Gut Rosenthal - Nebel über Pommern - Frieda Radlof - E-Book

Gut Rosenthal - Nebel über Pommern E-Book

Frieda Radlof

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Beschreibung

Das Leuchten der Liebe in dunklen Zeiten

Pommern, 1939: Gemeinsam mit ihren älteren Brüdern ist Hannah behütet auf dem Gestüt ihrer Eltern aufgewachsen. Doch die politische Lage verschärft sich zusehends, Hannahs Mutter muss mit den Söhnen nach Brasilien fliehen und ihr Vater wird verhaftet. Als der Krieg ausbricht, ist Hannah von einem auf den anderen Tag allein für das Gut und seine Bewohner verantwortlich.

Auch wenn Hannah dringend auf helfende Hände angewiesen ist, missfällt es ihr, dass dem Hof polnische Zwangsarbeiter zugewiesen werden. Und mit einem der Arbeiter gerät sie immer wieder aneinander: Der stille Karel besitzt zwar ein Händchen für Pferde, für die Deutschen hat er allerdings nichts als Verachtung übrig. Trotzdem kommen sich die beiden näher. Aber kann ihre Liebe in so schweren Zeiten überhaupt bestehen?

Der dritte Band der emotionalen Familiensaga um das Gut Rosenthal in Pommern. Ein Lesegenuss für alle Fans von Modehaus Haynbach und Grandhotel Schwarzenberg.

Stimmen zu Band 1 der Saga: Gut Rosenthal - Das Gestüt in Pommern

»Dieser historische Roman war so spannend geschrieben, die Charaktere so unglaublich lebensecht und die Story einfach genial. Ich habe selten ein Buch gelesen, was mich so mitgerissen und gefesselt hat. Ich bin nur so durch die Seiten geflogen und konnte es kaum aus der Hand legen.« (Nadys-Buecherwelt, Lesejury)

»Ein wunderschöner spannender erster Teil der Saga, den ich, einmal mit dem Lesen angefangen, nicht mehr aus der Hand legen konnte. 5 Sterne und eine ganz klare Leseempfehlung.« (Shilo_, Lesejury)

»Insgesamt ein wirklich gelungener Auftakt in die Gestüts-Familiensaga! Für alle Fans von historischen Romanen ein Muss, aber auch New-Adult-Fans kommen auf ihre Kosten.« (Buchofant, Lesejury)

Die Gestüts-Saga umfasst die folgenden drei Bände:

Gut Rosenthal - Das Gestüt in Pommern
Gut Rosenthal - Heimkehr nach Pommern
Gut Rosenthal - Nebel über Pommern

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Pommern, 1939: Als jüngstes von drei Kindern ist Hannah behütet auf dem Gestüt ihrer Eltern aufgewachsen. Doch die politische Lage verschärft sich, und ihre Mutter muss mit den beiden Brüdern nach Brasilien fliehen, um deren Einberufung zu entgehen. Als dann auch noch ihr Vater verhaftet wird und kurz darauf der Krieg ausbricht, ist Hannah allein verantwortlich für das Gut und seine Bewohner.

Unter strenger Beobachtung des Regimes versucht sie, das Gestüt durch den Krieg zu bringen. Dass dem Hof polnische Arbeiter zugewiesen werden, macht es nicht leichter. Zwar werden zusätzliche Hände dringend benötigt, doch gefällt weder Hannah noch den Arbeitern die Zwangssituation. Einer von ihnen fordert Hannah vom ersten Tag an heraus, und sie und der geheimnisvolle Karel geraten ständig aneinander. Trotz aller Widerstände kommen sie sich näher. Aber ist eine Liebe unter diesen Umständen nicht zum Scheitern verurteilt?

Der dritte Band der emotionalen Familiensaga um das Gut Rosenthal in Pommern. Ein Lesegenuss für alle Fans von Modehaus Haynbach und Grandhotel Schwarzenberg.

Kapitel 1

Gut Rosenthal, Greifenhagen, Juli 1939

Ein Besucher hatte den Weg nach Gut Rosenthal gefunden.

Hannah sah das Automobil schon, als das Herrenhaus noch kaum mehr als ein heller Fleck unter dem Sommerhimmel war. Der königsblaue Opel stand auf dem Vorplatz, im Schatten einer mächtigen Kastanie.

Rosalie gab ein Schnauben von sich, so als wäre sie ganz genauso aufgeregt wie ihre Reiterin, und Hannah drückte ihr die Fersen in die Flanken. Die Fuchsstute fiel in einen wilden Galopp, und Hannah passte sich dem Muskelspiel des Pferdes an. Sommerwind fuhr ihr durch das Haar, und die Kastanien, die die Zufahrt säumten, warfen ihre Schatten über sie. Immer wieder blitzte ein Streifen Sonnenlicht durch das Blätterdach und malte Muster auf Rosalies feuerrotes Fell.

Als sie den Schatten der Kastanien hinter sich ließ, zügelte Hannah ihr Pferd. Erst jetzt sah sie das zweite Auto. Es war ein Mercedes, glänzend schwarz wie ein Mehlkäfer. Ein Mann lehnte an der Fahrerseite und qualmte eine Zigarette. In ihre Richtung sah er nicht.

Ganz kurz fragte sie sich, wem der schwarze Mercedes wohl gehörte. Sie hatte ihn noch nie hier auf Gut Rosenthal gesehen. Doch dann fiel ihr Blick auf den jungen Mann, dem das erste Auto gehörte. Er trug einen cremefarbenen Anzug, und auf seinem Kopf saß eine Melone in der gleichen Farbe. Wie immer war sein Erscheinungsbild makellos – das Haar gekämmt, die Zähne weiß wie Perlen, als er lächelte.

Hannah sprang vom Rücken ihrer Stute und richtete sich das Haar. Sie trug eine weite, an der Taille gegürtete Hose und dazu eine weiße Bluse, und vom Ritt war sie ganz verschwitzt. Bestimmt sah sie furchtbar aus.

Ein wenig atemlos und mit vor Verlegenheit glühenden Wangen blieb sie vor ihrem Gast stehen. »Hallo, Ernst.«

»Hannah. Du siehst hinreißend aus.« Er schenkte ihr ein zögerliches Lächeln, nahm sie bei den Schultern und küsste sie auf beide Wangen.

Sie gingen jetzt seit einem Monat miteinander aus. Sie waren im Kino gewesen und hatten Zwischen Strom und Steppe gesehen, und draußen vor dem Kino hatte Ernst Bohr sie zum ersten Mal geküsst. »Ich bin verliebt in dich, Hannah«, hatte er gesagt – und sie hatte »Danke« geantwortet. Wie eine Idiotin. Danach hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen; aber eine andere Antwort hatte ihr einfach nicht über die Lippen kommen wollen.

Sie wollte in ihn verliebt sein. Unbedingt. Ernst war perfekt: Er war zuvorkommend und charmant, er hielt ihr die Türen auf und schenkte ihr Blumen. Er tat alles, was ein Verehrer tun sollte. Hannah konnte sich einfach nicht erklären, warum er in ihr nicht die großen Gefühle auslöste, über die sie in den Liebesromanen las.

»Ich habe dich gar nicht erwartet. Ich meine ... ich freue mich natürlich, dass du hier bist! Sehr sogar« Sie musterte ihn, während sie sprach. Er hatte ein wunderbares Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen, den blauen Augen und den kleinen Sommersprossen auf der Nase, und er hatte Grübchen, wenn er lächelte. Warum nur konnte sie nicht in ihn verliebt sein?

»Ach, ich war in der Gegend und habe an dich gedacht«, erwiderte er und deutete auf den Wagen. »Es gibt wunderbare Neuigkeiten! Stell dir vor, heute fahre ich vielleicht zum letzten Mal mit unserem Opel Admiral vor. Papa erlaubt mir jetzt endlich mein eigenes Automobil. Es soll ein Porsche sein – ich werde in ein paar Tagen nach Berlin fahren und mir zusammen mit Papa die neuesten Modelle anschauen.«

»Das freut mich sehr für dich.« Hannah konnte mit Ernsts Vorliebe für schnelle, glänzende Autos nichts anfangen, aber sie mochte das Leuchten in seinen Augen, wenn er davon sprach. »Nur schade, dass wir uns dann wohl eine Weile nicht sehen werden. Wie lange werdet ihr in Berlin sein, du und dein Vater?«

»Was das angeht ...« Ernst räusperte sich und nahm den Hut ab. Eine Zeit lang schien er zu überlegen, sich Worte zurechtzulegen. »Ich glaube, wir sollten uns trennen«, sagte er dann.

Für eine Sekunde war sie sprachlos. »Wie bitte?«, brachte sie schließlich hervor.

Er wiederholte, was er gesagt hatte, und sie antwortete mit einem hilflosen Schnauben. »Aber ... warum?«

Ernst zuckte mit den Schultern. Noch immer sah er so unbekümmert aus, als befände er sich auf einer vergnüglichen Sonntagsausfahrt. »Ich habe es jetzt monatelang mit dir versucht, doch ich glaube, meine Freunde hatten recht, und du kannst dich überhaupt nicht verlieben. Du bist so verschlossen wie eine Auster. Und genauso kalt und steif, wenn ich dich küsse.«

»Aber ich ... Ich kann mich verlieben!«, protestierte sie. »Was du sagst, stimmt nicht! Ich brauche nur mehr Zeit, und ...«

Er deutete ein Kopfschütteln an. »Mach's gut, Hannah.« Mit diesen Worten ließ er sie stehen und ging zu seinem Auto. Sein Fahrer wartete bei geöffnetem Fenster.

