Gutgeschriebene Verluste - Bernd Cailloux - E-Book

Gutgeschriebene Verluste E-Book

Bernd Cailloux

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Beschreibung

Mit elegantem Understatement, doch ohne Rücksicht auf Verluste zieht Bernd Cailloux die Lebensbilanz von einem, der von Bilanzen nie viel wissen wollte. Berlin 2005. Im Schöneberger Café Fler, einem Asyl der Übriggebliebenen aus dem alten Westberlin, sitzt ein Mann von sechzig Jahren. Kein Eigenheim, keine Familie, keine Rentenansprüche. Vor Jahren hatte er zweimal im Blitzlicht der Geschichte gestanden: das erste Mal um 1968, als Miterfinder des Disco-Stroboskops und Hippie-Businessman; das zweite Mal Ende der Siebziger, als Irrwisch in der jungen Mauerstadt-Bohème mit ihren künftigen Weltstars, Opfern und Verrätern. Davor, dazwischen und dahinter lagen Schattenzeiten, wo sich die verborgenen, aber nicht weniger spektakulären Dramen dieses Lebens abspielten.

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Seitenzahl: 325

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Berlin 2005. Im Schöneberger Café Fler, einem Asyl der Übriggebliebenen aus dem alten Westberlin, sitzt ein Mann von sechzig Jahren. Kein Eigenheim, keine Familie, keine Rentenansprüche. Vor Jahren hatte er zweimal im Blitzlicht der Geschichte gestanden: das erste Mal um 1968, als Miterfinder des Disco-Stroboskops und Hippie-Businessman; das zweite Mal Ende der Siebziger, als Irrwisch in der jungen Mauerstadt-Bohème mit ihren künftigen Weltstars, Opfern und Verrätern. Davor, dazwischen und dahinter liegen Schattenzeiten, wo sich die verborgenen, aber nicht weniger spektakulären Dramen dieses Lebens abspielten.

 

Bernd Cailloux, geboren 1945 in Erfurt, aufgewachsen in Niedersachsen, lebt seit 1976 in Berlin.

 

Zuletzt sind von ihm im Suhrkamp Verlag erschienen: Der gelernte Berliner. Sieben neue Lektionen (es 2563), german writing. Erzhählungen (es 2481) und Das Geschäftsjahr 1968/69. Roman (es 2408).

Bernd Cailloux

Gutgeschriebene Verluste

Roman mémoire

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

 

 

 

 

 

Der Autor dankt dem Deutschen Literaturfonds und dem Land Berlin.

 

 

 

 

 

 

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe

suhrkamp taschenbuch 4437

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

 

Umschlagillustration: Claudia Katz-Palme, Winterfeldtplatz

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-78170-8

www.suhrkamp.de

 

 

 

 

 

Wir verstehen einen anderen niemals vollkommen,und wir werden von einem anderen niemals vollkommenverstanden.Diderot

 

 

Gestern liebt ichHeute leid ichMorgen sterb ich:Dennoch denk ichheut und morgengern an Gestern.G. E. Lessing

 

 

Es war nur dieser eine Satz, eine das Lokal unserer Verabredung abwertende Bemerkung, so schwerwiegend wie beiläufig von ihm als Feststellung seiner Freundin lediglich weitergegeben – sie wußte aus Erzählungen, wo wir uns seit Jahren mit gewisser Regelmäßigkeit trafen: »Dieses Café ist das Café der Übriggebliebenen.« Bei einem kürzlichen Zufallsbesuch hätte sie das zweifelsfrei erkannt – und bei der Gelegenheit die identifikatorische Fangfrage ›Wo gehst du noch hin, wenn du ausgehst?‹ für meinen Fall gleich mit beantwortet: Ja, deinen alten Freund, den sieht man dort öfter, der verkehrt in diesem Café der Übriggebliebenen.

