Der amerikanische Sohn - Bernd Cailloux - E-Book

Der amerikanische Sohn E-Book

Bernd Cailloux

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Beschreibung

Und du? Hast du Kinder? – Ja, einen Sohn, in Amerika. Danach Schweigen. Die am Rande einer Podiumsveranstaltung arglos gestellte Frage rührt an ein Lebenstrauma. Von seiner Vaterschaft erfuhr der Altachtundsechziger vor dreißig Jahren per Zufall auf der Tanzfläche. Der Junge namens Eno wuchs in Jamaika auf, später in den USA, Kontakt gab es keinen. Die Mutter, eine Hamburgerin, ging eigene Wege. Und so hatte die Existenz des Sohns den Vater, der als Aktivist und Hippie-Businessman von Familie nicht viel wissen wollte, bisher nie wirklich gekümmert. Doch 2014 lädt ihn eine Stiftung nach New York ein. Eine Chance, mit der verdrängten Geschichte ins Reine zu kommen. Je mehr er in die Stadt eintaucht, an alten und neuen Orten den Spuren des Undergrounds der Siebziger bis zu den Vorzeichen der Präsidentschaft Donald Trumps folgt, umso mehr gewinnt die Frage nach dem nahen fernen, längst erwachsenen Kind an Dringlichkeit.
Selbstironisch und mit warmer Lakonie geht Bernd Cailloux auf die Suche nach dem verlorenen Sohn, auf einen USA-Trip in die eigene Vergangenheit und fremde Gegenwart – als New-York-Flaneur zu Fuß, zögerlich im Internet und zuletzt im Flugzeug Richtung Menlo Park, ans westliche Ende der westlichen Welt.

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Seitenzahl: 258

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Übersicht

Inhalt

Cover

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Der Klang seiner Stimme

Während der langen Dauer

An Enos Adresse

Nach der ersten Woche

New York war wie eh und je

Morgens erwachte ich

Endlich eine vielversprechende Verabredung

Der Sitz der Unterwaldt Stiftung

Es hatte mehrere Gründe

Morgens weckte mich Max

Einige Tage vor der Abreise

Mittags hockte ich wieder meditativ am Fenster

Am nächsten Regennachmittag

Einige Tage ohne jeglichen Kontakt

Auf der Karte

Beim Landeanflug

Am frühen Morgen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Bernd Cailloux

Der amerikanische Sohn

Roman

Suhrkamp

Der Klang seiner Stimme

Der Klang seiner Stimme war unverändert – der brüchige Bass, der rheinische Tonfall, ganz er und sofort vertraut, als hätten wir erst gestern telefoniert. Dabei herrschte zwischen uns schon ewig Funkstille. Die letzte Begegnung lag mehr als dreißig Jahre zurück, ein halbes Leben, in dem jeder für sich ein anderer geworden war. Das am Telefon vereinbarte Treffen mit ihm, dem früheren Freund und Partner, beschäftigte mich. Kein einfaches Wiedersehen, so wie die Dinge damals zwischen uns gelaufen waren.

Über lange Jahre hatte es keiner von uns bedauert, den anderen aus den Augen verloren zu haben und die einstige Freundschaft zur bloßen Erinnerung an eine ferne Vergangenheit verkommen zu lassen. Büdinger hatte aus einem Berliner Hotel angerufen, aus den bekannten Gründen, wie er sagte. Dass wir uns gegen jede Erwartung noch einmal begegnen würden, machte mich natürlich neugierig, trotz des Risikos, sich in unguten Erinnerungen zu verheddern. Dabei war ich meistens dankbar, wenn mich jemand aus dem durchritualisierten, mediensedierten Trott herausholte, zumal jemand wie er, der mehr mit mir teilte als andere – eine intensive gemeinsame Lebensepisode.

Mit der wieder aufgefrischten Geschichte im Kopf, etwas nervös, ging ich die kommende Begegnung Schritt für Schritt durch, als wär’s ein Theaterstück, wo Proben halfen … eine krankhafte Angewohnheit, permanent gedanklich vorgreifen zu wollen, zu imaginieren, was nicht zu imaginieren ist … das Vertrauliche oder Befremdliche der ersten Momente, die hin- und hergehenden Blicke und Gesten, die auf der Zunge liegenden Dinge … etwa die Frage, ob er immer noch annahm, er sei der Kopf gewesen und ich bloß der Arm, immer noch glaubte, wir hätten am Ende um irgendeinen Gewinn gewürfelt … aber, okay, keine Ahnung. Unsere Konflikte waren längst Geschichte und sollten am besten nicht mehr angesprochen werden.

Das Wiedersehen ging auch nicht von uns aus. Zwei Redakteure einer Sonntagszeitung hatten sich an unsere Story heranrecherchiert und ein brauchbares Randereignis gefunden, das sich zu einer geilen Achtundsechziger-Geschichte aufblasen ließ. Ohne die Einladung dieses popkulturell gelegentlich bemühten, ansonsten strunzbürgerlichen Blattes wären wir uns in diesem Leben nicht mehr begegnet.

