Gut Rheinhagen - Eva Maria Sartori - E-Book

Gut Rheinhagen E-Book

Eva Maria Sartori

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Beschreibung

Pommern, 1914: Die Rheinhagens sind eine angesehene Gutsherrenfamilie. Doch es drohen dunkle Wolken am Horizont: Axel von Rheinhagen, der einzige männliche Erbe, hat sich in die bürgerliche Charlotte Wagner verliebt und will sie gegen den Willen seiner Eltern heiraten. Um seine Jugendliebe trotz allem zur Frau nehmen zu können, kehrt Axel unter falschem Namen aus dem Ersten Weltkrieg zurück, und verzichtet somit auf sein Erbe.

An seine Stelle tritt Mark von Rheinhagen, ein entfernter Vetter. Doch als der Zweite Weltkrieg hereinbricht und schließlich das Rittergut erreicht, muss Mark Rheinhagen aufgeben. Die Familie schließt sich einem Flüchtlingstreck nach Schleswig-Holstein an, wo Mark für alle eine neue Zukunft aufbauen will. Wird ihm dies gelingen?

Die Geschichte der Rheinhagens ist die Chronik einer pommerschen Gutsherrenfamilie - über drei Generationen und zwei Weltkriege hinweg.

Dieses Buch ist bereits in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Die Rheinhagens" erschienen.

Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

1

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Über dieses Buch

Pommern, 1914: Die Rheinhagens sind eine angesehene Gutsherrenfamilie. Doch es drohen dunkle Wolken am Horizont: Axel von Rheinhagen, der einzige männliche Erbe, hat sich in die bürgerliche Charlotte Wagner verliebt und will sie gegen den Willen seiner Eltern heiraten. Um seine Jugendliebe trotz allem zur Frau nehmen zu können, kehrt Axel unter falschem Namen aus dem Ersten Weltkrieg zurück, und verzichtet somit auf sein Erbe. An seine Stelle tritt Mark von Rheinhagen, ein entfernter Vetter. Doch als der Zweite Weltkrieg hereinbricht und schließlich das Rittergut erreicht, muss Mark Rheinhagen aufgeben. Die Familie schließt sich einem Flüchtlingstreck nach Schleswig-Holstein an, wo Mark für alle eine neue Zukunft aufbauen will. Wird ihm dies gelingen?

Über die Autorin

Eva Maria Sartori wuchs in der Tschechischen Republik auf. In Dresden machte sie ihr Abitur und studierte dann Schauspiel. Nach dem Krieg wanderte sie nach England aus, wo sie dreizehn Jahre lebte und als Journalistin für die BBC arbeitete.

Eva Maria Sartori

Gut Rheinhagen

Ein Familienroman aus Pommern

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © by Franz Schneekluth Verlag

Titel der Originalausgabe: »Die Rheinhagens«

Originalverlag: Franz Schneekluth Verlag, München

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © CathrynGallacher / gettyimages; Toltek / gettyimages; Charcom / gettyimages © Richard Jenkins Photography

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-0223-2

be-ebooks.de

lesejury.de

1

Im engsten Familienkreise wurden die Mahlzeiten im Rheinhagener Herrenhaus meistens im sogenannten ›Sälchen‹ eingenommen. Dieser mäßig große, im behaglichen Stil der Biedermeierzeit eingerichtete Raum lag an der Nordseite des Wohntrakts. Daher kam es wohl auch, dass es darin nicht einmal bei hochsommerlichen Temperaturen übermäßig warm wurde. Auch an diesem Abend brannte, obgleich der Mai des Jahres 1914 sich von seiner besten Seite zeigte, ein Feuer in dem nach englischem Vorbild gebauten Kamin.

Der lange ovale Tisch war mit Meißner Zwiebelmusterporzellan gedeckt, altes Familiensilber glänzte im Licht der Kerzen, auf die Johanna von Rheinhagen auch bei weniger feierlichen Anlässen nicht verzichtete.

Wenn der Gardeleutnant Axel von Rheinhagen auf Urlaub zu Hause war, verliefen die abendlichen Tischgespräche besonders lebhaft und anregend. Er verstand es, das Leben in der Reichshauptstadt plastisch zu schildern, berichtete von Theater- und Opernbesuchen, die besonders seine Mutter Johanna, eine gebürtige Berlinerin, sehr vermisste.

Axels Schwester, die zwanzigjährige Edda, interessierte sich hingegen mehr für die augenblickliche Moderichtung.

»Bis wir die Journale bekommen, ist in Berlin schon längst etwas anderes modern«, beschwerte sie sich zwischen Hauptgang und Dessert.

»Ich werde dich künftig in meinen Briefen genau unterrichten, damit du nie das Gefühl hast, in unserem schönen Pommern abseits zu stehen«, versprach Axel lächelnd.

Den Herrn des Hauses, Wolf von Rheinhagen, begannen die typisch weiblichen Gespräche zu langweilen.

»Den Kaffee nehmen wir wohl wie üblich in deinem Salon ein, Johanna«, sagte er sichtlich ungeduldig und gab damit seiner Frau das Signal, die Tafel aufzuheben.

Johanna bedachte ihn mit einem nachsichtig-freundlichen Blick, zögerte dann aber nicht länger, seinen Wunsch zu erfüllen. Oberflächlich betrachtet mochte es so aussehen, als stünde sie ganz im Schatten ihres zur Herrschsucht neigenden Gatten. In Wirklichkeit jedoch gab sie den Ton im Haus an und war der unerschütterliche Pol, um den sich alles drehte.

Während Axel den anderen folgte, sah er verstohlen auf die Uhr. Saßen sie erst einmal im Salon fest und kam der alte Herr auf sein Steckenpferd, die Landwirtschaft, zu sprechen, dann konnte eine Ewigkeit vergehen, ehe er Gelegenheit fand, sich mit einer plausiblen Erklärung zurückzuziehen.

Johannas Salon war der einzige Raum des Herrenhauses, zu dem nur Familienmitglieder Zugang hatten. Bei Anwesenheit von Gästen, die länger als einen Tag blieben, traf man in der Bibliothek zusammen, deren schwere, solide Einrichtung dem Hausherrn mehr zusagte.

»Ein Mann braucht einen ordentlichen Sessel, in dem er bequem sitzen kann und nicht dauernd befürchten muss, dass dieser unter seinem Gewicht zusammenbrechen könnte. In deinen Salon passen eigentlich nur Damen, Johanna. Für meinen Geschmack ist darin alles viel zu zierlich und ordentlich.«

An diesem Abend jedoch schien sich Wolf von Rheinhagen, trotz dieser Behauptung, in dem anmutigen Zimmer sehr wohlzufühlen. Axel stellte mit sinkendem Mut fest, dass sein Vater offensichtlich die Absicht hatte, sich auf ein längeres Gespräch mit seiner Familie einzurichten.

Fritz, der einstige Bursche des Hausherrn, pflegte bei Tisch zu servieren. Er brachte den Kaffee und stellte den Portwein zurecht, ohne den Wolf keinen Abend beendete.

»Wie bist du eigentlich mit Earl zufrieden, Vater?«, erkundigte sich Axel, nur um etwas zu sagen, und versuchte, den Vorstehhund des Vaters zu sich zu locken. Aber Earl wedelte nur wohlwollend mit der Rute; er dachte gar nicht daran, von der Seite seines Herrn zu weichen.

Wolf von Rheinhagen beobachtete die vergeblichen Bemühungen seines Sohnes mit offensichtlicher Befriedigung. Seiner Meinung nach durfte ein gut ausgebildeter Hund nur einem einzigen Herrn gehorchen, und Earl entsprach in dieser Beziehung ganz seinen Vorstellungen.

»Er macht sich. Als ich ihn seinerzeit als halb zu Tode geprügelten Köter zu mir nahm, hatte ich keine großen Hoffnungen. Nun ist er ein brauchbarer Jagdhund geworden und dankt mir meine Fürsorge mit einer geradezu rührenden Anhänglichkeit.«

»Du bist ohne Earl gar nicht mehr vorstellbar, Vater«, warf Edda ein. »Ganz gleich, wohin du gehst, er folgt dir. Auch ist mir aufgefallen, dass er ständig Kontakt mit dir sucht. Er scheint nur glücklich zu sein, wenn er deine Nähe fühlt. Entweder schmiegt er den Kopf an dein Knie oder legt ihn, wie eben jetzt, auf deinen Schuh.«

Johanna hörte schweigend zu. Sie wusste, dass Earls Verhalten der Natur ihres Gatten entgegenkam; seiner Meinung nach gehörte alles, was ihn umgab, ihm. Auch in seinen längst erwachsenen Kindern sah er immer noch seine Geschöpfe, die sich getreulich seinen Wünschen zu fügen hatten. Soweit dies Axel betraf, musste es eines Tages zwangsläufig zu Komplikationen kommen. Denn dessen Lebensauffassung deckte sich in keiner Weise mit der des Vaters.

Bereits rein äußerlich gesehen war Axel mit seinem lockigen braunen Haar und den stets ein wenig schwermütig blickenden Augen ein Träumer und seiner Mentalität nach eher ein Künstler – er besaß ein hübsches Maltalent – als ein angehender Landwirt und Erbe eines großen Rittergutes. Zwischen Vater und Sohn hatte es deswegen schon häufig ernsthafte Meinungsverschiedenheiten gegeben. Johanna seufzte unwillkürlich auf. Sie riss sich von ihren unerfreulichen Gedanken los, als sie feststellte, dass Wolf sich einem neuen Thema zugewandt hatte.