Eine doch etwas peinliche Einschätzung, die ich erst mal schweigend durchbuchstabieren mußte. Ein Übriggebliebener – aber wonach, wovon, wobei? Beim Kehraus einer großen Party? Nach einer Damenwahl oder dem Mauerfall? Nach einer kleinen Revolution? Der Verteilung der besseren Tribünenplätze? Oder hatte sie einen schwer vermittelbaren Rest Menschen gesehen, unbrauchbar, untätig, übrig eben und wieder zu haben? Wenn Thomas Leisers Lebensgefährtin mit ihrer Feststellung richtig läge, säße mit mir nahezu täglich ein Übriggebliebener in diesem Café – kein schönes Gefühl, aber, aufs Ganze gesehen, auch kein völlig unbekanntes. Durchaus denkbar, daß die von ihr gefundene, halbwegs originelle Formulierung ihn vor allem im beziehungssymmetrischen Sinn befriedigte: Also bitte, was die Fähigkeit angeht, sich zutreffend und scharf auszudrücken, kann meine Freundin ohne weiteres mithalten. Genau dies hatte ich bei früherer Gelegenheit mit der einen oder anderen Anspielung angezweifelt, so daß er vermuten konnte, ich würde seine Freundin intellektuell nur bedingt für die passende Partnerin halten.

Im Grunde hätte ich diesen provozierenden Caféhaussatz sofort als abwegig zurückweisen müssen – aber meine Schlagfertigkeit ließ in solchen Gesprächen neuerdings öfter auf sich warten. Außerdem kannten wir beide uns so gut, daß ich genau wußte, wie Leiser die offenbar von ihm geteilte Einschätzung verstanden haben wollte. Vorwurfsvoll natürlich, als ein ansonsten schweigend übergangenes Thema, auch wegen seines Unverständnisses dafür, daß ich noch immer die – vornehm ausgedrückt – gastronomische Option nutzte, noch immer die nomadenhafte Häuslichkeit dem geordneten Leben in den heimischen vier Wänden vorzog. Fand er nicht gut, fand er gar nicht gut. Er hielt die notorische Kneipengängerei für eine überkommene Gewohnheit, sinnlos, ja gar ausreichend für den Anfangsverdacht von moralischer Verwahrlosung – selbst wenn die Besuche einem trockenen Zeitungscafé galten.

 

Das Café Fler als Ort der Übriggebliebenen – eine Fehleinschätzung, im Trüben gefischt, hatte ich nur kurz widersprochen, »mit schönem Gruß« an seine Freundin zu Haus.

 

Dieses Café lag in einem einst bewegten, heute gastronomisch verkümmernden Viertel, ein unverändert belassenes Szenecafé im nüchtern hellen New-Wave-Stil der frühen achtziger Jahre, von japanischen Reiseführern als besuchenswertes Weltkulturerbe empfohlen. Seit einer Weile schon litt es unter neuen konkurrierenden Formen – wie der Doppelstrategie kleiner, sich vermehrender Geschäfte in der Nachbarschaft, die neben feinen Schokoladen, griechischer Feinkost oder tausend Teesorten auch ein Sitz-Eckchen mit zwei, drei Tischen und entsprechendem Caféhaus-Service anboten. Selbst am Spätnachmittag herrschte wenig Betrieb, so daß jeder der nach und nach eintretenden Stammgäste seinen kleinen, auch von uns beachteten Auftritt hatte. Drei, bald vier Männer in den Vierzigern oder bereits Fünfzigern nahmen jeweils allein an einem Einzeltisch Platz und begannen ihr rituelles Abend-Solo, unbemuttert und ohne den letzten Schliff im Auftreten – die Art ihres Alleinseins wirkte auf ebenfalls anwesende Melancholiegefährdete höchstwahrscheinlich melancholisierend. Gemeinsam mit den Späterkommenden würden sie in diesem Raum über Stunden nebeneinanderher lesend sitzenbleiben und sich mit Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern auf einen nur durch geistige Getränke erleichterten Lektüremarathon begeben. Männer mit Drang in die Einsamkeit, die sich für ganze Abende sonstigen sozialen Zusammenhängen entzogen, die sich möglicherweise hier aufhielten, um Schlimmerem anderswo zu entkommen. Unter ihnen zu sein, schloß eine gewisse Ansteckungsgefahr ein und warf Fragen nach dem Motiv jedes einzelnen, den Gründen seines Verhaltens auf, die unbeantwortet blieben. Ich hatte nichts gegen diese Männer, ich kannte sie kaum – wir teilten einen Raum, oberflächlich betrachtet, mehr nicht. Keiner von ihnen konnte mich nur annähernd so beeindrucken wie Leiser. Sein erstes Buch hatte er mir vor zwanzig Jahren vor die Füße geworfen: So mein Freund, sagte er keß – jetzt hab ich eine Rippe mehr.

