spontan.

»Nein, ich bin Deutsche.« Maria Sosas legte den Kopf schräg und sah Johanna Kluge von unten an.

Johanna ärgerte sich über sich selbst. Als sie noch überlegte, wie sie den Verdacht, unbedacht fremdenfeindlich zu sein, ausräumen könnte, ohne es zu verschlimmern, sagte Maria Sosas: »Meine Eltern sind Portugiesen. Ich bin hier geboren und studiere Pädagogik.«

»Danke«, sagte Johanna Kluge und schluckte. »Können Sie sich bitte noch einen Moment gedulden. Ich komme gleich wieder zu Ihnen.«

Sie wollte sich erst einen Eindruck vom toten Carsten Rischmöller machen. Ihr war der Name Rischmöller bis vor einer halben Stunde kein Begriff gewesen, aber Jakob Besser hatte sie auf der zehnminütigen Fahrt von der Kommenderiestraße hierher ins Bild gesetzt. Der Name Rischmöller an sich sei nicht so bekannt in Osnabrück, aber er sei der Chef von Facility Management Nordwest.

»Was ist das denn?«, wollte Johanna Kluge wissen, »Facility Management?«

»Das ist so eine Art gehobene Hausmeisterei.«

»Und damit kann man schwerreich werden?« Sie dachte an den Hausmeister des Gymnasiums, das ihr Sohn Stefan bis zum letzten Jahr besucht hatte, und den technischen Assistenten in der Polizeiinspektion, der in seinem grauen Kittel so zupackend und kompetent aussah.

»Wenn man außer Immobilien makeln, Gebäudemanagement und Serviceleistungen aller Gewerke, vor allem Putzkolonnen, regiert und zudem noch mit einem Sicherheitsservice aufwarten kann, dann kann man das.« Jakob erhob demonstrativ seinen Zeigefinger, eine Angewohnheit, seine belehrenden Auslassungen zu unterstreichen.

»Du Schlaumeier«, sagte Johanna und grinste ihn an. Jakob Besser war erst seit zweieinhalb Jahren bei der Kriminalpolizei Osnabrück, »Fachkommissariat 1 Straftaten gegen Leben und Gesundheit«. Sie mochte den jungen Kollegen, den andere manchmal für blasiert hielten. Jakob Besser wusste allerhand, was sie immer wieder aufs Neue verblüffte. Dass er aber auch über die Zustände in der Stadt informiert war, erstaunte sie wirklich.

»Ich bin kein Alleswisser, ich bin nur ein Allesbehalter«, entschuldigte sich Jakob Besser. Wenn er irgendwo etwas aufschnappte oder las, speicherte er es im Gehirn ab und konnte es bei irgendeiner Gelegenheit sofort abrufen.

Johanna hatte »Facility Management« schon einmal irgendwo gelesen, sich aber bislang keine Gedanken gemacht, was das sei.

»Hat Facility nicht irgendwie was zu tun mit ›leichter‹ machen?«, hatte sie Jakob Besser gefragt, als sie hinter den Kollegen in der Roonstraße parkte und ausstieg.

Das verwechsle sie mit Facilitation. Das bedeute in der Tat Vereinfachung und komme aus der Organisationsentwicklung, dozierte Jakob Besser über das Dach des Wagens weiter.

»Gut, dass ich dich habe«, hatte Johanna Kluge das Gespräch abgeschlossen, ohne Bedauern, dass sie in der modernen Welt der Geschäfte und der angloamerikanischen Begriffe nicht so zu Hause war.

Und nun lag er hier, der Chef des großen Facility-Unternehmens, und rührte sich nicht mehr. Sie betrachtete den halb zugedeckten Mann, weiß und übergewichtig. Sie schätzte ihn auf Ende 40, Anfang 50. Während sie sich ihm näherte, fragte sie sich, warum Menschen in diesem Alter so oft die Formen verloren. Diese Schwere musste doch das Leben belasten. Wie schwer musste ihnen jeder Tag werden, die Schritte, das Atmen. Sie fasste sich an ihren nicht vorhandenen Bauch, froh, dass – obwohl sie wahrscheinlich höchstens fünf bis sechs Jahre jünger war als der Mann – ihr Leben jedenfalls nicht durch zu viel Gewicht beschwert wurde.

Das Leben des Carsten Rischmöller war jetzt leichter geworden. Die Position des Körpers zeigte, dass er alles fallengelassen hatte. Der linke Arm hing über die Bettkante, der rechte war leicht angewinkelt, die Hand lag unter der Bettdecke. Sein Mund war halb geöffnet, und die Lider verschlossen die Augen nicht.

