Guilty - Doppelte Rache - Lisa Jackson - E-Book

Guilty - Doppelte Rache E-Book

Lisa Jackson

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Beschreibung

Die amerikanische Bestseller-Autorin Lisa Jackson lässt ihre Detectives Rick Bentz und Reuben Montoya erneut in einem kniffligen Serienmörder-Fall ermitteln. Der Thriller "Guilty" ist nach "Desire" der 8. Band der Serie rund um Bentz und Montoya. In New Orleans verschwindet ein Zwillingspaar kurz vor seinem 21. Geburtstag. Der Fall weckt Erinnerungen an einen Serienmörder, den man den "Einundzwanziger-Killer" nannte, weil er seine Opfer in einer grausigen Zeremonie an deren 21. Geburtstag tötete. Aber dieser Psychopath ist seit Jahren hinter Gittern. Oder doch nicht? Detective Rick Bentz befürchtet das Schlimmste. Zusammen mit seinem Partner Detective Reuben Montoya versucht er fieberhaft, den Killer zu fassen und das Leben der Zwillinge zu retten. Doch die Zeit rennt ihnen davon … "Perfekt geplotteter Thriller, nervenzerreißend spannend." (Romantic Times Book Reviews)

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Seitenzahl: 528

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Lisa Jackson

Guilty – Doppelte Rache

Ein neuer Fall für Bentz und Montoya

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigEpilogLisa Jackson bei KnaurMONTANA-»TO DIE«-REIHENEW-ORLEANS-REIHESAN-FRANCISCO-REIHEWEST-COAST-REIHESAVANNAH-REIHESTAND ALONE
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Kapitel eins

Juni

Plitsch.

Plitsch.

Plitsch.

Gleichmäßig, beinahe rhythmisch fielen kleine Tropfen zu Boden, plitschten und platschten …

Zoe riss die Augen auf.

Blinzelnd starrte sie in die Dunkelheit.

Was für Tropfen? Was war das für ein Geräusch, und vor allem … wo war sie?

Sie fröstelte. Ach du lieber Gott! War sie etwa nackt? Unter sich spürte sie etwas Kaltes, Hartes. Steinplatten? Beton? Lag sie auf einem Fußboden? Nein, das konnte nicht sein. Ihre Schläfen fingen an zu pochen. Angestrengt dachte sie nach, versuchte herauszufinden, ob das, was sie gerade erlebte, echt war oder bloß Teil eines makabren Traums, vielleicht auch – schlimmer noch – ein böser Scherz.

Chloe und sie würden um Mitternacht einundzwanzig werden, und mit Hilfe ihrer gefälschten Ausweise war es ihnen gelungen, schon vorher mit der Party zu beginnen. Sie hatten sich einen Drink nach dem anderen bestellt, gelacht, geredet und weitergetrunken. In einem grellen Strudel kehrten die Erinnerungen zurück, die Neonlichter und der lärmige Trubel der Bourbon Street, die bunten Cocktails, angefangen bei Hurricanes in hohen Gläsern, die von der Form her an einen Wirbelsturm denken ließen, über Margaritas in überdimensionierten Plastikbechern bis hin zu Jell-O-Shots – Wackelpudding mit jeder Menge Schnaps in Likörgläsern. Ihr drehte sich der Magen um bei der Vorstellung, was sie alles in sich hineingekippt hatte, nur um den anderen und sich selbst zu beweisen, dass sie endlich volljährig wurde und berechtigt war, Alkohol zu trinken. Ihr Schädel fühlte sich an, als steckte er in einem Schraubstock, der von einem kräftestrotzenden He-Man immer enger gedreht wurde.

Wenigstens war ihr nicht länger schwindelig. Sie dachte daran, wie sich die Welt in wilden Kreisen gedreht hatte, wie die Farben verschwammen, bevor … bevor … ja, bevor was?

Hatte ihr jemand K.o.-Tropfen in einen der Drinks getan, um sie auszuknocken? Vielleicht einer ihrer »Freunde«, der ihr einen Streich spielen wollte? Hatte er sie hierhergebracht, ausgezogen und auf dem kalten Boden – es musste sich um nackten Beton handeln – liegen lassen? Und was war mit Chloe? Wo mochte ihre Zwillingsschwester stecken?

Es gelang Zoe beim besten Willen nicht, die letzten beiden Stunden zu rekonstruieren.

Fakt war, dass sie nun hier lag.

Nackt.

In der Dunkelheit.

Die Arme vor dem Bauch gefesselt.

In irgendeinem nasskalten Raum mit Betonboden, in dem es durchdringend nach Moder und Erde roch.

Als wäre sie bei lebendigem Leibe begraben.

Sie wand sich und spürte, wie etwas Rauhes in die Haut an ihrem Hals schnitt.

Allmächtiger, was ist das denn?

Mit einiger Mühe versuchte sie, die Arme zu bewegen, um die Fesseln zu lockern, aber schon bei der kleinsten Regung schnitt das rauhe Ding – ein Seil? eine Drahtschlinge? – tiefer in ihren Hals. Was hatte das zu bedeuten?

Sie steckte in Schwierigkeiten, so viel stand fest. In großen Schwierigkeiten.

Wenn es sich tatsächlich um einen Scherz handelte, dann um einen von der ganz üblen Sorte. Denn das hier war krank. Gefährlich. Doch wenn nicht … Der Gedanke ließ sie erschaudern.

Durchgefroren bis auf die Knochen, fing sie an zu zittern, aber sie musste sich zur Ruhe zwingen, weil sonst die Schlinge um ihren Hals schmerzhaft ihre Haut aufscheuerte. Als sie die Schultern hob, um das peinigende Ding etwas höher, weg von den offenen Hautstellen, zu schieben, schoss ihr ein brutaler Schmerz durch die Fußknöchel. Ihre Hände waren also mit ihren Knöcheln zusammengebunden, dem Gefühl nach mit einem Nylonseil.

An allen vieren gefesselt und nackt. Das waren die Fakten. Zusammengekauert wie ein Fötus.

»Happy birthday to yooouuu!«

Was war das?

Sie wäre fast aus der Haut gefahren vor Schreck, als sie die geflüsterten Worte hörte, leblos, schnarrend, monoton. Gesungen, nicht gesprochen. »Happy birthday to yooouuu!«

Das musste doch ein Traum sein. Oder? Ein Alptraum. Ganz vorsichtig, um die Haut am Hals nicht noch weiter aufzuschürfen, drehte sie den Kopf. Starrte mit zusammengekniffenen Augen in den finsteren Raum. Nein, ganz dunkel war es hier nicht. Ein Stück von ihr entfernt hing eine Lampe von der Decke, die einen kleinen Lichtkegel warf. Eines von diesen batteriebetriebenen Modellen, wie man sie auf Dachböden, in begehbaren Kleiderschränken und Kellerabteilen benutzte, in denen es weder natürliches Licht noch Strom gab.

Und dann sah sie ihn. Einen bulligen Mann vor einer Art Werkbank, splitterfasernackt bis auf eine schwarze Gummischürze wie die eines Metzgers. Behaarte Arme, behaarter Hintern, behaarte Beine. Sein speckiger Nacken glänzte im gedämpften Licht. Unmittelbar hinter der Werkbank hing eine Uhr, deren lautes Ticken in diesem finsteren Verlies widerhallte.

Dem muffigen Geruch nach zu urteilen, befand sie sich unter der Erde. Der Kerl sah aus wie ein Offensive Lineman beim Football, an dem einfach jeder Angriff abprallte. Er musste sie entführt haben, aber weshalb konnte sie sich nicht an die Entführung erinnern? Wieder versuchte sie, sich zu bewegen. Vergeblich. Etwas hielt sie am Boden fest, so dass sie sich nicht einmal ein Stück weit aufrichten konnte. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte sie einen Ring, der in den Betonboden eingelassen war. Langsam gewöhnte sie sich an das unheimliche Dämmerlicht und sah, dass ihre Hand- und Fußknöchel tatsächlich verschnürt und an dem Ring im Boden befestigt waren. Ein weiteres Seil ging davon ab, wahrscheinlich war es mit der rauhen Drahtschlinge um ihren Hals verbunden. Aufgepeitscht von Adrenalin, konzentrierte sie sich auf die Wände. Beton. Mit dunklen Flecken. Wasser, hoffte sie, das durch die Risse sickerte, vermischt mit Rost.

Bitte lass es kein Blut sein.

Am liebsten hätte sie laut geschrien, aber sie biss sich auf die Zunge. Instinktiv wusste sie, dass es das Beste war, ihn in dem Glauben zu lassen, sie wäre noch immer ohnmächtig.

Der bullige Kerl schien ganz in seine Arbeit vertieft. Herrgott, was machte er da eigentlich? Sie sah, dass er rote Bänder abmaß und abschnitt. Schnipp. Schnipp. Das Geräusch der Schere mischte sich mit dem kontinuierlichen Plätschern der Wassertropfen und seinem grauenvollen Gesang, doch da war noch etwas anderes – eine Art Wimmern. Ihre Haut fing an zu kribbeln.

Ein leises, angstvolles Weinen – gedämpft, als würde sich derjenige, der diese Geräusche von sich gab, alle Mühe geben, sein Schluchzen zu unterdrücken – drang von der gegenüberliegenden Seite zu ihr herüber.

Ein Tier?

Unsinn. Ein Tier winselte, aber es schluchzte nicht.

Es musste noch jemand hier unten sein.