 

Mein Leben sollte damals wie auch in der Folgezeit ohne eine anatomisch vergleichbare Stärkung verlaufen. Ebensowenig war es mir seither gelungen, einen häuslichen oder familiären Lebensstil hinzubekommen. Leiser wußte das alles, kannte meine über Jahrzehnte ambulante Form der Existenz. Wenn also jemand die auch andernorts mögliche Assoziation von einem Café der Übriggebliebenen hervorgerufen haben mochte, dann konnte es eigentlich bloß ich gewesen sein – schließlich kannten er und seine Freundin von den hier Anwesenden nur mich. Und ich war veranlagungsgemäß jederzeit bereit, dunklere Charakterisierungen zuzulassen: nirgendwo hingelangt, nirgendwo dabei, ein Niemandsmann, eingedreht in eine eschersche Selbstbezichtigungsspirale ohne Anfang oder Ende, festgesessen in immergleichen Cafés, die immergleichen alten Stories mit den immergleichen rebellischen Zuspitzungen auf der Zunge, mehr oder weniger erledigt, übriggeblieben eben, tja, ein Mangel an Ernsthaftigkeit, an Dynamik, an Veränderungsbereitschaft, tja, an Ideen letztendlich, versteht sich.

 

Der Wirt hier gibt mir Rabatt, hatte ich gesagt, ich zahl nur die Hälfte.

Du könntest jeden Morgen eine Stunde früher aufstehen, sagte Leiser.

Verzichten aufs lächerliche Feierabendbierchen, klar. Aber das Bier, sagte einer, der’s wissen mußte, unser Bier, das sind die Mütter – wir kehren immer zu ihnen zurück.

Eine merkwürdige Analogie, sagte er.

Hab ich irgendwo gelesen, ein Zitat aus deinen lyrischen Gefilden … Gottfried Benn … saß nur zwei Straßen weiter jeden Abend beim »Würzburger Pils«.

Trotzdem Blödsinn.

Schuldgefühle hab ich auch so schon mehr als genug.

 

Was sagten wir in früheren Jahren so schön defätistisch über unseren allabendlichen Kneipengang? Einsamkeit als Gruppenerlebnis. Und das zu Zeiten, als wir in großer Zahl beieinander waren, als das Gefühl des Zusammenhangs noch existierte. Einsamkeit als Gruppenerlebnis? Ein Spruch, der heute, ein Vierteljahrhundert später, viel eher zutraf, angesichts eines werweißwie zusammengewürfelten, kontaktscheu-coolen Publikums, allesamt Virtuosen der Distanz. Eine einstmals vitale Tätigkeit war Ritual geworden und ich – ich gab den Tresenleser, den scheinbar Unterforderten, den unbekannten Märtyrer des Müßiggangs. Einer, der sich in unveränderter Manier ins Caféhaus setzte, sich voll bewußt der schläfrigen Ekstase überlassen konnte, die erstbesten Eindrücke aufnahm und wiedergab, ohne Berechnung oder Träumerei, einer, der sich wie ein Dressman in Wechseljahren ins Lokal stellte und das bißchen Adrenalin abbaute, das ihm seine anscheinend gleichförmig verlaufenden Tage bescherten. Ein alt gewordenes, vielleicht schicksalhaftes Hobby, das nur mit Verachtung überwunden werden konnte, einer Verachtung, die in meinem fast in den Falten verschwundenden Gesicht jederzeit erkennbar war.