»Sie haben ihn noch nicht berührt?«, fragte sie Meyer von der KTU. Klaus Meyer war mit dem Kollegen im Streifenwagen gekommen, hatte aber auf Johanna und Jakob gewartet. Johanna arbeitete gern mit Meyer zusammen, er verfügte über Sarkasmus und Selbstironie und verstand deshalb ihre eigenen Anwandlungen.

»Nein.« Nachdem er die Körperfunktionen überprüft habe, was angesichts des wächsernen Zustandes nicht nötig zu sein schien, habe er gewartet. Dass es sich um Rischmöller handelte, hatte Meyer seinem Personalausweis entnommen, den er aus dem Sakko von Rischmöller gefischt hatte. Dr. Schmitthals sei übrigens per Zufall in der Stadt und wolle kurz herkommen, um ihn in Augenschein zu nehmen.

»Ach je«, seufzte Johanna und schaute auf Jakob Besser, der die ganze Zeit hinter ihr gestanden hatte.

»Du wirst es überleben, Frau Kollegin«, nahm Jakob die Anrede vorweg, die der zuständige Gerichtsmediziner von der Universitätsklinik Hannover für Hauptkommissarin Kluge hatte.

»Guten Morgen, Frau Kollegin«, echote es im gleichen Moment von der Tür. Dr. Schmitthals, knappe 1,58 groß, stand mit seinem Koffer in der Hand an der Laibung. »Das ist fein, dass sich das so gut trifft. Ich war über Nacht in der Stadt. Es gibt ja zurzeit diesen Literaturkongress, an dem meine Freundin teilnimmt.« Schmitthals nutzte jede Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass seine Lebensgefährtin an der Universität war, oder – wie Jakob meinte – mitzuteilen, dass er überhaupt eine Freundin habe.

Er erwartete keine Antwort. Gemeinsam mit Johanna Kluge näherte er sich der großen Leiche und sah sie überraschend bedauernd an. »Auch die großen Menschen müssen sterben, nicht wahr?« Der Blick, den er Johanna Kluge zuwarf, war eher spöttisch.

»Wann ist er denn gestorben, was meinen Sie?«

Schmitthals warf die Decke zurück und legte Carsten Rischmöller frei. Johanna überkam ein Gefühl der Scham, als sie den massigen Körper in seiner Machtlosigkeit den Blicken freigegeben sah. Er hatte dichte, überraschend rote Schamhaare.

Schmitthals sagte nichts, sondern nahm die Temperatur und schaute auf seine Uhr. Wahrscheinlich rechnete er. »Mehr als zwölf Stunden mindestens. Bei der Raumtemperatur, es ist nicht besonders warm für Juni. Also ich denke, er hat sein Leben gestern Abend zwischen 19 und 22 Uhr ausgehaucht.« Er blickte Johanna Kluge an: »Ich muss mich korrigieren: Wahrscheinlich hat er geröchelt.«

Johanna überhörte seine Bemerkung und betrachtete die halb geöffneten Augen. »19 bis 22 Uhr gestern Abend? Was macht ein Mann so früh allein im Bett?«

»Geschätzte Kollegin, dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Wenn ich um diese Zeit im Bett bin, dann nicht allein.« Dr. Schmitthals grinste verschmitzt, sodass man nicht wissen konnte, ob er stolz war oder sich über sich selbst lustig machte.

»Das ist es ja eben.«

Johanna Kluge blieb neben Dr. Schmitthals stehen, der den Körper flüchtig untersuchte. Fremdeinwirkung konnte er auf den ersten Blick nicht feststellen, und Johannas Frage, ob es sich möglicherweise um Herzversagen handeln könne, konnte er nicht definitiv beantworten, schloss die Möglichkeit aber auf keinen Fall aus. Sie verständigten sich darauf, auf jeden Fall eine Obduktion anzustreben und die Staatsanwältin Cora Schönhaus zu informieren, damit sie alles in die Wege leiten könne. Dr. Schmitthals blieb bei dem Leichnam, während Johanna Kluge zu Maria Sosas in die Küche zurückging.

»Hat Herr Rischmöller in dieser Wohnung Frauen empfangen?«

Maria Sosas nickte. »Ja.«

Johanna Kluge war verblüfft über die entschiedene Antwort und schwieg einen Moment. Sie unterdrückte die Frage, die sie anflog: »War er denn auch mal allein hier?«

»Das weiß ich nicht.« Das Lächeln, mit dem die junge Frau ihre Antwort begleitete, und die langsame, fast laszive überdeutliche Aussprache irritierten Johanna. Mit einem kurzen Blick zu Jakob Besser, der seine 1,90 an den Türrahmen lehnte und am Bügel seiner Brille kaute, stellte sie ihre Frage doch: »Haben Sie denn auch schon mal hier geschlafen?«

Maria Sosas zuckte unmerklich zusammen und wurde rot. Ihre Souveränität schmolz zusammen, und Johanna sah, dass sie im Konflikt war, ob sie gegen die anmaßende Frechheit der Frage opponieren oder einfach erzählen sollte, was sie über Carsten Rischmöller und seine Frauengeschichten wusste. Wenn sie schon nicht wusste, ob er auch mal allein hier nächtigte.