»Der Schweizer macht sich ganz gut, Hanna«, sagte er eben in seiner knappen, energischen Redeweise, die nie Widerspruch zu erwarten oder gar zuzulassen schien. »Nur sollte er nicht so hinter den Weiberröcken her sein. Das macht bloß böses Blut unter den anderen Burschen. Sie treten ihre Ansprüche ungern an Fremde ab.«

»Vielleicht war es ein Fehler, Pavel einzustellen, Wolf.« Johanna war die Einzige, die es wagen durfte, Entscheidungen des Hausherrn sanft zu kritisieren. »Er mag in seinem Beruf recht tüchtig sein, doch in seiner hochfahrenden Weise passt er schlecht zu unseren durchwegs bescheidenen Leuten. Und was die Sache mit den Weiberröcken betrifft – so kannst du, glaube ich, ruhig schlafen.« Sie hatte den verärgerten Blick des Gatten wohl bemerkt; dieser schöne Abend sollte nicht durch eine Unstimmigkeit verdorben werden. Also fügte sie gelassen hinzu: »Die Mägde haben ihn bestimmt längst durchschaut. Sie machen sich über ihn lustig und lassen sich nicht durch seine Süßholzraspelei einwickeln.«

Wolf von Rheinhagen nickte stumm. Er wusste natürlich, dass seine Frau recht hatte. Nur kam es zwischen den deutschen Knechten und dem in seiner Art recht herausfordernden Polen immer wieder zu Reibereien.

»Na, Hauptsache, er tut seine Arbeit ordentlich«, schloss er das Thema etwas abrupt ab. »Mit seinen Untugenden traue ich mir zu, fertig zu werden.«

Während er sich von dem Portwein nachschenkte, den bereits sein Großvater eingelagert hatte, musterte er Axel fragend. »Möchtest du auch noch einen Schluck, Axel? Du kennst die Sorte – nach einer guten Mahlzeit gibt es nichts Besseres.« Axels Stirn rötete sich. Jetzt war der passende Moment gekommen, sich loszueisen.

»Danke, Vater. Ich habe schon bei Tisch mehr als genug getrunken. Außerdem möchte ich euch bitten, mich zu entschuldigen. Mama, erlaubst du, dass ich mich für heute verabschiede?«

Jeder, der die Umstände kannte, hätte die Verlegenheit, die in seiner Stimme mitschwang, spüren müssen. Doch die völlig ahnungslose Johanna blickte nur lächelnd zu dem Sohn auf, der ihr ganzer Stolz war.

Die Jahre hatten der Schönheit der jetzt Zweiundvierzigjährigen nichts anhaben können. Mit ihrem vollen, dunklen Haar, dem makellosen Teint und den leuchtenden blauen Augen wirkte sie noch ausgesprochen jugendlich. Wie so oft schon fragte sich Axel auch jetzt unwillkürlich, ob seine Mutter an der Seite ihres ernsten, fast selbstherrlichen Gatten wirklich das Glück gefunden haben mochte, von dem sie als junges Mädchen geträumt hatte.

Impulsiv neigte er sich über sie und küsste sie auf die Wange. Johanna griff nach seiner Hand, um sie in unbewusster Zärtlichkeit sekundenlang festzuhalten.

»Was hast du denn heute Abend noch vor, Axel?«, erkundigte sie sich, während sie hastig, als tue sie etwas Verbotenes, über seinen Kopf strich. »Böse Zungen behaupten, es sei dein Ziel, alle Mädchenherzen Pommerns zu brechen.«

Axels Erscheinung mochte diese Behauptung rechtfertigen. Sein Gesicht, in das erneut eine verräterische Röte stieg, war sympathisch und gut geschnitten. Es zeigte jedoch eine Weichheit im Ausdruck, die in krassem Widerspruch zu seiner von ihm selbst gewählten Offizierslaufbahn stand.

›Soldaten müssen schneidig sein, keine Träumer‹, lautete Wolf von Rheinhagens Devise. Der zur Unentschlossenheit, zur Weltfremdheit neigende Charakter seines Sohnes bereitete ihm häufig genug Sorge.

»Man übertreibt – wie meistens in dieser Beziehung. Als ob ich daran interessiert sei, Herzen zu brechen. Dazu hätte ich in Berlin schließlich ausreichend Gelegenheit.«

Als er dem forschenden Blick seines Vaters auswich, bemerkte Axel, dass Eddas blaue Augen auf ihn gerichtet waren. Es stand eine unausgesprochene Frage darin. Vermutete sie etwa mehr, als ihm lieb sein konnte? Er dachte sofort an das Mädchen, von dem seine Gedanken nicht mehr loskamen. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust, und er wusste wohl selbst nicht, wie bekümmert er in diesem Moment wirkte.

Wenn er doch nur rückhaltlos sprechen, sich der Familie anvertrauen dürfte! Doch er würde in diesem Fall nur auf Unverständnis, wenn nicht gar auf Empörung stoßen, das war ihm klar. Schließlich war Charlotte Wagner eine Bürgerliche, die den Vorstellungen seiner Eltern von ihrer künftigen Schwiegertochter in keiner Weise entsprach. Als Nichte des Inspektors von Rheinhagen konnte sie nie damit rechnen, seine Frau zu werden. Es sei denn ...

»Ich möchte gern noch ausreiten«, erklärte Axel nun, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. »Es ist so schön draußen, die Dämmerung hat gerade begonnen ...«

»Natürlich, mein Junge.« Johanna nickte ihm herzlich zu. »Du bist doch zu Hause und kannst tun und lassen, was du willst. In Berlin steckst du ohnehin zu viel drin. Freue dich also während deines Urlaubs an der Natur. Aber sei bitte vorsichtig. Der Mond ist nicht immer eine sichere Lichtquelle.« Seit Horst, ihr Ältester, vor vier Jahren im Duell gefallen war, galt Johannas ganze Sorge Axel und Edda.

Axel überlegte: Ob sie, wenn es um sein Lebensglück ging, nicht doch auf seiner Seite stehen würde? Oder war sie schon zu sehr eine Rheinhagen geworden, um Verständnis für seine ungewöhnliche Wahl aufbringen zu können?

»Keine Angst, Mama«, versicherte er beruhigend. »Mein Brauner ist lammfromm und sieht nachts wie eine Katze. Außerdem sucht er sich im eigenen Interesse seinen Weg mit der Sicherheit eines Seiltänzers.«

Eigentlich hatte Axel fest mit einem Widerspruch seitens seines Vaters gerechnet. Seltsamerweise blieb dieser aus. Wolf von Rheinhagen gab sich ausnehmend jovial und voller Verständnis für die Unruhe der Jugend, die sich auf irgendeine Weise ein Ventil für verdrängte Gefühle schaffen musste.

»Hast recht, Axel, genieße deine Freiheit«, sagte er gut gelaunt. »Später, wenn unsere Gäste aus England eintreffen, wirst du ohnehin angebundener sein. Ich werde dich bitten müssen, dich ihnen zu widmen. Deine Mutter kann nicht zur gleichen Zeit an mehreren Stellen sein, außerdem hat sie genug mit den Vorbereitungen für Eddas Verlobungsfeier zu tun. Und auf deine Schwester können wir schon gar nicht zählen, solange ihr geliebter John da ist.«

Wolf von Rheinhagen erhob sich ächzend. Manchmal begann er doch unangenehm zu spüren, dass er sich den Fünfzig näherte. Hier und da meldeten sich kleine Beschwerden, die ihm bis dahin unbekannt gewesen waren.

Im Gegensatz zu seinem hochgewachsenen und fast überschlanken Sohn wirkte der Gutsherr allein durch seinen kräftigen Körperbau imponierend. Sein eckiger Schädel verriet unerbittliche Willenskraft, dem durchdringenden Blick seiner auffallend blauen Augen standzuhalten war nicht immer einfach, ja sogar ausgesprochen schwierig, wenn man etwas vor ihm zu verbergen suchte.

»Übrigens wirst du auf der Feier auch Gina von Graßmann wiedersehen, Axel. Sie soll als Eddas beste Freundin einige Tage unser Gast sein. Außerdem weißt du, welche Pläne wir, was sie betrifft, mit dir haben. Gina ist auf einem Rittergut aufgewachsen. Wenn Hohenlinden auch nicht annähernd an Rheinhagens Größe heranreicht, so weiß Gina schon heute in der Landwirtschaft gut Bescheid. Eines Tages, wenn du Rheinhagen übernimmst, wird sie dir eine tüchtige Gutsherrin abgeben.«

Axels Gesicht brannte. Er wollte die Worte des Vaters mit einem Lachen abtun, aber es misslang. Jetzt wäre der richtige Moment gewesen, zu widersprechen, die eigenen Pläne zu unterbreiten. Doch wieder einmal fehlte ihm der Mut, sich seinem alten Herrn entgegenzustellen.

Ein fast hilfloser Ausdruck lag auf seinem angenehmen Gesicht, als er ausweichend erklärte: »Wer weiß, ob Gina mich überhaupt will! Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Außerdem, Vater – als Mutter dich heiratete, war sie überhaupt nicht mit den Aufgaben einer Gutsherrin vertraut. Und wer möchte wohl behaupten, dass Rheinhagen bei ihr nicht in den besten Händen wäre? Was unseren englischen Besuch betrifft, so kannst du dich natürlich auf mich verlassen.«

Axel spürte selbst, dass seinen Worten die rechte Überzeugungskraft fehlte. Er war in seiner Angelegenheit keinen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil: Die Schwierigkeiten hatten eher zugenommen! So küsste er seine Mutter noch einmal liebevoll auf die Stirn und verließ dann mit einem stummen Gruß an Vater und Schwester den Salon.