 

Aber demnächst kommt hier ein Defibrillator rein, ganz dezent gehängt, gleich hinterm Zigarettenautomaten, hatte ich gesagt – das wär dann das erste Lokal mit so ’nem Ding, hallo Leute, kommt ins Café Herzanfall, wir sind auf alles vorbereitet, und bei uns seid ihr sicherer als zu Haus.

 

Häuften sich solche schnoddrigen Äußerungen meinerseits, verlor unser Gespräch an Fahrt und Charme. Leiser konnte sich aufs unangenehmste abwenden, indem er mit starrem Gesicht überlang schwieg und aus dem Fenster schaute – ein Moment, den ich fürchtete, denn schon im nächsten Augenblick würde er mit ersten raffenden Griffen nach dem auf der Sitzbank liegenden Mantel das Ende des Treffens anstreben, sein Mißfallen unwiderruflich, die Freundschaft für unbestimmte Zeit annulliert sein. Seine Aufmerksamkeit, vermutlich auch seine Sympathie blieben zumindest in unserer Konstellation nur erhalten, wenn klare Erlebnisse durch ebenso klare Schilderungen wiedergegeben wurden, möglichst lebhaft, mit möglichst überraschendem Perspektivwechsel, samt wirklichkeitsgetreu nachgesprochenen, durch Betonung charakterisierenden Zitaten beteiligter Personen. Das heißt, Leiser wollte jemanden voller Freude mit Empathie, Detail und Farbe lebensecht und glaubhaft erzählen hören, oder gar nichts hören. Im Grunde wollte er druckreife Literatur hören, um seine Sphäre nicht verlassen zu müssen.

 

In dem Sinne hatte ich noch einmal versucht, ihm einige der hier dauerhaft Übriggebliebenen zu beschreiben; darunter vier – naturgemäß schwer zu beschreibende – Philosophen, drei davon mit BAT Soundso nicht schlecht bezahlt. Sie gehörten verschiedenen Schulen an, wobei mir derjenige, der die analytische Philosophie vertrat, ganz liebgeworden war – leider verkehrte nur ein einziger, obendrein unregelmäßig erscheinender Mediziner hier, was die Chancen auf beratende Gespräche über die körperlichen und die geistigen Probleme ungleich verteilte. Dazu ein Hörfunkautor, erklärte ich – also zwei in diesem Haus, ergänzte Leiser, zwei, klar. Wir führen hier viele Professionen doppelt: zwei Fotografen, einer davon Israeli, immer interessant, zwei in Drehbücher hineinmalende Filmfrauen, zwei IT-Männer, nur einmal vorhanden dagegen eine Friseuse, ausgebildet im Salon des berühmten Haartheoretikers Vidal Sassoon, heute freischneidende, ambulante Frisurenkünstlerin, die unseren Tresenköpfen zweimonatlich den allerfeinsten Bauhaus-Haarschnitt verpaßt … eine schlanke Mittzwanzigerin, empfindungsreich und wißbegierig, nicht so proper wie ihre Kolleginnen in den zahllosen Läden der nur einen Block entfernten »Straße der Friseure«, doch mit allem Nötigen ausgerüstet, Männerkämmen, Frauenkämmen und der aktuellen Sechshundert-Euro-Schere von Matsusaki.

Zumeist gegen Ende unseres Gesprächs tauchten weitere Stammgäste auf. Manche wechselten wie in einem englischen Herrenclub stehend ein paar Worte zur Begrüßung, um dann – eine Lücke von vorzugsweise einem bis zwei freien Tischen zwischen sich lassend – mit all ihrer Intelligenz niederzusinken auf ihren Platz. In eine Abgeschlossenheit also, von der kein anderer abschätzen konnte, wieweit sie erwünscht, als Disposition gegeben oder sonstwie unabänderlich sein mochte.