Bis heute könnte ich nicht sagen, was genau Andreas Büdinger und mich als achtzehn-, neunzehnjährige Spunde seinerzeit zusammengebracht hatte … War’s ganz simpel dieses aristotelische Motiv für Freundschaft als des Sich-gegenseitig-Gebrauchens? War’s die Sehnsucht nach einer großen, gemeinsam zu vollbringenden Tat? Der Rausch der berühmt-berüchtigten Studentenrebellion? Oder nutzten wir bloß eine zufällige Business-Chance? Unsere Fähigkeiten ergänzten sich, die Charaktere harmonierten damals – zwei große Kinder, die eine Weile mit Licht spielten, bis sie es leid wurden.

Zuletzt begegnet waren wir uns bei einer Verhandlung vor dem Arbeitsgericht in Hamburg-Altona. Einer aus der vielköpfigen Schar der Mitarbeiter, wie er sie stets nannte, hatte ihn, der mittlerweile längst Alleininhaber war, verklagt, und ich, sein früherer Partner, sollte als Zeuge zu den internen Zahlungsmodalitäten aussagen. Angesichts des damaligen Firmengebarens kam das hartnäckige Nachkarten des Klägers den meisten Beteiligten lächerlich vor – schließlich war es in dieser Firma von Anfang bis Ende eher informell zugegangen. Lohn, Gagen, Honorare wurden nach situativer Einschätzung von Leistung, Person und Kassenlage bar in die helfende Hand und nicht nach irgendwelchen Tarifen bezahlt, im Underground gab’s keine Gewerkschaften. Auf Verträge oder schriftliche Regelungen wurde szeneüblich gepfiffen, was anfangs als rebellische Tugend galt … Wir machen alles anders, sagten wir, wir sind Freunde, Teilemann und Söhne. Dieser freundschaftliche modus vivendi band ein paar Jungs mit ein paar anderen Jungs auf zunehmend ungerechte Weise aneinander. Die einen produzierten, die anderen kassierten, das ging nach einer Weile nicht mehr gut. Drei Leute hatten ihre Erträge noch einfach teilen können, dreißig schon nicht mehr. In Wahrheit war’s nichts anderes als ein nur leicht verschleiertes Ausbeutungsmodell. Auch die Gegenkultur brach nicht mit den Verhältnissen, sondern spiegelte sie bloß auf zerbrochenen Splittern. Der Kläger, ehemals Fahrer und beliebtes Mädchen für alles, legte ein paar zerknitterte Quittungen auf den Richtertisch, die Gegenseite konterte mit anderen, besser erhaltenen. Dem Richter schienen kleinunternehmerische Mauscheleien nicht völlig fremd zu sein. Meine Zeugenaussage stützte den Kläger und hätte ihm günstigstenfalls zu zweitausend Mark Nachschlag verholfen, doch Büdingers Anwalt legte Widerspruch ein – die peinliche Angelegenheit sollte auf dem Instanzenweg gemächlich versanden.

Nach Prozessende standen wir noch für ein paar klamme Momente beieinander, wobei ich beinahe entschuldigend zu Büdinger gesagt hatte: Tja, tut mir leid, mein Lieber, aber bei der Bezahlung ist es nun wirklich nicht immer fair gelaufen. Ausgerechnet du musst hier den Moralisten raushängen lassen, erwiderte er, das steht dir doch gar nicht … Geld essen Freundschaft auf, eine nicht eben neue Erkenntnis, auch für Büdinger und mich mochte sie gelten. An diesem Tag wurde nicht mehr viel geredet, die Beteiligten zerstreuten sich in alle Winde.

Verdammt lang’ her, das alles – die Firma hätte demnächst ihr fünfzigjähriges Bestehen feiern können, ein goldenes Jubiläum mit Fotos und Präsentkörben für einen ehemals schrägen Haufen. Ende der Sechziger hatten Büdinger und ich sie als »The Leisure Society« in einer Düsseldorfer Gartenlaube offiziell gegründet, die Unterzeile des Briefkopfs verhieß vollmundig »Ideas and Experiments in Art and Technology« … eine jugendlich hochgestochene, doch nicht völlig leere Behauptung.

Über unseren Aufstieg und Fall hatte ich vor ein paar Jahren ein Buch geschrieben und insgeheim auf eine Reaktion von Büdinger gewartet. Ein knappes Jahr nach Erscheinen kam tatsächlich ein Brief von ihm, E-Mails folgten bald … Seltsam, jetzt das erste Mal nach Jahrzehnten seine Stimme wieder zu hören, den alles entschärfenden rheinischen Tonfall, in dem er erzählte, wie er im Urlaub in Tunesien am Strandkiosk eine angegilbte Ausgabe der ZEIT gekauft und darin eine Rezension erst überflogen und dann mit zunehmender Verwunderung studiert hätte, weil ihm das alles immer bekannter vorgekommen sei. Solange wir beide da sind, wandte ich ein, ist nichts vergangen … und lässt sich aufarbeiten, frei nach Kierkegaard: vorwärts leben und rückwärts begreifen … die Knackpunkte suchen, die frühen, unkorrigierbaren Schlüsselszenen finden … es war einmal. Es waren einmal zwei Freunde, die lange harmonierten und doch zwischen Kameraderie und Rivalität schwankten, bis eines unschönen Abends der eine bei dem anderen für die große Ernüchterung sorgte – der Ernüchterte verließ das Büro, die Firma und die Stadt noch in derselben Nacht, der andere blieb. Der Laden und dessen phantastische Zukunft gehörte von da an ihm allein.