Zoe war also nicht allein. Vermutlich hatte der Muskelprotz ein weiteres Mädchen entführt.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Chloe. Ihre Zwillingsschwester. Binnen eines Herzschlags erkannte Zoe Chloes Stimme, die abgehackten Schluchzer, die diese schon als Kind immer von sich gegeben hatte, wenn sie Angst hatte oder bestraft wurde. Chloe war stets das schwächere der beiden Denning-Mädchen gewesen, das sensiblere. Es war Chloe gewesen, die ihre Haustiere begrub oder mit klatschenden Sohlen die Holztreppe hinauf in ihr Zimmer gerannt war, wenn ihre Mutter und ihr Vater zu streiten anfingen. Stundenlang war sie niedergekniet, die Augen geschlossen, und hatte voller Inbrunst darum gebetet, dass der Heilige Vater den Zwist zwischen ihren ewig zankenden Eltern schlichtete und die beiden verheiratet blieben. »Du solltest das auch mal versuchen«, hatte sie ihrer zehn Minuten älteren Zwillingsschwester erklärt. »Ein kleines Gebet vermag nicht selten ein großes Problem zu lösen.«

Oder auch nicht. Mom und Dad hatten sich scheiden lassen, worüber Mom bis heute nicht hinweg war.

Dennoch hoffte Zoe, dass Chloe auch jetzt betete, dass ihr besonderer Draht zum Allmächtigen zu ihrer schnellen Rettung beitrug, denn je mehr sich der Nebel in ihrem Kopf lichtete, desto klarer wurde ihr, dass die Situation, in der sie sich befanden, absolut fatal war. Das war kein Scherz. Irrtum ausgeschlossen. Irgendwie war es diesem haarigen Psychopathen gelungen, sie beide zu überwältigen und an diesen Ort zu bringen.

Doch wie? Und vor allem, warum?

Kurz meinte sie, sich zu erinnern. Verzerrte Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf und fügten sich zusammen wie bunte Splitter in einem Kaleidoskop.

Eine Stimme, die über den Lärm der Menge hinweg ihren Namen flüsterte. »Zoe, deine Schwester …« Fußgänger in der Bourbon Street. »… sie ist verletzt.«

»Wie bitte?« Zoe fuhr herum, sah sich suchend in der Menge um. Wo steckte Chloe? Ihr Zwilling hatte direkt neben ihr gestanden … oder nicht? Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz. Ein Wespenstich? Doch der Schmerz wurde stärker, als hätte man ihr eine Nadel in den Nacken gerammt. Zoe brach in Panik aus, starrte in die Gesichter der flanierenden Menschen in der Hoffnung, Chloe zu entdecken oder einen Polizisten – irgendwen, der ihr glauben würde, dass sie nicht bloß einen über den Durst getrunken hatte. Sie taumelte, stürzte und versuchte zu schreien, doch über ihre Lippen drang nichts als ein leises Wimmern. Kurz bevor sie auf der Straße aufschlug, spürte sie, wie jemand sie auffing. Die Lichter von New Orleans fingen an zu kreisen, verwirbelten, die Kakophonie von Geräuschen verstummte. Bevor sie das Bewusstsein verlor, hörte sie noch, wie ihr jemand »happy birthday« ins Ohr flüsterte.

Die Kaleidoskopsplitter zerstreuten sich. Zoes Blick wanderte wieder zu dem Muskelprotz an seiner Werkbank. Er hatte Chloe und sie entführt und an diesen Ort gebracht, wo immer der sein mochte.

Chloes Schluchzen wurde lauter.

Der Kerl hörte auf zu singen und warf einen Blick auf die Uhr. »Halt die Schnauze!«, blaffte er.

Die Schluchzer verstummten, dann ertönte Chloes Stimme. »Lassen Sie mich gehen«, bat Zoes Zwillingsschwester mit zitternder Stimme.

Tu das nicht, flehte Zoe in stummer Verzweiflung. Ach, Chloe, du darfst ihn nicht wütend machen.

Ihre mentale Botschaft erreichte Chloe nicht.

»Ich … ich weiß nicht, was Sie wollen oder wer Sie sind, aber bitte lassen Sie uns gehen.«

»Ich sagte, du sollst die Schnauze halten.« Diesmal presste er die Worte so heraus, als würde er voller Zorn die Zähne zusammenbeißen.

Das war nicht gut. Ganz und gar nicht.

»Aber –«

»Verdammt noch mal!« Er nahm etwas von seiner Werkbank. Ein Zischen ertönte, als würde etwas durch die Luft sausen, gefolgt von einem Klirren. »Ich hab jetzt keine Zeit für so was!«

Was war das?

Er trat ins schwache Licht der batteriebetriebenen Lampe. Auf der gegenüberliegenden Wand erschien ein schwacher Schatten. Eine schwarze Schlange wand sich aus seiner Hand.

Chloe schrie entsetzt auf.

Ein Gürtel, stellte Zoe fest.

Er hob den Arm, und das Leder zischte durch die Luft.

Chloe schrie auf. Es gelang Zoe, den Schrei, der sich in ihrer eigenen Kehle formte, zu unterdrücken.

Hör auf zu schreien, Chloe. Mach ihn nicht noch wütender. Benutz deinen Verstand!

»Ich meine es ernst!«, brüllte er und ließ den Gürtel erneut niedersausen, kurz vor der Wand, dort, wo sie Chloe vermutete. Es war zu dunkel, um in die Ecken sehen zu können, aber Zoe nahm an, dass er Chloe ebenfalls gefesselt und am Boden festgebunden hatte.

Scheißkerl!

Zoe war klar, dass sie kein Wort von sich geben durfte, auch wenn sie Chloe am liebsten getröstet hätte. Der Fiesling sollte ruhig glauben, dass sie noch immer sediert war und somit keine Bedrohung für ihn darstellte. Sollte er sich ruhig wieder auf seine Arbeit konzentrieren, damit sie sich einen Plan zurechtlegen konnte, wie sie sie beide aus dieser grauenvollen Situation hinausmanövrieren konnte.

Ohne ein Geräusch von sich zu geben, ruckte sie an ihren Fesseln und wurde mit einem Schnitt in den Hals belohnt.

Wieder flehte Chloe, sie laufen zu lassen, doch ihr Jammern schien ihn nur noch mehr anzustacheln. Der Muskelprotz war ein kranker Irrer, das lag auf der Hand. Nur ein Psycho wäre in der Lage, sie beide auf offener Straße mit Drogen außer Gefecht zu setzen, zu entführen und zu quälen. Sein rasches Aufbrausen zeugte von einem flatterhaften Charakter. Was gefährlich war. Sehr gefährlich. Gefesselt wie sie war, blieb Zoe nur eine einzige Waffe: ihr Verstand.

Was in dieser Situation nicht viel war.

Mist! Mist! Mist!

Nachdem er Chloe erneut mit seinem Gürtel zum Schweigen gebracht hatte, fing er wieder an zu singen. Noch nie hatte ein Geburtstagslied so sehr wie eine Totenklage geklungen. Und genau das war zweifelsohne seine Absicht.

»Happy birthday, liebe Zwillinge«, schnarrte er mit seiner grauenvollen Reibeisenstimme und wandte sich seiner Werkbank zu, ohne Zoe auch nur eines Blickes zu würdigen.

Gut.

»Happy birthday to yooouuu.«

Galle stieg in ihrer Kehle auf, doch sie bezwang den Drang, sich zu übergeben.

Nachdem er sein schauriges Liedchen zu Ende geleiert hatte, fing er wieder von vorn an, wie eine kaputte Schallplatte. Zoe wollte sich lieber nicht vorstellen, was passierte, wenn er damit aufhörte. Tief im Innern wusste sie es ohnehin längst. Die Wanduhr tickte laut. Es war nach Mitternacht. Der Tag ihres einundzwanzigsten Geburtstags war gekommen. Er würde sie umbringen. Genau wie er ihre Schwester umbringen würde. Der durchgeknallte Irre wartete nur noch auf den richtigen Moment.

Doch da konnte er lange warten.

So weit würde Zoe es nicht kommen lassen.

Niemals.

 

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, rief Olivia leise aus dem Schlafzimmer. Ihr Mann, der seit über zwei Stunden an seinem Schreibtisch saß, warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist nach Mitternacht«, beantwortete sie ihre eigene Frage schläfrig. Er wusste genau, wie sie jetzt aussah, unter die Decke geschmiegt, die unbändigen Locken auf dem Kissen ausgebreitet, die Augenlider halb geschlossen. »Komm ins Bett, Liebling.«

Detective Rick Bentz gähnte. Seine Frau hatte recht. Es war schon null Uhr vierzehn, und er sehnte sich danach, endlich seine Klamotten und alltäglichen Sorgen abzustreifen und sich mit ihr ins Bett zu kuscheln. Das Baby, die kleine Ginny, benannt nach der geliebten Großmutter seiner Frau, Grannie Gin, war mittlerweile fast ein Jahr alt. Sie schlief längst tief und fest, während Hairy S., Olivias alter Hund, den sie von ihrer Gran geerbt hatte, zusammengerollt auf dem Bettvorleger lag und leise schnarchte. Selbst Chia, die so plapperfreudige Papageiendame und ebenfalls Erbe der alten Dame, gab keinen Mucks von sich.

Leider konnte er sich noch nicht zur Ruhe begeben.

Auf seinem Computer lief die Live-Radiosendung Midnight Confessions – »Mitternachtsbeichte« – mit Dr. Samantha Leeds Wheeler, der Radiopsychologin des beliebten Senders WSLJ. »Dr. Sam«, wie sie sich selbst nannte, nahm die Anrufe einsamer Herzen entgegen und erteilte ihren Zuhörern über den Äther psychologischen Rat.