 

Die zwei schmächtigen Männer in ihren Vierzigern, die fast gleichzeitig gegen neunzehn Uhr kamen, kannte auch nach jahrelanger Anhänglichkeit hier kaum jemand mit Namen. Den drahtigeren der beiden hatte ich den Samurai getauft, weil er nicht nur voluminöse, in den dreißiger Jahren ins Deutsche übersetzte Bücher über japanische Kriegsstrategien im frühen Mittelalter las, sondern einmal auch eine anscheinend aktuelle Monatszeitschrift eben dieses Titels mit dem dazugehörigen Schwertkämpfer auf dem Cover – in schwungvoller Aktion festgehalten, versteht sich. Wobei ich später gar nicht mehr sicher war, ob es die Zeitschrift »Der Samurai« wirklich gab, oder ob ich einen zwar ähnlich lautenden, doch nicht zweifelsfrei lesbaren Titel eines Magazins in seiner Hand willkürlich ergänzt hatte. Mit durchweg unbewegter, trister Miene schaute er ins meist mäßig besetzte Lokal, wie auf der Suche nach der richtigen Frau zum Doppel-Harakiri. Im smalltalk zwischen den Kellnerinnen und mir blieb ihm der kriegerische Name ohne sein Wissen erhalten, anscheinend ein passender nom de guerre.

 

Der Mann besitzt einen gutlaufenden Laden für Kinderspielzeug, hatte ich erklärt, der muß jeden Tag seinen ganzen Charme aufbieten, um junge Ehefrauen und alleinerziehende Mütter zum Kauf von irgendwelchem Zeug zu bewegen, pädagogisch natürlich auf dem neuesten Stand, alle Produkte ökologisch astrein undsoweiter …

Da muß er sich aber wirklich anstrengen, sagte Leiser, nachdem der Samurai an uns vorbei zur Toilette gegangen war – mit sowohl für Spielzeugläden als auch Cafés zu festem Schritt und geradezu totenmaskenhaftem Gesichtsausdruck.

 

Und der da, hatte ich geflüstert, der dort am Ecktisch vorm Fenster – was würdest du diesem Übbriggebliebenen zutrauen?

Diesen Menschen wollte ich ihm unbedingt näherbringen – er saß allabendlich über Zeitungen gebeugt, vor sich aufgereiht zwei, bald drei oder vier halbvolle Gläser, weil er seinen Weißwein stets nur zur Hälfte austrank, um ziemlich flott den nächsten zu bestellen, so daß die Reihe nicht gänzlich geleerter und deswegen auch nicht abgeräumter Gläser anwuchs. Ein in schlichte Wolljacken oder Pullover gekleideter, präsenzarmer Mann, der versuchte, mit dieser verschwenderischen, doch beruhigenden Trinksitte seinen Alkoholismus vor sich selbst und anderen zu kaschieren. Womöglich hatte irgend jemand ihm gesagt, Mensch Junge, trink die Hälfte und alles wird gut. Na ja, Marotten, Zierleisten der Persönlichkeit … und seine Schrulle ließ beim interessierten Beobachter zig Deutungen zu. Sie ginge auch als Zerstreutheit durch, als Hang zum Leben aus dem Vollen, aus dem wunderbarerweise immer wieder Vollen – sie könnte der Verhaltensrest eines einstigen Sturztrinkers sein, der heute nur noch schnell bestellt, aber nicht mehr ganz so schnell trinkt. Ebenso könnte sie eine gewisse Großzügigkeit offenbaren, oder auch das Gegenteil, die Existenzängste eines gequälten Meisters der Selbstisolation, der hier blicklos, wortlos und reaktionslos gegenüber der Umgebung seine Stunden verbrachte, die Prime Time, wie sich in seinem Fall sagen ließe. Er arbeitete für einen der großen privaten Fernsehkonzerne – in wichtiger Funktion, als Formatentwickler nämlich, wie ihm einmal mein Lieblingstresennachbar und Allesrauskrieger Paul entlockt hatte. Aber welche Formate der Entwickler auch immer entwickelt haben mochte – ertragen konnte er sie offenbar nicht. Sein Aufenthalt hier während der besten Sendezeit bewahrte ihn davor, die von ihm verantworteten Fernsehprogramme im feierabendlichen Heim mitansehen zu müssen.

