"Habemus Vatter" - Hans-Jürgen Kampe - E-Book

"Habemus Vatter" E-Book

Hans Jürgen Kampe

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Beschreibung

Machtkampf im Vatikan Die lange erwartete Seligsprechung des verstorbenen früheren Vorsitzenden eines erzkonservativen, Geheimbundes im Vatikan, "Opus Angelo" ist plötzlich in Gefahr. Denn eine alte Zeugin aus Malaga erhebt im letzten Moment schwerste Vorwürfe gegen den spanischen Kardinal. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, in der die deutschen Urlauber, Familie Thaler, der alten Lehrerin helfen, vorerst ihren Verfolgern zu entkommen. Aber nicht nur die alte Dame verschwindet dann spurlos, auch ihre Helfer geraten immer mehr in einen Strudel aus Gewalt und Verfolgung durch den Geheimbund. Der fünfte Teil der Familiengeschichten von Thalers ist ein spannender, erzkatholischer Thriller, der immer wieder durch die Tollpatschigkeit des "Vatters" zum Schmunzeln anregt.

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Seitenzahl: 402

Veröffentlichungsjahr: 2024

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„Habemus Vatter“

Ein erzkatholischer Thriller

Hans-Jürgen Kampe

Impressum

Texte: © Copyright by Hans-Jürgen Kampe

Umschlag:© Copyright by Hans-Jürgen Kampe

Verlag:Hans-Jürgen Kampe

Schanzenstraße 95a

34130 Kassel

Druck:epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

1

Die kleine silberne Glocke hatte dreimal zart geklingelt. Lorenzo Bianchi verharrte noch einen Moment schweigend im Gebet vertieft, bis ihn ein Rascheln daran erinnerte, dass sich seine Brüder im Glauben erhoben hatten. Die „Passio Domini“, das gemeinsame Gebet am Freitagnachmittag, war beendet.

Der Kardinal öffnete die Augen und blickte kurz über die wenigen, ausgewählten Teilnehmer, die sich zu einer gemeinsamen Andacht mit ihrem Erlöser geistig vereinigt hatten. Obwohl die rot verkleidete, tiefe Bank für die knieenden Gläubigen weich gepolstert war, schmerzten den Kardinal nach jedem Gebet die Arthrose geplagten Gelenke. In solchen Momenten merkte der hohe Würdenträger sein hohes Alter besonders. Der über achtzigjährige Lorenzo Bianchi erhob sich schwankend und leise stöhnend. Mit einer ungeduldigen Handbewegung lehnte er die angebotene Hilfe seines Sekretärs, des Zisterzienser Mönchs Fra Ignatio, unwirsch ab. Auch wenn er den weiß gekleideten Mönch immer wieder benötigte, so verachtete der Kardinal doch die unterwürfige, hündische Art seines Sekretärs und dessen bedingungslose Unterwerfung unter alle Befehle, die er dem willensschwachen Adlatus erteilte.

Die kleine Kapelle im zweiten Stock des Apostolischen Palastes, des „Papstpalastes“, wie der Volksmund in Rom den weitläufigen Bau aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert nannte, leerte sich langsam. Der längliche Raum war an Decken und Wänden mit bunten Fresken bemalt. Dabei umrahmten weiße Stuckelemente die abgebildeten Szenen mit Christus, Maria und ausgewählten Heiligen. Erst viel später, im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, wurden diese barocken Stilelemente von den besten Stuckateuren, Malern und Bildhauern des Landes auf Befehl eines der mächtigen Vorgänger von Lorenzo Bianchi angebracht.

Der Kardinal hatte die Kapelle für die Andachten am Donnerstagabend und am Freitagnachmittag bewusst ausgewählt. Zum einen lag die kleine Kapelle auf einer Ebene mit seinem Büro und den angrenzenden Privaträumen, was dem betagten Würdenträger ein Treppensteigen ersparte. Der zweite Grund war aber entscheidender.

Das Deckengemälde in dem reich geschmückten Raum zeigte einen großen Engel, der mit sechs Flügeln und flammenden Schwert aus den Wolken am Himmel auf die Erde niederschwebte.

Lorenzo Bianchi wusste, dass es sich bei diesem Seraphim um den wichtigsten Erzengel handelte. Gabriel, der von Gott gesandt wurde, um mit seinem Flammenschwert den großen Drachen, die alte Schlange, Satan den Weltverführer niederzuschlagen, wie es die Offenbarung des Johannes belegt hatte. Denn Luzifer, Mephisto oder auch Diabolo, der Antichrist, war einst selbst ein Engel, der sich von Gott abgewandt hatte, der gefallen war. Nunmehr personifizierte der Gegenspieler Gottes das Böse, alles Schlechte, die Verführung der Menschen, um seine Opfer von dem Weltenschöpfer und dessen Geboten abzubringen.

Gabriel hingegen, der unsterbliche Erzengel, der weder einen Schatten wirft, noch Spuren hinterlässt, war die Inkarnation des Rächers, des Strafenden im Namen Gottes, der alles Böse vernichten würde. Angefangen hatte sein Werk bereits bei Adam und Eva, die der höchste Seraphim nach dem Sündenfall unerbittlich aus dem Paradies geführt hatte. Hart, ohne Vergebung, feurig, brennend darauf, Gottes Gesetz, den alle Erzengel fortwährend in absolutem Gehorsam verehren, bei den Sündern durchzusetzen. Der graue Kardinal kannte die Beschreibung des allmächtigen Engels sehr genau, die der Prophet Jesaja nach einer seiner Visionen über die zwölf Erzengel in der Heiligen Schrift abgegeben hatte.

Lorenzo Kardinal Bianchi schritt jetzt hoch aufgerichtet aus dem Raum der Anbetung in Richtung seines Arbeitszimmers. Der wertvolle Marmorbelag auf dem Boden des weitläufigen Flures wies Jahrhunderte alte Mosaike in Weiß, Grün und Rot auf, deren Schönheit Lorenzo nach seinen vielen Jahren im Vatikan aber nicht mehr wahrnahm. Vielmehr registrierte der Untergebene seiner Heiligkeit, dass ihn heute seine bodenlange Soutane aus schwarzem Stoff mit roten Verzierungen, roten Knopflöchern und dazu passenden Knöpfen, die er sonst mit Stolz und Würde anzog, störte. Denn es war ungewöhnlich warm in Rom und die Flure in dem historischen, denkmalgeschützten Papstpalast verfügten über keine Klimaanlage. Obwohl der Kalender erst März schrieb, lagen die Temperaturen in der heiligen Stadt bereits bei über fünfundzwanzig Grad. Für diese Hitze war das schwarzrote Wollgewand des Kardinals, welches von den Knöcheln bis zum Hals reichte und von einem scharlachroten Zingulum, dem breiten Seidengürtel, geschmückt wurde, denkbar ungeeignet.