Bentz lauschte konzentriert.

Bislang hatte es den Anschein, als wären sämtliche Anrufer sauber: einsame oder verwirrte Menschen, die Hilfe suchten. Das war nicht immer so gewesen. Vor Jahren, noch bevor sie ihre große Liebe Tyler Wheeler geheiratet hatte, war Dr. Sam ins Visier eines sadistischen Serienmörders geraten, eines Mannes, der krank genug war, um sich in Priestergewänder zu hüllen und vorzugeben, er sei ein Mann Gottes, bevor er sich mit grausamer Entschlossenheit an sein teuflisches Werk machte. Sie war sein ultimatives Ziel gewesen und nur knapp mit dem Leben davongekommen.

Bentz nahm sich ein Bier aus dem Sechserpack, das er auf dem Heimweg im Supermarkt besorgt und unter seinem Schreibtisch verstaut hatte. Zum Glück war es nicht allzu warm. Er zögerte, dann öffnete er die Flasche und schob entschlossen den Gedanken an all die Tage, Wochen und Jahre, in denen er keinen Tropfen Alkohol angerührt hatte, beiseite. Wie hieß das alte Sprichwort noch gleich: Einmal ist keinmal.

»Rick?«, rief Olivia erneut. Diesmal klang sie etwas wacher.

Das einzige Licht in dem ansonsten völlig dunklen Haus kam von seinem Computerbildschirm. Er starrte auf das Standbild eines Videos. Aufgenommen von der Überwachungskamera des Gefängnisses in New Orleans, in dem Schwester Devota, geborene Arlene Arness, einsaß – eine mörderische Nonne, die vor einiger Zeit das Leben in dem sonst so beschaulichen Kloster St. Marguerite gehörig durcheinandergewirbelt hatte. Dr. Sams ruhige Stimme bildete einen tröstlichen Kontrast zu der grauen Gefängniszelle. »Ich bin in einer Sekunde bei dir«, versprach er zur Schlafzimmertür gewandt, dann hob er die Flasche an die Lippen und nahm einen langen, wohltuenden Schluck. Wie Seelenbalsam rann das Bier seine Kehle hinunter.

Die Aufmerksamkeit wieder auf den Monitor gerichtet, drückte er ein weiteres Mal auf den Pfeil, um das Video zum x-ten Male abzuspielen. Vielleicht würde ihm diesmal etwas auffallen. Irgendein Hinweis. Egal, was. Er hoffte es so sehr. Seit dem Mord im Gefängnis brodelte es in ihm. Im Grunde konnte er es immer noch nicht fassen. Das konnte doch gar nicht wahr sein!

»Sie können ihn nicht zwingen, Sie zu lieben«, verkündete Dr. Sam soeben mit ihrer melodischen Stimme. »Aber Sie können sich selbst lieben.« Dasselbe Psychogebabbel, das sie seit Jahren verkündete.

»Aber er hat es mir versprochen«, beharrte die Zuhörerin, der Stimme nach zu urteilen ein Mädchen im Teenager-Alter. »Nathan hat mir versprochen, dass wir immer zusammenbleiben, und dann … und dann …« – sie schniefte laut –, »dann habe ich ein Foto von ihm mit Rachel gesehen. Es war auf Instagramm eingestellt, und alle haben mir gesimst und mich gefragt, was denn mit Nathan los sei …«

»Ich weiß, aber Sie können Nathan nicht kontrollieren«, erklärte Dr. Sam. »Sie können nur sich selbst kontrollieren.«

Bentz hörte bloß mit halbem Ohr zu. Es war ihm ziemlich egal, was der Freund der Anruferin hinter deren Rücken trieb, aber er wollte dranbleiben, um mitzubekommen, wer sich sonst noch so in der Sendung zu Wort meldete. Auch wenn ihm der Produzent von Midnight Confessions versichert hatte, dass die Anrufe gefiltert und aufgezeichnet wurden, durfte er sich nicht darauf verlassen, dass das Team einen Psychopathen aussieben würde.

Diesen ganz speziellen Psychopathen. Bentz hatte das Video der Strafvollzugsbehörde so oft angeschaut, dass er es im Grunde gleich in einer Endlosschleife hätte abspielen können.

Die Flasche in der Hand, starrte er auf den Bildschirm, auf dem die graue Gefängniszelle zu sehen war. Eine weibliche Gefangene saß auf der Kante ihrer Pritsche, als ein Priester die Zelle betrat, der Schatten der Gitterstäbe zeichnete Streifen auf sein Gewand. Die Insassin hob den Kopf und sah erwartungsvoll zu ihm auf, bereit, vor dem Priester, dessen Rücken der Kamera zugewandt war, die Beichte abzulegen. Als der Geistliche näher trat, senkte sie demütig den Kopf, als würde sie beten. Vielleicht hoffte sie auch, er würde ihr die Absolution erteilen. Der Priester war jetzt von der Seite zu sehen, das Gesicht von der Kapuze halb verdeckt. Er schien etwas zu der Gefangenen zu sagen, dann streckte er mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung die Hand nach ihrem Kopf aus, als wollte er sie segnen, und brach ihr das Genick.

Die Frau sackte zusammen. Diesmal hatte der Priester nicht sein übliches Handwerkszeug benutzt, um zu töten – einen Rosenkranz aus Klavierdraht mit messerscharf geschliffenen Glasperlen. Er hatte gewusst, dass er diesmal gefilmt wurde, weshalb er das Risiko eines mehr Zeit benötigenden Ritualmordes nicht eingegangen war. Das Wachpersonal hätte ihn überwältigt, noch bevor er sein blutiges Werk hätte zu Ende bringen können. Anstatt sein Opfer wie sonst mit seinem selbstgebastelten Rosenkranz zu strangulieren, was ihm den treffenden Namen »der Rosenkranzmörder« eingetragen hatte, hatte er kurzen Prozess gemacht und der Toten den Rosenkranz anschließend in die Finger gedrückt. Die blutroten Perlen funkelten im grellen Zellenlicht. Der falsche Priester hob den Kopf und schaute mit einem triumphierenden Lächeln in die Kamera, die in der Nähe der Tür montiert war, dann schlüpfte er aus der Zelle.

Bentz drehte sich der Magen um. Wieder einmal.

Der perverse Scheißkerl grinste tatsächlich in die Überwachungskamera, bevor er verschwand.

Völlig unverfroren.

Der Detective der Mordkommission biss die Zähne zusammen.

Eines stand fest: Vater John war wieder da.

[home]

Kapitel zwei

Zoe biss sich auf die Lippe und versuchte, sich eine Möglichkeit einfallen zu lassen, wie sie sich selbst und ihre Zwillingsschwester Chloe retten könnte. Es musste doch einen Weg geben, den Scheißkerl zu überwältigen und aus diesem modrigen Verlies rauszukommen! Doch dazu müsste sie sich zunächst einmal von ihren Fesseln befreien, die sie unerbittlich in ihrer fötalen Position gefangen hielten.

Während der Irre an seiner Werkbank arbeitete, versuchte sie, das Seil zu lockern, mit dem ihre Handgelenke und Fußknöchel gefesselt waren. Sie musste es einfach schaffen, ihm zu entkommen. Sie beide hier rauszuholen. Sie würde Chloe nicht zurücklassen. Niemals.

Wieder einmal versuchte sie, ihre Hände ein Stück zu senken, doch sofort schnitt die Drahtschlinge tiefer in ihren Hals, weshalb sie abrupt damit aufhörte. Das funktionierte nicht. Denk nach, Zoe, denk nach. Es muss einen Ausweg geben.

Sie probierte eine andere Bewegung aus. Auch jetzt drang die Schlinge schmerzhaft in ihre Haut.

Autsch!

Sie hörte Chloe weinen. Leise jetzt, darauf bedacht, den Verrückten nicht bei seiner Arbeit zu stören. Den Blick auf seinen muskelbepackten Rücken gerichtet, rieb sie vorsichtig die Handflächen gegeneinander. Das Nylonseil lockerte sich minimal. Wenn es ihr gelänge, es nur ein winziges Stück höher zu schieben, bekäme sie vielleicht den Knoten mit den Fingern zu fassen. Es wäre ein hartes Stück Arbeit, doch es könnte funktionieren. Ihre kalten Glieder verkrampften sich vor Kälte und wegen der unnatürlich verkrümmten Position. Dennoch gab sie nicht auf, rieb mit zusammengebissenen Zähnen weiter und dann –

War es Einbildung, oder bewegte sich das Seil tatsächlich nach oben?

Hoffnung stieg in ihr auf. Mit wild hämmerndem Herzen bekam sie den Knoten zu fassen. Während sie versuchte, ihn zu lösen, spielten sich die Bilder ihrer Entführung noch einmal vor ihrem inneren Auge ab. Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich von ihm übertölpeln zu lassen, ihm zu glauben, dass ihre Zwillingsschwester in Schwierigkeiten steckte?

Nun musste sie für ihren Fehler bezahlen, aber sie würde nicht kampflos auf das grauenvolle Schicksal warten, das er offenbar für sie vorgesehen hatte. Auf keinen Fall! Es gelang ihr, sich zusammenzunehmen und sich nicht von der Panik überwältigen zu lassen, die ihre Seele zu zerreißen drohte.

Du musst dich selbst befreien, Zoe. Niemand wird dir zu Hilfe kommen.