 

Na ja, unsere Zerstreuungsindustrie, Fernsehkucken … das wär ja nix anderes als dauernd Tränen in Herzform in die Augen zu kriegen … so hatte Leiser diese Fler-Personalie sinngemäß kommentiert, da wär’s für einen Fernsehmacher das Beste, sich ohne ein Wort über seinen Job in einem halbleeren Café vollaufen zu lassen, um so über seine ständige, sich jeden Tag erneuernde Schmach hinwegzukommen.

Fernsehen wäre ja nach Kant auch nur eine Form der ungeselligen Geselligkeit, sagte ich.

 

Im nachhinein fiel mir auf, daß meine hochgestochene Bemerkung von Leiser als Verschleierung einer verschämten Neigung zu diesem Medium gedeutet werden konnte. Er interessierte sich nicht dafür, kein Thema, in keiner Hinsicht. Anders bei mir, dem fast zehn unwirkliche Jahre Älteren. Für mich gehörte das Fernsehen zu den Wundern der Kindheit, die vor den eigenen Augen aus dem Nichts aufgestiegen waren und daher niemals ganz verblaßten. Und auch wenn der Mann mit den halbvollen Gläsern diesen Kinderglauben nicht stärkte, sondern eher den unglücklichen Zustand seiner Arbeitswelt offenbarte, durfte er meiner Aufmerksamkeit sicher sein.

 

Leiser wollte über einen hier real vorhandenen, ansonsten jedoch im internationalen virtuellen Scheiß herumstochernden Formatfinder nichts wissen. Auch nicht über weitere, noch nicht anwesende Stammgäste wie die zwei Psychotherapeuten und den Finanzchef der Stiftung einer unserer staatstragenden Parteien, einen sehr angenehmen, offenbar naturberuhigten Spätleser, der gelegentlich seine buchhalterischen Bilanzausdrucke mitbrachte und sie meterlang über dem Tisch ausfaltete. Leiser schien mittlerweile klar, daß ich nur einmal mehr meine Caféhaushockerei rechtfertigte, dabei mit allerlei interessantgeredeten Beobachtungen aufwartete, um zu sagen: Also bitte, in diesem Lokal verkehren Gäste, die man auf den ersten Blick verkennt und die doch zu den, wie es so schön heißt, gesellschaftlich relevanten Gruppen und Berufszweigen gehören …

 

Und andere Einschätzungen, mein lieber Thomas, würden einfach nicht zutreffen … tatsächlich leben diese Leute in der notorisch penetrant und paranormal hochgelobten Mitte der Gesellschaft, wahrscheinlich mittiger als du und ich, und die Abweichungen vom ortsüblichen Feierabendverhalten stellen keine grundsätzliche Gefahr für ihren Status dar. Der eine, gut, extremes Beispiel, braucht eben seine elf, zwölf Biere, um einer unerklärten Verzweiflung zu entkommen, was er auch schafft, bis er sich um Mitternacht zufrieden und ohne sichtbare Veränderung auf den Weg nach Hause macht – der andere, ein Noch-Ehemann und Vater, hält es abends daheim atmosphärisch nicht aus und wird das Café erst dann verlassen, wenn er sicher ist, daß seine Familie bereits in den Betten liegt … über die genaueren Gründe ihres Kummers läßt sich in der Manier alter, schon immer sinnloser Kneipensoziologie nur spekulieren. Den Mann mit dem sinnentleerten TV-Sender im Nacken tröstet wenigstens eine gelegentlich auftauchende, modelschöne asiatische Freundin, der Samurai dürfte von Vergleichbarem lediglich träumen – denn laut seinem altjapanischen Tugendkatalog (Hagakure) würde er, wenn er mit realer weiblicher Unterwäsche auch nur in Berührung kommt, augenblicklich die Macht des Kriegers verlieren.

 

Soviel fürs erste zu den Übriggebliebenen hier, hatte ich gesagt.