Vor der fast deckenhohen Doppeltür aus dunklem Nussbaumholz wartete bereits der dürre Zisterzienser. Lorenzo beachtete den schlanken Mann in der weißen Kutte nicht, der ihm devot eine Türhälfte aufhielt, sodass er erleichtert in sein klimatisiertes Arbeitszimmer eintrat. Der alte Kardinal ließ sich erschöpft in den grünen Ledersessel hinter seinem wuchtigen Schreibtisch fallen. Decken und Wände des fast quadratisch geschnittenen, großen Raumes waren mit Olivenholz verkleidet, welches viel Licht schluckte, aber den engen Mitarbeiter des Papstes stets an den Ölberg in Jerusalem erinnerte, der eine so wichtige Bedeutung im Leben und Leiden von Jesus Christus hatte.

Die Marmorplatten auf dem Fußboden des Raumes wurden zum größten Teil von alten, handgeknüpften Teppichen in ausgeblassten Naturfarben bedeckt. Aber trotz der dunklen Farbtöne in dem Arbeitszimmer spendeten die vier tiefen Doppelfenster noch ausreichend Helligkeit. Denn Lorenzo war es wichtig, dass Besucher alle Einzelheiten des Raumes aufnehmen konnten. Vor allem die alten Gemälde mit christlichen Motiven und die unzähligen alten, ledergebundenen Bücher über Philosophie, Theologie, Geschichte, Rechtskunde sowie Abhandlungen über alle wichtigen Religionen in den Regalen hatten noch jeden Betrachter beeindruckt. Auch der wuchtige, antike Schreibtisch des Kardinals war um einiges größer als der des Papstes über ihm, der nach Meinung des Kardinals als Pontifex Maximus leider viel zu bescheiden auftrat. Lorenzo war der festen Überzeugung, dass die Größe, die Macht und der Anspruch der Kirche auf die alleinseligmachende Wahrheit niemals durch Zurückhaltung, sondern durch Symbole der Herrschaft dokumentiert werden musste. In allen Kulturen während der Geschichte der Menschheit hatte sich diese simple Wahrheit immer als nützlich gezeigt. Auch bezogen auf die Wirkung seiner eigenen Person, dachte der Kardinal genauso.

Jedes Wort von ihm, jede Geste, jedes Detail seiner Kleidung und seiner Umgebung sollte seine Autorität und seinen Machtanspruch unterstreichen.

Der Blick des alten Mannes schweifte aus dem Fenster über den Damaskus Hof, glitt über den Borgia Hof und den Borgia Turm über die Tonziegel der Dächer der Vatikanischen Museen, verweilte kurz über der Sixtinischen Kapelle und nahm die Vatikanischen Gärten wahr. In den weitläufigen, gepflegten Parkanlagen konnte der Kardinal die Päpstliche Akademie der Wissenschaften und das Kloster Mater Ecclesiae ausmachen, in dem ein emeritierter Papst seine letzten Lebensjahre verbracht hatte.

Über ihm, im dritten Stock des Apostolischen Palastes, befand sich die Wohnung des derzeitigen Stellvertreters Gottes und dessen Arbeitszimmer sowie das Vorzimmer mit dem berühmten Fenster, an welchem sich der Heilige Vater den Gläubigen zeigte und seinen Segen spendete.

Lorenzo schmunzelte unbewusst. Zu keinem Zeitpunkt hatte er das höchste Amt in der Katholischen Kirche begehrt. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, das weiße Ornat des Papstes anzustreben, obwohl ihn während der letzten beiden Konklaven einige der wahlberechtigten Kardinäle bedrängt hatten, doch zu signalisieren, dass er eine mögliche Wahl annehmen würde.

Aus den Erfahrungen, die er in den vielen Jahrzehnten des Dienstes in der Katholischen Kirche gesammelt hatte, wusste Lorenzo sehr genau, dass ein Papst nur auf dem Papier einer der mächtigsten Kirchenfürsten auf Erden war. Die Wirklichkeit sah anders aus. Die Person auf dem Stuhle Petri musste sich ständig gegen Intrigen und diskrete oder offene Respektlosigkeiten, ja auch Anfeindungen, geduldig zur Wehr setzen, ohne einzelne, sehr mächtige Flügel in der Kirche mit über 1,4 Milliarden Mitglieder zu brüskieren.

Die Anhänger einer sozialistischen Befreiungstheologie in Südamerika, eine erstarkende Reformbewegung „Wir sind Kirche“ in Nordeuropa, welche die Kirche von Grund auf erneuern wollten oder aber erzkonservative Gruppen, die an Jahrhunderte alten Auslegungen der Heiligen Schrift und den Dogmen festhalten wollten – sie alle bildeten mit ihren unterschiedlichen Auslegungen vom Wesen und den Aufgaben der Kirche Fliehkräfte, welche die Heilige Mutter Kirche zum Zerreißen bringen konnten.

Es gab wichtige Kirchenfürsten, deren Ziel es war, den Nachfolger von Petrus offen zu schwächen, in der Hoffnung, ihre Doktrinen durchsetzen zu können. Andere wollten wiederum den Papst bestärken oder beeinflussen, ihre Sicht einer Glaubensauslegung zu unterstützen. Und immer wieder blieb dem scheinbar mächtigen Oberhaupt aller Katholiken nur ein diplomatischer Eiertanz und abstrakte, wirklichkeitsferne Aussagen in seinen Lehrschreiben, die so allgemeinverbindlich waren, dass eine Spaltung der Kirche verhindert wurde.

Einige Päpste waren in der Vergangenheit an den Intrigen und Richtungskämpfen zerbrochen, zumal der Nachfolger Petri in der Regel bereits alt, häufig gebrechlich und nur wenig belastbar war, wenn er die Wahl im Konklave annahm.