Bevor er einstieg, wandte Ernst sich doch noch einmal an sie. »Ich wollte ehrlich gesagt nur wissen, ob ich deine Schale knacken kann. Aber Wilhelm und die anderen hatten recht. Unmöglich, Hannah von Neuenstedt ein bisschen Leidenschaft zu entlocken. Dich zu küssen ist, wie einen Flusskrebs zu küssen.«

Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, hatte er die Tür zugeschlagen, und sein Fahrer startete den Wagen. Sprachlos blickte sie dem Auto nach, so lange, bis es im Schatten der Kastanien verschwunden war und sie nur noch das leise Dröhnen des Motors hören konnte.

Sie war abserviert worden! Sie konnte es nicht glauben. Mit Ernst hätte alles anders sein sollen als mit den Männern, mit denen sie sich vorher verabredet hatte. Es hätte endlich sein sollen wie in den großen Liebesgeschichten, wie in ihren Lieblingsbüchern: Vom Winde verweht, Stolz und Vorurteil, Im Banne der Liebe. Diese Leidenschaft, diese großen Gefühle ... all das wollte sie auch empfinden!

Sie hatte sich verabredet, mal mit diesem, dann mit jenem Junggesellen, Küsse getauscht und im Kino Händchen gehalten – und niemals war etwas geschehen. Dann, vor ein paar Monaten, hatte sie Ernst kennengelernt: Er war der Sohn eines Industriellen, der eines der benachbarten Güter erworben hatte und jetzt dort große Lagerhallen errichten ließ.

»Sie wollen Granaten produzieren, habe ich gehört«, hatte Hannahs Mutter Cida von Neuenstedt gesagt, nachdem Ernst und sein Vater den Neuenstedts zum ersten Mal ihre Aufwartung gemacht hatten. Hannahs Vater Friedrich von Neuenstedt hatte den Großindustriellen aus Berlin und seinen Sohn freundlich gebeten zu gehen, nachdem sie versucht hatten, ihm ein Stück Land ganz im Westen der Besitzungen von Rosenthal abzuschwatzen.

»Sie können doch das Geld brauchen, alter Knabe«, hatte Ernsts Vater mit einem jovialen Lächeln zu Friedrich gesagt. Der unwillkommene Besucher hatte natürlich recht – obwohl das Gestüt von Gut Rosenthal seit einigen Jahren wieder florierte, war das Gut nach den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren, in denen Hannah zur Welt gekommen war, noch immer verschuldet. Aber Hannahs Eltern und ihre etwas schrullige Tante Karoline von Eichberg hatten die Besitzungen niemals teilen wollen. Gut Rosenthal war ihr Zuhause, und es würde im Besitz der Familie bleiben.

Bevor Vater und Sohn damals in den Opel Admiral gestiegen waren, mit dem sie vorgefahren waren, hatte Ernst Hannah um eine Verabredung gebeten, und weil ihr sein Lächeln gefallen hatte, hatte sie Ja gesagt. Sie waren ausgegangen, in ein Tanzlokal in Stettin und ins Kino, und vor ein paar Wochen hatte er sie zum ersten Mal geküsst, während über ihnen die Reklame des Lichtspielhauses flackerte. Und sie hatte nichts gefühlt. Sie war nur steif geworden in seinem Arm, und der Kuss hatte sich kalt angefühlt.

Jetzt wandte sie sich von der Chaussee ab, die zum Herrenhaus hinaufführte. Hannah fühlte sich wie betäubt. Hatte Ernst recht? Konnte sie sich wirklich nicht verlieben? Sie sei wie ein Flusskrebs, hatte er gesagt, eiskalt. Sie streckte die Hand aus und hielt sie in das goldene Licht der Junisonne. Es war nach Mittag und sehr warm. Aber sie bildete sich ein, dass trotzdem ein Rest Kälte auf ihrer Haut zurückblieb.

Sie seufzte und streichelte Rosalies Nüstern. Die Stute hatte sich ihr genähert, um ihr gegen die Schulter zu stupsen, so oft, bis sie schließlich die erhoffte Aufmerksamkeit bekam – und den Apfel, den Hannah aus der Satteltasche holte.

Bevor sie die Stute am Zügel nehmen und zu den Ställen führen konnte, die hinter dem Herrenhaus lagen, erklangen Schritte. Hannah drehte sich um. Ein junger Mann kam die breite Treppe herunter, die zum Eingangsportal des Hauses hinaufführte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihm entgegen. Er trug die schwarze Uniform der Schutzstaffel.

Er blieb vor ihr stehen und nahm Haltung an. »Heil Hitler!«

Sie musterte den Fremden. Die Abzeichen an seinem Revers wiesen ihn als Offizier aus, und er war noch sehr jung. Trotz der sommerlichen Wärme, die der Juni über das Land getragen hatte, strich eine Gänsehaut über Hannahs Nacken. Sie erwiderte den Gruß viel zu spät.

»Sie müssen Fräulein Hannah von Neuenstedt sein«, bemerkte der SS-Mann mit einem feinen Lächeln und ergriff ihre Hand, um einen Kuss auf ihre Knöchel zu hauchen. »Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn ich mich vorstellen darf: Hauptsturmführer Hermann Götz. Zu Ihren Diensten, Fräulein von Neuenstedt.«

»Herr Hauptsturmführer ...« Sie blickte zur Treppe hin, aber der Besucher und sie waren allein, und Hannah fand keinen guten Grund, ihn stehen zu lassen. Sie mochte es nicht, wenn sich Leute von der NSDAP auf Gut Rosenthal herumtrieben, denn zumeist bedeutete es Ärger. Und der Ärger wurde vermutlich ungleich größer, wenn er in der Gestalt der SS daherkam. Bestimmt hatte Hauptsturmführer Götz ihren Vater überreden wollen, in die Partei einzutreten.

Sie seufzte innerlich. Alle paar Wochen kam jemand vorbei, um ihren Vater zu beschwatzen, endlich Mitglied zu werden – zuletzt der Gauleiter. Bislang hatte Friedrich von Neuenstedt solche Anliegen beiseitegewischt, und man hatte es zähneknirschend akzeptiert.

Doch Hannah hatte den Eindruck, dass der Druck auf ihre Familie wuchs – von ihrem Vater und natürlich von ihrer Tante, die auf dem Papier die Eigentümerin von Gut Rosenthal war, wurde erwartet, sich zum Führer zu bekennen.

»Ich habe Sie noch nie hier auf Gut Rosenthal gesehen«, platzte es aus ihr heraus.

Ein stolzes Lächeln erhellte das Gesicht Ihres Gegenübers. »Ich bin erst vor ein paar Tagen befördert worden. Nun ist es meine Aufgabe, im Namen des Führers für Ordnung zu sorgen – auch hier auf Ihrem Gut.« Er betrachtete sie mit einem faszinierten Ausdruck in den Augen. »Mir scheint allerdings, Ihre Familie ist etwas eigensinnig, Fräulein von Neuenstedt.«

»Das kommt wohl darauf an, wie man es betrachtet«, gab sie zurück.

Hauptsturmführer Götz schien ihr den schnippischen Tonfall nicht übelzunehmen. »Sie sind sicherlich eine Ausnahme, Fräulein von Neuenstedt. Sie sind das Ebenbild Ihres Vaters, und, wenn ich das sagen darf, ganz und gar bezaubernd.«

Sie presste die Lippen aufeinander. Es stimmte, sie kam nach ihrem Vater mit dem weißblonden Haar und der hochgewachsenen Gestalt. Nur ihre Augen waren dunkel, nicht golden wie die ihrer Mutter, sondern sie hatten die Farbe von Kastanien.

Ihre Brüder hingegen, Richard und Johannes von Neuenstedt, waren das Ebenbild ihrer Mutter mit den braunen Locken, den weichen Gesichtszügen und den bernsteinfarbenen Augen.

Sie fasste nach dem Zügel ihrer Stute. »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, Herr Hauptsturmführer? Ich sollte mein Pferd abhalftern und tränken.«

Hauptsturmführer Götz schlug die Hacken zusammen. »Fräulein von Neuenstedt, es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen. Eine erfreuliche Begegnung unter diesen unerfreulichen Umständen.«

Er ging mit großen Schritten zu seinem Wagen, und sie wirbelte herum. »Was meinen Sie mit ›diesen unerfreulichen Umständen‹?«

»Oh, das klang ernster, als es ist«, antwortete er, während sein Fahrer sich sputete, ihm die Tür zu öffnen, und wandte sich ihr noch einmal zu. »Die Angelegenheit, die mich heute nach Gut Rosenthal geführt hat, betrifft Ihre Tante. Wir mussten sie aus dem Schuldienst entfernen – es hat Beschwerden von Eltern gegeben, und dem mussten wir natürlich nachgehen. Bedauerlicherweise stellte sich heraus, dass ihre ... nun, unkonventionellen Lehrmethoden und ihr fragwürdiger Charakter sie untauglich machen, um weiter in der Dorfschule von Rosenthal zu unterrichten. Guten Tag, Fräulein von Neuenstedt. Ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen.« Er lächelte ihr noch einmal zu, dann setzte er sich in den Wagen, und der Fahrer schloss die Tür.