Und du bist wahrscheinlich einer der leitenden Gäste, erwiderte Leiser – gestatten, Doktor Müller-Tralala, Professor der Gastronomie.

 

Seit er sich vor langen Jahren die Kneipengängerei von einem Tag zum anderen abgewöhnt hatte, fiel Leiser der Aufenthalt in Lokalen mehr als schwer – die schlechte Luft, verstehst du, und diese abgestandene Popmusik, nee. Das war früher mal ganz anders gewesen. In der Straße, in der das Fler lag, hatten wir uns kennengelernt und nahezu jeden Abend mit schlechter Luft und gealterter Popmusik in einem Café namens Mitropa verbracht, gut hundert Meter von hier entfernt – zu Beginn der Achtziger, die Leiser heute, halbwegs ernstgemeint, »die große Zeit« nannte. Wie bei jedem Treffen streiften wir für ein Viertelstündchen die gemeinsame Vergangenheit, amüsierten uns über einige Personen und Persönchen; Gesichter, Orte und Anekdoten kamen noch einmal zur Sprache, und dank Leisers präziser Erinnerung sogar mancher der in sommermatter Caféhausstimmung gefallenen Sätze, in seinem Gedächtnis auch nach einem Vierteljahrhundert noch wörtlich abrufbar, von ihren Urhebern sicher längst vergessen.

 

Als uns seinerzeit eine ihm und mir bekannte Frau im Mitropa zusammenbrachte, hatte er sich allerdings mit längerem Schweigen eingeführt. Schwer zu sagen, was sie und ihn verband, ob sie ihre Probiernacht schon hinter sich hatten – aus Gewohnheit taxierte ich zuallererst den erotischen Gehalt solcher neu auf mich zu kommender Konstellationen. Die Blikke, die Gesten zwischen den beiden, alles blieb diskret, was einen versuchten Versuch höchstens erahnen ließ – womöglich auch wegen des Umstandes, daß ich dieselbe Frau bereits einige Wochen länger als er kannte. Nach unserem dialogisch ausgereiften, meinerseits absichtslosen Kennlernflirt war sie bereits am nächsten Mittag unverabredet an meiner Wohnungstür erschienen, mit über Nacht gerettetem, absichtsvollen Schwung … so klingelt eine Frau nur einmal – und ich war nicht zu Hause. Ein paar Tage später war die Luft raus und einer Freundschaft stand nichts mehr im Wege. An jenem Abend im Mitropa ermunterte sie Leiser mehrmals … nun sag ihm doch, was du machst … Er wollte es nicht sagen – nicht in diesem Café voller hochambitionierter Künstlerkandidaten. Erst als die Verweigerung lächerlich zu werden drohte, erklärte er sich. Er arbeitete damals schon an seiner zusätzlichen Rippe, klar. Nur wie stark und stabilisierend sie werden würde, war in dieser »großen Zeit« noch nicht zu ahnen.

 

Lange her, hatte ich gesagt, als wir uns an diesem Begriff für eine Weile festredeten, alles lange her.

 

Und … was machen die Frauen?

Das fragte Leiser immer dann, wenn das Pflichtprogramm erledigt war und er zum gemütlichen Teil kommen wollte.

Gute Frage, sagte ich, ja … ja, ich hab da schon was im Auge, eine leicht verunsicherte blonde Mittvierzigerin … sitzt sehr spät dort drüben am Ecktisch und schreibt in ihr Notizbuch … das große Mitternachtsheft einer Blondine …

Klingt gut, aber Blondine … ist prätentiös, als Begriff zu belastet, kann man eigentlich nicht mehr sagen.