»Es geht Sie eigentlich nichts an«, entschied sich die junge Frau, Johannas Frage nicht krummzunehmen. »Aber wenn Sie es wissen wollen: Ich habe hier nie geschlafen. Deshalb habe ich ja auch den Schlüssel.«

Johanna Kluge schwieg und wartete auf weitere Erklärungen, die mit Sicherheit kommen würden. Maria Sosas schien stolz zu sein auf ihr Verhältnis zu Rischmöller. Daher würde sie den Grund ihres Stolzes schon mitteilen.

»Er hat mich angegraben vor fast zwei Jahren, aber mein Nein hat ihm imponiert. Er fand das ›sauber‹.« Maria stockte.

»Sauber?«

»Ja, ordentlich. Oder wie soll ich das benennen? Züchtig.«

Johanna Kluge war einen Moment unschlüssig, ob sie das Recht habe, weiterzufragen, und ob es überhaupt zur Sache gehörte. »Wozu haben Sie denn Nein gesagt?«

»Zu seinem Angebot, für eine anständige Summe regelmäßig mit ihm ins Bett zu gehen.«

Deshalb habe er sie engagiert für den Dienst, die Wohnung, wenn er sie benutzte, sauber zu machen und ihr jedes Mal ein wirklich ordentliches Trinkgeld hinterlegt. »Carsten Rischmöller stand auf Sauberkeit.«

Johanna Kluge dachte an das Unternehmen Facility Management und Jakobs Erläuterungen. Aber diese Art von Sauberkeit, die Putzkolonnen in Büroräumen hinterlassen, war nicht die Sauberkeit, die Maria Sosas meinte.

»Halten Sie es denn für möglich, dass er eine …«, Johanna fuhr der Gedanke durch den Kopf, ob sie die junge Frau, die so offen war, beleidigen könnte, »in diesem Sinne nicht so saubere Freundin hatte, mit der er sich hier traf?«

»Ich denke, das ist die Ambivalenz solcher Männer wie Rischmöller. Sie haben das Ideal einer hehren, sauberen Frau, aber die geht ja nicht mit Männern wie ihnen ins Bett.« Maria Sosas lachte.

»Sie meinen also, wenn eine Frau mit ihm im Bett war, dann nicht ohne Gegenleistung?«

Maria Sosas zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall nicht die jungen, auf die er stand.«

Johanna Kluge schaute auf Jakob Besser, der immer noch im Türrahmen stehend Maria Sosas versonnen betrachtete.

»Haben Sie denn den Eindruck, Rischmöller war hier gestern mit einer Frau zusammen oder war er allein?«

Johanna Kluge forderte Maria Sosas auf, die Küche genau zu betrachten, und beobachtete sie, wie sie die Schränke kurz inspizierte. Anschließend begleitete sie sie ins Schlafzimmer, in dem Schmitthals gerade seinen Koffer schloss. Maria Sosas warf auch einen Blick in das kleine angrenzende Büro. Sie trat links neben den Schreibtisch und warf einen Blick hinter den Vorhang vor einer bodentiefen Tür, die auf die Loggia führte.

»Es sieht alles normal aus. Aber ich kann das nicht wirklich beurteilen. Es sieht aus, als wäre er allein gewesen.«

Jakob Besser begleitete Maria Sosas hinunter und erläuterte ihr die Formalitäten, die jetzt möglicherweise auf sie zukommen würden. Johanna horchte den Stimmen der beiden nach, wie sie die Treppe hinunterstiegen.

»Das hat ja lange gedauert«, empfing Johanna Kluge ihren Kollegen auf dem Flur stehend, als er nach einer Weile wieder die Wohnung betrat.

»Ach, findest du?«, fragte Jakob Besser von oben auf sie herabsehend. Sie traten gemeinsam einen Schritt zurück in die Küche, um die Männer mit dem Leichensack vorbeizulassen.

»Auch die Kaiserkronen wird er nicht verschonen«, summte Johanna Kluge tonlos und sah der Leiche des großen Carsten Rischmöller hinterher, die in diesem engen Kasten klemmte. »Das himmelfarbne Ehrenpreis, die Tulipanen gelb und weiß.«

»Wie bitte?«, fragte Jakob.

»Was ist?«, fragte Johanna zurück.

»Ich dachte, du hättest was gesagt.«

Johanna Kluge schüttelte den Kopf und folgte ihrem Kollegen, der ihr den Vortritt ließ, ins Treppenhaus. Anschließend versiegelte er die Wohnung, während sie bereits die Treppe hinabstieg.