In der Halle blieb Axel stehen, um sich mit bebenden Händen eine Zigarette anzustecken. Das Gespräch mit dem Vater hatte ihn doch ziemlich mitgenommen. Der alte Herr schien sich wirklich in den Kopf gesetzt zu haben, Gina von Graßmann würde eines Tages in Rheinhagen einziehen. Die Hoffnung, dass er Axels Plan, Charlotte Wagner zu heiraten, billigen würde, wurde dadurch immer aussichtsloser.

Es gab demzufolge nur zwei Möglichkeiten: Entweder er musste auf Charlotte oder für alle Zeiten auf Rheinhagen verzichten. Axel sah sich schwermütig in der großzügig angelegten Eingangshalle um, die ihm seit seiner Kindheit so vertraut war. Der mit Fellen ausgelegte Steinfußboden, der mächtige alte Kamin, die Ledergarnitur davor und der wuchtige Eichentisch weckten so manche Erinnerung an fröhliche Jagdgesellschaften.

Den Hintergrund der Halle, von der zahlreiche Türen abgingen, füllte die breite Treppe aus, die nach oben führte und sich in halber Höhe auf einem Podest teilte. Das reich geschnitzte Geländer besaß einen hohen künstlerischen Wert, doch hatte diese Tatsache Axel und seine Geschwister nie daran gehindert, es als Rutschbahn zu benutzen.

Axel seufzte. Er wünschte sich von Herzen, nicht vor eine solche Entscheidung gestellt zu werden. Charlotte konnte er unmöglich aufgeben – aber auch der Verlust Rheinhagens ... Mit einer unwilligen Bewegung drückte er seine kaum angerauchte Zigarette aus. Es musste einen anderen Weg geben: einen Ausweg, der allen Teilen gerecht wurde! Mit raschen Schritten, zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er nach oben, um sich umzukleiden. Er konnte schließlich nicht im Abendanzug, auf dem Johanna stets bestand, in den Sattel springen. Wieder in der Halle angekommen, berührte Axel mit liebevollem Spott den ausgestopften Hasen, der an der Tür zum eigentlichen Jagdzimmer seinen Stammplatz hatte. Auf den Hinterläufen stehend, die Augen verschmitzt auf den Beschauer gerichtet, war dieses kleine Monster das Entzücken der Rheinhagener Kinder gewesen. Besaß es doch eine Eigenart, die es zu etwas ganz Besonderem stempelte und oft Anlass zu Schabernack gegeben hatte. Es handelte sich dabei um ein zierliches Geweih, das dem Hasenkopf so geschickt aufgesetzt worden war, dass dies völlig natürlich wirkte. Axel erinnerte sich in diesem Zusammenhang mit Vergnügen an eine hochbetagte Tante seines Vaters, die ihr ganzes Leben in der Großstadt verbracht und wenig Ahnung von den Grenzen hatte, die einem Hasen von der Natur gesetzt worden waren. Ihre Bewunderung für dieses von einem Geweih gekrönte Hasenhaupt war schrankenlos.

Axels düstere, pessimistische Stimmung wich einer stillen Heiterkeit. Plötzlich war ihm, als müsse letzten Endes doch alles gut werden. Seine hohe, schlanke Gestalt straffte sich unternehmungslustig, als er die schwere Eichentür öffnete, um das Herrenhaus zu verlassen. Auf der Freitreppe blieb er, tief einatmend, einen Augenblick stehen. Bestimmt war es klug gewesen, dass er an diesem Abend nicht gesprochen hatte. Eine gemütliche Tafelrunde eignete sich auch kaum für schwerwiegende Entscheidungen. Bei nächster Gelegenheit würde er mit dem Vater sprechen. Vielleicht schon morgen ...

Vom Wirtschaftshof klangen vertraute Geräusche herüber: das Klappern der Milcheimer, das fröhliche Geschwätz der Mägde, die vor den Burschen großtaten und sich mit ihnen neckten. Dazwischen die tiefe Stimme des Schweizers, in ihrem harten Ton noch immer den Polen verratend. Und dann helles Lachen, in dem ein wenig Schadenfreude mitschwang. Wer weiß, welches der Mädchen dem amourösen Pavel wieder einmal eine Abfuhr erteilt haben mochte!

Axel lächelte nachsichtig. Es war eben Frühling – kein Wunder, dass es an allen Ecken und Enden knisterte und schwelte. Hier auf dem Lande, wo die Natur sich von Tag zu Tag mehr entfaltete und ständig erneuerte, wurde einem dies besonders intensiv bewusst. Er blickte zu dem nahen Verwalterhaus hinüber. In Charlottes Zimmer unter dem tiefgezogenen Dach brannte kein Licht. Bestimmt wartete sie schon ungeduldig auf ihn. Mit einem zufriedenen, vergnügten Pfeifen wandte Axel sich den Stallungen zu, um seinen Braunen satteln zu lassen.

Am sogenannten Herzberg, der kleinen Anhöhe, die hinter dem Wäldchen sanft anstieg, stand, an eine mächtige Eiche gelehnt, ein junges Mädchen. Der Duft des blühenden Klees lag über der Wiese, an deren Rain vorsichtig ein Fuchs entlangschnürte. Auf halbem Wege verharrte er und spähte zu der reglosen Gestalt hinüber. Als diese plötzlich die Hand hob, um eine Locke, die sich selbstständig gemacht hatte, aus der Stirn zurückzustreichen, verschwand er wie ein rotgoldener Blitz in der zunehmenden Abenddämmerung.

Charlotte Wagner seufzte leise auf und schlang mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit die Arme um den kühlen Baumstamm. Es ist schön hier, dachte sie sehnsüchtig. Ich möchte immer in Rheinhagen bleiben dürfen ...

Dann wurde ihr Gesicht, das in seiner Ebenmäßigkeit fast etwas Madonnenhaftes hatte, unversehens traurig. Auf dieses Glück zu hoffen war wohl längst sinnlos geworden. Es sei denn, Axel wäre bereit, um sie zu kämpfen. Doch auch gestern war er nicht zum vereinbarten Treffpunkt gekommen; sie hatte vergeblich auf ihn gewartet.

»Wenn er heute wieder wegbleibt«, sagte sie zornig in den Abend hinein, »fahre ich nach Dresden zurück und versuche, ihn zu vergessen. Denn dann hat das Schicksal gegen mich entschieden, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden.«

Die Worte waren kaum ausgesprochen, als ein leises Wiehern in nächster Nähe Charlotte aufmerken ließ. Sie hob lauschend den Kopf. Doch das Geräusch wiederholte sich nicht – alles blieb still. Ross und Reiter mussten einen anderen Weg eingeschlagen haben.

Charlotte löste sich lustlos von der Eiche und ging entmutigt und mit langsamen Schritten über die Wiese. Noch war der Himmel im Westen hell, ein fast unwirkliches Licht lag über der abendlichen Landschaft.

Ein schnaubendes Geräusch ließ das in seine unerfreulichen Gedanken versunkene junge Mädchen erschrocken herumfahren. Im nächsten Moment aber streichelte es schon den braunen Pferdekopf, der sich ihm vertraut schnuppernd zuneigte.

»O Axel!«, rief Charlotte, zwischen Lachen und Weinen schwankend. »Ich fürchtete bereits, du und der Braune, ihr hättet mich schon wieder im Stich gelassen!«

»Verzeih, Liebes, aber gestern war es mir unmöglich, mich loszueisen. Vater hatte Freunde zu Besuch, und es wäre unangenehm aufgefallen, hätte ich mich einfach seitwärts in die Büsche geschlagen, wie man so schön sagt.«

Axel war geschmeidig aus dem Sattel geglitten und nahm Charlotte in die Arme. Wie immer, so fiel es ihm auch jetzt wieder schwer, sich ihr gegenüber zu beherrschen. Ihre Nähe entflammte ihn stets gleichermaßen – doch er wusste, dass er seine Leidenschaft zügeln musste, solange die Lage ungeklärt war.

»Ich segne Vaters Gewohnheit, so früh zu Abend zu essen. Dadurch kann ich anschließend den Ausritt zum Vorwand nehmen. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe«, setzte er leise hinzu und neigte sich über ihren Mund, der dem seinen so nahe war.

»Kaum weniger als ich mich nach dir«, gab Charlotte zurück, als Axels Lippen sie nach einem endlosen Kuss freigaben. »Es ist schrecklich, immer nur warten zu müssen und allmählich alle Hoffnung zu verlieren. Mir fehlt die Zuversicht, der Optimismus, daran zu glauben, dass deine Eltern je unserer Verbindung zustimmen werden. Wer bin ich schon? Nur die Nichte des Inspektors von Rheinhagen. Kaum eine passende Partie für den zukünftigen Erben eines riesigen Besitzes.« Axel blickte schmerzlich bewegt in ihr erregtes Gesicht. Er teilte natürlich Charlottes Zweifel, hätte dies aber um nichts in der Welt offen zugegeben.