Auch bei dem jetzigen „Chef“ von Lorenzo Bianchi war die Wahl der Kardinäle nicht auf ihren Glaubensbruder gefallen, weil er verhandlungssicher und durchsetzungsstark war. Das Gegenteil war der Fall. Der italienische Papst war sicherlich klug – er war zu Beginn seiner Laufbahn an der Päpstlichen Lateran Universität einer der jüngsten Professoren für Systematische Theologie. Der Italiener sprach fünf Sprachen und hatte eine telegene Ausstrahlung. Seine Wirkung auf Gläubige, aber auch auf Atheisten, war durchweg positiv, was Umfragen und die Zunahme der Spenden im „Papstpfennig“ zweifelsfrei belegten.

Aber Giorgio Battuchi, so der bürgerliche Name des intellektuellen Theologieprofessors, war schwach, nicht durchsetzungsfähig, zu sehr kompromissbereit und immer willens, den unterschiedlichen Wünschen der häufig verfeindeten Flügel innerhalb der Kirche zumindest nur so viel entgegenzukommen, dass die andere Seite noch keinen Aufstand riskierte. Und nur so, meinte der weißgewandete Steuermann des trägen Dampfers Kirche, das kaum lenkbare, schlingernde Schiff auch durch raue See manövrieren zu können. Im Grunde änderte sich dadurch an den fundamentalen Dogmen der Kirche während seines Pontifikats nichts.

Dem Kardinal kam das entgegen. Er hasste Entscheidungen, die am jeweiligen Zeitgeist und nicht an der Bibel und an einer wortwörtlichen Auslegung des Wortes Gottes orientiert waren.

Wieder schaute sich der alte Kirchenfürst das Foto auf seinem Schreibtisch an. Das Bild bewirkte einen der wenigen Momente, wo der mächtige Kardinal emotional stark berührt war und Gefühle hochkamen, die er sich sonst niemals erlaubte. Das etwas verblasste Bild zeigte Lorenzo Bianchi als jungen Mann, der gerade zum Priester geweiht worden war. Schwarz gewandet, mit weißem Kollar, dem ringförmigen, steifen Priesterkragen, stand der vierundzwanzigjährige junge Geistliche zwischen seinen Eltern. Der Vater, bereits mit Ende vierzig abgearbeitet, faltig, nach vorn gebeugt, mit rissigen, schwieligen Arbeiterhänden, hatte seinen einzigen Anzug angezogen und schaute ernst in die Kamera. Seine Frau, mit Mitte vierzig schon vollkommen ergraut, erlaubte sich den Anschein eines stolzen Lächelns. Das schwarze lange Kleid, das sie anlässlich der Priesterweihe ihres ältesten Sohnes trug, hatte sich die Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter zusammen mit den derben Schuhen leihen müssen. Denn Geld war in der armen Landarbeiterfamilie seit jeher knapp. Auch ihr sah man die jahrelange harte Arbeit an der eingefallenen, sonnenverbrannten Haut und an den tiefliegenden Augen mit den dunklen Ringen an.

Ein seltenes Gefühl von Liebe und Dankbarkeit durchflutete Herz und Seele von Lorenzo Bianchi.

Beide Eltern waren Landarbeiter, in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch rechtlose Tagelöhner, die nur nach Akkord schufteten und bei Krankheit oder schlechter Ernte nichts verdienten. Urlaub war unbekannt. Weil der Vater von Lorenzo den Sohn des Großgrundbesitzers vor einem durchgehenden Pferd gerettet hatte, durften sich die Eltern als Dank einen leerstehenden Stall auf dem Landgut ausbauen und nach Jahren harter Arbeit beziehen. So hatten die Eltern keinen langen Weg mehr zur Feldarbeit und konnten noch früher mit der Arbeit anfangen und noch später aufhören.

Weil das Gesetz vorschrieb, dass Kinder in die Schule gehen mussten, blieb den Eltern und auch dem Patron nichts anderes übrig, als zuzulassen, dass der kleine Lorenzo morgens die fünf Kilometer in die nächste Kleinstadt in den Apenninen lief und mittags schnell nachhause kam, um auf dem Hof mitzuarbeiten. Zum Spielen hatte das fleißige Kind keine Zeit. Aber weil all seine Freunde das gleiche Schicksal teilten, vermisste der kluge Junge nichts.

Am Ende des vierten Schuljahrs sprach der Pfarrer der Gemeinde die Eltern nach dem Sonntagsgottesdienst an. Don Alfredo begann einfühlsam den Eltern zu erklären, dass er in den letzten vier Jahren Gelegenheit hatte, das aufgeweckte Kind in der Schule zu beobachten und zu beurteilen. Denn Don Alfredo unterrichtete in seiner Eigenschaft als Pfarrer die Kinder in katholischer Religionslehre. Er lobte den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn des Zehnjährigen, seine Zuverlässigkeit und seine Klugheit. Die Eltern hatten bereits mit Freude registriert, dass Ihr Sohn in allen Fächern sehr gute Noten im Zeugnis bekommen hatte. Die handschriftlichen Beurteilungen des Klassenlehrers, die ihr Mann seiner leseunkundigen Frau stockend aus dem Zeugnis vorlas, zauberten der Mutter jedes Jahr eine Röte des Stolzes in ihr verhärmtes Gesicht.

Der Pfarrer wusste, dass die Eltern trotz Allem Einwendungen vorbringen würden. Die Familie hatte fest damit gerechnet, dass der schnell wachsende, kräftige Knabe auf dem Hof mitarbeiten würde, damit die steigenden Lebenshaltungskosten bei den größer werdenden Kindern gedeckt würden. Auch der Patron vertraute darauf, dass er in wenigen Jahren eine weitere, billige Arbeitskraft bei der Oliven- und der Weinernte beschäftigen konnte. Die Bedenken der Eltern konnte Don Alfredo zum Teil entkräften. Denn der rührige Priester hatte bereits bei dem zuständigen Diözesanamt einen Antrag gestellt, damit der aufgeweckte Junge eine Förderung aus dem Haushalt des Bischofs bekommen würde, wenn er die Schule bis zum Maturita, dem Abitur, besuchte. Den Patron wollte er in einem ernsthaften Vier Augen Gespräch überzeugen, dass der junge Lorenzo besser in die Obhut der Kirche und nicht auf den Weinberg oder in die Olivenhaine gehörte.

Der Vater von Lorenzo brachte einen weiteren, gewichtigen Einwand vor. „Wer gibt mir das Recht, ein Kind zum Edelmann und die beiden anderen zu Bettelleuten, wie wir es sind, werden zu lassen?“

Don Alfredo überlegte kurz. Er kannte ja die Geschwister von Lorenzo und wusste, dass sie mit der höheren Schule überfordert wären.