3. Kapitel

Es war kurz nach halb zehn, als Johanna Kluge mit Jakob Besser über die Schnellstraße Richtung Bramsche fuhr. Die Straße führte im Nordwesten schnell aus der Stadt und in die weite Ebene. Ihr Zuständigkeitsbereich war groß, reichte vom Teutoburger Wald im Süden und dem Grönegau im Osten bis ins Artland und die Ebene des alten Moores im Norden.

Der Morgen war hell und freundlich, ein Frühlingsmorgen im späten Frühling. In einer Woche war bereits Sommeranfang. Johanna Kluge saß auf dem Beifahrersitz und schaute auf die Felder, die in saftigem Grün standen. Sie liebte den Frühling, wenn die ersten Triebe sprossen und im Verlauf der Jahreszeit zu diesem saftigen Grün wurden, dass sie jedes Jahr wieder die pure Lebenslust überkam.

»Kein schöner Tag, einer Frau mitzuteilen, dass ihr Mann gestorben ist«, meinte sie.

»Sollte es angemessenerweise regnen?«, fragte Jakob Besser, der sie manchmal auf eine Weise zu verstehen schien und sie gleichzeitig dafür auf den Arm nahm.

»Nein, ich habe jedes Mal Beklemmungen, wenn ich eine schlechte Nachricht überbringen muss«, meinte Johanna und schaute wieder aus dem Fenster: »Es ist doch wirklich ein schönes Land, das Osnabrücker Land«, schloss sie die Unterhaltung.

*

Sie hielten vor einem großen Artländer Hof. Der Geschossgiebel war mächtig und dominierte die alte Hofanlage, das Gefache war, typisch für die Höfe des Artlands, mit rotem Klinker ausgebaut, das zentrale, breite und hohe Tor war in einem satten Grün gestrichen. Die Stallgebäude auf der rechten Seite schienen als Garage zu dienen. Vor einem geschlossenen Tor stand ein dunkelgrüner Mercedes-Combi. Ein Rolltor stand offen und gab den Blick frei auf einen großen Chevrolet-SUV und einen Geländewagen, dessen Marke Johanna von Weitem nicht erkannte.

»Ein Range Rover«, stellte Jakob Besser fest, der ihrem Blick gefolgt war.

Johanna war wieder einmal erstaunt, dass ihr Kollege neben seiner klassischen Bildung, über die er aus einem Studium vor der Polizeiausbildung verfügte, auch Dinge wusste, die ihrer Ansicht nach eigentlich kein Mensch wissen musste.

»War dieser Carsten Rischmöller eigentlich bäuerlicher Herkunft?«, richtete Jakob Besser die Frage eher an sich selbst als an Johanna Kluge, während er seine Leinentasche aus dem Fond des Wagens nahm.

»Der Hof gehört wahrscheinlich seiner Frau oder deren Familie«, meinte Johanna zu ihm und warf einen Blick auf die auf dem zentralen Balken des Geschossgiebels eingeritzte Inschrift: »Seelich der Mensch der nicht wandelt nach dem Rathe der Gottlosen und nicht steht auf dem Wege der Sünder – an den hat der Herr sein Wohlgefallen.« 1782, so stand im Eichenholzbogen des Dielentores, hatte Johann Ostermann diesen Hof gebaut. »Gott beschütze dieses Haus – Anno 1988 – Iris und Klaus Ostermann«, so konnte man auf der anderen Seite lesen. Dieser alte Artländer Hof war offenbar Ende der 80er-Jahre restauriert worden. Der Name Rischmöller schien zu der Zeit jedenfalls noch nicht verewigungswürdig gewesen zu sein.

Jakob schob seinen langen Körper aus dem Wagen. Sie hatten auf dem weiten, von Gebäuden umschlossenen Hof vor dem Giebel geparkt, der von der Straße über eine breite Zufahrt frei zugänglich war. Das Schmucktor zur Straße stand offen. Johanna bemerkte jedoch, dass es von diesem repräsentativen Hof aus keinen Zugang zum Gelände gab. In der Verlängerung der ehemaligen Stallungen waren hohe Hecken, hinter denen wahrscheinlich Zäune standen. Sie hätte sich auch gewundert, wenn der Chef eines Facility Unternehmens, zu dem ja – wie sie gelernt hatte – auch eine große Abteilung Sicherheitsdienste oder besser Security gehörte, ohne Barrieren gegen die Außenwelt gelebt hätte.

Als sie sich dem großen Dielentor näherten, bemerkten sie die Videokamera, die an der linken Ecke installiert war. Johanna hielt Jakob davon ab, in die Kamera zu winken, indem sie auf die eichene Eingangstür wies, die links vom großen Tor im rechtwinklig angrenzenden Quergebäude lag. Hier war eine Klingel angebracht, ohne Namen.