»Mutter werde ich mit der Zeit bestimmt für uns gewinnen. Wir müssen uns nur ein wenig gedulden. Wir sind beide jung, das ganze Leben liegt noch vor uns. Etwas zu überstürzen oder mit Gewalt eine Entscheidung herbeizuführen wäre sinnlos. Mein Vater hat in diesen Dingen ganz bestimmte Vorstellungen, von denen man ihn nur allmählich abbringen kann. Sollte er sich jedoch auf die Dauer gegen unsere Verbindung stellen, dann nehme ich einfach meinen Abschied und folge dir nach Dresden. Obwohl das kein leichter Entschluss für mich wäre, wie du dir denken kannst. Ich liebe Rheinhagen, es ist meine Heimat – doch du bedeutest mir weit mehr!«

Charlotte wandte den Kopf, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sah. Mutlosigkeit erfüllte sie, und es fiel ihr schwer, vor Axel zu verbergen, wie ihr ums Herz war. »Und was würdest du in Dresden anfangen?«, fragte sie leise. »Du bist mit Leib und Seele Offizier, hast nie eine andere Art von Leben gekannt, nichts weiter gelernt. Bisher hast du dich nicht einmal für die Landwirtschaft interessiert, obgleich du seit dem Tod deines Bruders der spätere Erbe von Rheinhagen bist. Gewiss, in ein paar Jahren werde ich als Lehrerin unterrichten, doch kann man gerade in diesem verantwortungsvollen Beruf leider keine Reichtümer sammeln. Natürlich würden meine Eltern uns helfen, wir könnten bei ihnen wohnen. Aber ist das die Zukunft, die du dir ausgemalt hast? Du, der verwöhnte Axel von Rheinhagen, müsstest durch ein solches Leben verkümmern.«

Axel schwieg bedrückt. Zu Charlottes trostloser Schilderung ihres zukünftigen gemeinsamen Daseins fielen ihm keine Gegenargumente ein. Ihre Vorstellungen waren tatsächlich wenig verlockend. Warum musste sie auch stets so vernünftig, so realistisch denken, statt sich des Augenblicks zu erfreuen? Die Frauen seiner Kreise zerbrachen sich nicht die hübschen Köpfchen mit solchen Problemen – sie überließen es den Männern, die Entscheidungen zu treffen.

Er seufzte missmutig auf. Charlotte konnte oft unerträglich nüchtern sein, und doch hatte er noch nie eine Frau so geliebt wie gerade sie. Sie war schön, anmutig und klug. Vielleicht gelang es ihm doch noch, den Vater davon zu überzeugen, dass sie durchaus dafür geeignet sei, eines Tages Herrin von Rheinhagen zu werden? Er müsste sie lediglich besser kennenlernen und versuchen, nicht nur die Nichte seines Inspektors in ihr zu sehen.

Bei dem Gedanken an das Ehepaar Wagner befiel Axel ein leichtes Unbehagen. Wagner war zwar gebildet und auf seinem Gebiet unersetzlich: Von Landwirtschaft verstand er mehr als jeder andere. Aber seine Frau vermochte Axel sich beim besten Willen nicht an der Tafel von Rheinhagen vorzustellen. Und doch würden die Wagners als Charlottes nächste Anverwandte dann praktisch mit zur Familie zählen ...

Um dieser Vorstellung auszuweichen, zog Axel Charlotte erneut in seine Arme. Das letzte Licht des Tages war vergangen, ihr Gesicht war nur noch ein heller Fleck, in dem die grauen Augen wie zwei tiefe, unergründliche Seen schimmerten. Der Duft ihrer Haare stieg zu ihm auf, weckte Wünsche in ihm, denen er nicht erliegen durfte, obgleich er zu wissen glaubte, dass auch Charlotte sich nach völliger Hingabe sehnte.

»Sobald sich die Gelegenheit ergibt, spreche ich mit meinen Eltern«, beteuerte er nicht zum ersten Mal. »Im Moment dreht sich alles nur um Eddas Verlobung. Und wenn erst einmal die Hausgäste da sind, kann man ohnehin kein vernünftiges Wort mehr reden. Doch hinterher nehme ich die Sache sofort in die Hand. Vielleicht lässt Eddas Verbindung mit einem englischen Großgrundbesitzer meinen Vater etwas milder und menschlicher urteilen.«

Charlotte Wagner glaubte nicht an diese Möglichkeit. »Wohl kaum. John Wakefield passt zu euch, er liebt deine Schwester über alles, da mag dein Vater recht zufrieden sein. Aber du und ich? Bei uns stimmt nur die Liebe – in jedem anderen Punkt führen unsere Wege in zwei völlig verschiedene Richtungen.«

Während der darauffolgenden Tage wurde Axel noch oft an Charlottes Worte erinnert. Er versuchte zwar nach Kräften, sich den Gästen zu widmen, wie er es seinem Vater versprochen hatte. Aber der Gedanke, dass Charlotte drüben im Verwalterhaus saß und von dem festlichen Geschehen ausgeschlossen blieb, während sie doch eigentlich an seine Seite gehörte, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Axels Zerstreutheit fiel so manchem auf, und häufig fühlte er den Blick des Vaters auf sich gerichtet. Mit einem Ausdruck, der offenes Befremden verriet, musterte Wolf von Rheinhagen seinen Sohn. Auch Edda von Rheinhagen konnte, obgleich sie der Mittelpunkt dieser Festlichkeit war, das seltsame Wesen des Bruders nicht auf die Dauer übersehen.

Als die Geschwister zufällig auf dem Korridor zusammentrafen, fragte sie deshalb freundlich: »Axel, bedrückt dich irgendetwas? Ich hoffte, du würdest dich mit mir freuen – weil ich so unsagbar glücklich bin. Stattdessen trägst du eine wahre Trauermiene zu Schau.« Sie legte die Hand auf seinen Arm und sah den Bruder forschend an.

Einem jähen Impuls folgend, entschloss sich Axel, sie in sein Geheimnis einzuweihen. »Hättest du einen Moment Zeit für mich, Edda?«

Seine Stimme klang erregt und atemlos, als hätte er eine lange Wegstrecke zurückgelegt. Ja, das war ein guter Einfall – der beste, den er momentan haben konnte. Edda war Vaters Liebling. Wenn sie für den Bruder sprach, würde dieser sich vielleicht bereit erklären, zumindest alle Für und Wider zu erwägen, die eine Verbindung mit Charlotte Wagner möglich, erstrebenswert erscheinen ließen.

»Ich möchte etwas mit dir besprechen. Am besten in meinem Zimmer ...«

Edda war besorgt. So kannte sie ihren Bruder gar nicht, so hektisch und unausgeglichen. Was mochte in ihm vorgehen – was war bloß geschehen?

»Natürlich, Axel. John erwartet mich zwar irgendwo im Garten, aber er hat ja genug Gesellschaft. Also schieß los, ich bin ganz Ohr.«

Trotz ihrer an den Tag gelegten Unbekümmertheit empfand Edda eine unbestimmte Angst. Axel war letzthin so verändert gewesen. Was er dann mit stockender Stimme vorbrachte, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Doch falls ihr Bruder geglaubt hatte, dass sie ihm in allem zustimmen würde, nur weil sie an ihm hing und verstehen musste, wie ihm zumute war, sah er sich jetzt getäuscht. Edda machte kein Hehl aus ihrem fassungslosen Erstaunen.

»Du musst völlig den Verstand verloren haben, Axel!« Ihr vorhin noch so blühendes Gesicht wirkte blass und entsetzt. »Charlotte ist meine Freundin, und ich habe mich stets gefreut, wenn sie nach Rheinhagen kam, um ihre Verwandten zu besuchen. Aber eine solche Entwicklung wäre mir nie im Traum eingefallen. Wie konntest du dich nur dazu hinreißen lassen, derart sinnlose Hoffnungen in ihr zu wecken! Mir ist unbegreiflich, dass sie dir überhaupt zugehört hat. Sie ist klug – klüger als ich. Ihre Vernunft hätte ihr sagen müssen, dass nie etwas dabei herauskommt, wenn der Sohn des Hauses sich mit der Nichte eines Inspektors einlässt.« Aus Eddas sonst so wohlklingender Stimme sprach der leise Hochmut ihres Standes. Sie mochte Charlotte Wagner gernhaben – doch in ihr die Verwandte, die künftige Schwägerin zu sehen, dazu war sie nicht bereit.

Axel starrte die Schwester unglücklich und enttäuscht an. Wenn Edda ihn schon nicht verstehen wollte, wer dann? »Du reagierst genau wie Vater«, erwiderte er scharf. »Für euch gibt es nur einen Grundsatz: ›Jeder bleibe in dem Kreis, in den er hineingeboren wurde.‹ Der Mensch allein zählt nicht. Ich sehe das anders. Warum sollte unsere Verbindung unmöglich sein? Charlotte ist sehr schön, weiß sich zu benehmen. Ich liebe sie, seit mir zum ersten Male bewusst wurde, dass aus einem unbedeutenden Mädchen eine bezaubernde junge Dame geworden war. Auf sie zu verzichten hieße mein Lebensglück zerstören. Das kann doch keiner von mir erwarten.«

»O Axel.«

Eddas Unmut schlug in Mitleid um. Ihre Liebe zu dem Bruder ließ sie alles andere vergessen. Sie sah nur noch, wie unglücklich er war, und betrachtete ihn mit bekümmert zusammengezogenen Brauen.

Axel erwiderte ihren Blick. Trotz seiner Probleme musste er unwillkürlich die Attraktivität seiner jüngeren Schwester bewundern. Von ihrer englischen Großmutter hatte sie die zarte Haut und das herrliche blonde Haar geerbt. Schon jetzt war sie, rein äußerlich gesehen, eine echte Britin: warmherzig zwar, aber dennoch alle Vor- und Nachteile ernsthaft gegeneinander abwägend. John Wakefield konnte stolz auf sie sein. Man würde ihn um seine schöne Frau beneiden!

Während Edda angestrengt darüber nachdachte, wie sie Axel von seinem Plan abbringen könnte, trat plötzlich ein erschrockener Ausdruck in ihre tiefblauen Augen.