Und dann saßen wir nach all den Jahren wieder beisammen – in einem gläsernen Pavillon, dem Café der Kunsthöfe, und unterhielten uns mit ungealterter Sympathie, so als wäre die raue Geschichte, die uns verband und trennte, nie geschehen oder läge erst noch vor uns. Inmitten der aufgekratzten Touristen und Kunstfreunde fielen wir nicht weiter auf, niemand sah uns an, dass die Leitung uns hierher eingeladen hatte, um den morgigen Termin zu bequatschen. Was man uns ansehen konnte, war nur die erreichte Altersklasse … Mensch, auch du jetzt siebzig, sagte Büdinger – Ja, shit, hatte ich erwidert, siebzig, jetzt wird’s ernst.

Wer hätte das gedacht … wir beide wieder mal zusammen … und noch nicht verweht.

Gesichter von früher wichtigen, nun gealterten Gefährten bleiben zeitlos im Gedächtnis, verändern sich nicht, die ohneeinander verbrachten Jahre spielen keine Rolle. Bei der unerwarteten Wiederbegegnung mit einem im Lauf des Lebens verlorengegangenen Freund bewahrt der Einstiges und Jetziges zusammensehende Blick auf ihn noch Restwärme aus den guten Phasen der Gemeinsamkeit … ein trügerischer, wie durch ein Photoshopping geschönter Blick …

Doch vom ersten Moment an schienen wir zugewandt wie eh und je, ohne Anlaufprobleme, ohne Verlegenheiten oder sonst wie zu fremdeln. Als hätte beim Film jemand ›Cut‹ gesagt, um den Akteuren die nächste, zig Jahre später spielende Szene anzukündigen – zwei alte Freunde mit problematischer Vorgeschichte treffen sich in einem von Kulturtouristen überlaufenen, vitrinenartigen Glaskasten bei Kaffee und Kuchen wieder. Andreas Büdinger schien günstiger gealtert als ich, kaum verfaltet, kein grauer Schopf, ein old boy, und mit dem großen Kopf auf den sehr schmalen Schultern so seltsam unkörperlich wie früher. Eine bewanderte Frau hatte mir mal erzählt, dass ein zu kleiner Kopf, ein Kindskopf quasi, bei Männern unerotisch wirke und bereits beim ersten und entscheidenden weiblichen Drei-Sekunden-Check gnadenlos rolle …

Bei der Begrüßung waren wir uns nicht in die Arme gefallen – aber das hatten wir nie getan, der neuere, theatralische Männerbrauch der überherzlich ausgedehnten Umarmungen von Kerlen und Hipstern passte nicht zu uns, nicht zu unserer Altersgruppe. Büdingers Ausstrahlung auf mich war gleich geblieben, zumal er damals wie heute eins der von ihm geliebten Fischgrätensakkos trug, als wär’s ein Charakterzug. Trotz intensiver Beäugung kommentierte er meine zerfurchte Visage vorerst nicht – die hatte er früher permanent kritisiert, jaja, man sieht’s, die Nächte, die Drogen, heute waren die Ursachen dafür andere.

Wie telefonisch angekündigt, war Andreas in Begleitung einer Frau nach Berlin gekommen, Brigitte aus Essen, okay, Essen, bei der Nennung dieses Stadtnamens tauchte vor meinem geistigen Auge stets das Bild einer abschüssigen Straßenunterführung mit draufgesetztem schmutzig weißem Hochhaus auf. Doch schon im nächsten Moment brachte die Erwähnung eine für ihn und mich erfreuliche Erinnerung zurück: Essen, klar Mensch, wo alles anfing, ohne diese Stadt, ohne ihre Gruga-Halle, ohne die dort im September 68 zum ersten Mal auf deutschem Hallenboden abrauschende Partynacht wäre der Aufstieg der Leisure Society gar nicht möglich gewesen … das Konzert mit Frank Zappa, zehntausend bei unserer großen Lightshow-Premiere … Und in diesem Essen verschlief Büdinger neuerdings offenbar seine Nächte. Bei Brigitte.

So sieht er also aus, sagte sie bei der Vorstellung, schon einiges gehört. Brigitte schien über die damaligen Verhältnisse einigermaßen Bescheid zu wissen. Eine Mittfünfzigerin, blond, ein bisschen mollig, Grundschullehrerin, die den wie eh und je am Tisch gerade aufragenden Sitzriesen Büdinger mit aufmerksamen Blicken streichelte, diesen grundwarmen, östrogenhaltigen Blicken, die Männer lieben … dem von mir ein Jahrzehnt lang als sexuell diffus erlebten Freund dürfte diese Lady durchaus Auftrieb geben, falls er ihn brauchte.

– Da habt ihr nochmal Glück gehabt, ihr zwei, sagte ich, beneidenswert … Mir geht’s heute so wie damals in Düsseldorf als ahnungsloser Twen, no woman, no cry, das alte Lied, nochmal gespielt als Lied des Alten.