Lautlos, die Zähne fest aufeinandergepresst, fingerte sie ohne etwas zu sehen an dem dicken Knoten herum.

Die Uhr an der Wand hinter der Werkbank zeigte ihr, wie die Sekunden eine nach der anderen verstrichen. Die Sekunden ihres Lebens.

Tick. Tick. Tick.

Er sang noch immer das schicksalhafte Lied. »Happy birthday, liebe Zwillinge«, hallte es schnarrend von der Werkbank zu ihr herüber, dann fing er an zu kichern, dass es ihr die Zehennägel aufrollte. Chloes Schluchzen wurde lauter, fast als wollte sie damit diesen Refrain des Grauens untermalen.

Halt die Klappe, Chloe! Reiz ihn nicht. Er wird uns umbringen, doch wahrscheinlich nicht, ohne uns vorher zu quälen und zu vergewaltigen, also beschleunige das nicht auch noch.

Aber ihre Zwillingsschwester hörte nicht auf zu wimmern.

Obwohl sich ihre Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Zoe sie nicht richtig sehen, das Licht der einzelnen Lampe war einfach zu schwach.

Hätte sie doch nur etwas, was ihr bei ihrer Flucht helfen könnte! Eine Waffe. Ein Messer oder eine kleine Säge, und wenn sie die Fesseln erst einmal durchtrennt hätte, einen Knüppel oder – besser noch – eine Axt … Nein, eine Pistole. Mein Gott, was würde sie jetzt um eine Pistole geben! Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie die umliegenden Wände und den Fußboden im kleinen Lichtkegel der Lampe ab, doch sie entdeckte nur eine recht ansehnliche Auswahl an Werkzeug und ein Handy, das nie zu klingeln schien, auch wenn er ein paarmal damit telefoniert hatte, anscheinend immer mit derselben Person. Im Augenblick benutzte er eine Schere, aber an der Wand hingen auch mehrere Schraubenzieher und eine Brechstange. Vorausgesetzt, ihre Augen täuschten sie nicht. Bei dem dämmrigen Licht konnte sie wirklich nicht viel erkennen. Ihre Finger bearbeiteten weiter den Knoten. Das Seil lockerte sich, was ihre Hoffnung steigen ließ, doch sie wollte sich nicht zu früh freuen. Zoe fing an zu schwitzen. Schweißtropfen rollten auf den harten Boden, ihre Finger rutschten am Nylonseil ab.

Endlich.

Der Knoten löste sich tatsächlich.

Oder bildete sie sich das nur ein?

Sie bekam ein loses Ende zu fassen und zog. Der Druck der Fesseln ließ nach, aber der Knoten öffnete sich nicht ganz, bildete vielmehr eine Art Schlaufe. Zoe verrenkte sich schmerzhaft den Finger, als sie ihn darunterschob.

Chloe schniefte laut, dann fing sie wieder an zu schluchzen.

Hör auf, hätte Zoe am liebsten geschrien. Zeig dem Psycho nicht, wie viel Angst du vor ihm hast. Sei stark. Du kannst das. Ich weiß, dass du das kannst.

Aber das stimmte nicht ganz. Tief im Innern wusste Zoe, dass sie die Stärkere von ihnen beiden war, das war schon immer so gewesen. Seit dem Tag ihrer Geburt, so kam es Zoe im Nachhinein vor, hatte sie die Rolle der Beschützerin übernommen, die sie seit nunmehr einundzwanzig Jahren innehatte. Zoe war als Erste auf die Welt gekommen und hatte laut ihren Eltern einen Schrei ausgestoßen, der die Wände des Krankenhauses zum Wackeln gebracht hatte. Nur zehn Minuten später hatte ihre jüngere Schwester das Licht der Welt erblickt, ohne einen Mucks von sich zu geben. Chloe war so still gewesen, dass die Hebamme sich zweimal vergewissert hatte, dass das jüngere Baby atmete und sein kleines Herzchen schlug.

Im Augenblick allerdings schien Zoes kleine Schwester ihre stille Geburt im St. Anthony’s Hospital mit ihrem lauten Gejammer wettmachen zu wollen, was gar nicht gut war.

Sei still.

Bitte, bitte, bitte!

Sei tapfer.

Ich werde dich retten.

Zoe stieß die Luft aus, die sie, ohne es zu merken, angehalten hatte.

Wenn ich kann.

Auch sie selbst hätte am liebsten geweint, aber sie wusste, dass ihr das nicht helfen würde. Im Gegenteil. Noch hatte der Scheißkerl nicht gemerkt, dass sie wieder zu sich gekommen war, und das war gut so. Noch hatte er keine Ahnung, dass sie ihre Flucht plante. Sollte er ruhig davon ausgehen, dass sie keinen Widerstand leisten würde.

Als würde sie sich kampflos ergeben!

Niemals!

Ach, wenn ihr doch nur etwas einfallen würde …

Sie musste sich und ihren Zwilling retten. Verdammt, konnte Chloe nicht endlich mit dieser elenden Heulerei aufhören?

Angestrengt dehnte Zoe das Seil. Lockere die Schlaufe! Lockere die Schlaufe!

Plötzlich erstarrte sie. Das schnarrende, unmelodiöse Singen kam näher.

Ihr Magen schnürte sich vor Angst zusammen, als sie nun auch seine Schritte auf dem Betonboden hörte. Wohin ging er? Was hatte er vor?

Direkt vor ihr blieb er stehen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er ein Werkzeug von der Wand hinter ihr nahm. Du liebe Güte – war da tatsächlich etwas, was sich als Waffe benutzen ließ, nur knapp außerhalb ihrer Reichweite? Wieder füllte sich ihr Herz mit Hoffnung.

Du musst einfach nur die Fesseln lösen. Gleich hinter dir findest du etwas, womit du ihn außer Gefecht setzen kannst. Los, Zoe, mach schon!

Monoton vor sich hin singend, kehrte der Muskelprotz zu seiner Werkbank zurück. Schweiß lief Zoe den Rücken hinunter, als sie sich erneut an dem Knoten zu schaffen machte.

»He!« Seine rauhe Stimme durchschnitt die Dunkelheit. Scharf. Verärgert. Das dämliche Liedchen war vergessen.

Allmächtiger, wenn er bemerkt hatte, dass sie versuchte, ihre Fesseln zu lösen –

»Hör auf damit!«, brüllte er.

Er hatte sie ertappt! Schweißgebadet hielt sie die Luft an.

»Dieses verfluchte Geplärre! Hör endlich damit auf. Das bringt doch nichts. Außerdem«, fuhr er in jovialem Ton fort, »außerdem hast du heute Geburtstag, du solltest dich freuen, anstatt zu heulen!«

Seine Stimme klang so unheilverkündend, dass Zoe ein weiterer Schauder über den Rücken lief.

Sie sah, wie er erneut auf die Wanduhr blickte. »Mist, mir läuft die Zeit davon!«

Was hatte er nur immer mit der Zeit? Musste er sich zu einer bestimmten Uhrzeit irgendwo einfinden? Wieso war das so wichtig? Und wieso hing eigentlich eine Uhr in diesem finsteren Verlies?

»Also, kein Geheule mehr, klar?« Er wandte sich wieder seiner Werkbank zu, summend und singend. Woran um alles auf der Welt arbeitete er? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Im Grunde wollte sie es gar nicht wissen, wollte sich nicht ausmalen, was für ein schreckliches Schicksal er für Chloe und sie vorgesehen hatte. Mit Sicherheit würde er sie foltern und vergewaltigen, wozu sonst hatte er sie nackt ausgezogen?

Daran darfst du nicht denken. Konzentrier dich auf deine Fesseln!

Und das tat sie, obwohl ihre Finger inzwischen höllisch schmerzten. Wie ihr ganzer Körper. Sie hatte keinen Plan. Wusste nur, dass sie sich befreien musste, bevor er merkte, dass die Betäubung nachgelassen hatte, damit sie ihn irgendwie überwältigen konnte. Vielleicht konnte sie ihn sogar in diesem Loch einsperren, wären Chloe und sie erst einmal hier raus.

Die Schlaufe hob sich. Der Knoten ging auf. Ein Stückchen. Dann mehr. Noch mehr. Blut schoss in ihre Hände und brachte ihre steifen Finger zum Kribbeln.

Und dann war der Knoten gelöst. Der Druck der Drahtschlinge um ihren Hals ließ nach. Sie musste tatsächlich direkt mit dem Seil verbunden gewesen sein.

Halleluja!

Zoe schüttelte das Seil ab und zog es aus dem Metallring im Betonboden, sorgfältig darauf bedacht, ja keinen Laut von sich zu geben, damit er nicht auf sie aufmerksam wurde. Sollte sie versuchen, auch ihre Fußfesseln zu lösen? Auf jeden Fall. Sonst könnte sie kaum auf ihren eigenen zwei Beinen hier hinausgelangen. Adrenalinbefeuert tastete sie mit den Fingerspitzen nach dem Knoten, wobei sie darauf achtete, ihre fötale Position beizubehalten, um sich nicht zu verraten.

Der Psycho sang und sang und schaute dabei immer wieder auf die Uhr. Warum? O Gott. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Er wartete auf die exakten Zeiten ihrer Geburt. Ja, genau das musste dahinterstecken.

Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.

Sie war um ein Uhr einundzwanzig auf die Welt gekommen, Chloe zehn Minuten später um ein Uhr einunddreißig.

Jetzt warf er schon wieder einen Blick auf die Uhr.

Null Uhr neunundzwanzig.