»Es ist doch nichts zwischen euch vorgefallen, Axel?«, fragte sie stockend. »Ich meine, ob Charlotte am Ende ...«

»Nicht, was du denkst, Schwesterlein.« Eine unwillige Röte war in Axels Gesicht gestiegen. »Obgleich Charlotte bürgerlich ist, worin ihr bereits einen Makel zu sehen scheint, ist sie doch ohne Trauring nicht zu haben. In diesem Punkt unterscheidet sie sich nicht von Euer Hochwohlgeboren.« Mit unüberhörbarem Hohn fuhr er fort: »Du kannst also ganz unbesorgt sein. Weder sie noch ich haben je vergessen, was sich schickt! Charlotte liebt mich zwar über alles – aber das wäre für sie kein Grund, sich mir so ohne Weiteres hinzugeben.«

Edda atmete erleichtert auf. »Dann ist es ja gut, Axel. Du brauchst demnach nichts übers Knie zu brechen. Bitte, glaube mir! Ich wäre sehr froh, wenn du, ebenso wie ich, eine Neigungsehe schließen könntest – sollte dein Glück also davon abhängen, dann will ich nichts unversucht lassen, dir dazu zu verhelfen. Charlotte ist ein lieber Mensch, und ich kann verstehen, dass du dich zu ihr hingezogen fühlst. Aber lass bitte wenigstens die Verlobungsfeier ungestört vergehen, ehe du mit Vater sprichst. Wahre mir zuliebe den Frieden! Man verlobt sich nur einmal im Leben, und ich ...«

In jäh aufwallendem Mitgefühl erhob sie sich auf die Zehenspitzen, um ihren Bruder, der sie um Haupteslänge überragte, auf die Wange zu küssen. »Ich wünsche dir von Herzen Glück, Axel«, flüsterte sie mit feuchten Augen. »Und wenn dieses Glück für dich Charlotte Wagner heißt, so verspreche ich, dass ich dir in diesem Kampf um sie beistehen werde ...«

***

Der Ball, den die Rheinhagens anlässlich der Verlobung ihrer einzigen Tochter Edda mit John Wakefield gaben, war das größte und glanzvollste Ereignis des Jahres. Man sprach noch lange über dieses Fest. Wie sich wenige Monate später herausstellen sollte, war es leider das letzte seiner Art vor dem Krieg, der vier Jahre währen und auf mannigfache Weise schmerzhaft in das Leben der Familie Rheinhagen eingreifen sollte. An diesem Abend dachte jedoch noch niemand an die Gefahr, die den Weltfrieden bedrohte. Man kam, um sich zu amüsieren.

Während eine Kutsche nach der anderen vorfuhr und alles, was in dieser Gegend Pommerns Rang und Namen besaß, sich vor dem Herrenhaus versammelte, stand Charlotte Wagner mit brennenden Augen an einem Fenster des Inspektorhauses und starrte hinüber.

Auf der breiten Freitreppe empfingen Wolf und Johanna von Rheinhagen ihre Gäste. Die bunte Szene wurde durch die von Jägern gehaltenen Fackeln magisch beleuchtet, und so ließ sich das ständige Kommen und Gehen auch vom Verwalterhaus aus gut beobachten.

Charlotte hing traurigen Gedanken nach. Am Nachmittag war Edda kurz herübergekommen, um mit der Jugendfreundin zu sprechen.

»Axel hat mich in euer Geheimnis eingeweiht, Charlotte«, hatte sie mit freundlichem Ernst gesagt. »Ich gestehe offen, dass ich über seine Eröffnungen erschrocken war. Wie konnte das nur geschehen, ohne dass einer von uns es bemerkte? So etwas kommt doch nicht von heute auf morgen, nicht wahr? Wie dem auch sei – wenn ich dir jetzt sagen muss, dass ich eurer Liebe keine Chance einräume, dann richtet sich das nicht gegen deine Person. Du kennst unseren Vater gut genug und weißt auch bestimmt, dass er für Axel bereits Pläne gemacht hat. In dem Kampf, den es geben wird, müsst ihr zwangsläufig unterliegen, Charlotte!«

»Ich weiß, Edda«, antwortete Charlotte tonlos. Und doch klangen ihre Worte gefasst; denn sie war mit der Freundin einer Meinung. »Eigentlich habe ich nie etwas anderes erwartet. Doch Axel ist so felsenfest davon überzeugt, dass eine echte, tiefe Liebe sich in jedem Falle und gegen alle Widerstände bewähren muss. Er ist eisern entschlossen, unsere Heirat durchzusetzen.«

Edda senkte den Blick. Es war ihr unmöglich, länger in Charlottes verzweifelte Augen zu schauen. Sollte sie ihr auch diese letzte Hoffnung nehmen, indem sie entgegnete, dass Axel wohl den besten Willen haben mochte, aber niemals den Mut aufbringen würde, sich gegen seinen unbeugsamen Vater zu behaupten?

»Man muss abwarten«, hatte Edda darum nur gesagt und die Freundin herzlich umarmt. »Ich habe Axel jedenfalls versprochen, ihn in jeder Beziehung zu unterstützen.«

An diese Worte musste Charlotte jetzt denken, während sie reglos und innerlich zu Tode erschöpft am Fenster stand. Nein, sie würde nie zu den Menschen dort drüben gehören. Räumlich gemessen mochte die Entfernung zu ihnen gar nicht so groß sein – dennoch glich sie einem bodenlosen Abgrund, den auch die stärkste Liebe nicht zu überwinden vermochte. »Ich könnte ewig zuschauen.« Charlottes Tante war neben sie getreten. »Fräulein Edda mit ihrem blonden Haar und dem reizenden Gesicht wird eine wunderschöne Braut abgeben. Freust du dich nicht, gerade jetzt hier zu sein und das alles miterleben zu dürfen, Charlotte?«

»Warum sollte ich mich wohl darüber freuen, Tante?«, gab Charlotte herb und abweisend zurück. »Erlebe ich denn tatsächlich etwas mit? Was sind wir schon? Höchstens Zaungäste, die aus sicherem Abstand – um die hohen Herrschaften nicht zu genieren – ein Schauspiel mit ansehen können, das für die anderen zum Alltag gehört. Nein! Ich wünschte mir, weit weg zu sein. Zu Hause, in Dresden, in unserem stillen Garten. Dort käme mir mein eigener Unwert nicht ganz so schmerzlich und demütigend zu Bewusstsein.«

Frau Wagner musterte ihre Nichte befremdet. Sie war über die Heftigkeit dieser Aussage bestürzt.

»Was soll das, Kind?«, fragte sie ungehalten. »Ich habe dich stets als vernünftiges Mädchen eingeschätzt, das genau weiß, wohin es gehört. Deine Freundschaft mit Fräulein Edda hat dir wohl Flausen in den Kopf gesetzt? Deine Worte klangen verdächtig nach Neid. Das will mir gar nicht gefallen.«

»O nein, Tante!« Leidenschaftlich bewegt fuhr Charlotte herum. »Ich gönne Edda wirklich ihr großes Glück, niemand verdient es mehr als gerade sie. Aber das schließt doch nicht aus, dass auch ich gern glücklich werden möchte, dass auch ich mich danach sehne ...«

Charlotte verstummte abrupt. Sie war auf dem besten Wege gewesen, sich zu verraten, und das hätte ihre sofortige Abreise erforderlich gemacht. Als sie jetzt drüben auf der Freitreppe Axel entdeckte, der lächelnd einem jungen Mädchen den Arm bot, wandte sie sich hastig ab und stürzte in ihr Zimmer hinauf. Dort warf sie sich aufs Bett und starrte mit schmerzenden Augen zur Decke. Je länger sie über alles nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie sich von Axel trennen musste, falls sie auch künftig nur heimlich mit ihm zusammentreffen durfte. Sie mochte nicht von altem Adel sein, aber ihr persönlicher Stolz stand dem der Rheinhagens in nichts nach.

An diesem für seine Schwester so bedeutungsvollen Abend war Axel von Rheinhagen seiner Tischdame kein besonders aufmerksamer Partner. Gina von Graßmann, mit ihm seit ihrer Kindheit befreundet, war jedoch zu unbefangen, um aus seiner Schweigsamkeit die richtigen Schlüsse zu ziehen. Mit freundlicher Nachsicht versuchte sie, sein fast unhöfliches Verhalten zu überbrücken.

»Ich weiß genau, dass du gegen jede Art von Glücksspiel bist, Axel. Sonst würde ich unter Umständen vermuten, du hast Schulden gemacht und zerbrichst dir jetzt den Kopf darüber, wie du sie aus der Welt schaffen sollst«, erklärte sie in ihrer frischen, unkomplizierten Art. Axel wandte sich ihr mit einem verlegenen Lächeln zu. Eigentlich war Gina ein Prachtmädel; er hatte sie immer recht gerngehabt. Aber zwischen Gernhaben und Liebe bestand leider ein himmelweiter Unterschied.

»Entschuldige, Gina. Wie konnte ich nur derart unaufmerksam sein! Das ist bei einer so hübschen Tischdame wie dir eine unverzeihliche Sünde. Ich musste nur immer an Edda denken. Sie wird uns wohl bald verlassen. John hält wenig von einer langen Verlobungszeit, zumal bei einer solchen räumlichen Trennung. Er kann seinen Besitz nur selten allein lassen. Die Möglichkeiten, seine Braut in Pommern zu besuchen, sind also gering. Edda wird mir fehlen! Du weißt, wie sehr ich an ihr hänge, Gina.«

Die kleine Notlüge ging Axel glatt über die Lippen. Natürlich würde er seine Schwester vermissen, aber das war es nicht allein, was ihm momentan auf der Seele lag. Weit mehr beschäftigte ihn der Gedanke, wie er seinem Vater den Entschluss, Charlotte Wagner heiraten zu wollen, beibringen konnte. Das musste äußerst diplomatisch geschehen, um einen Wutausbruch des alten Herrn zu verhindern. Solange die auswärtigen Gäste noch im Haus weilten, blieb ihm genügend Zeit, seine Rede, mit der er seinen Wunsch begründen wollte, vorzubereiten.