Die Tür öffnete sich, bevor sie die Klingel betätigen konnten. Eine große schlanke Frau mittleren Alters stand im Türrahmen. Mit ihren blonden Haaren, die sie in einem Knoten zusammengesteckt hatte, wirkte sie weder hausbacken noch provinziell, sondern eher hochnäsig.

Johanna fühlte im gleichen Moment, als sie die hochgewachsene Frau in ihrem Kleid im Landhausstil sah, dass sie voreingenommen war. Andere hätten sie selbstbewusst genannt, nicht hochnäsig, korrigierte Johanna Kluge ihre Gedanken und wappnete sich im gleichen Moment für ihre schwere Aufgabe.

»Frau Rischmöller?« Es war keine Frage, dass Iris Rischmöller vor ihnen stand und kein Hausmädchen.

»Ostermann-Rischmöller«, antwortete sie knapp. »Aber Ostermann reicht.«

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Ostermann«, sagte Johanna Kluge, wies sich aus und stellte sich vor. »Können wir bitte einen Moment hereinkommen?«

»Ja bitte«, antwortete die hagere Frau zögernd und fragend. Ihre Stimme wirkte weicher, als ihr Eindruck vermittelte.

Sie hat Angst vor einer schlechten Nachricht, stellte Johanna fest. Sie waren zu zweit in ihr Haus eingedrungen an einem lustvollen Frühlingstag. Auch wenn sie in ihrem Zivilfahrzeug nicht aussahen wie die Boten einer schwarzen Botschaft, schien Iris Ostermann-Rischmöller eine zu erwarten. Sie hatte das möglicherweise schon einmal erlebt, wurde Johanna bewusst, und sie überkam Mitleid mit dieser Frau.

Sie weinte nicht, als sie ihr mitteilten, ihr Mann sei tot aufgefunden worden. Sie wirkte ein wenig wie eingefroren, schaute in ihrer Größe über Johanna hinweg in eine unbestimmte Ferne, als erinnere sie sich. Vielleicht holt sie sich in Erinnerung, dass man nicht daran stirbt, dachte Johanna, während sie schweigend wartete. Die Frau fing ihren eigenen Blick wieder ein, und eine abwehrende Skepsis machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie schien zu wissen, was auf sie zukam, und wappnete sich.

»Kommen Sie weiter«, sagte sie unvermittelt, wandte ihnen den Rücken zu und ging vor ihnen her durch einen breiten Flur.

»Was ist los?«, polterte ein großer rotgesichtiger Mann, der durch eine Tür, hinter der offenbar ein Treppenhaus lag, in die Diele trat.

»Carsten ist tot«, sagte Iris Ostermann-Rischmöller, und ohne auf den Mann zu achten, ging sie weiter vor ihren morgendlichen Besuchern her.

Johanna Kluge und Jakob Besser folgten ihr in ein riesiges Wohnzimmer, das nach hinten gelegen durch hohe Fenster, die vom Boden bis zur Fette reichten, in einen weitläufigen Garten wies.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte die etwas kantige Frau und wies mit der Hand auf zwei massige Ledersessel, die zu einer Sitzgruppe mit zwei Dreiersofas um einen niedrigen Eichentisch gruppiert waren. Gegenüber stand eine ausladende Eichenanrichte, die eigentlich in ein Esszimmer gehört hätte. Die rechte Wand wurde dominiert von einem offenen Kamin, neben dem bis zur Decke allerlei Geweihe aufgehängt waren. Iris Ostermann bemerkte, dass Jakob Besser sich umsah und sein Blick auf der gegenüberliegenden Schmalseite des Raumes hängenblieb, die ebenfalls mit Jagdtrophäen bestückt war.

»Die sind von meinem Schwiegervater«, sagte sie kurz, »Carsten hat nicht gejagt.«

Ein Schnauben von der Tür veranlasste Johanna, sich umzudrehen.

»Bernhard«, sagte die Frau streng zu dem Mann, der ihnen gefolgt war. »Das sind Hauptkommissarin Kluge und …«

»Besser«, ergänzte Jakob und wandte sich ihr zu, »Oberkommissar.«

»Mein Schwager.« Iris Ostermann zeigte mit der Hand zur Tür. Sie selbst lehnte sich an die Eichenanrichte. »Der Bruder meines verstorbenen ersten Mannes Klaus.«

»Ostermann«, sagte der Schwager, ging breitbeinig an Besser vorbei zur Sitzgruppe und ließ sich auf eines der dicken Ledersofas fallen. »Ostermann in der sechsten Generation.«

Bernhard Ostermann schnaufte ein wenig, während er neugierig auf Kluge und Besser schaute. Seine Schwägerin Iris schloss eine Sekunde die Augen und bewegte sich dann, als habe sie nachgegeben, in Richtung ihres Schwagers. Sie setzte sich auf das andere Sofa und wiederholte ihre Einladung an die Kommissare, Platz zu nehmen.