– Aber aber, unterbrach mich Brigitte, du bist doch attraktiv, versteh ich nicht, du könntest doch eine Frau –

– Ja, danke, eine Frau, um sie ins Heim zu führen, sie hoffnungsvoll an meinem Küchentisch vorbeizuschieben, während sie lächelnd über die dort bereitstehende Auswahl an Medikamentenschachteln, halbvollen Arzneifläschchen und angebrochen zerdrückten, silbrigen Blistern hinwegsieht … schon klar, du meinst, ich könnte, würde, sollte ganz entspannt am Ostseestrand spazieren geh’n, mit meiner weißhaarigen Frau und unserem alten, vom Tosen des Meeres für Momente verjüngt herumtobenden Hund … Aber es ist nicht so, die große Liebe kam mehrere Male über die Jahre, ging aber auch immer wieder, ein Generationsproblem vielleicht, unser Freund Andreas lebt ja auch nicht mehr mit Hiltrud zusammen … sie hat ihn wahrscheinlich damals wegen seiner bunten Hosenträger verlassen, die mit den aufgedruckten Konterfeis der Pilzköpfe, aus London mitgebracht …

– Sie lebt in Aalen, Schwäbische Alb, sagte Büdinger, die Frau von den Kunsthöfen hat gestern mit ihr telefoniert, angeblich wird sie heute noch hier aufkreuzen.

Die beiden bearbeiteten ihren Kuchen, während ich vergeblich versuchte, mir Hiltruds heutiges Aussehen vorzustellen. Mit zwanzig, als Freundin meines Freundes, hatte sie auf mich in vielen Momenten unfroh zurückgenommen gewirkt, ein merkwürdiges Bedauern, ein Teint der Bedrückung schien auf ihrem Gesicht zu liegen. Wahrscheinlich litt sie darunter, ihren kleinen Sohn ohne Vater allein aufziehen zu müssen, ein uneheliches Kind … seinerzeit ein ungeheurer Makel für junge Mütter. Und dennoch ließ sie sich auf diesen superriskanten Film ein, jobbte im Creamcheese, einem von Künstlern permanent neu gestalteten Lokal voller Artish People, die der Stadt nach einem Satz unseres Stammgasts Sigmar Polke »auf Befehl höherer Wesen« einen noch unbegriffenen Aufbruch der Kunst bescherten, kommende Größen werkelten hier als junge Männer. Andreas gehörte zu den Begeisterten, bereits als Schüler hatte er einen angesagten Filmclub geleitet. Jeder liebte das Kino, vor allem die Spätvorstellungen … auch für uns von Beginn an eine Gemeinsamkeit, in dieser Journalistenschule, wo wir uns kennenlernten und wo im Seminar für Filmkritik das einzige Mal einer meiner Texte als beispielhaft verlesen wurde … »Chefinspektor Gideon« hieß der unvergessene Übungsfilm, schwarzweiß 1958, von John Ford. Und auch bei unserem jetzigen Wiedersehen spielte ein Film eine Rolle. Ein gewisser Lutz hatte ihn gemacht, und nun lief er in der Dachgalerie der Kunsthöfe im Rahmen einer Ausstellung, mit mehr als vierzigjähriger Verspätung.

– Auf den war ich damals schwer sauer, ihr zwei habt ja jeden Tag stundenlang telefoniert, während ich stummdumm danebensaß.

– Der gute Lutz, sagte Büdinger, der hatte viel Zeit, war bei der Stadtverwaltung angestellt … aber das Quatschen war wichtig, ermutigend auch für unsere Sache –

– Ein Ätzer vor dem Herrn, soweit ich mich erinnere, die frechste Schnauze in der Altstadt, man konnte neidisch werden, so einen Typen müsste man jetzt lange suchen, in heutigen Stadtverwaltungen undenkbar –

– Der war völlig rücksichtslos und frei, weil er nicht zum Filmklüngel gehören wollte … Wir haben damals lange über seine Ideen geredet … so lange, bis etwas konkret wurde … Für seinen ersten Film warf er die laufende Kamera zigmal wie einen Ball drei, vier Meter hoch in die Luft und fing sie wieder auf, keine wie üblich gestellten, sondern verwackelt fallende Absturzbilder, eine Entmystifizierung der Kinotricks, die Befreiung des Mediums.

– Wir haben ja damals unglaublich lustige Sachen gesehen, alles auf Anfang, der Herzog mit seinen Zwergen, Charlotte Moormann nackt beim Cellospielen, live und auf Nam June Paiks Video –

– Nicht wirklich nackt, unterbrach mich Büdinger, sie war mit einer durchsichtigen Plastikfolie bekleidet, ein entscheidendes Detail … aber es gab auch viele bekloppte Filmchen …

– Jedenfalls alles Baujahr 67/​68, die Hamburger mit ihren Flackerfilmen, wo sind die hin, diese subversiven Ästhetiken … Gibt’s überhaupt noch professionelle Experimentalfilmemacher … Die Kritiker der Sehgewohnheiten sind heutzutage kaltgestellt, wir haben da ja auch mitgeholfen, den Leuten per Stroboskop das Flackern ins Auge geliefert … eigentlich schöne Ideen, so übermütige Sachen wie die von diesem Costard, der nahm als Darsteller einen ausgefahrenen Penis in Großaufnahme und ließ ihn das restriktive Filmförderungsgesetz der Bundesregierung in voller Länge vorlesen, erster Preis beim großen Kurzfilmfestival in Oberhausen, die Stimme kam aus dem Löchlein vorn, seine Stimme und sein Löchlein … oder ein anderer, hochmoralischer Film, von einem Münchner, der ging ungefähr so: Achtung! Sie sehen jetzt einen Koitus … Bitte schließen Sie die Augen … Da Sie’s nicht tun, gibt’s auch keinen Koitus – und dann eben auch euer Film, Hiltruds Film, den wir jetzt nochmal diskutieren sollen …