Unterdessen hatte sich Wolf von Rheinhagen erhoben, um einen Trinkspruch auf das Brautpaar auszubringen. Der Gutsherr zeigte sich heute von seiner angenehmsten Seite. Seine launigen Worte verrieten, dass er Humor besaß, den er sonst geschickt zu verbergen verstand. Eben schloss er seine kurze Ansprache, indem er Johanna lächelnd zunickte, um sich dann direkt an John Wakefield zu wenden.

»Du weißt, lieber John, dass du unser unbegrenztes Vertrauen genießt. Trotzdem ist es mir am Anfang nicht leichtgefallen, dieser Verlobung zuzustimmen. Es ist ein weiter Weg von Rheinhagen nach Südengland. Die Zeiten sind unsicher – man weiß nie, was noch kommen kann. Wenn ich Edda trotz aller Bedenken eines Tages mit dir gehen lasse, dann nur, weil ich davon überzeugt bin, sie wird an deiner Seite das erhoffte Glück finden – weil sie dich liebt! Und Liebe sollte in jeder Ehe bestimmend sein. Ich selbst habe seinerzeit meine Frau nur aus ebendiesem Grund geheiratet und weiß daher, wie wichtig eine Herzensneigung für ein gemeinsames Leben ist. In diesem Sinne erhebe ich mein Glas auf das besondere Wohl der Frauen, die den Namen Rheinhagen bereits tragen oder künftig tragen werden ...«

Bei seinen letzten Worten streifte Wolfs Blick wie absichtslos Gina von Graßmann. Diese reagierte darauf jedoch ganz unbefangen und fühlte sich offensichtlich nicht angesprochen.

Alles Folgende nahm Axel nur im Unterbewusstsein wahr. Die Worte des Vaters hatten ihm neuen Mut gemacht. Konnte ein Mann eine solche Lobeshymne auf die Liebe singen, um dann seinem Sohn ebendiese Liebe zu verbieten? Axel war, als hätte sich eine schwere Bürde von seinen Schultern gehoben. Erst jetzt konnte er diesen wundervollen Abend aus vollem Herzen genießen.

Der festlich erleuchtete Ballsaal, die Blumen, die einen berauschenden Duft verbreiteten, die Herren entweder im Waffenrock oder im Frack, dazu die duftigen Roben der Damen – all das fügte sich zu einem unvergesslichen Bild zusammen, auf das die Ahnen der Rheinhagens mehr oder minder wohlwollend aus ihrem schweren Goldrahmen herabblickten. Sie hatten einst den Grundstein zum Wohlstand dieses Hauses gelegt und gut mit ihren Pfunden gewuchert; sie hatten Rheinhagen zu einem stolzen Besitz gemacht, mit dem sich in dieser Gegend nur wenige messen konnten.

Wolf von Rheinhagen erwies sich als würdiger Nachfolger. Durch den Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit war es ihm gelungen, diesen Besitz noch zu mehren, um ihn eines Tages seinem Sohn und Erben zu übergeben.

***

Während der nächsten Tage bekam Axel Charlotte nicht zu Gesicht. Sie schien ihm absichtlich aus dem Wege zu gehen, und er verstand ihre Beweggründe. Solange er sich in der Gesellschaft seiner Freunde und Verwandten befand, hätte, da er sich nicht offen zu ihr bekennen durfte, jede Begegnung etwas Demütigendes für sie haben müssen.

Doch auch diese qualvolle Zeit ging endlich zu Ende. Die letzten Gäste, darunter John Wakefield und dessen Mutter, waren abgereist, das Haus gehörte wieder der Familie.

Sichtlich erschöpft ließ sich Johanna von Rheinhagen in einen Sessel sinken. Ihr Gesicht drückte Zufriedenheit aus.

»So schön es auch war«, bemerkte sie erleichtert, »es ist doch wieder ganz angenehm, allein zu sein. Auf Schritt und Tritt begegnete einem jemand, der unterhalten werden wollte oder sonst irgendwelche Wünsche hatte. Ich komme mir wie durch die Mühle gedreht vor.«

»Na, du bist gut, Mama!«, rief Edda in gespielter Entrüstung. »Dass ich mich von John trennen musste, daran denkst du wohl gar nicht? Er wird mir schrecklich fehlen.«

»Du hast ihn später noch lange genug um dich, mein Kind«, warf Wolf von Rheinhagen gut gelaunt ein. Wohlgefällig betrachtete er Eddas reizendes Gesicht, das deutlich von ihrem Glück kündete. John Wakefield hatte mit seiner Tochter wirklich das große Los gezogen. Wenn England nur nicht so verflixt weit weg wäre – na ja! Axel würde ihnen bald eine junge Frau ins Haus bringen und damit die Lücke schließen, die durch Eddas Weggehen entstand.

Bei dieser Schlussfolgerung angekommen, wandte er sich unwillkürlich dem Sohn zu. Wieder fiel ihm dessen düster-verschlossene Miene auf, und plötzlich hatte er das Gefühl, als schrille eine Alarmglocke in seinem Innern: Was war bloß mit dem Jungen los?

»Du siehst so komisch aus, Axel. Hat Gina dir etwa einen Korb gegeben? Das würde mich aber enttäuschen! Ich mag und schätze das Mädchen und würde es gern eines Tages als deine Frau auf Rheinhagen begrüßen.«

Axel straffte sich, sein blasses Gesicht zeigte einen angespannten, entschlossenen Ausdruck.

»Nein, Vater, Gina hat mich nicht abgewiesen. Das konnte sie auch gar nicht – weil ich sie nämlich nicht gefragt habe«, erklärte er und schien selbst über seinen Mut erschrocken zu sein. Ganz ohne sein Zutun war plötzlich die Stunde der Wahrheit gekommen, er hatte den Sprung ins eiskalte Wasser gewagt. Eddas entsetzten, warnenden Blick nahm er nur am Rande zur Kenntnis – nun war es zu spät, er konnte nicht mehr zurück! »Deine Zustimmung voraussetzend habe ich bereits vor Tagen Charlotte Wagner darum gebeten, meine Frau zu werden. Ich liebe sie seit Jahren und sie erwidert meine Gefühle aus ganzem Herzen.«

»Würdest du das bitte noch einmal sagen? Ich habe mich wohl verhört. Solltest du tatsächlich die Nichte meines Inspektors gemeint haben?« Mit gefährlicher Ruhe legte Wolf von Rheinhagen die Zigarre aus der Hand, die er sich eben anzünden wollte. Jeder, der ihn kannte, wusste, dass eben diese Ruhe der Vorbote einer seiner zu Recht gefürchteten Wutausbrüche zu sein pflegte. »Das kann doch unmöglich dein Ernst sein, Axel!«

Während Axel sich vergeblich bemühte, die richtigen Worte zu finden, trat Edda impulsiv neben ihn, als könne sie ihn vor dem Zorn des Vaters schützen. Johanna saß wie erstarrt in ihrem Sessel. Mehr als die anderen spürte sie: Dieser Moment würde das Leben der Familie von Grund auf verändern. Vielleicht nicht gleich, nicht in diesem eben noch so friedlichen Zimmer. Doch das Saatkorn der Zwietracht war gesät – es würde aufgehen und zu einem undurchdringlichen Wall emporwachsen, der Axel für immer von den Seinen trennte.

2

Im Salon der Hausherrin herrschte lähmende Stille. Jeder unter den Anwesenden fürchtete sich anscheinend davor, etwas zu sagen, das die Situation nur noch verschlimmern konnte. Die Luft war warm und abgestanden, und Edda trat ans Fenster, um es zu öffnen. Sie wünschte sich, Axel hätte ihre Warnung befolgt und einen günstigeren Augenblick für seine Eröffnung gewählt. Ausgerechnet jetzt musste er damit herausplatzen, wo der Vater so fest davon überzeugt gewesen war, dass Gina von Graßmann ...

Vom Hof her trug der Abendwind verwehte Töne herüber. Eine Mädchenstimme setzte zu einem Volkslied an, andere Stimmen fielen ein. Es war alles wie immer – und doch ganz anders. Edda wandte sich fragend der Mutter zu. Irgendjemand musste doch endlich sprechen. Dieses Schweigen hatte etwas so Bedrohliches an sich.

Johanna verstand die stumme Bitte, die Eddas Augen ihr signalisierten. Ehe sie aber eine passende Beschwichtigung finden konnte, um die Atmosphäre zu normalisieren, wurde sie durch ein qualvolles Stöhnen, das sich aus der Kehle ihres Gatten rang, hochgerissen. Zu aller Entsetzen sank der Gutsherr wie eine gefällte Eiche zu Boden und blieb regungslos liegen.

In diesem Augenblick bewies Johanna, dass sie sämtlichen Situationen gewachsen war. Sie eilte hinzu, kniete neben Wolf nieder, schob ein Kissen unter seinen Kopf und öffnete seinen Kragen. Obwohl sie äußerlich die Ruhe behielt, schlug ihr Herz in dumpfer Angst. Der Arzt hatte Wolf vor jeder Aufregung gewarnt und von der Möglichkeit eines Schlaganfalls gesprochen, falls er sich nicht an diese Richtlinien hielt. Angstvoll fühlte sie seinen Puls. Gottlob, sein Herz arbeitete noch, wenn auch schwach und unregelmäßig.

Wie konnte Axel bloß so verantwortungslos handeln und ohne jede Vorbereitung mit seiner skandalösen Idee herausrücken! Er wusste doch, wie es um seinen Vater stand. Johanna blickte zu ihrem Sohn auf, verzichtete jedoch angesichts seiner offensichtlichen Verzweiflung darauf, ihm Vorwürfe zu machen.