„Sie würden an dem Lernpensum scheitern und wären letztlich mit dieser Ausbildung nicht glücklich“.

Beide Geschwister von Lorenzo waren praktisch veranlagt, hatten Interesse an den Tieren des Landgutes und halfen den Eltern, obwohl sie noch klein waren, nach ihren Möglichkeiten gern und freiwillig. Für sie war das Leben und die Arbeit auf dem Hof noch ein Spiel.

Vorsichtig deutete der Pfarrer an, dass es auch im Sinne des Allmächtigen wäre, wenn Kinder die Laufbahn einschlagen würden, die ihnen Freude macht, für die sie geeignet wären. Und er versprach, sich auch für eine Ausbildung des jüngeren Bruders und der Schwester seines Zöglings einzusetzen, wenn sie Interesse zeigen würden.

Seufzend und mit schlechtem Gewissen den Geschwistern und dem Patron gegenüber hatten die Eltern letztlich Don Alfredo zugestimmt. Lorenzo würde auf eine höhere Schule gehen.

2

Lorenzo konnte mit dem Wechsel auf das Gymnasium während der Woche nicht zuhause wohnen. Die Schule lag in Bobbio, einer mittelalterlichen Kleinstadt in der Provinz Piacenza. Dank Don Alfredo bekam der Junge eine Unterkunft in der Familie des dortigen Bruders des Pfarrers, der in der Altstadt einen kleinen Frisörsalon betrieb. Seine Frau arbeitete von zuhause aus als Flickschneiderin, sodass sie die vier Mäuler ihrer Kinder mit einfacher Kost satt bekamen. Und Lorenzo brachte durch die Zuweisungen aus dem bischöflichen Haushalt noch ein willkommenes kleines Zubrot in die knappe Kasse.

Die Maturita schloss der hochgewachsene, sportliche junge Mann bereits mit achtzehn Jahren mit Auszeichnung ab. Eigentlich hätte ihm mit dem Zeugnis die Welt offen gestanden. Aber der Sohn armer Landarbeiter hatte sich, auch durch den Einfluss der ihn unterstützenden Kirche, bereits während der Schulzeit bereits gern mit katholischer Religion, Philosophie und Dogmatik beschäftigt.

Nicht nur aus Dankbarkeit seinen Förderern gegenüber, sondern auch aus echtem Interesse an den wissenschaftlichen Inhalten eines Theologiestudiums und dem Wunsch, anderen Menschen Gutes zu tun, beschloss der heimliche Schwarm der Frauen aus Bobbio, katholische Theologie zu studieren. Durch den Einfluss der Diözese bekam Lorenzo eine Förderung seines Studiums in Rom, die nicht rückzahlbar war, wenn sich der Absolvent ganz in den Dienst der Kirche stellen und zum Priester weihen lassen würde.

Bianchi hätte ohne Unterstützung niemals studieren können – schon gar nicht in der Landeshauptstadt Rom, dem Zentrum der Katholischen Kirche. Der Abiturient beschloss also, sich auf die Vereinbarung mit der Kirche einzulassen, wohl wissend, dass er dem Priesterleben eine eigene Interpretation geben würde. Denn der gutaussehende, sportliche junge Mann hatte bereits in der Endphase seiner Schulzeit Geschmack an weltlichen Vergnügungen gefunden. Auch während der Studienzeit wechselte er diskret immer wieder Freundinnen, was er damit rechtfertigte, dass ein Diener Gottes das wahre Leben in all seinen wunderbaren Facetten kennen sollte, wenn er später als Priester die Sünden seiner Schäfchen verstehen wollte.

Und so entwickelte Lorenzo bereits während des Studiums ausgeprägte hedonistische Züge. Der Student holte alles nach, was ihm in seiner kargen Jugend verwehrt war. Er genoss das Leben in Rom, immer mit der Entschuldigung, dass es in der Geschichte der Heiligen Mutter Kirche genügend Kardinäle und auch Päpste gegeben hatte, die eine vergleichbare Lebensweise gerechtfertigt hatten.

Lorenzo fand Geschmack am Rauchen, liebte gutes Essen und Rotwein und achtete auch nach seiner Priesterweihe darauf, dass er die Ansprüche an ein zölibatäres Leben zumindest offiziell erfüllen konnte. Niemals ging der junge Priester eine feste Bindung ein, sondern bevorzugte wechselnde, möglichst ungebundene Partnerinnen. Das Verbot der Empfängnisverhütung hielt er im Sinne der Kirche ein, indem er sich bei seinen Zusammenkünften mit den Damen auf Zeiten ohne Gefahr einer Empfängnis konzentrierte.

Es war sein Professor für Dogmatik an der Päpstlichen Universität in Rom, der das Talent, die Intelligenz, den Scharfsinn und den Eifer des jungen Studenten erkannte und ihm anbot, nach Abschluss des Studiums und nach vollzogener Priesterweihe als Assistent an seinen Lehrstuhl zu wechseln.

Lorenzo nahm das Angebot gern an, denn er bekam dadurch ein eigenes, auskömmliches Gehalt, umging vorerst ein schlecht bezahltes Vikariat und konnte an seiner Doktorarbeit schreiben. Außerdem blieb ihm sein „Revier“ mit seinen Bekanntschaften erhalten. Seinem Professor fiel nach einiger Zeit auf, dass der junge Assistent im Grunde nicht die strengen Anforderungen an ein keusches Priesterleben einhielt. Allerdings nahm der Doktorand die Regeln der Kirche wiederum so ernst, dass er zumindest nach außen hin das asketische Leben eines Diener Gottes führte. Diese Erkenntnis, die scharfe Intelligenz, das ausgeprägte Selbstbewusstsein und die Durchsetzungsfähigkeit seines Mitarbeiters führten dazu, dass der Ordinarius den jungen Mann einem Test unterziehen wollte.