An den Nebentischen leuchteten alle nasenlang die Displays auf, begleitet vom Bohei inadäquat gehobener Stimmung, diese Selfie-Schießereien, inszenierte Gefühlsausbrüche, denen bei der Begutachtung weitere folgen … Mit diesen Feierwerkzeugen ließen sich offenbar idiotensicher Emotionen erzeugen und festhalten für schlechtere Zeiten, gespeicherte Beweise für die heute Nachmittag durchlebte Gemeinschaft, alle Macht der Smartphone-Keule, die hier niemand wirbelnd in den Himmel warf.

Zum ersten Mal in der Hauptstadt, wollte Brigitte von mir wissen, wie es sich denn in Berlin so lebe …

– Oje, du fragst zur falschen Zeit, Berlin wird mit sich selbst nicht fertig … keine Ahnung, es hängt davon ab, wo, in welcher Ecke du wohnst, abgesehen davon natürlich, wer du bist … Ich bin aus meiner Ecke nicht rausgekommen, in über dreißig Jahren einmal umgezogen, hundertfünfzig Meter Luftlinie, von einem Altbau in den anderen und dort neuerdings selbst alt geworden … Mittlerweile ist die Ecke selbst aus sich herausgewandert, früher proletarisch-studentisch mit einem Touch Bohème, ehe immer mehr neue Bewohner zuzogen, groß und klein aus fernen und bohèmefernen Ländern … Die Geschäfte wurden umdekoriert, das ganze Jahr orientalische Wochen vor der Tür, das Viertel komplett verändert, hier muss keiner mehr wegziehen, die Stadt selbst zieht um und wird eine andere, wieder mal …

– Manche hängen ja an ihrer alten Ecke, nicht wahr, Andreas …

Brigitte tätschelte Andreas’ Hand, der ihre Worte kommentarlos weglächelte.

– Fellini hat zum Thema Wohnen und Altwerden mal gesagt, das sei für ihn kein Problem, Rom hätte sich während seiner Zeit nicht verändert, inmitten der alten, immer gleichbleibenden Bauten der Ewigen Stadt hätte er gar nicht bemerkt, dass er älter geworden sei … In Berlin ist aber nix gleich geblieben, hier läuft das Spekulationskapital schneller durch, als man kucken kann, allein in meinem Kiez wird jede Woche ein neues Überraschungshaus fertig, ein Renditeklotz mit Bio-Markt … und die Baulöwen zimmern Holztunnel und Bretterstege auf meine täglichen Laufwege, jeder Schritt ein krachendes Gepolter … und das mir, der eigene Geräusche vermeidet, so gut es geht …

– Ach, die Berliner, unterbrach mich Andreas, die wollen in einer Metropole leben, aber bitt’schön ohne deren Nachteile.

– Als ich hierhergegangen bin, war’s die Capitale der Subkultur, Westberlin, die Insel der Glücklichen, eine Art Christiania mit angeschlossenem Wissenschaftsbetrieb, besser ging’s nicht … nach dem Mauerfall langsam die Kehre, harte Arbeit, steigende Mieten, und in Kürze geht’s auf die letzte Runde vorm Ableben, die Berliner Ars moriendi … Ein Kumpel aus der ehemaligen Trinkgruppe Winterfeldplatz, Spitzname Heidegger, fasste seine Biografie noch kürzer: Ich wurde geboren, lebte und starb –

– in Kürze sterben? Glaube ich nicht, allein wie du redest … das erkenne ich als Deutschlehrerin, in deinem sprachlichen Bemühen steckt noch genug Lebenswillen –

– Klar, das Beste kommt noch, der Blick hinter den Vorhang … Im Grunde leb’ ich hier wie ein Spatz … auch eine aussterbende Art, die verbringen ihr ganzes Leben in einem Umkreis von fünfhundert Metern, in dem Radius wird alles Notwendige erledigt.

– Ach, du Armer, sagte Büdinger, als Zugvogel geboren, als Spatz geendet.

– Aber ich piepe noch.

– Und Kinder, fragte Brigitte, hast du Kinder?

Diese Frage musste von ihr kommen. Eine Standardfrage, gestellt von einer, wie sie strahlend erklärte, zweifachen Mutter. Sie konnte nicht wissen, wie sehr mir diese Frage auf die Nerven ging. Selbst im Smalltalk unbedacht gestellt, brachte sie mich regelmäßig ins Schleudern, traf einen wunden Punkt, meine stets wache Paranoia witterte den brüskierenden Versuch der Bloßstellung eines kinderlos gebliebenen Super-Egoisten – asozial im Kern. Ohne Familie und kinderlos war ein alternder Mann schon fast sowas wie Hitler. Die Verneinung von Brigittes verfänglicher Frage könnt mich als final Abgedrifteten entlarven, der den Sinn des Lebens verfehlt hatte.