»Warum denn Polizei?«, fragte Bernhard Ostermann und keuchte ein wenig.

Johanna Kluge erläuterte an Iris Ostermann gewandt, dass sie in einem Fall von ungeklärter Todesursache gesetzlich verpflichtet seien und routinemäßig ermitteln müssten. Sie setzte sich in den Sessel, der der Frau näher stand.

»Ihr Mann wurde in seinem Appartement in der Stadt heute Morgen von der Putzhilfe gefunden.«

»In seinem Appartement«, wiederholte die Frau.

»Blieb er dort häufiger?«, fragte Johanna Kluge und hielt ihren Blick auf die Frau gerichtet. Jakob Besser saß auf der Vorderkante des großen Ledersessels, was seine angezogenen Beine wie Weberknechtbeine aussehen ließ. Er hatte sein Notizbuch in die Hand genommen und betrachtete den schnaufenden Bernhard Ostermann, der sich zurücklehnte und beide Arme ausladend über die Rückenlehne des Sofas legte. Zwischen seinen geöffneten Beinen lag sein Bauch.

»Fast täglich«, antwortete Ostermann.

Iris Ostermann spitzte den Mund und schüttelte unmerklich den Kopf. »Häufiger, vor allem, wenn im Geschäft mehr zu tun war, manchmal zwei bis drei Mal die Woche. Beim Quartalsabschluss manchmal täglich«, korrigierte sie in Richtung ihres Schwagers, der ein schnaufendes Geräusch von sich gab, als zöge er die Nase hoch.

»Hatte er Herzprobleme?«, fragte Jakob Besser.

Bernhard Ostermann auf dem Sofa gab wieder ein undefinierbares Geräusch von sich.

»Nein«, sagte Iris Ostermann, als wolle sie ihm eine mögliche Antwort vorwegnehmen. »Er hat aber Arteriosklerose.«

»Nahm er irgendwelche Medikamente?«

Iris Ostermann schüttelte langsam den Kopf: »ASS, soweit ich weiß, und einen Blutdrucksenker.« Sie schien zu überlegen: »Sonst nichts.« Sie bestätigte das mit einem weiteren langsamen Kopfnicken.

Johanna Kluge warf einen Blick auf Bernhard Ostermann und war einen Moment unschlüssig, ob sie angesichts des schnaufenden Schwagers die indiskrete Frage nach Frauenbeziehungen stellen sollte. Doch Iris Ostermann sah eigentlich nicht so aus, als brauche sie Unterstützung gegen ihren Schwager.

»Haben Sie auch ab und zu in der Wohnung in Osnabrück geschlafen«, fragte Jakob Besser in ihre Überlegungen hinein.

Iris Ostermann verzog den Mund zu einem leicht angewiderten Nein, der Schwager stieß ein neues Schnaufen aus.

»Mein Mann brauchte sein Rückzugsgebiet«, erläuterte sie. »Er hat viel gearbeitet und hatte es sich verdient, auch mal allein zu sein …«

»Allein zu sein …«, schnaubte Bernhard Ostermann.

»Allein zu sein und zu tun, was ihm beliebte«, fuhr seine Schwägerin energisch dazwischen.

Johanna Kluge sah auf den rotgesichtigen Ostermann und stellte sich vor, wie der ebenso große und schwergewichtige Rischmöller versucht hatte, gegen den angestammten Landbesitzer in der sechsten Generation anzuleben. Ob Ostermann mit der gleichen Selbstverständlichkeit am Leben des Ehepaars teilgenommen hatte? Es ist nicht immer nur die Lust an Frauenbekanntschaften, die manche Männer aus dem Haus treibt. Oder auch die Frauen. Ihr schoss der Gedanke an ihre eigene Ehe und ihren Mann Paul durch den Kopf. Sie waren letztlich auch nicht getrennt wegen seiner kurzfristigen Liebschaft. Das hatte nur den Ausschlag gegeben. Im Grunde hatten sie sich auseinandergelebt.

»Wann wollte er denn zurückkommen?«, fragte Johanna und unterbrach ihre inneren Betrachtungen über den Rückzug in und aus der Ehe.

»Heute Abend«, antwortete Iris Ostermann. »Wir haben gestern Abend etwa um sechs zusammen zu Abend gegessen. Mein Mann ist anschließend noch einmal in die Stadt zu einem Termin mit Frank Huber. Frank leitet die unserem Unternehmen angeschlossene Security GmbH.« Anschließend habe er nicht mehr zurückfahren wollen. Deshalb habe sie ihn auch nicht vermisst. »Was geschieht denn nun?«

»Wir müssen feststellen, wie Ihr Mann ums Leben gekommen ist.« Iris Ostermann reagierte darauf mit einem kurzen Zucken des linken Unterlids. »Es wird möglicherweise eine Obduktion vorgenommen werden müssen. Eine Maßnahme, die wir routinemäßig machen.«

»Wo ist er?«, fragte Iris Ostermann.