Ganz zufällig lag Literatur über „Opus Angelo“ auf dem Schreibtisch von Pater Lorenzo, die der Assistent lesen und bearbeiten sollte. Rechtfertigen konnte der Lehrstuhlinhaber den Besitz und die Weitergabe dieser verbotenen Literatur mit wissenschaftlichem Forschungsinteresse. Denn „Opus Angelo“, ein erzkonservativer Geheimbund innerhalb prinzipientreuer Kreise der katholischen Kirche, war durch die letzten Päpste streng verboten. Treffen von Logenbrüdern, Absprachen, Austausch von Informationen oder Verbreitung von Inhalten, die der offiziellen Lehrmeinung der Kirche widersprachen, wurden mit strengen Strafen bis hin zur Exkommunikation belegt.

Lorenzo Bianchi war zunehmend von den Informationen über den Geheimbund fasziniert. Die Verehrung der zwölf Erzengel, die Bitten um Beistand durch den ersten Seraphim Gabriel, geheime Riten und die Weihestufen, die Mitglieder des „Werk des Engels“ durchlaufen mussten, sowie der brutale Kampf gegen das Böse in der Welt – von all dem fühlte sich der junge Mann angesprochen, ja, er wollte gern selber ein Teil dieser gerechten Bewegung werden.

Als Professor Giunti in den Besprechungen mit seinem Assistenten spürte, dass die Begeisterung des Doktoranden für die Ziele und die Aktivitäten des „Opus Angelo“ echt war, lud er ihn nach den Sommerferien zur Teilnahme an einer Tagung von Dogmatikern und Philosophen nach Mailand ein.

Am zweiten Tag des Treffens wurde Lorenzo einem Bischof aus Spanien vorgestellt, der den Assistenten nach einem anregenden Gespräch zu einem Abendessen in seine Wohnung bat. Bei dem späten Essen waren ein Weihbischof und ein weiterer Erzbischof zugegen. Anfangs war Lorenzo noch befangen, scheu und zurückhaltend aufgrund der Würde der lila gekleideten Eminenzen und hielt sich mit einer eigenen Meinung zurück. Aber nach dem vierten Glas roten Tiganello kam das Gespräch wie zufällig auf den verbotenen, erzkonservativen Bund.

Lorenzo bestätigte in der aufkommenden Diskussion, dass er eine liberale Haltung der Kirche rundweg ablehnte. Vielmehr musste der Anspruch der Heiligen Mutter Kirche, weltweit Gläubige in allen Erdteilen zu lenken und das Christentum weiter zu verbreiten, mit allen Mitteln durchgesetzt werden. Das wichtigste Hilfsmittel war die Angst. Angst der Menschen, vor ihrer Unzulänglichkeit, Angst vor der Strafe Gottes für ihre Sünden, welche nur die Kirche festlegen durfte. Da hier die Kurie und der Papst aus Sicht des geladenen Priesters nicht energisch genug vorgingen, musste sich zwangsläufig eine Organisation innerhalb der Kirche entwickeln, welche aus der wortgenauen Auslegung der Bibel heraus einen Katalog von Verfehlungen definierte. Je nach Schwere der Sünden wurden Strafen festgelegt, welche der Geheimbund als irdischer Vertreter des Erzengels Gabriel, wenn nötig auch mit flammendem Schwert, durchzusetzen hatte. Zusätzlich zu den Regeln sollte die Kirchenleitung strenge Rituale vorgeben, deren Einhaltung den fehlgeleiteten Seelen Halt geben würde.

„So wie ein Autofahrer Leitplanken benötigt, um sicher auf der Straße zu bleiben und an sein Ziel zu kommen, so brauchen unsere Schafe Vorgaben für ihr Seelenheil um ins Paradies zu kommen, die wir als Vertreter der Kirche nennen, kontrollieren und ahnden müssen. Im Namen des Allmächtigen“. Lorenzo war vor Eifer im Gesicht rot angelaufen.

Die drei Bischöfe nickten ihrem Gast ernst und bestätigend zu. Der junge Mann schien reif zu sein für eine Aufnahme in ihre Gemeinschaft.

Lorenzo stimmte auf die Frage des spanischen Bischofs aufrichtig überzeugt zu, die erste von den drei Weihen in dem verbotenen Bund zu erhalten und einer der geheimen Brüder von „Opus Angelo“ zu werden. Gleichzeitig verpflichtete er sich, unter Androhung des Todes und der ewigen Verdammnis, zur absoluten Verschwiegenheit über alles Wissen, das er jemals über das „Engelswerk“ erfahren würde.

Die folgende Zeit war geprägt durch strenge Exerzitien, Prüfungen und Einkehrtage, in welchen der Novize lernte, die Engel als Boten, die Gottes Schutzengel aber auch seine strafende Instanz waren, anzubeten und sich einem bedingungslosen Gehorsam unter die Vorgaben der Oberen des verbotenen Bundes zu unterwerfen.

Das geheime Handbuch von „Opus Angelo“, das Lorenzo lesen und lernen musste, legte sündhafte Abweichungen von Gottes Willen fest und zeigte Maßnahmen auf, wie Mitglieder von der Ordensgemeinschaft als irdische Vollstrecker der Erzengel, Sünder zu strafen hatten. Als Sünde wurden alle Verletzungen der zehn Gebote betrachtet, auch eine jüdische Abstammung, widernatürliches Sexualverhalten und eine Leugnung oder Abwendung von den biblischen Vorgaben im Alten Testament. Obwohl der Papst diese radikale Auslegung der Engelsverehrung abgelehnt und „Opus Angelo“ als kirchliche Vereinigung verboten hatte, stieg die Zahl der heimlichen Mitglieder des Geheimbundes weltweit stetig an. Eine geheime Hochschule in Südamerika bildete Priester in Okkultismus, in mystischen Offenbarungen, im Erkennen der Dämonen Dragon, Varina und Selithareth, welche das Schlechte im Menschen hervorrufen und im Exorzismus aus. Die verschiedenen Stufen dieser Art des vom „Engelswerk“ praktizierten Exorzismus waren nicht nur vom Vatikan, sondern auch von der Staatsanwaltschaft streng verboten, und wurden bei Bekanntwerden mit Strafen geahndet. Trotz allem war die Austreibung von Dämonen als Vertreter von Satan, eine Kernaufgabe der Engelverehrer.

Die Exorzismen steigerten sich von Segnungen unter Verwendung heiliger Symbole wie dem Kreuz, Weihwasser oder geweihten Hostien, Besprechungen von Besessenen, über körperliche und seelische Misshandlungen bis hin zur letzten Phase, wenn der Dämon bereits zu sehr Besitz von der Seele des Besessenen ergriffen hatte.

Der erlösende Exorzismus.