– Kinder? Du hörst mich zögern …

Welche meiner Standardantworten wäre passend – die ausweichende, die ehrlich erklärende oder die rätselhaft verschleiernde Version … ja, nein, ja vielleicht, leider nein, ja oder nein … Ein Mann, der in libertären Zeiten weiträumig unterwegs war, konnte diese Frage ohnehin nicht klar beantworten. Ehe und Kinderkriegen gehörten damals nicht zum Lebensplan … und dabei war es eben geblieben, mit dauerhaften Konsequenzen, mit den schrecklichen Erinnerungen an einen kaum zwanzigjährigen Jungspund, der mehrere Dramen mit bang gesuchten Engelmachern verantworten musste und diese frühe Schuld zeitlebens zu verdrängen suchte.

– Kinder … doch, ja, ja … einen Sohn, sagte ich, drüben in Amerika, einen amerikanischen Sohn …

Das war die ehrliche Antwort. Einmal mehr erschien sie mir wie das Schuldeingeständnis zu einem mich auf komplizierte Art belastenden Vergehen. In jüngster Zeit hatte ich zur Überraschung anderer häufiger den Sohn erwähnt, nach Jahrzehnten des Verschweigens, einer mich selbst verwundernden Regung folgend … und das jetzt, wo alles zu spät war. Dieses eher theoretische Vaterschaftsbekenntnis hatte wie manches andere wohl mit einem halbbewussten Wunsch nach Revision des Schicksals zu tun, einem corriger la fortune, hinter dem das lang verdrängte Bedürfnis nach familiärer Normalität rumorte … Nach zwei, drei weiteren Gedankengängen verpuffte das als bloße Vorstellung, als Träumerei eines alten Singles ohne Anhang … doch ja, ich habe einen Sohn, ach nein, ich habe keinen Sohn …

– Keine Ahnung … keinen Kontakt, seit langem.

Brigitte hatte gleich mehrere Fragen gestellt, von mir nur unwillig beantwortet – ja, mittlerweile wohl so um die dreißig, wahrscheinlich nach wie vor am selben Ort, die Mutter, ja die Mutter, eine taffe Geschäftsfrau, hin und wieder ein Brief, der letzte kam vor etwa zehn oder fünfzehn Jahren aus Atlanta, Georgia, okay, den Namen willst du wissen … Eno heißt er, ja, genau, wie der … Music for Airports.

– Guter Mann, befand Andreas.

– An der Namensgebung war ich nicht beteiligt, auch in Atlanta bin ich nie gewesen … Dem kleinen Eno bin ich nur ein einziges Mal begegnet, da war er etwa drei, ein ausgesprochen schönes, blondgelocktes Kind, mit seiner Mutter auf Heimatbesuch in Deutschland … eine kurze, unwirkliche Begegnung beim Überqueren eines Zebrastreifens –

– Du musst da unbedingt etwas unternehmen, das geht doch nicht, das ist doch dein Sohn, was heißt keinen Kontakt, den Jungen musst du ausfindig machen, du musst ihn kennenlernen.

– Amerika ist weit weg und ziemlich groß …

– Heute nicht mehr, die Sache beschäftigt dich doch, und ihn wahrscheinlich auch, nein, nein, du solltest jedenfalls etwas tun, es liegt ganz bei dir, du musst den ersten Schritt machen.

Die mir seit einer Stunde bekannte Brigitte aus Essen ereiferte sich, um mich zu etwas zu bewegen, was ich seit einer Ewigkeit nicht angegangen war. Auch andere Frauen, denen ich bei Gelegenheit von Enos Existenz erzählt hatte, reagierten bis in die Wortwahl hinein gleich. Männliche Freunde blieben dagegen gelassen. Wenn ich mich einem aus der alten Clique offenbarte, gab’s im Gegenzug oft für mich überraschende standesamtliche Neuigkeiten. Einer der alleinlebenden, auch nach dem Sechzigsten noch restvirilen Männer gestand zu meinem Erstaunen gleich vier bisher rundum beschwiegene Kinder – willkommen im Club, hatte er, offenbar ein Meister des Arrangements, auf mein herausgedruckstes Bekenntnis gesagt, kein Grund für Scham und Aufregung. Nach diesen Gesprächen wurde der Nachwuchs der alten Freunde mit den Fingern einer Hand neu aufaddiert. Das passierte Mitte, Ende der Achtziger, die Zeit verging, und ein Männerleben ohne Kind musste ja nicht das schlechteste sein … Dennoch regte mich die Geschichte mit Enos Mutter immer wieder auf.

– Dann hast du deinen Sohn etwas verspätet zu sehen gekriegt, wie ein Kriegsgefangener oder Knacki, als Dreijährigen eben, sagte Andreas, vielleicht siehst du ihn ja bald nochmal, als gestandenen Dreißigjährigen.

– In jedem Fall solltest du etwas tun, wiederholte Brigitte, wo ist das Problem, du kannst doch ganz einfach dorthin reisen.