Als der schwarze Mercedes vom Hof rollte, blickte Hannah ihm hinterher, mit zu Fäusten geballten Händen. Ihre Tante hatte ihren Geburtsnamen Helena von Eichberg vor langer Zeit abgelegt. Sie hatte niemals die Gräfin von Eichberg sein wollen und verfügt, dass Gut Rosenthal nach ihrem Tod an die Nachkommen ihrer Schwester gehen sollte. Stattdessen unterrichtete sie die Kinder von Rosenthal, und weil Hannah auch bei ihr zur Schule gegangen war, wusste sie, dass Karoline eine gute Lehrerin war – schnippisch zwar und auch streng, wenn es sein musste, aber engagiert und immer voller Ideen. Dass sie nun entlassen worden war, musste sie schwer getroffen haben ...

Hannah riss sich vom Anblick der nun still daliegenden Chaussee los und führte Rosalie um das Herrenhaus herum zu den Ställen. Diese lagen hinter dem Haus, am Ende eines von Laubbäumen gesäumten Wirtschaftsweges. Jenseits der im Kreis angeordneten Wirtschaftsgebäude, der Arbeiterquartiere und der Brennerei erstreckten sich die Koppeln von Gut Rosenthal.

Hannahs Eltern Cida und Friedrich von Neuenstedt hatten immer den Wunsch gehegt, aus Rosenthal wieder ein Gestüt zu machen – so war es schon einmal gewesen, zu der Zeit, als Karolines Vater Andreas von Eichberg über das Gut geherrscht hatte. Doch Friedrichs eigene Familie hatte es heruntergewirtschaftet, und erst die Begegnung mit Hannahs Mutter hatte ihn auf die Idee gebracht, wieder Pferde auf Gut Rosenthal zu züchten.

Doch gerade, als sie ihre Pläne endlich in die Tat hatten umsetzen wollen, war der Krieg ausgebrochen. Erst viele Jahre später, als die entbehrungsreichen Nachkriegsjahre hinter ihnen lagen, hatten die von Neuenstedts das Gestüt wiedereröffnet.

Hannah halfterte Rosalie ab und grüßte die Stallburschen und den mittlerweile uralten Stallmeister Hans Weber. Dann lief sie zum Herrenhaus. Sie musste unbedingt wissen, was nun genau mit Hauptsturmführer Götz vorgefallen war!

Cida und Friedrich von Neuenstedt hatten sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen, wo sie erbittert miteinander stritten. Das taten sie nicht zum ersten Mal in den letzten Monaten. Und die Herrin des Hauses, Karoline alias Helena von Eichberg, und Hannahs Großonkel Franz standen an der Tür und lauschten. Wie immer hing Onkel Franz die Brille schief auf der Nase, und Hannah musste den Drang unterdrücken, sie zurechtzurücken. Tante Karoline hingegen hatte dieses kluge Blitzen in den Augen, die hinter der dicken Brille riesig wirkten. Wahrscheinlich heckte sie mal wieder etwas aus.

»Was gibt es denn?«, flüsterte Hannah.

Ihre Tante legte einen Finger an die Lippen und drückte das Ohr gegen die Tür. Hannah tat es ihr gleich.

»Du kannst nicht ernsthaft darüber nachdenken, Friedrich!« Hannahs Mutter Cida klang so entschlossen wie immer, doch heute war auch eine Spur von Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören.

»Was soll ich denn machen?«, gab Friedrich von Neuenstedt zurück. Hannah erkannte an dem rumpelnden Geräusch, das aus dem Arbeitszimmer drang, dass ihr Vater ruhelos auf und ab lief. Friedrich von Neuenstedt war einer der zahllosen Versehrten des Krieges. Er hatte an der Somme eine Kugel in die Hüfte bekommen und humpelte seither. »Karolines Entlassung ist eine eindeutige Warnung, Cida. Wenn ich mich weiterhin gegen die Mitgliedschaft in der NSDAP sträube, tun sie am Ende etwas, was unserer Familie wirklich wehtut.«

Ihre Mutter erwiderte etwas, was Hannah nicht verstand. Dafür jedoch konnte sie die Antwort ihres Vaters hören. Er musste direkt vor der Tür stehen. »Wir sind auf Gut Rosenthal zu Hause, Cida. Ich werde nicht ans andere Ende der Welt fliehen, und du und unsere Kinder auch nicht. Hitler und seine Partei werden sich nicht ewig an der Macht halten können. Wir bleiben hier, und wir stehen auch diesen Sturm gemeinsam durch! Es ist doch nicht das erste Mal, dass wir schwere Zeiten meistern müssen!«

Hannah tauschte einen Blick mit ihrer Tante, die eine Miene zog, als gäbe es sieben Jahre schlechtes Wetter. Sie wusste, worüber ihre Eltern schon wieder stritten: Seit Hitler im April den Nicht-Angriffspakt mit Polen aufgekündigt hatte, war ihre Mutter davon überzeugt, dass es bald wieder einen Krieg in Europa geben würde. Sie wollte, dass die Familie nach Brasilien reiste, zu Hannahs Großeltern. »Solange es noch geht«, hatte sie vor einigen Tagen eindringlich zu ihrem Mann gesagt. Hannah hatte sie mehr oder weniger zufällig belauscht. »Bitte, Friedrich!«

Aber Hannahs Vater blieb stur, und er war nicht der Einzige, der gar nicht daran dachte, Gut Rosenthal jetzt den Rücken zu kehren. Hannah würde Rosenthal niemals verlassen – schon gar nicht Hals über Kopf, für eine wer weiß wie lange Zeit. Ihre Eltern hatten das Gut nach dem Krieg gerettet, und ihre Familie war hier verwurzelt. Sie konnten nicht einfach ans andere Ende der Welt fliehen!

Die Tür zum Arbeitszimmer flog auf, und Hannah sprang gerade rechtzeitig zur Seite, bevor das schwere Holz sie am Kopf treffen konnte. Ihre Tante hatte nicht so viel Glück. »Wie wäre es mit einer Warnung, bevor du die Tür aus den Angeln reißt, Schwesterherz?«, fauchte sie und rieb sich die Stirn.

Cida von Neuenstedt blickte mit hochgezogenen Brauen von ihrer Schwester zu ihrer Tochter und zu ihrem Onkel Franz, der sich trotz seines hohen Alters und seines Gehstocks flink genug bewegt hatte, um der Tür zu entgehen. »Wie wäre es, wenn ihr drei zur Abwechslung einmal nicht lauschen würdet?«

»Du solltest doch mittlerweile dran gewöhnt sein«, sagte Karoline. »Außerdem hatten wir keine Wahl: Eure zarten Stimmen waren nicht zu überhören.«

Cida von Neuenstedt seufzte. Hinter ihr trat ihr Mann aus dem Arbeitszimmer. Friedrich von Neuenstedt stützte sich auf einen Stock, und sein einstmals blondes Haar war ergraut. Trotz seiner Verwundung hielt er sich aufrecht. »Was ist denn hier los?«

»Du wirst doch nicht in die NSDAP eintreten, nicht wahr, Papa?« Hannah konnte sich einfach nicht zurückhalten. Ihr Vater hatte den Nazis bisher in seiner unnachahmlich überheblichen Manier standgehalten, und sie wollte einfach nicht glauben, dass er jetzt doch nachgeben würde.

Friedrich von Neuenstedt deutete ein Kopfschütteln an. »Darüber reden wir jetzt nicht. Ich muss nachdenken.« Mit diesen Worten schob er sich an ihnen vorbei und ging durch den Flur davon.

Als seine Schritte verhallt waren, wandte Hannah sich ihrer Mutter zu. Diese fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Sie sah unendlich erschöpft aus.

»Nun«, sagte Karoline in das allgemeine Schweigen hinein. »Ich habe heute zwar meine Stelle verloren ... aber immerhin geht meine Ehe nicht in die Binsen. Man muss doch in allem das Positive sehen.«

Hannah, Franz und Cida warfen ihr bitterböse Blicke zu, und sie zuckte mit den Schultern. »Nun seht mich nicht so an. Damit wollte ich nur sagen, dass es immer noch schlimmer kommen kann. Also, Kopf hoch!«

Karoline sollte recht behalten: Es konnte immer schlimmer kommen – und nur wenige Stunden nach dem Besuch von Hermann Götz auf Gut Rosenthal kam es schlimmer.

Es war tief in der Nacht, als es an der Tür pochte.

Hannah fuhr aus dem Schlaf und lauschte mit klopfendem Herzen. Sie hatte geträumt, dass Ernst vor ihr stand und ihr sagte, dass er sie nicht küssen konnte, weil sie ganz kalt war, und auf einmal war ihre Haut nass und kalt gewesen, so als wäre sie wirklich ein Flusskrebs. Ein Schauer rieselte über ihren Körper, und sie rieb sich die Arme, bis sie nicht mehr das Gefühl hatte zu erfrieren. Dabei war es sommerlich warm in ihrem Schlafgemach.

Das tiefe Pochen, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte, erklang erneut. Sie sprang aus dem Bett und huschte im Nachthemd durch die stillen Flure bis in die Eingangshalle.

Auch ihre Eltern waren auf den Beinen, ebenso wie die Mamsell des Hauses und das Hausmädchen Jule, das jetzt die Tür öffnete.