Der erlösende Exorzismus sah in sich steigernden Phasen ein körperliches Martyrium des/der Besessenen vor, welches auch bis zum Tode führen konnte. Aber dann hatte der Exorzist durch die Qualen, die er dem Opfer zugeführt hatte, die Seele des verlorenen Körpers gerettet, welche geläutert und rein vor den Allmächtigen treten konnte.

Lorenzo war ein gehorsames und überzeugtes Mitglied des geheimen Bundes und empfing nach einem Jahr der Prüfung die Engelweihe und einige Zeit später die höchste Stufe, die Sühneweihe. Er war nun ein vollwertiges Mitglied von „Opus Angelo“.

Das Netzwerk, welches die geheime Vereinigung weltweit innerhalb und auch außerhalb der Kirche aufgebaut hatte, half dem begabten Priester, schnell Karriere zu machen. Dies gelang auch mit Hilfe des spanischen Bischofs, den Lorenzo in Mailand kennengelernt hatte, der von dem unwissenden Papst zum Erzbischof und dann zum Kardinal ernannt wurde.

Der neue spanische Kardinal Alvaro Salazar wurde nach einiger Zeit nach Rom berufen und nahm einen Platz in der Kurie ein, dem engsten Kollegium, welches die Kirche in Abstimmung mit dem Papst leitet. Alvaro Kardinal Salazar, dessen Vorstandsarbeit im „Opus Angelo“ niemand in der Kurie ahnte, wurde die wichtige Leitung des Dikasteriums für die Glaubenslehre übertragen. Seine Aufgabe, als oberster Moralwächter der katholischen Kirche, war es die Glaubens- und Sittenlehre in der Kirche weltweit festzulegen zu fördern und vor Ketzerei zu schützen.

Schritt für Schritt, immer geschickt argumentierend, gelang es dem Kardinal über Jahre hinweg, den Vorvorgänger des jetzigen Pontifex zu überzeugen, dass die Brüder des „Opus Angelo“ in voller Gemeinschaft mit den Regeln der katholischen Kirche stünden, alle Normen akzeptierten und sich bedingungslos den Weisungen der höchsten Autoritäten der Kirche unterwerfen würden. Nachdem das „Engelswerk“ eine öffentliche Treue- und Verpflichtungserklärung zu allen Vorschriften des Vatikans abgegeben hatte, wurde „Opus Angelo“ von dem vorvorherigen Papst mit seinem gottgegebenen, naiven Glauben an das Gute im Menschen, als öffentlicher Verein der katholischen Kirche anerkannt, unter Auflagen genehmigt, und die Mitglieder des Vereins durften nunmehr offen in Erscheinung treten.

Neben der jetzt öffentlichen Verehrung und Anbetung der Engel arbeitete der Bund im Geheimen weiter wie bisher. Geschützt wurde die Gemeinschaft durch die Anerkennung des leichtgläubigen Oberhauptes der Kirche und durch die konspirative Arbeit ihres Vorsitzenden als Leiter der Glaubenskongregation. Salazar war ein Wolf im Schafspelz, der alle Normen, liturgischen und kanonischen Vorschriften, Rituale, Sakramente, Sühne- und Exorzismusregeln fortan so auslegte, dass das „Engelswerk“ Jahr für Jahr ungestört wachsen konnte.

Kardinal Salazar hatte ein Auge auf den jungen Dr. theol. Lorenzo Bianchi. Nach einer Zeit, in der Lorenzo sein Vikariat und seine erste Pfarrstelle in Kalabrien verbracht hatte, wurde der erzkonservative junge Priester auf eine frei gewordene Assistentenstelle im Dikasterium, der Kongregation für die Glaubenslehre im Vatikan, berufen. In diesem wichtigen Amt lernte der junge Geistliche die verkrusteten Strukturen der Behörden im Vatikanstaat kennen. Auch blieben ihm die offenen und versteckten Machtkämpfe zwischen den Kurienkardinälen nicht verborgen, die er zunehmend verachtete. Intrigen, das Schachern um finanzielle Mittel, Posten und Einfluss bei einem überforderten Papst ließen bei Lorenzo die Überzeugung wachsen, dass der Vatikan und insbesondere die Kurienkardinäle nur mit eiserner Hand geführt werden konnten. Auch wenn er seinem Förderer, Kardinal Salazar zutiefst dankbar war und den Spanier gern unterstützte, wusste der ehrgeizige und machtbewusste Assistent doch ganz genau, dass diese Zeit in der päpstlichen Behörde nur eine kurze Station des Lernens auf seinem Weg in die Spitze der Heiligen Mutter Kirche sein konnte.

Alvaro Kardinal Salazar blieben die Ambitionen seines Schützlings nicht verborgen. Er förderte den jungen Mann sowohl innerhalb der Kirche, als auch im „Engelswerk“, betraute ihn mit immer wichtigeren Aufgaben und schlug Lorenzo vor, sich nach vier geduldig ertragenen Jahren in seiner Behörde um eine frei gewordene Stelle als Dechant in Bari zu bewerben. Denn diese Leitungsaufgabe sollte nur ein Sprungbrett darstellen, damit der neue, geistliche Vorsteher von zehn Pfarreien in Apulien, einen engen Kontakt zum Bischof von Bari aufbauen konnte, der ihn als Mitbruder von „Opus Angelo“ nach weiteren drei Jahren zur Wahl als jüngsten Weihbischof von Italien vorschlug.

Auch innerhalb des „Engelswerkes“ rückte der selbstbewusste junge Weihbischof schnell in den erweiterten, geheimen Vorstand auf, der fortan an allen verborgenen Sitzungen des Leitungsgremiums teilnehmen durfte.

Lorenzo Bianchi blieb vorerst in Süditalien, denn hier war die Schar gleichgesinnter, erzkonservativer Glaubensbrüder größer als im weltoffenen, aufgeschlossenen Norden von Italien.

Bereits mit Ende dreißig wurde der wortgewandte Weihbischof aus Bari vom Papst auf Empfehlung von Kardinal Salazar als neuer Bischof von Neapel bestätigt. Mit dieser Stelle verbunden war seit jeher eine spätere Beförderung zum Erzbischof und, nach einer weiteren Frist der Prüfung, eine Aufnahme in das illustre Kardinalskollegium. Lorenzo durfte ab jetzt eine scharlachrote Soutane mit Brustkreuz am goldenen Band, eine rote Mozzetta, ein Cape ähnlicher Schulterkragen und einen roten Pileolus, die Haube der Bischöfe, als Zeichen seiner Würde tragen.