Wenn sie mit ihrer Vermutung richtiglag, hatte sie nur noch zweiundfünfzig Minuten. Panisch zerrte sie an dem Knoten, der sich Gott sei Dank zu lösen begann.

Na los, mach schon!

Wie eine Schlange glitt das Nylonseil von ihren Knöcheln. Endlich! Zoe zog es vorsichtig durch den Ring am Boden. Jetzt musste sie nur noch die Drahtschlinge vom Hals abstreifen. Der Kerl war in seine Arbeit an der Werkbank vertieft. Langsam streckte Zoe die kribbelnden Arme aus, tastete nach der Schlinge und schob sie über ihren Kopf. Frei! Zumindest von den Fesseln. Der Irre hatte nichts bemerkt. Sie griff nach dem Seil. Jetzt hatte sie eine Waffe.

»… birthday, liebe Zoe«, schnarrte er. Natürlich. Sie war die Erstgeborene. »Happy birthday to –«

Zoe rappelte sich hoch auf die Füße.

Er machte Anstalten, sich umzuwenden.

Sie zögerte keine Sekunde, stürzte sich auf ihn und landete leicht seitlich auf seinem Rücken. Blitzschnell legte sie ihm das Seil um den Hals und zog, so fest sie konnte.

»He!«, schrie er perplex. Er ließ die Schere fallen. »Was zum Teufel –«

Ächzend und stöhnend versuchte der Psycho, sie wie ein Stier beim Rodeo abzuwerfen, aber sie klammerte sich mit verzweifelter Entschlossenheit an ihn. Um nicht abzurutschen, schlang sie die Beine um seine Mitte, während sie mit aller Kraft an den Seilenden zerrte. Der beißende Geruch, den der Psycho verströmte, stieg ihr in die Nase. Eine Dusche hätte ihm gutgetan, aber vermutlich gab es in diesem Verlies kein Wasser – außer dem, das aus den Rissen der Betonwände tropfte.

Der Kerl bockte weiter wie ein unbändiger Stier.

Das Seil scheuerte Zoes Handflächen auf, doch es schnitt auch tief in seinen feisten Hals. Die Zähne aufeinandergepresst vor Anstrengung, zog sie es enger und enger zusammen in der Hoffnung, es würde ihm die Luftröhre abschnüren. Panisch versuchte er, die Finger darunterzuschieben.

Chloes Gejammer steigerte sich zu angstvollen Schreien.

Stirb, Psycho!

In dem Moment warf er sich herum und prallte gegen die Werkbank. Seine Scheren und Bänder fielen zu Boden, auch eine Rolle mit Draht und ein Stapel Klamotten – ihre Sachen, das Kleid, das sie bei der Entführung getragen hatte – flogen durch die Luft. Er riss einen Arm in die Höhe und traf die batteriebetriebene Lampe, die sich von der Decke löste, über die Steinplatten schlidderte und einen unheimlichen blauen Lichtschein auf den Boden warf. Der Kerl hörte nicht auf, sich zu wehren, bäumte sich auf, sprang auf und ab, das Seil mit einer Hand umklammernd. Der andere Arm ruderte weiterhin durch die Luft, während er sich verzweifelt bemühte, sie zu packen und von seinem Rücken zu zerren.

Als ihm das nicht gelang, stampfte er rückwärts auf die Wand zu und warf sich mit aller Kraft dagegen, so dass er sie zwischen seinem muskelbepackten Rücken und dem rauhen Zement einquetschte.

Schmerz schoss ihr Rückgrat hinab.

Ihre Zähne klapperten.

In einem einzigen Schwall wich sämtliche Luft aus ihren Lungen.

Ihr Griff lockerte sich.

Nein!

Ihr Peiniger machte einen Schritt nach vorn, nur um sich erneut nach hinten zu werfen.

Zoe mobilisierte ihre letzten Kraftreserven und zog das Seil zusammen.

»Stirb, Bastard!«, zischte sie.

»Zoe?«, jammerte Chloe.

Krach! Ihr Hinterkopf prallte gegen die Wand.

Schmerz explodierte in ihrem Schädel, vor ihren Augen tanzten grelle Lichter, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Das Seil drohte ihr aus den Händen zu gleiten.

Chloe schrie auf. »Zoe! Hilf mir!«

Das holte Zoe in die Wirklichkeit zurück. Sie versuchte zu atmen und zog. Zog und zog, bis ihre Finger bluteten. Verdammt, irgendwann musste ihm doch die Luft ausgehen!

»Bitte, Zoe, hol mich hier raus!«

Mein Gott, was glaubst du denn, was ich gerade versuche?

Das Monster trat einen Schritt vor und setzte gerade an, sich erneut gegen die Wand zu werfen, als seine Knie nachgaben.

Das war’s, du kranker Scheißkerl. Stirb! Das dürfte dein letzter Atemzug sein.

»Chloe!«, schrie sie. »Du musst dich befreien!«

Ihre Schwester gab eine Art Winseln von sich.

Manchmal war ihr Zwilling ein solcher Jammerlappen!

»Reiß dich zusammen! Versuch, an die Schere zu gelangen, die in deine Richtung gerutscht ist. Schneid die Fesseln durch! Los, Chloe, du schaffst das!«, blaffte sie, während der massige Kerl auf wackeligen Knien am Boden hockte. »Stirb, du Scheißkerl!«, knurrte sie ihm ins Ohr. Er sackte vornüber. »Stirb!«

Auch als er schon auf den Steinplatten lag, lockerte sie nicht den Druck auf seine Kehle, da sie auf keinen Fall ein Risiko eingehen wollte.

Chloe in ihrer Ecke wimmerte leise vor sich hin. Mist. Wie immer musste Zoe alles allein machen. Sie nahm die Seilenden in eine Hand und tastete mit der freien nach einer Waffe. Mach schon! Mach schon! Hier müsste doch irgendwo eines seiner Werkzeuge liegen! Plötzlich stieß sie auf etwas Hartes. Aus Metall. Die Schere!

Mit blutenden Fingern griff sie danach, hob die Schere in die Höhe und stieß sie ihm mit aller Kraft seitlich in den Hals. Die Klingen drangen tief in sein weiches Fleisch.

Chloe schrie erneut auf, aber Zoe war noch nicht fertig. Mit einiger Anstrengung zog sie die Schere ein Stück weit heraus, öffnete die Klingen und versuchte, so viel Gewebe wie möglich zu verletzen, dann drückte sie die Klingen zusammen und riss daran.

Blut spritzte. Das Biest gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Zoe hoffte inbrünstig, dass sie etwas Lebenswichtiges verletzt hatte – die Halsschlagader, die Drosselvene oder die Luftröhre –, irgendetwas, Hauptsache, der Bastard würde schnell verbluten.

Die blutige Schere in der Hand, glitt sie von seinem Rücken und krabbelte auf allen vieren über den Fußboden zu der schwach leuchtenden Batterielampe, dann in die Richtung, in der sie ihre Schwester vermutete. Chloe kauerte nackt und gefesselt vor einer Wand. Sie zitterte wie Espenlaub. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Atem ging schnell und abgehackt.

»O Gott, o Gott, o Gott …«, stammelte sie. »Du hast ihn umgebracht.«

»Das hoffe ich.«

Chloe fing an zu weinen.

»Reiß dich zusammen!«, befahl Zoe und fing an, mit der blutverschmierten Schere die Handfesseln ihrer Schwester zu zerschneiden. Auch sie zitterte heftig, ihre aufgeschürften Finger schmerzten und verkrampften sich, doch sie zwang sich, die Klingen zu öffnen und wieder zu schließen. Öffnen und schließen. Öffnen und schließen. Ab und an warf sie einen Blick auf ihren Entführer, der nach wie vor reglos am Boden lag. Das Nylonseil war nicht leicht zu durchtrennen, und am liebsten hätte sich Zoe weinend zusammengekauert wie ihre Schwester, aber Adrenalin und Furcht trieben sie an, weiterzumachen.

Chloe war ihr keine Hilfe. »Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht«, skandierte sie wie ein Mantra, dann: »O nein, nein … nein, nein!« Sie fing an, panisch nach Luft zu schnappen.

»Mist.« Es fehlte noch, dass ihre Schwester hyperventilierte! Hektisch schob Zoe die geschlossene Klinge in eine der Schlaufen und versuchte, sie zu lockern. Vielleicht ließe sich der dicke Knoten so lockern.

Tatsächlich! Das Seil gab nach. Zoe befreite ihre Schwester von den Handfesseln, dann machte sie sich an dem Seil an ihren Fußknöcheln zu schaffen. »Komm, hilf mir«, wies sie Chloe an, aber diese zitterte nur und atmete keuchend.

»Chloe!« Zoe schüttelte ihre Schwester. »Nun mach schon! Wir müssen hier raus!«

»Nein. O Gott. Er … er!« Sie starrte wie paralysiert über Zoes Schulter, die kurz glaubte, der Irre habe sich wieder erholt und würde sich bereitmachen, sie zu überwältigen, doch ein rascher Blick zeigte ihr, dass er sich nicht regte. Hoffentlich war er tot!

Ihre Schwester rührte sich nicht. »Ich … ich kann nicht … er …«

»Schluss jetzt!«

»Ich … ich … ich kann nicht.« Chloe schluchzte.

Klatsch! Zoe schlug ihrer Schwester auf die Wange.