Herein stolperten zwei junge Männer.

Hannah schrie auf, als sie das Blut sah, das einem von ihnen über das Gesicht lief. Seine Nase war ganz schief, wie gebrochen, und sein Anzug war schmutzig. Der andere hatte ein blaues Auge und konnte sich allein nicht mehr auf den Beinen halten. Er sackte auf den polierten Marmorfliesen in sich zusammen.

Nur eine Sekunde später war die Eingangshalle des Gutshauses von aufgeregtem Stimmengewirr erfüllt.

»Mamsell, wir brauchen heißes Wasser und Verbände«, befahl Cida von Neuenstedt der Hauswirtin von Gut Rosenthal, die ebenfalls herbeigeeilt war. »Und du, Jule, läufst geschwind und weckst Herrn Schmidt. Fahrt ins Dorf und holt den Herrn Doktor.«

Die Hauswirtschafterin eilte in die Küche, und das Hausmädchen Jule lief los, um Steffen Schmidt, den Chauffeur, aus dem Bett zu werfen.

Hannah und ihre Tante indes eilten den beiden jungen Männern zu Hilfe.

»Was habt ihr zwei nur angestellt?«, rief Hannah, als sie die zerrupften Gestalten ihrer Brüder näher in Augenschein genommen hatte.

»Sie haben sich geprügelt«, gab Karoline zurück, die schon fachkundig über Richards Rippen tastete. »Hm, die scheinen mir nicht gebrochen zu sein. Hast noch mal Glück gehabt, Kleiner.«

»Nenn mich nicht so.« Richards Stimme klang gepresst. Karoline verpasste ihm einen Nasenstüber. »Ihr zwei werdet erst in ein paar Monaten volljährig, und so lange nenne ich dich ›Kleiner‹, hast du verstanden? Überhaupt, wenn ihr euch prügelt wie die Schuljungen ...«

»Wir haben uns nicht geprügelt.« Johannes drückte sich ein Taschentuch gegen die blutende Nase und stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Das waren diese verdammten Braunhemden. Diese Schlägerbande hatte sich gerade vor dem Haus der Meissners postiert. Wollten denen die Tür eintreten. Weil sie denken, dass Rebecca Meissner Jüdin ist.«

Sie brachten die beiden Verletzten nach unten in die Küche, wo sie von Mamsell und den Frauen der Familie umsorgt wurden. Hannah kochte Tee, und als sie ihren Brüdern je eine Tasse reichte, war angespanntes Schweigen in der großen Küche von Gut Rosenthal eingetreten.

Hannahs Vater saß in einem Stuhl neben den Ofen und drehte scheinbar gedankenverloren seinen Gehstock hin und her, und ihre Mutter Cida atmete geräuschvoll aus und lehnte sich gegen den Herd.

Es war Karoline, die schließlich die Stille brach. »Nun schaut doch alle nicht so düster aus der Wäsche. Immerhin haben die beiden die Meissners verteidigt. Geht es denen denn gut?«

»Ja, ja«, sagte Richard. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt, und er hielt sich die Rippen, die Mamsell dick verbunden hatte. »Die Familie bleibt für heute unbehelligt. Wir haben diesen Schlägern fürs Erste genügt. Wir haben stillgehalten, bis sie genug von uns hatten.«

Hannah fuhr auf. »Ihr habt euch nicht einmal gewehrt?«

Die Zwillinge tauschten einen Blick. »Nein«, antwortete Richard, der wie üblich für beide sprach. »Natürlich nicht! Hätten wir uns gewehrt, hätten die Kerle uns wahrscheinlich noch schlimmer zugerichtet. Die suchen nur nach einem Grund, kurzen Prozess mit uns zu machen.« Er schnaubte. »Wenn es Krieg gibt und Deutschland gegen Russland zieht, haben sie gesagt, werden solche wie wir unbewaffnet an die Front gestellt.«

Hannah sah zu ihrer Mutter hin, der alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.

»Jetzt malt mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, erwiderte Karoline. »Es wird schon keinen Krieg geben. Die Kerle reißen nur das Maul auf.«

Hannah wollte an die Worte ihrer Tante glauben. Mehr als alles andere. Sie schaute hinüber zu ihrer Mutter, deren Blick auf ihren Söhnen ruhte – und in ihren Augen lag eine unendliche Entschlossenheit. Hannah sank das Herz. Sie wusste, was in diesem Augenblick in ihrer Mutter vorging: Sie würde tun, was nötig war, um ihre Familie vor der drohenden Gefahr zu schützen. Selbst, wenn das bedeutete, dass sie ihr Zuhause verlassen mussten.

Hannah presste die Lippen aufeinander und blickte zu Boden. Gut Rosenthal mit seinen weiten Feldern, seinen dunklen Wäldern und seinen Pferden war der einzige Ort, an dem sie sich nicht wie ein Flusskrebs fühlte. Sie konnte nicht weggehen. Hier gehörte sie her.

In dieser Nacht hörte Hannah ihre Eltern wieder streiten. Sie selbst fand keinen Schlaf. Stattdessen schlich sie sich zum Elternschlafzimmer und lauschte an der Tür. Die lauten Stimmen hallten durch das Haus, bis der Morgen graute, und am Frühstückstisch saßen sie alle stumm und mit düsteren Mienen.

Doktor Becker war aus dem Dorf gekommen und hatte Hannahs Brüder untersucht. Richards Rippen waren böse geprellt, und Johannes' Nase war gebrochen, und beide hatten jede Menge blauer Flecken und Kratzer abbekommen. Schlimme Verletzungen hatten sie jedoch nicht davongetragen.

»Deine Brüder sind keine Soldaten«, sagte Hannahs Großonkel Franz, als sie an diesem Tag mit ihm um den See von Gut Rosenthal spazierte. Er stützte sich schwer auf seinen Stock, und ein ums andere Mal strauchelte er.

Hannah beobachtete ihn besorgt. Ihr Großonkel war alt geworden. Doch seine Augen, um die unzählige Falten spielten, waren wach und gutmütig wie eh und je.

»Deine Mutter hat recht damit, dass sie sie aus der Schusslinie bringen will. Wenn es wirklich Krieg gibt, dann werden sie eingezogen – sie sind jung und gesund, aber sie vergraben sich doch genau wie du lieber in irgendwelchen Büchern, statt zu kämpfen.«

»Glaubst du denn, es wird Krieg geben, Onkel Franz?«, fragte Hannah.

»Wir haben damals nicht gedacht, dass es Krieg geben könnte.« Der alte Mann blickte mit düsterer Miene in die Ferne. »Unmöglich, das haben sie alle gesagt, und jedermann hat es geglaubt. Selbst, als alle Zeichen auf Krieg standen, hat niemand begriffen, was es bedeuten würde. Niemand, nicht einmal dein Vater.«

Hannah blickte zurück zum Herrenhaus, das unter dem blauen Junihimmel vor ihnen lag. Sein verwilderter englischer Garten führte bis zu einer Terrassentür, die jetzt geöffnet war und auf der es später für die Familie ein leichtes Mittagessen und Limonade geben würde. Auf der linken Seite des Hauses lag auch die Orangerie, ein gläserner Anbau, in dem früher Rosen gezüchtet worden waren. Heute befand sich darin ein Gemüsegarten mit Tomaten, Kohlköpfen und Kohlrabi. Doch auch einige Zitronenbäume aus früherer Zeit standen noch dort – und ein einziger, einsamer Rosenbusch.

Als Friedrich von Neuenstedt damals eingezogen worden war, hatte seine Frau das Gut gerettet, zusammen mit ihrer Schwester. Cida sagte heute noch scherzhaft, dass Karolines bissige Bemerkungen sie aufrecht gehalten hatten. Hätte sie sich nicht ständig über die sarkastischen Kommentare ihrer Schwester geärgert, sie hätte nicht die Kraft gefunden durchzuhalten.

»Wirst du denn Rosenthal verlassen?«, wollte sie leise wissen.

Franz wiegte den Kopf. »Manchmal denke ich, es wäre schön, meinen Lebensabend mit meiner Schwester zu verbringen. Wir schreiben einander Briefe, doch das ist nicht das Gleiche. Bevor ich sterbe, würde ich ihr Gesicht gern noch einmal sehen. Aber ich bin auch ein sturer alter Mann, und das hier ist das Land, in dem ich geboren wurde.« Er ächzte. »Und außerdem ... Kind, ich habe es in den Knochen. Ich hätte Angst, eine so weite Reise nicht mehr zu schaffen in meinem Alter.«

Hannah löste den Blick von dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, und hakte ihren Großonkel unter, während sie weiter um den See spazierten. Bei einer Trauerweide, die ihren Kopf über das schimmernde Wasser neigte, blieben sie noch einmal stehen, weil Franz wieder ein paar Sekunden brauchte, um zu verschnaufen.

»Ich will nicht, dass wir Gut Rosenthal verlassen«, flüsterte sie und blickte auf den runden See. Ein Windhauch kam auf und kräuselte das Wasser.

»Noch sind wir ja hier.« Ihr Onkel trat an ihre Seite, doch im Gegensatz zu ihr hatte er den Blick nach Westen gerichtet. Irgendwo dort, viele Tausend Kilometer von hier und einen ganzen Ozean entfernt, lag Brasilien.