– Ganz einfach? Nee, nee, das kann ich mir nicht vorstellen … keine Ahnung, was die beiden treiben, genauso wenig weiß ich, was da drüben überhaupt los ist … keine Ahnung …

Während der langen Dauer

Während der langen Dauer des Fluges hatten wir uns einige Male zugelächelt, doch erst in der letzten Stunde waren wir ins Gespräch gekommen – häufig unterbrochen, da sich meine beiden Sitznachbarn immer wieder einer Frau und deren Baby in der Reihe hinter uns zuwandten. Wenn das Baby nach ein paar gurgelnden Lauten kurz aufwachte, scherzten und schäkerten sie mit ihm. Mein Sohn, zehn Monate, hatte der Ältere der beiden gesagt, derweil der Jüngere das Kleine einen Tick intensiver herzte. Die Mutter, eine naturschöne, solide Amerikanerin mit ihrem auf dem Schoß sich räkelnden Säugling, lächelte auch zu mir herüber, ihr deutscher Mann war weniger gesprächsfreudig als sein – wie ich mittlerweile wusste – ein paar Jahre jüngerer Geschäftspartner. Die drei waren einander aufs Angenehmste zugetan, unaufgeregt, selbstsicher, schienen zufrieden, glücklich gar … wie es sich gehört, dachte ich. Zu sehen, wie andere mit ihrer Existenz erkennbar klarkamen, machte mich dennoch immer leicht nervös. Mein vielleicht letzter runder Geburtstag lag erst einige Wochen hinter mir, eine weniger schöne Veranstaltung – denn sie erhärtete die Vermutung, dass wir mit siebzig in die Todeszone eintreten. Und in multi-morbider Körperverfassung ging’s nun allein auf diese letzte Sentimental Journey … schon jetzt bewegt von diesen Zufallsmitfliegern, die einen gerade seine Höhle verlassenden Einzelmenschen ungewollt mit den leidigen Gedanken an die eigene Familienlosigkeit konfrontierten. Auf Reisen war ich leichter zu berühren als sonst.

Vor und während unserer Unterhaltung hatte der jüngere auf seinem Laptop einen Text mit viel Zahlenwerk rauf- und runtergescrollt – ein Vertragsentwurf unserer amerikanischen Partner, erklärte er, wir haben in New York drei Tage für die Abschlussverhandlungen. Meine Sitznachbarn führten eine Berliner PR- und Eventfirma, mit ihren achtzehn Mitarbeitern draußen in Neukölln sollte sie den gesamten Werbeetat eines weltweit operierenden US-Musikveranstalters verpulvern. Eine mich überraschende Verknüpfung – aber, so er, auf keinen Fall zu diesen lächerlichen einseitigen Bedingungen, wie er sie auf dem Bildschirm vor sich sah. Seine Erzählungen erinnerten mich an eigene, längst vergangene, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen amerikabezogene Unternehmungen. Das Geschäft hatte sich gewandelt, klar. War globaler geworden, wie der vermutlich ebenso global gemeinte Name ihrer Firma: Papa Mama Cola.

– Wie bitte?

– Papa Mama Cola, wiederholte er, das sind die ersten drei Wörter, wenn ein Kleinkind zu sprechen beginnt.

– Hm, keine Ahnung …

Vielleicht habt ihr nicht richtig hingehört. Die ersten Wörter eurer Kinderchen könnten auch diese sein: Papa Mama Kohle.

Anfangs hatte ich zur Einstimmung auf meine New Yorker Zeit eine Weile in Charles Dickens’ »Aufzeichnungen aus Amerika« gelesen, über seine Reise 1842, mir aber bald im Bordprogramm einen aktuellen Spielfilm ausgesucht, auch der merkwürdigerweise mit familiärem Anklang. Eigentlich gefiel mir die Idee von »Wir sind die Millers« sogar: Ein kleiner Gauner mit großen Schulden muss sich auf Geheiß der Bosse ad hoc in seiner Umgebung eine Familie zusammensuchen – eine Frau gegen Bezahlung, dazu zwei nölige Nachbarskinder, denen er in einem Kurzlehrgang den nötigen Zusammenhalt beizubiegen versucht. Die sich täuschend echt danebenbenehmenden »Millers« machen auf Familie, um als Mexikourlauber im Wohnmobil einen Drogentransport durch Grenzstationen, Hinterhalte und Polizeisperren zu steuern. Angesichts der sie verfolgenden Bösewichter bleibt ihnen zunehmend nichts anderes übrig, als sich wirklich wie eine in der Not zusammenstehende Familie zu verhalten. Nach gewohntem Hollywood-Schema wird dann jedoch aus der sozialkritischen Satire per kalkulierter Eskalation ein zunehmend blöder Action-Gähner voller Bleigewalt und antiquierter Autocrashs. Am Ende bloß die zigste Variante eines amerikanischen Urthemas, das Hohelied auf die unbesiegbare Familie, na ja. Von Dickens’ New-York-Bericht blieb immerhin eine seiner Beobachtungen im Gedächtnis: welche Vielfalt an Sonnenschirmen!

Dickens und die Millers – wie absurd, sich so auf New York einstimmen zu wollen. Halbbewusst sammelte ich bestenfalls Smalltalk-Sätze, Material für All Tomorrows Parties … Schließlich kam die Stadt näher und ich war dankbar, dass das Gespräch mit meinen Sitznachbarn mich davor bewahrte, einer Sturzflut an Gedanken über die bevorstehende Ankunft und die kommenden Monate ausgesetzt zu sein. Nachdem sie mir etwas zögerlich und ohne allzu deutlich zu werden ihr Geschäftsmodell beschrieben hatten, war’s tatsächlich einmal passend, mit meiner eigenen Story rüberzukommen.