»Au!«

»Du kannst und du wirst«, erklärte sie mit fester Stimme und löste auch die Fesseln an Chloes Füßen, dann streifte sie ihr die Drahtschlinge über den Kopf. Anders als sie hatte er Chloe im Sitzen gefesselt und an einem Ring in der Wand festgebunden.

Hektisch ließ sie den bläulichen Schein der Batterielampe über die Wände gleiten und entdeckte eine Leiter, die zu einem Loch in der Decke führte.

Zoe zog Chloe auf die Füße. »Komm, lass uns abhauen!« Selbst in dem schummrigen Licht konnte sie den roten, anschwellenden Striemen auf der Wange ihrer Schwester erkennen, den ihr der Irre mit seinem Gürtel beigebracht hatte. Nun ja, geschah der Jammerliese recht. Sie schob Chloe auf die Leiter zu und warf einen letzten Blick auf den behaarten, muskelbepackten Kerl am Boden, der langsam verblutete. »Nun mach schon«, befahl sie barsch. »Rauf mit dir!«

»Du hättest mich nicht schlagen dürfen«, jammerte Chloe und rieb sich den roten Fleck auf der anderen Wange.

»Hab ich aber. Los, beeil dich!« Hatte ihre Schwester eigentlich noch alle Tassen im Schrank?

Im Schneckentempo fing Chloe an, die wackelige Leiter zu erklimmen. Nun mach schon, beeil dich!, feuerte Zoe ihren Zwilling im Geiste an, während sie ihr mit der Lampe leuchtete, damit sie nicht von den glatten Metallsprossen abrutschte, dann steckte sie sich die Funzel in den Mund, um eine Hand freizuhaben, und schob Chloe von unten an. Als diese endlich oben angekommen war, vernahm Zoe unter ihnen ein gequältes Stöhnen.

Verdammt!

Der Psycho war noch immer nicht tot.

[home]

Kapitel drei

Was ist los?« Olivias Stimme war Balsam auf seiner Seele, immer schon gewesen. Sanft und einfühlsam, mit der typisch gedehnten Aussprache der Südstaaten. Einfach umwerfend sexy.

Bentz setzte sich auf die Bettkante und spürte, wie die Matratze nachgab. Er hatte versucht, sich so geräuschlos wie möglich ins Schlafzimmer zu schleichen, um sie nicht zu stören, aber das war ihm natürlich nicht gelungen. »Ein Fall.«

»Vater John.« Eine Feststellung, keine Frage.

»Ja.«

Seufzend drehte sie sich auf die Seite und knipste die Nachttischlampe an. Der kleine Lichtkegel tauchte das Schlafzimmer in ein warmes, gedämpftes Licht. Bentz erkannte die Sorge in den großen Augen seiner Frau, die Sommersprossen auf ihrer Nase.

»Möchtest du darüber reden?« Gähnend strich sie sich die blonden Locken aus dem Gesicht.

»Eher nicht.«

»Du sprichst nie darüber.«

Er lachte leise, beugte sich vor und streifte mit den Lippen zärtlich ihre Wange. Mein Gott, war sie schön.

»Hast du ein Bier getrunken?« Eine Frage, kein Vorwurf. Noch immer leicht schlaftrunken stützte sie sich auf ihre Ellbogen und legte den Kopf schräg.

»Eher zwei. Oder drei.«

»Dann ist der Fall also wirklich übel.«

»Ich hasse diesen Scheißkerl.«

»Ich weiß. Das tun wir alle.« Sie trug zum Schlafen ein XXL-Shirt, doch selbst darin sah sie ungemein verführerisch aus, vor allem, wenn sie wie jetzt schmollend die Lippen schürzte.

Bentz grinste schief, knöpfte sein Hemd auf und wurde wieder ernst. »Dieser verfluchte falsche Priester. Ich dachte wirklich, er wäre tot. Ich meine …« Er zog Hemd und Hose aus. »… wie zum Teufel kann das sein? Hätte er nicht den Anstand besitzen und im Sumpf sterben können, nachdem ich ihm eine Kugel verpasst hatte?« Aufgebracht knüllte er das schmutzige Hemd zusammen. »Klar, all meine Fälle sind schlimm, das wissen wir beide. Schließlich arbeite ich bei der Mordkommission. Trotzdem machen manche der Täter eine persönliche Angelegenheit daraus, wie dieser zum Beispiel.«

»Du wirst ihn schnappen«, versicherte Olivia ihrem Mann und lächelte ihn in dem abgedunkelten Schlafzimmer mit den zarten Gardinen, dem großen Bett und der niedrigen Decke aufmunternd an. »Du kriegst die Kerle doch immer.«

»Allerdings dachte ich, diesen hätte ich längst erwischt«, knurrte er und schleuderte das Hemd in eine dunkle Ecke neben dem Kleiderschrank, in der ein Wäschekorb stand. Natürlich traf er daneben, und das Hemd landete auf dem Boden. Egal.

Bentz dachte an die Fälle, die er nicht abgeschlossen hatte, an die Mörder, die ungeschoren davongekommen waren. Bei einigen von ihnen hatte er genau gewusst, wer sie waren, doch er hatte sie aus Mangel an Beweisen nicht überführen können. Dann wiederum gab es einige, die aufgrund von erdrückenden Indizien hinter Gittern gelandet waren, obwohl Bentz bezweifelte, ob sie die ihnen zur Last gelegten Verbrechen tatsächlich begangen hatten. Zum Glück waren das nicht mehr als eine Handvoll.

»He, kannst du deinen Job nicht mal für ein paar Stunden vergessen?«, bat Olivia. Sie streckte ein langes, schlankes Bein unter der Bettdecke hervor und streichelte mit dem Handrücken Ricks Wange. Ihre Augen blitzten, als sie mit hochgezogener Braue hinzufügte: »Ich bin wach, und das Baby schläft.«

Bentz’ Grinsen kehrte zurück, doch diesmal reichte es fast von einem Ohr zum anderen. »Aber, aber, Mrs. Bentz«, sagte er gedehnt, »versuchen Sie etwa, mich zu verführen?«

»Das würde mir im Traum nicht einfallen«, verwahrte sie sich, doch ihre Hand glitt von seiner Wange über seine Brust tiefer in seinen Schritt. »Oh, oh«, stellte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag fest.

Mein Gott, wie sehr er sie liebte!

Sie strich mit dem Finger über die Innenseite seiner Schenkel.

Seine Erektion, die bereits auf Halbmast gewesen war, schwoll zu voller Größe an.

»Sündhaftes Weib«, knurrte er und küsste sie erneut, lange, fordernd, hingebungsvoll.

»Nur für dich«, flüsterte sie an seinen Lippen, als er zu ihr unter die Bettdecke schlüpfte. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und erwiderte seinen Kuss mit einer Leidenschaft, die zwischen ihnen loderte, seit sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Ja, auch in ihrer Beziehung hatte es Höhen und Tiefen gegeben, und auch heute noch war sie alles andere als perfekt, aber die Leidenschaft, die ungezügelte Lust, das wilde Verlangen schienen dennoch nicht weniger zu werden. Leise stöhnend vor Verlangen schloss Bentz die Augen und verlor sich in ihr in dem Wunsch, diese Nacht würde niemals enden.

 

»Nun mach schon, beeil dich!«, drängte Zoe und schob ihre Schwester aus diesem Höllenloch. Die Leiter führte durch eine Öffnung in der Decke in ein kleines Gebäude mit nur einem Raum, eher eine Hütte als ein Ort, an dem man anständig wohnen konnte. Zoe zog die Leiter hoch. Sollte der Psychopath mit seiner Gummischürze doch noch zu sich kommen und die Verfolgung aufnehmen wollen, säße er in seinem eigenen Versteck in der Falle.

Das geschähe ihm recht, dachte Zoe. Der Strahl der Lampe fiel auf eine Falltür, die mit einem Riegel versehen war. Eilig bückte sie sich, um sie hochzuheben und auf das Loch fallen zu lassen, doch sie war zu schwer. »Nun hilf mir doch!«, fauchte sie ihre Schwester an, aber Chloe wimmerte nur. Na schön, dann eben nicht. Der Muskelprotz würde auch so nicht entkommen können. Zoe wandte sich um und fluchte, als sie einen Stuhl umstieß und ins Stolpern geriet, weil sie den dürftigen Lichtstrahl der Batterielampe über die Holzwände hatte gleiten lassen, um den Ausgang zu finden. Da! Sie stieß ihre Schwester zur Tür, die zum Glück ebenfalls nur mit einem Riegel von innen versperrt war, und schob sie hinaus in die stockfinstere Nacht.

»Und was ist mit ihm?«, fragte Chloe, deren Stimme vor Angst zitterte.

»Er ist tot.«

»Du hast ihn wirklich umgebracht?«

»Das hoffe ich! Und nun beeil dich!«

Chloe machte ein paar unsichere Schritte in die Dunkelheit. »Ich kann gar nichts sehen!«

»Nimm du die Lampe.« Zoe drückte ihrer Schwester die Funzel in die Hand und schaute sich mit zusammengekniffenen Augen um. Zum Glück trat in diesem Moment der Mond hinter den dunklen Wolken hervor, so dass sie nun mehr erkennen konnten.

Die Hütte stand auf einer grasbewachsenen Lichtung, umgeben von dichtem Wald. Sie war völlig heruntergekommen und schien kurz vor dem Einstürzen. Daneben befand sich ein kleiner Schuppen, vielleicht eine Garage, dessen Holztor geschlossen war. Nachbarn gab es hier bestimmt keine, zumindest nicht in Sichtweite, auch sonst entdeckte Zoe keinerlei Anzeichen von Zivilisation. Hätte sie doch nur Verkehrslärm hören können oder das Rattern von Zügen oder auch das tiefe Tuten eines Nebelhorns auf einem Fluss! Aber alles war totenstill, abgesehen von ihrem eigenen keuchenden Atem und dem Rauschen des Windes in den Bäumen.