»Du musst umgehend nach Dr. Heyden schicken, Axel«, sagte sie mit leidlich fester Stimme. »Hoffentlich ist er nicht gerade unterwegs. Vielleicht erreichst du ihn telefonisch. Und du, Edda, sag bitte der Mamsell Bescheid, sie möge das Bett richten ...« Johanna versagten die Worte, als sie sich wieder auf den Kranken konzentrierte. Das Gesicht ihres Gatten zeigte eine bläuliche Verfärbung. Handelte es sich um einen besonders schweren Herzanfall, oder war ein Schlaganfall die Ursache dieses völligen Zusammenbruchs?

»Soll ich ein paar Männer holen, Mama? Sie könnten Papa nach oben tragen«, fragte Edda schon von der Tür her. »Nein. Jetzt noch nicht. Es ist besser, wenn wir ihn nicht unnötig bewegen. Dr. Heyden soll darüber entscheiden ...« Der Schlaganfall, den Wolf von Rheinhagen erlitten hatte, kam für keinen seiner Bekannten überraschend. Die Vorliebe des Gutsherrn für gehaltvolle, schwere Rotweine, die seinen Blutdruck von jeher belastet hatten, dazu sein leicht erregbares Temperament – es musste eines Tages so kommen!

Jetzt lag er, der in seinem ganzen Leben noch keinen Tag krank gewesen war, oben im ehelichen Schlafgemach und strapazierte nicht nur seine Angehörigen, sondern auch das gesamte Hauspersonal mit seiner Ungeduld und seinen oft unvernünftigen Wünschen bis an die Grenzen des Erträglichen.

Johanna hatte ihre Kinder zu einer Aussprache in ihren Salon gebeten. Sie war blass und von der Krankenpflege sehr erschöpft.

»Dr. Heyden meinte heute, dass euer Vater bald wieder aufstehen dürfe. Der Schlaganfall sei leicht und eine Warnung gewesen, so erschreckend er für uns auch kam. Er muss sich künftig allerdings noch mehr schonen und jede Aufregung meiden. Aber das versteht sich wohl von selbst. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn er ...«

Sie verstummte und schloss sekundenlang die schmerzenden Lider. Die Art und Weise, wie sie auf die Erkrankung ihres Mannes reagiert hatte, verriet Axel, was ihm bisher verborgen geblieben war: Die Mutter liebte den Vater über alles. Trotz ihrer scheinbaren Unterlegenheit in dieser ungleichmäßigen Partnerschaft war sie der Halt, den dieser nach außen hin harte und unbeugsame Mann brauchte.

Dass Johanna es verstand, in besonderen Situationen über sich selbst hinauszuwachsen, bewies die Tatsache, dass sie bisher mit keinem Wort erwähnt hatte, wie es zu diesem Zusammenbruch gekommen, was die Ursache dafür gewesen war. Kein Wort des Vorwurfs gegen Axel hatte ihre Lippen verlassen, obgleich sie wusste, dass er allein alle Schuld daran trug. Während der junge Offizier am Fenster stand und sich innerlich gegen eine Strafpredigt wappnete, erwachte so etwas wie Trotz in ihm, weil man ihm den Schwarzen Peter zuschieben wollte. Wie konnte er denn ahnen, dass seine Erklärung, er wolle nicht Gina von Graßmann, sondern Charlotte Wagner heiraten, derartige Folgen haben würde! Irgendwann hatte er schließlich mit der Wahrheit herausrücken müssen. Trotz allem verspürte Axel eine leichte Genugtuung. Sein Vater war jetzt über seine Pläne orientiert; nun musste er sich wohl oder übel mit der Tatsache abfinden, dass sein Sohn eine Bürgerliche zur Frau nehmen wollte. Weitere Debatten erübrigten sich also. Als Axel jedoch auf diesen Punkt zu sprechen kam, reagierte Johanna überraschend heftig. Ihre Worte verrieten, dass sie durchaus nicht so passiv war, wie sie oft wirkte.

»Ich wünsche nicht, dass dieses Thema jetzt oder später noch einmal angeschnitten wird, Axel! Dir scheint nicht bewusst zu sein, mein Junge, dass Rheinhagen mit deinem Vater steht und fällt. Du hast es bisher ja nicht für nötig befunden, dich auch nur annähernd als zukünftiger Landwirt zu bewähren. Der bunte Rock war dir wichtiger als der Wunsch, sich allmählich einzuarbeiten und deinem Vater einige seiner zahlreichen Pflichten abzunehmen. Was verstehst du schon von der Bestellung eines Ackers, von Rinderzucht und allem, was sonst noch dazugehört? Es wird ziemlich lange dauern, bis Inspektor Wagner dir allein die Grundbegriffe dessen beigebracht hat, was du über die Bewirtschaftung Rheinhagens wissen musst.«

Johanna verstummte abrupt: Der erwähnte Name rief ihr erneut die Probleme ins Gedächtnis zurück, vor denen sie stand. Nur sie allein konnte die Dinge wieder ins Lot bringen. Wolf durfte nicht damit behelligt werden.

Bevor Axel noch etwas erwidern konnte, sprach sie beherrscht weiter: »Was ich vorhin schon sagen wollte – die Genesung eures Vaters macht vielversprechende Fortschritte, und das ist ein gutes Zeichen. Ich hoffe in deinem Interesse, Axel, dass er sich bald wieder der besten Gesundheit erfreuen wird. Eins sollst du erfahren: Er erinnert sich an nichts, das seinem Anfall vorausging. Und das ist gut so! Wir werden so tun, als sei in unserer Familie alles in bester Ordnung. Darum wünsche ich, dass die leidige Angelegenheit vor ihm nie mehr erwähnt wird. Vater bedarf der größten Schonung – ein zweiter Schlaganfall könnte sein Tod sein. Dr. Heyden kann dies jederzeit bestätigen.«

Axels Gesicht hatte sich verfinstert. Seine Augen funkelten hart und entschlossen.

»Das ist Erpressung, Mama«, rief er erregt. »Du verlangst Unmenschliches von mir. Natürlich will ich Vater, den ich liebe und bewundere, nicht schaden. Trotzdem kann ich auf Charlotte nicht verzichten. Es ist ein schrecklicher Gedanke, mir vorzustellen, dass nur ...« Axel brach mitten im Satz ab. Ihm war gerade noch rechtzeitig klargeworden, was er beinahe gesagt hätte.

»Dass nur der Tod deines Vaters dir die Heirat mit Charlotte ermöglichen würde. Das war es wohl, was du andeuten wolltest, Axel«, erwiderte Johanna tonlos.

Edda, die dem erregten Zwiegespräch bisher schweigend gefolgt war, hielt erschrocken den Atem an. Wozu sollte das alles gut sein? Warum trieb Axel die Dinge auf die Spitze, statt zu versuchen, die Mutter zu besänftigen und sich ihrer Hilfe zu vergewissern?

»Wie kannst du dergleichen auch nur denken, Junge. Ich fürchte, Charlotte Wagner übt einen schlechten Einfluss auf dich aus. Nur so ist es höchstens zu erklären, dass du dich in solche Gedanken verlieren konntest. Du hast jeden Respekt vor deinem Vater verloren und damit wahrscheinlich auch vor mir.« Johannas Finger verkrampften sich, als spüre sie einen akuten körperlichen Schmerz.

»Lass bitte Charlotte aus dem Spiel, Mama«, fuhr Axel gereizt auf. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, er dachte nicht mehr daran, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. »Sie ist an dieser tragischen Verkettung der Dinge schuldlos. Übrigens kannst du beruhigt sein. Charlotte hat von Anfang an nicht daran geglaubt, dass ihr mit meinen Plänen einverstanden sein würdet. Mir ist völlig unbegreiflich, dass ein ›von‹ vor dem Namen wichtiger sein soll als das Glück zweier Menschen. Verzeih, Mama, aber ich habe dich bisher für warmherziger und toleranter gehalten. Jetzt sehe ich, wie sehr Vater dich bereits beeinflusst hat. Du denkst und reagierst genau wie er!«

Damit machte Axel auf dem Absatz kehrt und verließ fluchtartig den Raum. Johanna sah ihm zutiefst bekümmert nach. Sie glaubte noch immer – schließlich war Charlotte ein ausnehmend hübsches Mädchen –, dass es sich bei Axels Zustand lediglich um eine nicht sonderlich ernst zu nehmende Verliebtheit handelte. Je mehr Widerstand man ihm aber entgegensetzte, desto hartnäckiger würde er sich jeder vernünftigen Einsicht verschließen. In dieser Beziehung war er ganz der Sohn seines Vaters: Wolf wollte auch immer mit dem Kopf durch die Wand.

Edda war neben die Mutter getreten. »Nimm es nicht schwer, Mama«, bat sie leise. »Axel kommt schon noch zur Vernunft. Es muss doch nicht alles von heute auf morgen entschieden werden. Er wird nach Berlin zurückkehren, Charlotte nach Dresden. Ich werde mit ihr sprechen und versuchen, sie in eurem Sinn zu beeinflussen. Schade, ich könnte mir keine nettere Schwägerin vorstellen. Doch als deine Nachfolgerin auf Rheinhagen – nein, das geht wohl wirklich nicht!«

Johanna schwieg. Sie war augenblicklich nicht fähig, darüber nachzudenken, was die beste Lösung sein mochte. Möglicherweise besaß Charlotte tatsächlich alle Eigenschaften, einem so großen Besitz als Hausfrau vorzustehen. Doch durfte man ein solches Risiko auf sich nehmen? Einen Menschen in ein Milieu verpflanzen, in dem er sich unter Umständen schon nach kurzer Zeit fehl am Platze und unglücklich fühlen würde?

Noch ehe Johanna sich innerlich über diesen Punkt klarwerden konnte, führte ein Zufall sie mit Charlotte zusammen. Spontan fasste sie den Entschluss, die Angelegenheit auf die – ihrer Meinung nach – einzig mögliche Weise zu regeln.