Johanna Kluge erklärte das Prozedere. Er sei in der MHH Oldenburg, einer Außenstelle der Universitätsklinik Hannover. Sie könne jetzt noch nicht sagen, wie lange es dauern würde. Bis die Ermittlungen abgeschlossen seien, könnte sie ihn nicht sehen.

»Gut«, nickte Iris Ostermann und schwieg.

Jakob gab das Signal zum Aufbruch, indem er sein Notizbuch zuklappte. Iris Ostermann erhob sich unmittelbar und ging vor ihren morgendlichen Besuchern mit schnellen Schritten zur Eingangstür. Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie die beiden und schloss die Tür.

4. Kapitel

Er spürte, dass etwas aus dem Gleichgewicht gekommen war. Das Geräusch, das in den mit hellen Marmorimitatfliesen belegten Fluren widerhallte, war anders, als es an einem normalen Werktag sein sollte. Der gleichmäßige Geräuschpegel, der den Alltag in der Zentrale der Facility Management Nordwest GmbH bestimmte, wurde durch unbekannte Geräusche unterbrochen. Er schaute auf die Uhr an seinem Rechner. Es war zehn nach neun, normalerweise war um diese Zeit alles im Lot, gleichförmig verlief die Arbeit, bedeutungslos war der Ton des Gebäudes. Die Letzten, die in der Verwaltung die Gleitzeit bis neun Uhr nutzten, waren eingetroffen und hatten ihre Kollegen begrüßt.

War es einer der Spätankömmlinge oder ging das Rumoren von einem bestimmten Flur aus? So wie man nie sagen kann, wo ein Gerücht entsteht und wer es in Umlauf gebracht hat, wenn es in Fahrt gekommen war, so konnte später niemand sagen, wer die Nachricht brachte, dass Carsten Rischmöller, der Chef der Facility Management, tot aufgefunden worden war.

Er öffnete die Tür seines geräumigen Einzelbüros und blieb im Türrahmen stehen. An den Rahmen gelehnt hörte er, wie es ein Controller aus dem Großraumbüro auf der anderen Seite des Flurs seinem Nachbarn mitteilte. Sie schauten zu ihm herüber, als sie ihn in der geöffneten Tür wahrnahmen.

»Er soll einen Herzinfarkt bekommen haben.«

Sein Nachbar, ein älterer Personalverantwortlicher, der schon unter Klaus Ostermann im Unternehmen gewesen war, nickte ihm zu. »Es ist wohl in seiner Stadtwohnung passiert.«

»Ach, ich wusste gar nicht, dass er auch eine Stadtwohnung hat«, entfuhr es einem dritten Kollegen, der die Neuigkeit gerade von einer anderen Abteilung überbrachte und sich zu den beiden gesellte.

Alexander Pflüger wusste, dass Carsten Rischmöller eine Stadtwohnung hatte. Er wusste überhaupt eine Menge über Carsten Rischmöller.

In den Türrahmen gelehnt blieb er regungslos stehen und schloss für einen Moment die Augen. Nun war Carsten Rischmöller tot. Einfach so. Er starrte wieder auf die Gruppe von Männern, die sich über die Möglichkeiten austauschten, im Alter von 48 Jahren ums Leben zu kommen. Sie sahen ihn misstrauisch an, weil er sich nicht rührte, aber auch nichts zur Aufklärung der Angelegenheit beitragen wollte.

»Sie kennen doch seine Frau?«, meinte der eine zu ihm herüber.

Alexander Pflüger nickte mühsam und setzte, weil sie es erwarteten, ein bedauerndes und mitfühlendes Gesicht auf. Mit einem Nicken entschuldigte er sich und schloss die Tür.

Carsten Rischmöller war tot. Er konnte es nicht fassen. Ohne Vorwarnung und irgendwelche Anzeichen war das Zentrum seines Lebens entfernt worden. Übelkeit stieg ihm hoch, und er legte die Hand vor den Mund. Das war ihm seit Jahren nicht mehr geschehen, dass ihm etwas derart auf den Magen schlug. Nicht, seit diese ungeheuerlichen Verdächtigungen gegen Christopher aufkamen. Er eilte in eine winzige Teeküche, die seinem Büro mit direktem Zugang unmittelbar angeschlossen war, hielt den Kopf über den Ausguss und öffnete das kalte Wasser.

Der kalte Wasserstrahl in seinem Nacken würde ihm guttun, sagte er sich. Er legte die Hand in den feuchten Nacken und starrte an die Decke des engen Raums. Der Kragen des weißen Hemdes war feucht geworden. Er rollte ein Handtuch mit dem Schriftzug Facility Nordwest zusammen und legte es sich in den Nacken.