»Wo sind wir?«, fragte Chloe verzagt. Ihre Stimme klang, als würde sie gleich schon wieder anfangen zu weinen.

»Keine Ahnung. Komm jetzt!« Zoe packte die Hand ihrer Schwester und lief mit ihr eine schmale, grasüberwucherte Zufahrt, nicht mehr als eine Fahrspur, entlang, die von der Garage mitten ins Dickicht der Bäume zu führen schien. In dem Augenblick fing hinter ihnen ein Hund wie verrückt an zu bellen, dem Lärm nach zu urteilen kein kleiner. Im Gegenteil.

»Großer Gott«, jammerte Chloe und sackte vor Furcht auf die Knie. Das Bellen kam von der Rückseite der Hütte.

»Reiß dich zusammen«, blaffte Zoe, inbrünstig hoffend, dass die blutrünstige Bestie irgendwo eingesperrt war. Wenn nicht, wäre sie jede Sekunde bei ihnen, um sich auf sie zu stürzen. Ohne länger zu zögern, zerrte sie ihre Schwester hoch und zog sie weiter. Die Nacht war warm, eine typische feuchtschwüle Sommernacht in Louisiana. Als das Bellen hinter ihnen leiser wurde, hörte sie etwas anderes. Irgendwo in der Ferne rauschte ein Fluss, oder bildete sie sich das bloß ein?

Wolken schoben sich vor den Mond, leichter Regen setzte ein. Mist. Jetzt hatten sie wieder nur das Licht der kleinen Lampe. Hoffentlich würde die Batterie noch eine Zeitlang halten!

»Wir … wir sollten jemanden anrufen«, sagte Chloe außer Atem.

»Tolle Idee. Hast du etwa dein Handy bei dir?«

»Nein, aber –«

»Sei still und lauf weiter.«

»Aber meine Füße …«

»Ich weiß.« Zoes Füße schmerzten ebenfalls, ihre Fußsohlen waren aufgeschürft und voller kleiner Schnitte. Unter dem Gras auf den parallel verlaufenden Reifenspuren lagen spitze Kiesel. Das hier war ganz bestimmt die einstige Zufahrt zur Hütte, die zu einer größeren Straße führte, vermutlich zu einer Landstraße. Eine andere Möglichkeit, sich einen Weg durch die finster vor ihnen aufragenden Bäume zu bahnen, gab es ohnehin nicht.

Die Mädchen rannten die gewundene Fahrspur entlang. Zoe stieß mit dem Zeh gegen eine Baumwurzel und unterdrückte einen Fluch. Ab und an warf sie einen Blick über die Schulter, besorgt, dass der Irre doch dem unterirdischen Kerker entkommen sein könnte und sie nun überwältigen würde. Das ist unmöglich, redete sie sich ein. Du hast ihn umgebracht. Du bist eine Mörderin.

»Gut.«

»Was? Was ist gut?«, fragte Chloe in die Dunkelheit hinein, die eine Hand fest um die Lampe geschlossen, mit der anderen Zoes Hand umklammernd.

»Nichts.«

»Ach«, keuchte sie enttäuscht, dann schrie sie leise auf, als etwas dicht an ihrem Kopf vorbeiflatterte. »O Gott, war das etwa eine Fledermaus?«

»Keine Ahnung. Ist doch egal.«

»Eine Eule. Das war eine Eule. Sag mir, dass das eine Eule war!«

Wen interessierte das? »Sicher. Es war eine Eule. Mach dir doch deswegen keine Gedanken. Viel wichtiger ist, dass wir jemanden finden, der uns hilft.«

»Wir sind nackt!«

»Ja und? Das dürfte im Augenblick unser geringstes Problem sein.« Zoe zerrte Chloe weiter, in der aberwitzigen Hoffnung, sie beide in Sicherheit bringen zu können. Hoffentlich war der Irre wirklich tot. Warum um alles auf der Welt hatte er sie gekidnappt? Warum hatte er rotes Schleifenband an seiner Werkbank in Stücke geschnitten, und wozu diente ihm die Rolle mit Draht? Was hatte es mit diesem albernen Geburtstagslied auf sich? Das machte doch alles keinen Sinn! Woher wusste er eigentlich, dass sie Geburtstag hatten? Wer war der Kerl?

»Komm schon! Lauf, lauf, lauf!« Zoes Gedanken rasten um einiges schneller als ihre geschundenen Füße. Offenbar war genau das der Grund für ihre Entführung. Ihr Geburtstag. Er hatte definitiv gewusst, dass sie heute Geburtstag feierten. Hatte er sie etwa ausspioniert?

»Beeil dich, Chloe, bitte«, flüsterte sie drängend. Sie drangen nun immer tiefer in den Wald vor. Im schwachen Licht der kleinen Lampe war die Zufahrt fast nicht mehr zu erkennen. Es war ihr einundzwanzigster Geburtstag, und zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Zoe Denning die Präsenz des Bösen auf dieser Welt.

 

Sein Hals und sein Nacken brannten vor Schmerz.

Er hätte laut aufheulen mögen vor Pein, doch noch viel schlimmer war, dass die beiden Miststücke entkommen waren.

Das war ihm noch nie passiert. Zum ersten Mal hatte er beide Opfer verloren. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, um sich zu sammeln, dann hob er die Hand und fühlte das trocknende Blut an seinem Hals. Er hatte Glück gehabt. Zoe, diese verfluchte Schlampe, hatte versucht, ihn mit seiner eigenen Schere und seinem eigenen Seil umzubringen. Voller Abscheu, weil er sich von ihr hatte überrumpeln lassen, verzog er die Lippen. Das würde er ihr heimzahlen. Noch war er nicht tot!

Er rollte sich auf die Seite, zuckte vor Schmerz zusammen und rappelte sich hoch auf alle viere. Wenigstens konnte er wieder klar denken. In einem Fach unter der Werkbank bewahrte er Kerzen und ein Sturmfeuerzeug für Notfälle auf. Er musste die Sachen nur finden, dann konnte er in diesem finsteren Loch zumindest etwas sehen. Vorsichtig tastete er sich vorwärts, bis er mit der Schulter gegen ein Bein der Werkbank stieß, zog sich hoch und öffnete das Fach. Die Kerzen lagen noch darin. Er nahm eine heraus, suchte nach dem Feuerzeug und zündete, nachdem er es endlich gefunden hatte, die Kerze an. Licht. Spärlich zwar, aber immerhin Licht. Er betrachtete die Spuren der Verwüstung, die sein Kampf mit Zoe hinterlassen hatte, entdeckte die zu Boden gefallenen Bänder, die blutige Schere, die seinem Leben ein Ende hatte bereiten sollen, und die Drahtrolle, die bis in die entlegenste Ecke des unterirdischen Raumes gerollt war. Auch sein Handy lag am Boden.

Zorn stieg in ihm auf. Ein dumpfes Knurren entrang sich seiner verletzten Kehle. Wussten die Zwillinge denn nicht, dass er ihnen einen Gefallen tat, indem er sie umbrachte, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten? Dass er ihnen die schreckliche Erfahrung der Trennung ersparte? Man würde sie auseinanderreißen, früher oder später, so viel stand fest.

Er war unaufmerksam gewesen. Zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Das hatte Zoe ausgenutzt.

Unfassbar.

Wieder fuhr er sich mit der Hand an den schmerzenden Hals. Er wusste, dass er froh sein konnte, am Leben zu sein, doch jetzt musste er handeln. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was Myra dazu sagen würde, wenn sie es herausfand. Ach Mist, er konnte schon hören, wie sie ihn verhöhnte, ihm vorwarf, was für ein Trottel er doch war.

»Verfluchte Scheiße!«, wollte er brüllen, doch seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, ein schmerzerfülltes Wimmern. Dafür hatte dieses Miststück von Zoe mit dem Seil und der Schere gesorgt. Er würde eine ganze Weile nicht richtig sprechen können, wenn überhaupt jemals wieder, und das brachte ihn mächtig auf die Palme.

Kochend vor Zorn drosch er mit der Faust auf seine Werkbank ein.

Dafür würde sie büßen.

Darauf könnte sie sich verlassen.

Er musste die beiden kriegen. Sie zurückschleifen. Seine Arbeit zu Ende bringen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Ein Uhr eins. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Er hob sein Handy auf und steckte es in die Tasche seiner schwarzen Gummischürze.

Sein Kopf hämmerte, sein Hals fühlte sich an, als hätten sämtliche Höllendämonen ihre Zähne hineingeschlagen. Mit großer Anstrengung schleppte er sich zur Leiter, doch diese war weg. »Verflucht!«, krächzte er und legte vorsichtig den Kopf in den Nacken. Vor Schmerz wäre er fast wieder ohnmächtig geworden. Oben ragte die unterste Leitersprosse ein kleines Stück über die Öffnung in der Decke.

Es gelang ihm, den Hocker neben seiner Werkbank unter das Loch zu ziehen. Nachdem er die Kerze mit einer Wachspfütze auf dem polierten Holz befestigt hatte, hob er seinen Gürtel auf, der bei dem Kampf ebenfalls zu Boden gefallen war, stieg auf den Hocker und holte aus. Der Gürtel sauste durch die Luft, doch er verfehlte sein Ziel. Mist. Beim zweiten Versuch schlang sich das Gürtelende um einen der Holme, doch als er zog, löste es sich wieder und wäre ihm beinahe ins Gesicht gefallen.