Hannah hatte die Heimat ihrer Großeltern erst ein einziges Mal besucht, und damals war sie noch ein Kind gewesen. Rosenthal war ihre ganze Welt, alles, was sie liebte – hier würde sie immer vollständig sein. Als sie zum Haus zurückgingen, hatte sie ihre Entscheidung getroffen: Niemals würde sie ihr Zuhause verlassen.

Es sah so aus, als würde alles gut werden.

Hannahs Eltern stritten noch, aber die Wunden der Zwillinge verheilten, und niemand sprach mehr von Krieg oder Flucht. Der Sommer 1939 rauschte heiß über das Land, und statt sich über die Zukunft oder den Rest der verrückten Welt Gedanken zu machen, badeten Hannah und ihre Brüder im See, ritten auf ihren Pferden um die Wette und ließen es sich gut gehen.

Doch der Juli brachte nicht nur eine Hitzewelle nach Gut Rosenthal, sondern auch einen Besucher. Er kam zu Fuß, obwohl seine Kleidung verriet, dass er nicht arm war – er trug einen schicken grauen Anzug, und sein Haar war modisch gescheitelt.

Hannah war draußen am See, als er näher kam. Sie sah ihn vom Dorf her an den Koppeln und den Wirtschaftsgebäuden vorbeigehen. Obwohl es nun sicher zwei Jahre her war, dass er das Gut zum letzten Mal besucht hatte, erkannte sie den rothaarigen Mann mit dem kleinen braunen Koffer auf den ersten Blick. Sie sprang auf. Sie war im See geschwommen und hatte sich dann zum Trocknen ins Gras gelegt. Jetzt wrang sie sich das Haar aus und warf sich rasch ihr einfaches Hauskleid über den Badeanzug, bevor sie dem Besucher entgegeneilte. »Herr Meissner!«

Er blieb stehen, als er sie erblickte, und lachte dann über das ganze Gesicht. »Die kleine Hannah von Neuenstedt. Du bist groß geworden!«

»Fast neunzehn«, gab sie zurück.

Emil Meissner lächelte. Als Hannah klein gewesen war, war er ein armer Student gewesen, aber jetzt war er längst ein gemachter Mann, der in Berlin lebte und Automobile baute. »Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, sagte er. »Erzähl mir, was in den letzten Jahren hier auf Rosenthal vor sich gegangen ist.«

»Ach, es war eigentlich alles wie immer«, antwortete Hannah, während sie den Gast zum Haus begleitete. »Mama und Papa streiten wegen der Nazis, die Zwillinge bringen sich ständig in Schwierigkeiten, und Tante Karoline gibt sich alle Mühe, jedermann auf die Nerven zu fallen mit ihrem großen Mundwerk. Das sind Papas Worte, nicht meine ... Sagen Sie, wieso haben Sie denn einen Koffer dabei?«

»Oh.« Emil Meissner hob den Lederkoffer ein Stück in die Höhe. »Den wollte ich Ihrer Mutter zurückgeben. Dieser Koffer hat eine ziemlich bewegte Geschichte, wissen Sie? Ihre Mutter ist damit damals von Brasilien nach Deutschland gereist, und als ich zum Studieren nach Berlin gegangen bin, hat sie ihn mir gegeben. Jetzt bringe ich ihn zurück.«

»Und deshalb haben Sie den weiten Weg von Berlin nach Gut Rosenthal gemacht?« Hannah zog die Augenbrauen zusammen. »Und warum wollen Sie ihn denn überhaupt zurückgeben? Er war doch sicher ein Geschenk!«

Der Gast schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf. »Nun, eigentlich bin ich nach Gut Rosenthal gekommen, um mich zu verabschieden.« Er seufzte und blickte über die Schulter zurück zu den Koppeln, auf denen auch jetzt die Pferde grasten. Es war ein friedliches Bild, wie sie da so standen. Zwei junge Hengste, die erst im Frühjahr geboren worden waren, tollten über die Wiese und schnappten spielerisch nacheinander.

Hannah lächelte bei dem Anblick, aber Emil Meissner schien es traurig zu machen, diese Idylle zu sehen.

»Was meinen Sie damit, Sie wollen sich verabschieden?«, fragte Hannah, als sie weitergingen.

Er seufzte. »Ich musste Berlin verlassen. Dort haben sie mein Büro kurz und klein geschlagen, weil meine Mutter Jüdin ist. Meinen Beruf kann ich nicht mehr ausüben, und meine Familie ...« Er sah Hannah an. »Ich habe gehört, was deine Brüder getan haben, und dafür werde ich ihnen immer dankbar sein. Aber in Deutschland gibt es keine Zukunft für uns.« Gedankenverloren betrachtete er den kleinen Koffer in seiner Hand. »Wir haben ein Visum für Argentinien bekommen. In einer Woche geht das Schiff ab Bremen.«

Hannah schluckte, und es dauerte eine lange Zeit, ehe sie die Stimme wiedergefunden hatte. Es war auf einmal, als hätte sich ein Schatten über ihr Zuhause gelegt. Diese ganze verrückt gewordene Welt! »Werden Sie denn ... werden Sie denn bald wieder zurückkommen?«

Sie wusste, was für eine kindische Frage das war und wie dumm sie war, denn sie kannte die Antwort. Aber sie musste sie trotzdem hören.

Emil Meissner schüttelte den Kopf, und Hannah bemerkte, dass er an den Schläfen schon ergraut war. »Nein, ich denke nicht, dass wir je zurückkommen. Und deiner Familie würde ich auch raten, das Land zu verlassen. Solange es noch geht.«

Nach Emil Meissners Besuch wurde es fast schon unheimlich still auf Gut Rosenthal. Nicht einmal Hannahs Tante Karoline schien noch Lust zu haben, bei Tisch zu scherzen und ihrer Schwester und ihrem Schwager mit ihren Bemerkungen auf die Nerven zu fallen. Stattdessen zappelte sie auf ihrem Stuhl herum wie ein Kind und schien kaum ein Wort von dem zu hören, was gesagt wurde.

Hannahs Eltern stritten jetzt nicht mehr laut miteinander, aber Hannah hörte sie im Schlafzimmer miteinander flüstern, und einmal war ihr, als hörte sie auch ein Schluchzen. An diesem Abend blieb sie an der Tür stehen, obwohl sie sich selbst gelobt hatte, nicht mehr zu lauschen, und drückte das Ohr gegen das Holz.

»Ich weiß, ich habe gesagt, ich bleibe für immer hier bei dir«, hörte sie die Stimmer ihrer Mutter. »Ich weiß, dass wir alle Widrigkeiten gemeinsam überstehen wollten ... aber ich muss jetzt an meine Kinder denken.« Sie klang verzweifelt. »Du hast gehört, was Emil über die Zustände in Berlin erzählt hat, und du hast gesehen, was sie mit deinen Söhnen gemacht haben. Bedeutet dir das denn gar nichts?«

»Natürlich bedeutet es mir etwas!« Friedrich von Neuenstedt wurde jetzt doch laut. »Und ich tue alles, was ich kann, um unsere Familie zu beschützen. Hier, Cida. In unserem Zuhause. Nicht auf der anderen Seite der Welt. Ich flehe dich an, habe etwas Vertrauen zu mir. Ich finde eine Lösung!«

»Und wie sieht diese Lösung aus? Trittst du nun doch in die NSDAP ein?«

Auf diese Worte folgte ohrenbetäubendes Schweigen.

»Ich kann das nicht glauben«, flüsterte Cida von Neuenstedt schließlich. »Denkst du wirklich, dass du damit irgendetwas besser machst? Indem du dich mit Leuten gemein machst, die deinen Kindern schaden wollen?«

Hannah war wie betäubt, als sie sich endlich von der Tür löste und sich in ihr Schlafgemach schlich. Hier ließ sie sich im Dunkeln auf das Bett sinken und blickte aus dem Fenster. Über Gut Rosenthal hing ein voller Mond, der das Land fast taghell erleuchtete. Kein einziges Wölkchen war zu sehen. Die dunklen Wolken, die waren nur hier bei ihr.

Am nächsten Morgen klopfte es noch vor Sonnenaufgang an Hannahs Tür. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich im Bett auf. Es war ein riesengroßes Himmelbett, wie für eine Märchenprinzessin, und viel zu groß für sie. Sie schob die zerwühlten Laken beiseite und legte sich eines der Kissen auf den Schoß.

Draußen zog gerade die Morgendämmerung herauf, und die Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinströmte, war angenehm kühl. Bald schon, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, würde die sommerliche Hitze sich wieder über das Land legen.

Es klopfte wieder.

»Ja?«, murmelte Hannah schlaftrunken und umarmte dabei das Kissen auf ihrem Schoß. Sie hatte sich in der Nacht hin und her gewälzt und war immer wieder aufgewacht, mit einem Gefühl der Angst im Bauch. Jetzt war es zurück, eine kribbelige Unruhe, die ihren ganzen Körper erfasste, ein laut pochendes Herz. Etwas würde geschehen. Sie spürte es.

Die Tür öffnete sich, und ihre Mutter trat ins Zimmer. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, so als hätte sie wieder einmal nicht geschlafen. Cida von Neuenstedt litt unter Schlafstörungen. Hannah wusste, dass ihre Mutter in manchen Nächten überhaupt nicht schlief – stattdessen wanderte sie durch das Haus oder saß in der Bibliothek und las. Oder sie ritt über das unter dem nächtlichen Himmel still daliegende Gut und kehrte erst in den frühen Morgenstunden heim. Hannah roch auch jetzt den Stall und das Pferd und den Schweiß, und sie schluckte. Ihre Mutter ritt in der Nacht aus, wenn sie eine Entscheidung treffen musste, wenn sie sich getrieben fühlte.