Der neue Kardinal wusste sehr wohl, dass er sich, als für katholische Verhältnisse sehr junger Würdenträger, auf der untersten Stufe der rot gekleideten Gruppe von wahlberechtigten Kardinälen im Konklave befinden würde. Deswegen baute er diskret, aber zielgerichtet, ein Netzwerk von Unterstützern auf, um seinen Einfluss Jahr für Jahr zu vergrößern.

Sein alt gewordener spanischer Förderer, Kardinal Salazar, hatte bereits vor Jahren erkannt, dass sein machtbewusster, durchsetzungsstarker Zögling ideal für seine Nachfolge als Vorstand von „Opus Angelo“ geeignet war. Um das Kollegium im Vorstand der erzkonservativen Gruppe von seiner Wahl zu überzeugen, brauchte der neue Kardinal von Neapel jedoch eine einflussreiche Position im Machtzentrum des Vatikans, von der es ihm gelingen könnte, den Heiligen Vater in all seinen Entscheidungen im Sinne von „Opus Angelo“ zu beeinflussen.

Als der alte Kardinalstaatssekretär, der für alle diplomatischen und politischen Aktivitäten des Heiligen Stuhls verantwortlich war, schwer erkrankte, erreichte es der spanische Kurienkardinal, dass der Pontifex Kardinal Bianchi als Pro Staatssekretär, welcher den kranken Amtsinhaber kommissarisch vertritt, in die Kurie berief.

Lorenzo Kardinal Bianchi hatte ab jetzt nahezu täglich Kontakt zum Heiligen Vater. Er arbeitete sich als provisorischer „Ministerpräsident und Außenminister“ des Vatikanstaats in einer Person schnell und effizient in die weltweiten politischen Verflechtungen des kleinen Kirchenstaates ein und wurde für den Bischof von Rom ein unentbehrlicher Ratgeber in allen politischen und diplomatischen Entscheidungen.

Als der alte Amtsinhaber endlich zu Gott befohlen wurde, war Lorenzo Bianchi bereits mit Ende vierzig auf dem Höhepunkt seiner kirchlichen Laufbahn angekommen. Der Pontifex ernannte den Kardinal von Neapel zum neuen Kardinalstaatssekretär des Heiligen Stuhls. Mehr hatte Lorenzo Bianchi auch niemals gewollt. Er wusste, dass er mit dieser Position, unbemerkt von der Öffentlichkeit, mächtiger sein konnte, als die offizielle Nummer eins im Kirchenstaat, die er ab jetzt nach seinen und den Interessen des „Engelswerkes“ beeinflussen und lenken würde.

Eine solch wichtige und sehr einflussreiche Position überzeugte auch die letzten Skeptiker im „Opus Angelo“. Lorenzo Bianchi wurde zum neuen, stellvertretenden Vorsitzenden des weltweit verbreiteten „Engelswerkes“ gewählt.

Als Alvaro Kardinal Salazar im hohen Alter friedlich zum Herrn berufen wurde, stand der zukünftige Nachfolger des Vorsitzenden bereits fest. Lorenzo Kardinal Bianchi bekam in geheimer Wahl alle Stimmen zum neuen Vorsitzenden des „Engelswerkes“. Kritiker wagten fortan keine Äußerungen mehr – der Kardinalstaatssekretär war zu mächtig geworden.

3

Lorenzo Bianchi dachte an seine längst verstorbenen Eltern, die sehr stolz auf die Entwicklung ihres ältesten Sohnes gewesen wären. Ihr damaliger Pfarrer, Don Alfredo, hatte in weiser Voraussicht alles richtig entschieden und gelenkt. Die Schwester von Lorenzo hatte nie berufliche Ambitionen. Sie hatte früh geheiratet und fünf Kinder bekommen. Mit ihrer Rolle als Mutter schien sie zufrieden zu sein. Lorenzos Bruder war in der Landwirtschaft glücklich geworden. Er bekleidete bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn die angesehene Position des Verwalters eines Landgutes in der Toscana.

Kardinal Bianchi klappte die rechte Tür seines mächtigen Schreibtischs auf. Er griff in dem antiken Möbelstück nach einer Flasche über zwanzig Jahre gereiften Cognacs und nach fünf Gläsern. Aus dem Humedor auf dem vergoldeten Beistelltisch entnahm er eine Montecristo No. 2 und schnupperte kurz genüsslich an der langen Zigarre. Obwohl sein Arzt ihm Rauchen und Alkohol untersagt hatte, legte der betagte Würdenträger die Vorschriften wie einst auch den Zölibat, auf seine, ihm genehme, Weise aus. Die ehemals stärkere Montecristo No. 4 wurde lediglich gegen die leichtere No. 2 ausgetauscht. Außerdem bemühte sich der Vorsitzende von „Opus Angelo“ weniger zu inhalieren und stattdessen mehr zu paffen. Den Rotwein zum Mittag- und zum Abendessen bezeichnete Bianchi ab jetzt als medizinisch wertvoll für sein altes Herz. Nur den weichen, samtenen Cognac holte er lediglich noch zu wenigen, wichtigen Anlässen aus den Tiefen seines Schreibtischs. Und heute gab es einen gravierenden Grund, ein ernstes Gespräch zu führen.

Lorenzo Bianchi lehnte sich nach den ersten Zügen aus der kubanischen Zigarre etwas entspannter zurück. Die wulstigen Lippen des Kardinalstaatssekretärs sogen immer wieder gierig an der Montecristo, deren Spitze aufglühte und einen angenehmen Geruch in dem Raum verbreitete. Lorenzos tief liegende, immer noch stechende Augen folgten befriedigt der leise knisternden Glut und der bläulich grauen Rauchwolke, die den immer noch gewaltigen Kopf des alten Kardinals mit den immer größer gewordenen, hängenden Ohren, dem vollen grauen Haar und der roten, ausgeprägten Nase mit den kleinen blauen Adern wie eine Wolke umhüllte.

Dabei wäre es der offiziellen Nummer zwei im Vatikan nie in den Sinn gekommen, zu fragen, ob seine erwarteten Besucher Einwände hätten, wenn er während ihres Gesprächs weiterhin so intensiv rauchen würde. Menschen, denen er gestattete, sein Büro zu betreten, hatten stillschweigend seinen Lebensstil zu akzeptieren. Wichtigen Besuchern würde er hin und wieder gestatten, ihre eigenen Zigarren in seinem Zimmer zu rauchen oder, wie heute, ein Glas des langgelagerten Cognacs mit ihm zu genießen.