»Verdammte Scheiße!«

Er probierte es erneut. Wieder ein Treffer. Er zog. Diesmal schien der Gürtel zu halten. Die Leiter bewegte sich. Ein letzter Ruck, und die Schwerkraft erledigte den Rest: Die Leiter stürzte ihm durch das Loch entgegen. Eine Sekunde später war er vom Hocker gestiegen und kletterte nach oben in die kleine Hütte. Gleich neben der offenen Falltür zum Keller stand eine Holzkommode. In einer der Schubladen musste eine alte Maglite liegen. Hoffentlich waren die Batterien noch gut. Er zog die Schublade auf und tastete nach der Taschenlampe. Seine Fingerspitzen berührten eine Schere, Streichhölzer, einen Schraubenzieher und … was war das? Stricknadeln? Ach, da war die Taschenlampe ja. Er knipste die Maglite an und ließ den schwachen gelben Strahl durch die Hütte gleiten. Nichts. Von den Zwillingen fehlte jede Spur.

Er stieß die Tür auf und trat hinaus in die Dunkelheit. Es regnete, dunkle Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. Er lauschte angestrengt, doch außer seinem eigenen Herzschlag, dem Heulen einer Eule und dem Quaken eines Ochsenfrosches war nichts zu hören. Keine panischen Schritte. Keine gedämpften Stimmen. Nichts deutete darauf hin, dass die Zwillinge noch in der Nähe waren.

So ein Mist!

Vor lauter Frust brach ihm der Schweiß aus, obwohl er nackt war, nur bekleidet mit seiner Gummischürze. Waren sie ihm tatsächlich entkommen? Die Zwillinge, die ihn identifizieren könnten? Mit zusammengebissenen Zähnen richtete er den Strahl seiner Maglite auf den Wald am Rande der Lichtung. Sie konnten noch nicht weit sein. Er war nicht lange ohnmächtig gewesen, und sie waren beide nackt und barfuß.

Hinter der Hütte veranstaltete der Hund in seinem Zwinger einen Höllenlärm, bellte und jaulte wie verrückt. Er überlegte kurz, ob er den Bluthund loslassen sollte, aber dann sprang er in seinen Van, der neben Reds Zwinger parkte, zog die Schlüssel aus der Schürzentasche und ließ den Motor an. Es gab nur einen Weg, der von hier wegführte, und der war lang.

 

»Beeil dich!«, drängte Zoe wieder und zerrte an Chloes Hand. Der Regen prasselte nun heftiger vom Himmel, zornig beinahe und so laut, dass sie kaum noch das Rauschen des Flusses hören konnte. Der Hund bellte in der Ferne noch immer. »Komm weiter!« Sie konnte gar nicht schnell genug von dieser Hütte des Grauens fortkommen.

»Aua! Mist!« Chloe stolperte und stöhnte laut auf.

»Was ist?«

»Ich glaub, ich hab mir den Fuß aufgeschnitten. Verflixte Steine!«

Pech gehabt. »Das wird schon nicht so schlimm sein, komm weiter!« Zoe zerrte ihre Schwester vorwärts.

»Doch … es ist sogar sehr schlimm.« Chloes weinerlicher Ton kehrte zurück. »Wie konnte das bloß passieren?«, jammerte sie außer Atem. »Wer ist dieser Irre? Was wollte er von uns?«

»Keine Ahnung. Wie du schon sagst: ein Irrer.« Doch ganz gleich, was er mit ihnen vorgehabt hatte – ihr Geburtstag spielte dabei auf jeden Fall eine entscheidende Rolle.

»Mein Gott, Zoe, er wollte uns umbringen! Da bin ich mir ganz sicher!«

Was du nicht sagst.

»Lauf einfach weiter«, knurrte Zoe. Plötzlich drang ein Geräusch durch die Nacht. Ein Geräusch, das nichts mit dem Rauschen des Flusses oder dem Bellen des Hundes zu tun hatte. Eine Art Dröhnen. Oder Rumpeln. Bei dem immer noch vom Himmel prasselnden Regen konnte man das nicht so leicht heraushören. »Warte!« Abrupt blieb sie stehen, wobei sie auf dem nassen Gras und den glitschigen Kieselsteinen beinahe ausgerutscht wäre.

»Was ist? Ich dachte, ich soll weiterlaufen –«

»Pscht!« Zoe spitzte die Ohren und lauschte angestrengt. Da hörte sie es wieder. Ein Motor, wie von einem Fahrzeug. Aus welcher Richtung kam es? »Hörst du das?«

»Was?«

»Ein Wagen, vielleicht ein Pick-up oder – oh, Scheiße! Vielleicht ist er das!«

»Wie bitte? Nein, das ist unmöglich. Du hast ihn doch umgebracht!«

»Das dachte ich auch.«

»Woher kommt der Wagen?« Chloe blickte panisch über die Schulter und drehte sich einmal um sich selbst. Im bläulichen Licht der Batterielampe sah Zoe die weit aufgerissenen Augen ihrer Schwester, spürte ihre Furcht. »Ich sehe nichts. Keine Scheinwerfer – nichts.«

»Lass uns weiterlaufen!« Zoe zerrte an der Hand ihrer Schwester. Sie mussten die gekieste Fahrspur verlassen. Wohin diese ehemalige Zufahrt auch führen mochte, vermutlich wäre sie die einzige befahrbare Strecke in diesem schier undurchdringlichen Dickicht. Es fiel Zoe schwer zu glauben, dass der Psycho ihre Attacke überlebt hatte, aber womöglich gab es einen Komplizen. Chloe hatte recht, kein heller Lichtkegel durchschnitt den dunklen Regenvorhang, dennoch wurde das Dröhnen des Motors immer lauter. Es schien tatsächlich aus der Richtung der Hütte zu kommen. Mist!

»Los, komm!« Sie sprang ins Unterholz, ihre Schwester mit sich ziehend. Zoe war immer schon die Sportlichere gewesen, während Chloe ihre Nase lieber in Bücher steckte, aber schulische Erfolge zählten heute Nacht nicht. Chloe würde über ihre körperlichen Grenzen hinausgehen müssen, wenn sie diesen Alptraum überleben wollten.

Das Motorengeräusch wurde lauter. Zoe riss Chloe die Lampe aus der Hand und stellte das Licht aus. Lieber Gott, bitte lass ihn vorbeifahren. Mach, dass er denkt, wir wären längst weg. Vielleicht sollten sie sich einfach verstecken. Die Dunkelheit zu ihrem Vorteil nutzen. Nein, das wäre zu gefährlich. Mit Sicherheit hatte er eine Taschenlampe oder Sturmlaterne im Wagen. Und eine Waffe. Eine Pistole, ein Gewehr, vielleicht sogar eine Machete, mit der er nicht nur das Dickicht zerteilen könnte.

Lauf, lauf, LAUF!

Endlich ließ der Regen etwas nach, die Wolken lichteten sich, das Mondlicht spendete ein klein wenig Licht. War das gut oder schlecht?

»Wir hätten auf Mom hören sollen«, sagte Chloe, während sie durch den Wald stürmten. »Wir hätten bei ihr feiern sollen.«

Hätten, hätten, hätten.

»Dann hätte uns dieser Schwachkopf nicht geschnappt.«

»Zu spät.«

»Oder wenn ich mich nicht von Tommy getrennt hätte. Ach, wäre er doch hier! Er würde wissen, was wir tun könnten …«

»Tommy ist ein Vollidiot, außerdem haben wir jetzt keine Zeit für dieses Gejammer!« Wie um alles auf der Welt konnte Chloe in dieser Situation bloß an ihren Ex-Freund denken?

»Aber er liebt mich!«

»Halt bitte einfach die Klappe und beeil dich!« Zusammen kämpften sie sich durchs Unterholz. Dornen kratzten ihre Haut auf, Brennnesseln streiften ihre nackten Beine, Kiefernzapfen schnitten in ihre Fußsohlen, doch sie schlugen sich immer weiter durch die dicht stehenden Bäume. Chloe meinte, Wasser zu hören und zu riechen, also hatte sich Zoe vorhin doch nicht getäuscht. Es musste tatsächlich ein Fluss oder Bach in der Nähe sein.

Krach!

»Au! Mist!«, japste Chloe und stürzte zu Boden. Ihre Hand glitt aus Zoes. »Verflixt!«

»Pscht!« Zoe drehte sich um, um ihrer Schwester aufzuhelfen, als sie plötzlich ein leises Knacken vernahm. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Panisch wirbelte sie herum. War da jemand außer ihnen? Ein Mensch? Oder ein Tier? Plötzlich hatte sie den Eindruck, dass tausend unsichtbare Augen auf sie gerichtet waren. Aber nein, das war doch absurd. Oder? Abgesehen von dem Psycho in dem Kellerloch und demjenigen, der den Wagen fuhr – wer immer das sein mochte –, waren sie allein. Dennoch …

Knack!

Ein Zweig brach.

Wieder suchte Zoe panisch die Dunkelheit ab. »Chloe?«, flüsterte sie.

Keine Antwort.

Das spärliche Mondlicht war in diesem Dickicht keine Hilfe. Sollte sie es wagen, die Lampe einzuschalten? Nein, lieber nicht. Sollte tatsächlich jemand hier sein, würde sie eher sich selbst verraten.