Sie erinnerte sich an das Gespräch, das sie in der vergangenen Nacht belauscht hatte, und an die Verzweiflung in der Stimme ihrer Mutter, und sie umklammerte das Kissen noch ein wenig fester. Ihre Mutter hatte eine Entscheidung getroffen – sie konnte es in ihren bernsteinfarbenen Augen sehen, an ihren gestrafften Schultern und an dem harten Zug, der sich um ihren Mund gelegt hatte. Sie wusste, was jetzt kommen würde, und sie wollte es nicht hören. Sie wollte die Zeit zurückdrehen bis zu einem Tag, an dem ihre Eltern noch nicht wegen der Nationalsozialisten gestritten hatten und Gut Rosenthal noch eine Idylle gewesen war, der nichts und niemand etwas anhaben konnte.

Cida von Neuenstedt holte tief Luft und trat zu dem Ohrensessel, der unter dem offenen Fenster stand. Dort saß Hannah jeden Abend und las in einem ihrer Romane. Dann konnte sie die ganze Welt vergessen und sich in leidenschaftliche Liebesgeschichten hineinträumen. Jetzt räumte Cida von Neuenstedt die Bücher ihrer Tochter beiseite, bevor sie sich setzte, die Hände über dem Schoß verschränkte und ihre Tochter mit ernster Miene anblickte. »Hannah, Liebling, es gibt etwas, über das wir sprechen müssen.«

Hannah schluckte. »Du wirst Papa verlassen, nicht wahr?«

Cida von Neuenstedt vergrub kurz das Gesicht in den Händen. Dann schaute sie ihre Tochter wieder an. »Wir werden nach Brasilien reisen. Du, deine Brüder und ich. Eure Großeltern werden sich freuen, euch zu sehen. Wir bleiben, bis sich hier in Europa alles wieder beruhigt hat. Pack einen Koffer, Liebling. Steffen bringt uns in zwei Tagen nach Stettin zum Zug.«

Für einen Augenblick war Hannah wie eingefroren. Einen Koffer packen? Gut Rosenthal verlassen? Und was war mit dem Rest der Familie? Ihre Mutter hatte nur von ihren Brüdern und ihr, Hannah, gesprochen – was war mit Papa und Tante Karoline und mit Onkel Franz? Als ihr Körper ihr endlich wieder gehorchte, sprang sie aus dem Bett. »Was ist mit Papa? Kommt er mit? Oder lässt du ihn einfach hier? Und Karoline und Onkel Franz? Und ... Und was ist mit dem Gut und den Pferden?«

»Dein Vater und deine Tante ... und natürlich Onkel Franz werden hier auf Gut Rosenthal bleiben und sich um alles kümmern.« Cida von Neuenstedt lächelte gequält. »Es ist alles schon entschieden. Du wirst sehen, wir werden gar nicht so lange fort sein.«

Aber Hannah sah in den Augen ihrer Mutter, dass es eine Lüge war. Solange die Nazis herrschten, begriff sie plötzlich, würde Cida nicht nach Deutschland zurückkehren – und sie selbst und ihre Brüder auch nicht. Zu sehr fürchtete ihre Mutter sich vor einem nahenden Krieg und davor, dass ihre Söhne würden kämpfen müssen.

»Ich komme nicht mit«, flüsterte sie in die Stille hinein. »Ich weiß, du hast recht damit, dass Richard und Johannes fortgehen müssen, aber ... Ich werde nicht mitkommen, Mama. Es tut mir leid, doch ich kann nicht mit nach Brasilien gehen. Ich bleibe auf Gut Rosenthal.«

Drei Tage später verließen Cida von Neuenstedt und ihre Söhne das Gut. Die Sonne ging schon über den Koppeln und den dort grasenden Pferden auf, als der Chauffeur das Gepäck der Hausherrin und ihrer zwei ältesten Kinder in den Wagen lud. Hannah, ihr Vater, ihre Tante und ihr Großonkel standen am Fuß der Freitreppe, um sich zu verabschieden.

Bevor sie in den Wagen stieg, umarmte Cida von Neuenstedt ihre Tochter und küsste sie auf die Stirn. »Du kannst jederzeit nachkommen«, sagte sie leise. »Bitte versprich mir, dass du darüber nachdenkst.«

Hannah versprach es. Ihre Mutter würde sich mit keiner anderen Antwort zufriedengeben – doch Hannah hatte nicht vor, ihr Zuhause zu verlassen. Nicht heute, nicht morgen, niemals.

In den vergangenen Tagen hatte Cida von Neuenstedt wieder und wieder versucht, ihre Tochter zur Abreise zu bewegen. Sie hatten gestritten, mal laut und dann wieder ganz leise, so als könnte jedes laute Wort die Wände um sie herum zum Einsturz bringen. Hannah traten die Tränen in die Augen.

Ihre Mutter hatte sie angefleht, mit nach Brasilien zu reisen. »Deutschland ist kein Ort mehr für uns«, hatte sie gesagt. »Ich habe es zu meiner Heimat gemacht, aber es will mich nicht mehr – und meine Kinder auch nicht. Wir sind hier nicht länger sicher, Hannah. Bitte, komm mit uns.« Und Hannah hatte ihr vorgeworfen, dass sie feige davonlief, dass sie Papa im Stich ließ und alles, was sie hier auf Gut Rosenthal aufgebaut hatte. Am Ende hatte sie geweint, und in den Augen ihrer Mutter, die niemals weinte, hatten ebenfalls Tränen gestanden.

Und auch jetzt sah Hannah, wie ihre Mutter mit sich kämpfte. Während ihr Vater die Abreise seiner Frau und seiner Söhne mit unglücklicher Miene beobachtete, warf sie ihm einen letzten Blick zu – bevor sie sich abrupt abwandte. Hannah wusste, dass ihre Eltern einander über alles liebten, und sie nun beide so verzweifelt zu sehen, schnitt ihr ins Herz.

»Ihr schreibt mir«, befahl sie den Zwillingen, die sich schon fast wieder von der Schlägerei erholt hatten. Nur Richards schiefe Nase zeugte noch davon. »Ihr alle beide, habt ihr verstanden?«

»Jede Woche«, antwortete Richard.

»Ach was«, sagte Johannes. »Jeden Tag schreiben wir dir, Schwesterherz! Du bekommst jeden Tag einen schönen langen Brief von mir, und dann wirst du so neidisch, dass du doch nachkommst. Du wirst schon sehen!«

Hannah schüttelte den Kopf, lachend – obwohl sie viel lieber geweint hätte. Johannes und Richard liebten Brasilien und das Gestüt ihrer Großeltern. Richard sollte es eines Tages erben, und Johannes würde Gut Rosenthal bekommen. Doch manchmal dachte Hannah, dass ihre Brüder beide nach Brasilien gehörten, unter die sengende Sonne, in die wilden Täler und auf die staubigen roten Straßen.

Als Hannah sieben Jahre alt gewesen war, waren sie alle nach Brasilien gereist, mit dem Schiff. Und während sie Heimweh gehabt hatte, hatten die Zwillinge sich Hals über Kopf in den Hof von Lotte und Johann und das grüne Land verliebt. Dort hatten sie Entdecker und Abenteurer gespielt, Skorpione in Einweckgläsern gefangen und waren mit ihrem Großvater um die Wette geritten.

»Wir sind bald wieder zurück, Schwesterchen.« Richard, der nicht so albern war wie Johannes, sondern still und ernst wie ihre Mutter, schenkte ihr ein Lächeln. »Du musst nur aufpassen, dass Tante Karoline keinen Unsinn anstellt, während wir fort sind.«

»Das habe ich genau gehört, Kleiner!«, rief Karoline, als der Wagen vom Hof rollte. »Wartet nur, bis ich euch zwei wieder in die Finger kriege! Dann ziehe ich euch die Ohren lang!«

Johannes beugte sich aus dem geöffneten Fenster und antwortete mit einem Grinsen und einem fröhlichen Winken.

Und dann war das Automobil im Schatten der Kastanien verschwunden, und das Brummen des Motors entfernte sich. Hannah und ihr Vater, ihr Großonkel und ihre Tante standen nebeneinander am Fuß der Treppe, die hinauf zum Eingangsportal des Herrenhauses führten, und sagten kein Wort, während sie alle dem Auto nachblickten, das schon längst nicht mehr zu sehen war.

»Sie ist wirklich weg«, sagte Friedrich von Neuenstedt irgendwann, als könnte er es selbst jetzt noch nicht begreifen.

»Ach, Papa«, murmelte Hannah.

Eine Schwalbe flog über den Hof, und mit ihr kam eine kühle Brise, die Hannah ein paar lose Haarsträhnen um das Gesicht tanzen ließ.

»Gehen wir hinein«, sagte Tante Karoline. »Wenn die Schwalben tief fliegen, dann bedeutet das, es wird bald regnen.«

Es regnete einen ganzen Tag lang.