Das Telefon klingelte. Langsam drehte er sich um, ging zurück zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

»Rischmöller hatte einen Herzinfarkt.« Es war Frank Huber, der Miteigentümer, Chef der Security. »Tot. Ham Sie schon gehört?«

»Ja«, bestätigte Alexander Pflüger. »Ich bin ganz …«

»Kommen Sie bitte sofort rüber, wir müssen entscheiden, wie wir die nächsten Tage angehen.« Damit legte Huber auf.

Alexander Pflüger sah aus dem Fenster seines Büros, das er seit einem Jahr besaß. Sein steiler Aufstieg als junger Volkswirt mit zusätzlichem juristischem Ersten Staatsexamen in diesem Unternehmen würde mit dem Tod von Rischmöller vorbei sein. Es gab keinen Grund mehr für ihn, weiter zu bleiben. Frank Huber traute ihm ohnehin nicht, fand ihn mit seinen 32 Jahren viel zu jung und hatte ihn, seit er in der Firma war, argwöhnisch beäugt. Im Grunde zu Recht, dachte er. Er schüttelte den Gedanken an Huber mit einer unwilligen Kopfbewegung ab. Huber war ungehobelt, aber das war Alexander Pflüger völlig egal. Rischmöller war es, dessentwegen er in dieser Firma arbeitete. Huber war ein aggressiver Idiot, aber im Grunde war ihm das einerlei. Huber interessierte ihn einfach nicht.

Deshalb gab es für ihn auch keinen Grund zur Eile oder Unruhe. Er starrte weiter aus dem Fenster auf die anderen Gebäude in dem Gewerbeviertel hinter dem Hauptbahnhof, das so zentral lag, dass, wer wollte, zu Fuß in die Stadt gehen konnte. Pflüger wartete darauf, dass sich ein eindeutiges Empfinden in ihm breitmachte, was den Tod von Rischmöller anging. Aber er fühlte nichts, alles war diffus, als habe er seine Orientierung verloren.

Er kannte die Stadtwohnung. Einmal hatte er Rischmöller zu dieser Wohnung am Rand des Westerbergs gefahren und ihn vor der Tür absetzen wollen. Aber Rischmöller hatte ihn unvermittelt aufgefordert, mit raufzukommen, und er war auf ein Bier mit hochgegangen. Rischmöller ging es damals schlecht, er hatte einen Infekt und wollte an diesem Abend deshalb nicht mehr nach Hause. Alexander Pflüger vermutete jedoch, er habe ihn absichtlich mitgenommen, damit Pflüger bei irgendeiner Gelegenheit bei Iris Ostermann bezeugen konnte, dass ihr Mann die Wohnung wirklich für sich selbst nutzte. Er hatte ihn fast ins Vertrauen gezogen, war jovial und ein bisschen anzüglich und schien sich nur schwer zurückhalten zu können, ihm aus seinem Leben zu erzählen. Alexander Pflüger hatte sich ein bisschen gefürchtet, dass Rischmöller zu privat werden würde. Er war sich nach diesem Abend ziemlich sicher, dass Rischmöller ihn wirklich mochte. Von einer Frau, mit der er sich in der Wohnung traf, hatte er ihm nicht direkt erzählt. Aber Alexander wusste ohnehin alles, auch ohne dass er es ihm erzählte. Alexander Pflüger war auch über die privaten Termine des Carsten Rischmöller genau im Bilde. Am selben Nachmittag hatte ihn Julia angerufen und gefragt, ob sie nicht etwas zusammen unternehmen könnten, Rischmöller sei krank und habe ihr abgesagt. Damals hatte ihm all dieses Wissen, das er hatte, eine gewisse Genugtuung verschafft.

Er sollte Julia anrufen. Warum dachte er jetzt ausgerechnet an sie? Aber wenn jemand mehr wusste, war sie es. Sie war wahrscheinlich gestern mit ihm zusammen gewesen. Immer, wenn Rischmöller um kurz vor sieben, so wie gestern, für zehn Minuten zu einem späten Termin zu Huber kam, hatte er hinterher eine Verabredung mit Julia. Huber hatte einmal in Pflügers Anwesenheit gefeixt, warum Rischmöller nicht entspannt mit seiner kleinen Studinutte poppen könne, ohne so viel Theater zu machen und an seine Alte zu denken.

Aber Pflüger sah keinen Sinn darin, Julia anzurufen. Im Grunde gab es für nichts mehr einen Grund zur Beschleunigung. Es hatte keine Bedeutung mehr. Er legte das Handtuch über seinen Schreibtischstuhl und ging zur Konferenz in das Büro von Huber.

5. Kapitel