– Ich hab mal was ganz Ähnliches gemacht, sagte ich, allerdings in grauen Vorzeiten …

Vor allem den jüngeren Partner interessierte meine Story als Vintage-Blueprint eines – ja doch – breit operierenden Eventmanagers. Meine damalige Tätigkeit lag nur eben vierzig Jahre zurück und diente einer längst vergangenen Subkultur, dem Underground. Zwar hatte es den Begriff »Event« da so noch nicht gegeben, aber die Arbeit ähnelte seinem gegenwärtigen Job schon – ein Konzert war nach wie vor ein Konzert, ein Festival ein Festival, und eine egal wie hochgepoppte Werbeveranstaltung eben – Werbung. Fast schon prähistorisch wirkten dagegen die konkreten Umstände einer wüsten Gartenlaubenfirma, die zum Millionenunternehmen aufstieg und an den Widersprüchen ihrer Gründer zerbrach …

– Wir hatten schon 1967 einen angloamerikanischen Namen und bauten Stroboskope, diese Blitzlichter, ohne die bald niemand mehr tanzen wollte, wir erfanden Effekte für Diskos und Konzerte –

– Dann waren Sie ja so etwas wie Pioniere.

– Alle wollten sowas haben, viel Arbeit … und anfangs ein sozialistisches Hippiekollektiv, verstehen Sie, wir teilten alles, bis sich die Gruppe selbst teilte und die Geldgeilen die Überhand gewannen … Am Ende war’s weder Kunst noch unkopierbare Technik, es waren Zeitgeistmaschinen …

All das hatte ich schon hundertmal mit langem Atem und oft selbstgefälligen Zuspitzungen erzählt … ja, mein Gott, die Kämpfe, die Vergangenheit, Aufstieg und Fall, glorios, natürlich. Der Sitznachbar, ein sympathisch entspannter Enddreißiger, die nächste Generation also, nahm’s gelassen.

– Wir machen andere Fehler …

– Auch wir machten andere, als wir damals dachten …

Unsere Unterhaltung lief gelassen weiter, noch eine Stunde bis New York.

– Das kam doch ursprünglich alles aus Amerika, oder?

– Ja, aber das war uns nicht wirklich bewusst, es war zunächst nur eine Stimmung, die über den Atlantik wehte, Musik, Klangfetzen ohne Bilder, ohne genauere Informationen –

– Mein Vater hat mir erzählt, dass man bei den ersten Rockkonzerten noch ganz gesittet auf Stühlen saß –

– Aber nicht lange, dann riss es einen hoch und die Stühle fielen um, da ging bekanntlich einiges zu Bruch in der Waldbühne, in der Grugahalle, im Hamburger Star Club … Mitte der sechziger Jahre ging’s richtig los hier, alles veränderte sich in Windeseile, unsere Verhaltensweisen, raus aus Sack und Asche, frei sein, dabei sein, ein schöpferischer Prozess begann … ohne Gebrauchsanweisung, eine Rebellion, das wissen Sie doch, für manche sogar eine Revolution …

– Von dem, was dabei herauskam, hab ich auch ’ne Menge Schreckliches gehört und gesehen –

– Tja, die Ambivalenzen der Achtundsechziger, ein irres Schwanken zwischen Kreativität und Destruktion, je nach Blickwinkel … heraus kam aber auch, dass Sie heute mit Ihrem Laden profitieren und ganz entspannt nach Amerika düsen, ein bisschen Geld aus der globalen Popkasse von drüben zurückholen –

– Dort haben Sie sich doch auch bedient –

– Ein Zufall eher, eigentlich wollten wir ja das ganze System der Geschäftemacherei kippen, verstehen Sie? Einheit von Theorie und Praxis in Richtung einer antikapitalistischen Gesellschaft. Eine Weltsekunde lang haben wir daran geglaubt. Am Ende des umstürzlerischen Anfalls rollten ein paar Köpfe, danach begann, was immer auf eine Revolution folgt und was wir im Westen noch heute haben: Biedermeier. Wir machten 72 den Laden nach fünf Jahren dicht, in der immer klareren Erkenntnis, nur Wegbereiter der aufsteigenden Kulturindustrie gewesen zu sein –

– Nützliche Idioten der Revolution, im leninschen Sinne –

– Schönen Dank, nur eben für die falsche Revolution, für die Idee einiger plietscher Typen, mit Kultur Geld zu machen, smarte Amerikaner natürlich vorneweg.

Same Old Story – bei diesem Thema, beim Reden über Amerika, geriet ich unweigerlich in die Sackgasse der Widersprüche. Dieses Land, vor allem dieses New York, war für mich nach wie vor ein Ort der wechselnden Gefühle – fasziniert und abgestoßen zugleich, kam ich aus dem Love/​Hate-Modus nicht heraus. Die große, sich durch frühere und jüngste Ereignisse ständig erneuernde Skepsis schmälerte die Vorfreude auf den vor mir liegenden, neuerlichen Aufenthalt dort.

Dieser innere Widerstand hatte seine Geschichte. Schon ewig her, der erste Flug nach Amerika – ein nur halb besetzter, sogenannter Charterflug von Köln nach New York, um mich herum nach Provinzgirl aussehende Ehefrauen von vietnamverschonten GI