Hannah verbrachte die Zeit in dem großen roten Ohrensessel in der Bibliothek, vergraben in einem ihrer Liebesromane, und lutschte ein Zitronenbonbon nach dem anderen. Sie las wieder einmal ihren Lieblingsroman Stolz und Vorurteil und dann Jane Eyre und Sturmhöhe, und ein Teil von ihr fragte sich, warum sie im wahren Leben die Männer mit dem strahlenden Lächeln und dem lebenslustigen Wesen mochte – und in den Büchern nach so finsteren Gestalten wie Rochester und Heathcliff schmachtete. Über ihre Grübeleien vergaß sie manchmal sogar den Regen, der gegen die Scheiben prasselte, und die Stille im Haus, seit ihre Mutter und ihre beiden älteren Brüder das Gut verlassen hatten.

Was war Liebe? Sie las die Worte und versuchte, es zu verstehen. Dieser Funke, der die Liebenden in all diesen Büchern entzündete und den sie nicht empfinden konnte – was war er, und woraus bestand er? Sie fand keine Antwort zwischen den Seiten, Worte blieben Worte. Schön und kalt, nur Zeichen auf Papier. Vielleicht hatte Ernst ja recht gehabt und sie war wirklich wie eine Auster oder ein Flusskrebs – hart, kalt, keine Leidenschaft, keine Hitze, wenn man sie küsste. Hannah, der Flusskrebs.

Am dritten Tag durchbrach das Dröhnen eines Motors das Prasseln der Regentropfen. Hannah fuhr hoch. Zum ersten Mal seit Tagen verließ sie die Welten, die Jane Austen und die Brontë-Schwestern geschaffen hatten. Stattdessen eilte sie zum Fenster und beobachtete mit klopfendem Herzen, wie der schwarze Mercedes auf den Hof rollte.

Ein kühler Windzug strich durch eine Ritze im Fensterladen ins Zimmer und streifte ihre Haut – wie eiskalter Atem. Als der Fahrer um den Wagen herumging und die Tür auf der Beifahrerseite öffnete, presste sie die Nase gegen die Fensterscheibe. Eine hochgewachsene Gestalt in einem dunklen Wachsmantel stieg aus dem schwarzen Mercedes und schritt zum Hauseingang, einen Regenschirm über den Kopf gespannt. Hannah löste sich vom Fenster und eilte die Treppe hinab ins Erdgeschoss.

Als sie die Eingangshalle erreichte, öffnete das Hausmädchen Jule gerade die Tür. Hermann Götz trat ein und reichte dem Mädchen seinen Regenschirm, ohne in seine Richtung zu sehen. Die Regentropfen perlten von seinem Mantel und von seiner Schirmmütze, und seine Stiefel hinterließen schlammige Fußspuren auf dem polierten Marmor. Als sein Blick auf Hannah fiel, schlug er die Hacken zusammen und reckte den Arm in die Höhe. »Heil Hitler!«

Sie erwiderte den Gruß zögerlich.

»Wie schön, Sie bei guter Gesundheit anzutreffen, Fräulein von Neuenstedt.« Götz ließ den Blick einmal an ihr auf und ab wandern. »Leider bin ich heute in einer geschäftlichen Angelegenheit auf Gut Rosenthal ... ich hätte zu gern mit Ihnen geplaudert, aber ich fürchte, meine Pflichten erlauben mir im Augenblick keinen Müßiggang.« Er warf ihr ein gewinnendes Lächeln zu. »Das werden Sie mir doch verzeihen, nicht wahr?«

Sie schluckte. Da war etwas an diesem Mann, was ihr Angst einjagte – und es war mehr als die schwarze Uniform und das Abzeichen der SS. Da war noch etwas anderes, und so sehr sie sich auch den Kopf zermarterte, sie konnte es nicht benennen. »Natürlich, Herr Hauptsturmführer«, antwortete sie. »Wenn Sie einen Moment warten wollen? Ich werde meinem Vater Bescheid geben, dass Sie hier sind.«

Friedrich von Neuenstedt verschanzte sich schon seit Tagen in seinem Arbeitszimmer, und als Hannah ihm sagte, wer an diesem Tag den Weg nach Gut Rosenthal gefunden hatte, wurde seine Miene so düster wie der Himmel draußen. »Dieser verdammte Götz«, knurrte er. Dabei schloss er die Hand so fest um den Knauf seines Gehstocks, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Er soll hereinkommen.«

Hannah wartete im Salon, während Hermann Götz im Arbeitszimmer mit ihrem Vater sprach – angespannt bis in die Fußspitzen, die Arme um den Körper geschlungen und unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Wieder war ihr, als hinge eine düstere Vorahnung über ihr – als hielten die Welt und das Gut den Atem an, als würde sogar der Regen leiser, um zu lauschen. Etwas würde geschehen. Sie wusste es einfach. Welche Geschäfte Götz auch immer mit ihrem Vater zu besprechen hatte, seine Anwesenheit auf Gut Rosenthal konnte einfach nichts Gutes bedeuten.

Nach seinem letzten Besuch hatte sich ihre Welt auf den Kopf gestellt. Und jetzt, in diesem Augenblick, ahnte ein Teil von ihr bereits, dass es wieder so kommen würde. Götz war der kalte Wind, der um das Gut fegte, und mit jedem Besuch gaben ihm diese alten Mauern etwas mehr nach. Eines Tages mochten sie einstürzen. Hannah erschauderte und verscheuchte den Gedanken.

Irgendwann gesellte sich Tante Karoline zu ihr. Wie üblich hatte sie das dunkle Haar nachlässig aufgesteckt, und die Strähnen tanzten um ihr schmales Gesicht. Sie trug ihre graue Wolljacke, die ihr viel zu groß war, und einen waldgrünen Rock, und durch die dicken Brillengläser glänzten ihre Augen wie schwarze Steine. In den Händen hielt sie ein ganzes Tablett mit Biskuits. Ein Berg von Krümeln ließ darauf schließen, dass sie schon einige der süßen Gebäckstücke verputzt hatte.

»Wo warst du den ganzen Tag?«, fragte Hannah, als ihre Tante ihr das Tablett hinhielt, und nahm sich einen Biskuit. Zitrone, ihr Lieblingsgeschmack. Während sie kaute, betrachtete sie ihre Tante. Karoline, die sonst den ganzen Vormittag in der Schule verbrachte und selbst in den Ferien Bastel- und Zeichenkurse für die Kinder veranstaltet hatte, schlich bereits seit Tagen wie ein Geist durch das große Haus. Sie hatte schon zwei Mahlzeiten verpasst, und Hannah begann allmählich, sich zu fragen, was mit ihrer Tante los war. Sie wirkte auch viel geheimniskrämerischer als sonst und weniger gesprächig. Normalerweise kaute sie einem ein Ohr ab, wie Papa zu sagen pflegte.

»Oh, hier und da, Liebes.« Karoline steckte sich einen Biskuit in den Mund und blickte sich dann nach allen Seiten um. »Hörst du das auch?«

Hannah lauschte. Waren ihr Vater und Götz im Arbeitszimmer laut geworden? Nein. Alles, was sie vernahm, war der ständige Gleichklang des Regens an den Fenstern und das Rauschen des Windes in den Bäumen vor dem Haus. »Nein«, gab sie dann auch zurück. »Was denn?«

Bevor ihre Tante antworten konnte, krachte irgendwo im Haus eine Tür ins Schloss. Hannah und Karoline tauschten einen Blick, und Hannah eilte in die Eingangshalle, um nachzusehen, was den Lärm verursacht hatte.

Hauptsturmführer Götz kam die Treppe herunter, die ins Erdgeschoss führte. Seine Stiefel erzeugten ein zackiges Stakkato auf dem gewienerten Boden, und seine Miene war so sauertöpfisch wie Karolines, wenn es keine Biskuits mehr gab. Jule beeilte sich, ihm Mantel und Regenschirm zu reichen.

»Fräulein von Neuenstedt.« Bevor er das Haus verließ, nickte er Hannah noch einmal zu. »Es war mir wieder einmal eine Freude, Sie zu sehen. Sicher werden wir einander bald wieder begegnen.«

Mit gerunzelter Stirn blickte sie ihm nach, als er aus dem Haus trat und mit flatternden Mantelschößen zu seinem Mercedes eilte. Der Fahrer öffnete die Beifahrertür, der Motor röhrte, der Wagen rollte vom Hof. Nur Sekunden später war er verschwunden, und das Haus war wieder so still wie zuvor.

Hannah ging hinauf und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers. Auf das »Herein« ihres Vaters hin trat sie ein und blickte sich um. Sie war nicht oft hier oben; dieser Raum war das Refugium ihrer Eltern. Friedrich und Cida von Neuenstedt hatten das Gestüt gemeinsam geführt, seit Hannah sich erinnern konnte. Bevor sie geboren worden war, noch im Krieg, da hatte Cida das Gut gemeinsam mit ihrer Schwester gerettet. Eigentlich, dachte Hannah, war es nur ihrer Mutter zu verdanken, dass das Gut immer noch im Besitz der Familie war. Umso mehr fehlte ihre Präsenz jetzt in jedem Raum. Ganz besonders in diesem.

»Was kann ich für dich tun, Hannah?« Ihr Vater lehnte am Fensterbrett und drehte den Gehstock hin und her. Er sah wütend aus ... und ratlos.