Charlotte kam eben aus der Gutsküche, wo sie im Auftrag ihres Onkels frisches Gemüse abgeliefert hatte. Seit dem Tag, an dem Axel von Rheinhagen ihr seine Liebe erklärt hatte, fiel es ihr nicht leicht, sich mit der Tatsache abzufinden, dass man sie praktisch zum Personal zählte, obgleich sie nur als Gast ihrer Verwandten hier weilte. Den Redestrom der äußerst tüchtigen Köchin hatte sie demzufolge bedrückt und mit einer steilen Falte abwehrenden Schweigens zwischen den feinen dunklen Brauen über sich ergehen lassen.

Vom Küchentrakt aus schlug Charlotte den Weg zum Verwalterhaus ein, wobei sie einen verstohlenen Blick zu den Fenstern warf, hinter denen der erkrankte Gutsherr lag. Weit davon entfernt zu ahnen, dass sie die indirekte Ursache zu seinem Leiden war, zuckte sie dennoch erschrocken zusammen, als sie plötzlich Johanna von Rheinhagen bemerkte, die ihr von der Freitreppe aus ernst und streng entgegensah.

Nach kurzem Zögern trat Charlotte näher und blickte freimütig zu der Gutsherrin hinauf, die mehrere Stufen über ihr stand.

»Ich habe mit Bedauern von der Unpässlichkeit Ihres Gemahls gehört, gnädige Frau«, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme. »Hoffentlich macht seine Genesung rasche Fortschritte!«

»Danke, Fräulein Wagner.« Nicht der leiseste Anflug eines Lächelns zeigte sich auf Johannas schmal gewordenem Gesicht. Die förmliche Art, wie sie das junge Mädchen anredete, vertiefte noch die Kluft, die sich in letzter Zeit zwischen den beiden aufgetan hatte. Dabei verband sie doch ihre gemeinsame Liebe zu Axel; das hätte alle Zweifel und Missverständnisse ausräumen müssen.

Eine tiefe Röte überzog Charlottes Wangen. Aus Frau von Rheinhagens Verhalten glaubte sie schließen zu können, dass diese über Axels und ihre Pläne orientiert war.

»Sie haben mich bisher immer Charlotte genannt, gnädige Frau«, gab sie zurück, und eine unüberhörbare Bitte schwang in ihren Worten mit. »Was habe ich verschuldet, dass Sie mir auf einmal Ihre Zuneigung entzogen haben?«

Noch immer stand Johanna regungslos auf der obersten Stufe der breiten, geschwungenen Freitreppe. Diese erhöhte Position unterstrich auf symbolische Weise ihre Überlegenheit. Trotzdem wirkte sie plötzlich nicht mehr ganz so kalt und unnahbar. All ihren Vorsätzen zum Trotz empfand sie jetzt fast Mitleid für Charlotte.

»Muss ich Ihnen das wirklich erst begründen, Kind?«, fragte sie ruhig. »Schließlich haben Sie unser Vertrauen gröblichst missbraucht. Seit Sie zum ersten Male nach Rheinhagen kamen, um Ihre Verwandten zu besuchen, duldeten wir, dass sich zwischen Ihnen und unseren Kindern eine Art Freundschaft entwickelte. Sie durften aus dieser stillen Duldung jedoch nicht Rechte ableiten, die Ihnen – der Nichte unseres Inspektors – nicht zustanden.«

Charlotte zitterte am ganzen Körper. Alles in ihr empörte sich dagegen, dass sie sich auf diese Weise erniedrigen lassen musste, nur weil ihr Onkel ein Angestellter der Familie Rheinhagen war. Sie bemühte sich tapfer, gegen die Tränen anzukämpfen, die in ihre Augen steigen wollten. Frau von Rheinhagen war ihr stets mütterlich und fast liebevoll begegnet – jetzt aber stand sie wie eine unerbittliche Feindin vor ihr.

»Sie müssen die Dinge wohl anders sehen als ich, gnädige Frau«, konnte sie endlich mit leidlich gefasster Stimme erwidern. »Wenn Sie mit Ihrem Vorwurf meine Liebe zu Axel meinen – ja, dann habe ich Ihr Vertrauen Ihrer Meinung nach wohl missbraucht. Leider kann man seinem Herzen nicht befehlen. Es tut letzten Endes doch, was es will! Axel ist Ihr Sohn, Sie lieben ihn sehr – warum verstehen Sie dann nicht, dass auch ich ihn über alles liebe?«

Johanna hob ratlos die Hand. Etwas von der gewohnten Güte war in ihre Augen zurückgekehrt. Dennoch konnte sie dem jungen Mädchen keinerlei Hoffnungen machen.

»Sie und Axel sind noch jung, die ersten Gefühle dieser Art dauern selten an. Aus Verliebtheit wird Gewohnheit, bis sich irgendwann die Vernunft wieder zu Wort meldet. Wenn ich Sie jetzt von der Berechtigung meiner Einmischung überzeugen kann, erspare ich Ihnen vielleicht eine große Enttäuschung. Das Leben liegt noch vor Ihnen. Sollten Sie allerdings hartnäckig darauf bestehen, Axel an sich zu binden, gefährden Sie dadurch unter Umständen das Leben seines Vaters. Eines Tages könnte er Ihnen daraus einen ernsten Vorwurf machen.«

Johanna war langsam die Stufen herabgekommen und blieb nun vor Charlotte stehen. Bittend und nicht unfreundlich sah sie in das blasse, unglückliche Gesicht des jungen Mädchens. »Es geht doch bei dieser unseligen Geschichte nicht nur um Ihre Zukunft, Kind. Es geht in erster Linie um den Fortbestand Rheinhagens. Ohne meinen Mann kann der Besitz – einer der größten und ertragreichsten im Lande – nicht gehalten werden. Viele Menschen würden ihre sichere Existenz, ihre Heimat verlieren, auch Ihre Verwandten, die hier heimisch geworden sind. Denn Axel besitzt weder die Fähigkeit noch die Erfahrung, den bisherigen Standard zu garantieren. Gewiss, er ist der Erbe. Momentan aber ist er noch mit Leib und Seele Soldat. Müsste er das Gut von heute auf morgen übernehmen, würde es vermutlich schnell damit bergab gehen. Ihr Onkel mag ein vortrefflicher Inspektor sein, doch das Auge des Herrn, seine weitblickende Umsicht, sind allein entscheidend. Überdenken Sie all das, ehe Sie versuchen, Axel endgültig an sich zu binden.«

Charlottes Blick verlor sich, während sie sich entmutigt abwandte, im Grün des Parks. Was Johanna von Rheinhagen gesagt hatte, leuchtete ihr ein – so weh es auch tun mochte! Schließlich senkte sie ergeben den Kopf; ein verirrter Sonnenstrahl ließ ihr braunes Haar golden aufglänzen.

»Ich habe verstanden, gnädige Frau.« Während Charlotte die Entscheidung traf, die sie ihr Lebensglück kostete, wollte ihre Stimme ihr kaum gehorchen. »Ich werde abreisen – ohne es Axel vorher zu sagen. Einen Wunsch werden Sie mir hoffentlich erfüllen, da ich nun so vernünftig bin.« Ein bitteres Lächeln zeichnete ihren Mund. »Ich möchte Axel noch einmal sehen, um insgeheim von ihm Abschied zu nehmen. Diese letzte Stunde muss ja dann ein ganzes Leben vorhalten.« Noch ehe Johanna sich äußern konnte, drehte Charlotte sich jäh um und lief wie gejagt davon. Die Gutsherrin sah ihr beklommen nach. Ein Gefühl sagte ihr, dass sie in dieser Unterredung nicht sonderlich gut abgeschnitten hatte. Durfte man über das Leben eines jungen Menschen bestimmen? Würde das Schicksal ihr für diese Eigenmächtigkeit am Ende irgendwann eine hohe Rechnung präsentieren?

Johanna seufzte. Im Augenblick war ihr wirklich nichts anderes übrig geblieben, wollte sie die Gesundheit ihres Gatten nicht erneut gefährden. Es war bestimmt am besten so! Charlotte würde nach Dresden zurückkehren, in der gewohnten Umgebung lernen, die Dinge aus der richtigen Perspektive zu sehen. Eines Tages würde sie garantiert auch einen Mann finden, der in jeder Beziehung besser zu ihr passte als der Erbe von Rheinhagen.

***

Als Charlotte am gleichen Abend von ihrem letzten Stelldichein mit Axel zurückkehrte, bat sie den Onkel um eine Unterredung. Mit wenigen Worten klärte sie ihn über die augenblickliche Situation auf. Wagner zeigte sich sofort bereit, ihrem Wunsch zu entsprechen und sie zur nächsten Bahnstation zu bringen, wo sie den Frühzug nehmen wollte. Sein offenes, sympathisches Gesicht spiegelte wider, wie unangenehm ihm diese Entwicklung war.

»Ich habe kein Recht, dir Vorwürfe zu machen, Charlotte«, sagte er ernst. »Du weißt vermutlich am besten, wie unbedacht du gehandelt hast. Ich hätte auch den jungen Herrn für vernünftiger gehalten. Einem Mädchen, das er niemals heiraten kann, den Kopf zu verdrehen, ist mehr als gewissenlos! Ich werde versuchen, deiner Tante schonend beizubringen, warum du dich zu dieser plötzlichen Abreise entschlossen hast. Ihr die ganze Wahrheit zu sagen wäre falsch. Sie hat zwar das Herz auf dem rechten Fleck, sieht aber in den Rheinhagens übergeordnete Wesen, zu denen sie kaum aufzublicken wagt. Sie würde dich nie verstehen!«

Wagner strich seiner Nichte sanft übers Haar.