Vielleicht nicht sagen, aber denken … allerdings haben ein paar französische Wissenschaftler mittels Intelligenztests herausgefunden, daß Männer beim Anblick blonder Frauen unbewußt ihre Hirntätigkeit senken … ein Phänomen, im Fachjargon heißt es »Anpassung an das vermutete Niveau des Gegenübers« …

Du liest immer noch diesen Zeitungsquatsch, sagte Leiser – sprich die Frau doch einfach an …

Ja, ja klar – da scheinen jedenfalls Kapazitäten frei zu sein …

 

Seit einigen Jahren lebte er mit Freundin am Rande der Stadt, in einem östlichen Vorort, mit viel frischer Luft und abgestandenem Kadermuff ringsum – ein ziemlich abstinentes Leben, bis auf das Glas Sylvestersekt. Eigentlich kein Grund, mir das Caféhaussitzen anzukreiden, bei jedem Rauchwölkchen aufzustöhnen und mir beim zweiten, spätestens dritten Bier angestrengte Blicke zuzuwerfen. Sollte ich ihn etwa daran erinnern, daß er in der »großen Zeit« zur Trinkgruppe Winterfeldtplatz gehört hatte? Mit am Verschwörerstammtisch saß, bis er eines Tages in einen anderen Stadtteil zog und in lebenslängliche Klausur ging? Nein, ich brauchte ihn nicht daran erinnern, daß er von der alten Clique mit einer Menge Erlebnisse versorgt worden war, die er an seinen Schreibtisch mitnehmen durfte. Daß er als junger Dichter undercover mehrere Frauen aus Winterfeldtkneipen hinauskomplimentiert hatte, aus deren Leib und Leben sich Stoff für mindestens zwei seiner Bücher gewinnen ließ. Und daß auch er einem gewissen Drang nach Interessantmacherei nachgab und im Suff ganz gern den starken Mann machte – nicht unbedingt am richtigen Ort, wie in der Rockerkneipe Bei Peter, wo er eines Morgens um sechs ein großes Bier über den blanken Tresen ausgoß, weil er ein kleines bestellt zu haben behauptete. So schnell war er noch nirgendwo rausgeflogen, an Hals und Kragen gepackt und auf die Straße geschleudert – nach einem freundlichen Hinweis des zurückkehrenden Barmanns folgte ich freiwillig. Draußen saß ein anderer Gast mit blutverschmiertem Gesicht an einen Baum gelehnt und röchelte noch immer – auf den hatte ich dich schon beim Reingehen hingewiesen, mein Freund, und dann machst du so’n Zirkus. Gut, war lange her, heute als Mittfünfziger würde er so etwas nicht mehr machen.

 

Wenn ich heute an diesen längst umgestalteten Orten wie dem Café Mitropa vorüberging, kam mir der Gedanke an »die große Zeit« eher selten. Sich in Lokalen aufzuhalten galt mir dennoch nach wie vor als Alternative zum Familienprogramm. Selbst wenn es immer wieder Cafés gegeben hat, mit denen man – anfangs heftig verliebt – leider bald darauf verheiratet war.

 

Daß wir uns zwei, auch drei Mal im Jahr trafen, war ein letztes freundschaftliches Ritual. Es würden nie wieder mehr werden als diese zwei, drei Stunden, die wir, stets auf seinen Vorschlag hin, »in deinem Café da« verbrachten, um uns gegenseitig auf den jeweiligen Stand der Dinge zu bringen. Das hieß in erster Linie, viel über meine Probleme zu sprechen, Probleme der Arbeit, des Geldes und der Liebe, so wie eh und je. Über die Frau, mit der er zusammenlebte, sagte er nichts Genaueres, genausowenig übers Geldverdienen oder das meiste, was er darüber hinaus so trieb. Und wie es um seine Arbeit bestellt war, konnte ich den wiederkehrenden Lobeshymnen der überregionalen Zeitungen entnehmen, die zerlesen und unordentlich, aber komplett hier auf der Fensterbank im Café auslagen.

 

Die große Zeit – Ende der Siebziger, Anfang achtzig in Berlin? Glaubte Leiser das wirklich? Könnte das nicht bereits zehn Jahre früher der Fall gewesen sein? Um achtundsechzig herum war er dreizehn oder vierzehn und noch zu Hause in einer kleinen Stadt … während von mir anderswo dies und das mitgegründet wurde. Vielleicht hatte er trotzdem recht mit seiner Einschätzung dieser Zeit, »unserer großen Zeit«, wie er sie öfter nannte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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