»Was wollte Hauptsturmführer Götz?«

Er seufzte. »Das Gleiche, was er und seinesgleichen immer wollen.«

»Dass du in die NSDAP eintrittst?«

Ein Brummen. »Mit Vaterlandsverrat ist er mir gekommen. Dieser Junge ist noch grün hinter den Ohren und nimmt schon solche Wörter in den Mund. Ich habe für dieses Land gekämpft, und ich werde mir sicher nicht von so einem Bengel sagen lassen, ich wäre meinem Vaterland nicht treu, weil ich eine Ausländerin geheiratet habe und mich weigere, in seine Partei von Hakenkreuz tragenden Nichtsnutzen einzutreten.«

Hannah überkam eine Gänsehaut. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr Vater sich mit diesen Leuten gemein machte, aber sie wusste, er spielte mit dem Gedanken, in die Partei einzutreten. Das war der Grund für den Weggang ihrer Mutter, über den niemand bislang zu sprechen gewagt hatte. Deshalb hatte sie ihn verlassen.

»Und?«, fragte sie, weil ihr Vater jetzt schwieg. »Wirst du es tun?«

Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stieß einen Fluch aus. »Mein Gott, was bin ich für ein Narr!« Als er seine Tochter wieder ansah, wirkte er fast schon hilflos. »Deine Mutter hat mir über die Jahre immer wieder Naivität vorgeworfen. Meistens sagte sie es scherzhaft, aber sie hat vollkommen recht.«

»Es kann ja nicht jeder so eine Realistin sein wie Mama.« Hannah grinste, und ihr Vater tat es ihr gleich. Doch gleich darauf wurde er wieder ernst.

»Ich dachte, wenn ich ihnen einfach gebe, was sie wollen, dann lassen sie unsere Familie in Ruhe. Glaube nicht, ich wüsste nicht, wie sie über meine Frau und meine Kinder denken; ich weiß es genau, und ich würde alles dafür tun, dass das aufhört.« Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich werde mich niemals mit diesen Menschen gemein machen. Und ich werde auch nicht vor ihnen weglaufen.«

Er kam um den Schreibtisch herum und drückte Hannahs Schulter. »Sei so lieb und pass ein paar Tage auf deine Tante und deinen Großonkel auf. Ich reise deiner Mutter nach. Ich muss ihr wenigstens richtig Auf Wiedersehen sagen. Ich will ihr in die Augen sehen, wenn ich ihr sage, dass sie recht hatte – und dass ich sie liebe, ganz egal, wie lange wir voneinander getrennt sein werden. In ein paar Tagen werde ich zurück sein.«

Kapitel 2

Gut Rosenthal, August 1939

Hannahs Vater nahm den alten Koffer ihrer Mutter und befahl dem Fahrer, ihn so schnell wie möglich nach Stettin zum Bahnhof zu bringen. Als das Automobil vom Hof fuhr, hatte es zu regnen aufgehört, und die Abendsonne schien auf Gut Rosenthal herab.

Hannah lief zu den Koppeln, wo Rosalie sie schon erwartete. Die hübsche Fuchsstute streckte den Kopf über das Gatter und ließ sich streicheln. Allerdings wurde sie schnell ungeduldig und begann, Hannah sanft anzustupsen.

»Hier hast du einen Apfel, du Vielfraß.« Hannah streichelte die Stute zwischen den Ohren, während diese den Apfel verspeiste. Die Früchte wurden gerade reif und hingen im verwilderten englischen Garten von Gut Rosenthal von zwei ineinander verschlungenen Apfelbäumen. Sie standen gleich neben dem Gewächshaus, gleich neben den Rosenbüschen, die noch ihren schweren Duft verströmten. Das Gut hatte auch einen Obstgarten, in dem Apfel- und Pflaumenbäume standen, außerdem ein mächtiger Walnussbaum, der im Sommer Schatten spendete.

Im Krieg hatten Hannahs Mutter Cida und Tante Karoline begonnen, Pflaumenschnaps aus den dort wachsenden Früchten zu brennen, und so war das Gut selbst in den schlimmsten Zeiten noch über die Runden gekommen.

Hannah holte Rosalie von der Koppel und schwang sich auf ihren Rücken. Sie liebte es, wie ein Cowboy ohne Sattel und ohne Zaumzeug zu reiten, und so drückte sie ihrer Stute die Fersen in die Seiten und ließ sie angaloppieren. Sie ritt mit dem Wind um die Wette, sog den Geruch nach Regen und feuchtem Gras in sich auf und ließ sich die Abendsonne ins Gesicht scheinen.

Es würde alles gut werden. Irgendwie. Ihr Vater würde bald wieder zu Hause sein, und wenn die Nazis erst fort waren, würden auch Hannahs Mutter und ihre Brüder nach Hause zurückkehren. Und Gut Rosenthal würde ein Bollwerk bleiben gegen all den Wahnsinn da draußen.

Am Tag nach der Abreise ihres Vaters ergriff eine eigenartige Unruhe von Hannah Besitz. Ihre Gedanken kreisten pausenlos um ihre Familie, und nicht einmal das Frühstück bekam sie herunter. All ihre Versuche, sich selbst einzureden, dass bald alles wieder gut werden würde, hatten es nicht geschafft, ihre wirbelnden Gedanken zu beruhigen.

Und so verließ sie in den frühen Morgenstunden das Haus, lief durch den verwilderten englischen Garten, die Wirtschaftswege entlang, vorbei am Haus des Gutsverwalters Herrn Beltz und weiter zu den im Kreis angeordneten Wirtschaftsgebäuden: dem Stall, der Remise, dem Arbeiterhaus und der Brennerei. Dahinter erstreckten sich die Pferdekoppeln bis hinüber zu dem kleinen Waldstück, das das Dorf Rosenthal vom Gutshof trennte. Der schwarze Kirchturm der Ortschaft ragte jenseits des Nadelwäldchens in die Höhe.

Hannah winkte dem alten Stallmeister Hans Weber zu, der nur wenige Jahre jünger war als Hannahs Großonkel Franz und der das Zepter in den Ställen trotz seines hohen Alters noch fest in der Hand hielt. Dann eilte sie zu Rosalie, die auf der Koppel stand und den Kopf über den Zaun reckte. Natürlich bettelte die Fuchsstute sofort um eine Leckerei – obwohl die Pferde gerade erst gefüttert und getränkt worden waren. »Du bist so ein Vielfraß!«, sagte Hannah mit einem Lachen. »Tust so, als bekämst du den ganzen Tag nichts zu essen!«

Das Gestüt der von Neuenstedts beherbergte mehr als einhundert Pferde, prächtige Araber, ein paar Trakehner-Kreuzungen aus der Zucht von Hannas Großeltern, Lotte und Johann Engel, und auch einige Mangalara-Kreuzungen. Ihre eigene Stute hatte Trakehner-Blut, war von schlanker, geschmeidiger Statur und hatte Fell so rot wie eine Feuersbrunst.

Hannah holte Rosalie von der Koppel, sattelte sie, legte ihr das Zaumzeug an. Eine weiche Brise spielte an ihrem Haar. Sie hatte es nur nachlässig aufgesteckt, aber sie hatte ohnehin nicht vor, jemandem zu begegnen. In Gedanken war sie bei ihren Eltern und bei der Stille, die sich über das Land gelegt zu haben schien. Es war so ruhig, dass sie manchmal meinte, nicht einmal mehr die Vögel in den Bäumen singen zu hören. Sie glaubte nicht an Geister und auch nicht an Gott, doch jetzt, da sie auf Rosalies Rücken vom Hof ritt und der Stille lauschte, glaubte sie für eine Sekunde zu verstehen, was ihre Mutter gemeint hatte, als sie von den Orisha, den Göttern ihrer afrikanischen Vorfahren, gesprochen hatte.

Ihre Mutter stammte von den Menschen ab, die vor langer Zeit aus Afrika verschleppt und nach Brasilien gebracht worden waren, und ihr Großvater hatte Cida all die Geschichten ihrer Vorfahren erzählt, als sie noch ein Kind gewesen war. Und Cida hatte sie an Hannah und ihre Brüder weitergegeben und sie daran erinnert, dass sie nicht nur Deutsche waren. Ihre Wurzeln waren viel weiter verästelt, das Erbe ihrer Familie war reich an Geschichten und Erinnerungen.

Die Gedanken begleiteten Hannah, als sie auf Rosalies Rücken vom Hof galoppierte. Immer schneller – bis sie glaubte, sogar der Stille davonreiten zu können. Ihr Weg führte sie an den gelben Feldern entlang, auf denen jetzt die Ernte eingefahren wurde, und dann in ein Waldstück westlich des Gutes, in dem nur winzige Sprenkel von Sonnenlicht den Boden berührten.

Als der Wald sich lichtete und hinaus auf ein weiteres Feld führte, bemerkte sie das schwarze Automobil am Waldrand. Sie zügelte Rosalie. Mit klopfendem Herzen blickte sie sich um. Hier draußen hatte man einen wunderschönen Blick auf das umliegende Land, auf die sanften, von hohem Gras bewachsenen Hügel und die Schatten der Wälder am Horizont.

»Fräulein von Neuenstedt!«

Sie zuckte zusammen. Ein Mann kam in ihre Richtung, ein Gewehr über der Schulter, das blonde Haar vom Wind zerzaust. Zur Abwechslung sah sie ihn einmal nicht in seiner Uniform.

Sie straffte sich. »Hauptsturmführer Götz.«