Es klopfte an die fast raumhohe Flügeltür mit den barocken Wellen in der Wurzelholzmaserung, welche in das angrenzende Sekretariat mit drei Nonnen und dem Zisterzienser Fra Ignatio führte.

„Ja“, knurrte der Kardinal knapp.

Die Tür öffnete sich zaghaft einen Spalt und der Kopf des Sekretärs erschien.

„Die Eminenzen wären dann eingetroffen“.

„Wären oder sind sie?“, bellte der Kardinalstaatssekretär sichtlich genervt. Lorenzo Bianchi war immer wieder erstaunt, wie sehr ihn die Art des Mönchs an ein verschlagenes Donnola, ein Wiesel erinnerte, dessen Unterwürfigkeit ihn manchmal sogar faszinierte, meist jedoch abstieß. Fra Ignatio hatte die Stelle als Sekretär des Kardinals nicht bekommen, weil er ein hohes organisatorisches Geschick in der Führung des Vorzimmers des mächtigen Kurienkardinals besaß. Der Mönch hatte andere Vorzüge.

Ignatio verfügte über ein ausgeprägtes Netzwerk zu allen Vorzimmern und Sekretariaten im Vatikan. Schweizer Garde, Wachdienst, Post, Justiz, die Vorzimmer aller wesentlichen Kardinäle, der päpstlichen Akademie der Wissenschaften und der Leitung der päpstlichen Universitäten – überall saßen Personen, denen Ignatio häppchenweise und gezielt von Kardinal Bianchi genehmigte Informationen zukommen ließ und von denen er umgekehrt wichtige Nachrichten erhielt.

Die letzte Nachricht, die das „Wiesel“ an den Kardinalstaatssekretär weitergetragen hatte, war der Grund für das eilig anberaumte Treffen der Vorstandsmitglieder von „Opus Angelo“. Zwei Kardinalskollegen aus Dublin und Boston, ein Erzbischof aus Lusaka in Sambia und ein Bischof aus Asuncion in Paraguay betraten schweigend den über sechzig Quadratmeter großen Raum, den Bianchi aus ursprünglich zwei Zimmern zusammenlegen ließ.

Mit seiner linken Hand dirigierte der Vorsitzende seine Besucher an den Besprechungstisch, bevor er sich selber schwerfällig aus dem Ledersessel erhob. Eine weitere Geste bedeutete dem Mönch, die schwere Doppeltür von außen zu schließen. Das bei seinem Vorgänger, Kardinal Salazar, noch übliche Küssen des Siegelrings des Vorsitzenden als Zeichen der Demut und des Respektes dem Amt gegenüber hatte Bianchi abgeschafft. Er brauchte keine Demuts- und Treuegesten von Vorstandsmitgliedern, die er im Laufe der Jahre selber ausgesucht und eingesetzt hatte. Obwohl Lorenzo wusste, dass ihm die Anwesenden verpflichtet und treu ergeben waren, wollte er heute einen weitreichenden Beschluss fassen lassen, den der gesamte Vorstand des „Engelswerkes“ mittragen sollte.

Nachdem sich jeder der Besucher von dem Cognac bedient hatte und der Ire und der Südafrikaner sich ebenfalls ihre eigene Zigarre angezündet hatten, eröffnete der Vorsitzende die Sitzung.

„Brüder im Glauben und im Geiste, ich danke für Euer Kommen. Der Anlass für unser kurzfristig anberaumtes Treffen ist sehr ernst und brisant. So ernst, dass unser geistiger Bund, dass nunmehr seit fast hundertfünfzig Jahren bestehende „Opus Angelo“, in seinen Grundfesten erschüttert werden kann. Ja, mehr noch, dass unsere so wichtige Vereinigung Gefahr läuft, erheblich geschwächt zu werden und den über viele Jahre aufgebauten Einfluss in der Heiligen Mutter Kirche zu verlieren.“

Ein Raunen ging durch den Raum. Stirnrunzelnd und fassungslos hatten die vier geladenen Würdenträger die überraschende Information ihres Vorsitzenden aufgenommen. Aber keiner stellte eine Zwischenfrage, jeder wartete gespannt darauf, dass der Kardinalstaatssekretär fortfuhr.

„Ihr alle wisst, dass wir seit fast zwanzig Jahren mit aller gebotenen Kraft, aber auch Vorsicht, die Seligsprechung unseres geliebten und hochverehrten, verstorbenen Vorsitzenden, meines geachteten Vorgängers, Alvaro Kardinal Salazar, betreiben. Ich habe Euch stets über den Fortgang der Entwicklung informiert. Der Heilige Vater war lange Zeit sehr skeptisch, zurückhaltend und schwankte zwischen Ablehnung und Verzögerung. Vor allem, weil er sich immer wieder von seinem Sekretär, Erzbischof Murdinger, beeinflussen lässt. Ich bringe es auf den Punkt. Erzbischof Matthias Murdinger war seit jeher und ist jetzt umso mehr unser Intimfeind. Er verachtet „Opus Angelo“, er lehnt alles, wofür wir stehen, alle Werte, die wir mit Macht verbreiten und verteidigen wollen, rundherum ab. Er ist liberal verfault, dem Zeitgeist verfallen und legt die Bibel nach den aktuellen Bedürfnissen aus. Für uns ist er die Inkarnation des Bösen, welcher Papst Innozenz seit vielen Jahren viel zu nahegekommen ist und den schwachen Papst in eine Richtung lenkt, die unseren Ansichten widerspricht. Wir müssen uns zum Ziel setzen, den Einfluss des Satans auf den Papst ein für allemal zu vernichten. Aber bevor wir den Erzbischof endgültig und radikal entfernen werden, müssen wir uns leider einem drängenderen Problem widmen. Denn trotz aller Widerstände durch den durchtriebenen Sekretär Seiner Heiligkeit konnten wir durchsetzen, dass das vorgeschriebene kirchenrechtliche Verfahren zur Seligsprechung unseres anerkannten, verstorbenen Vorsitzenden vor Jahren nicht nur endlich beginnen durfte, sondern nunmehr auch erfolgreich abgeschlossen ist.“

Lorenzo Kardinal Bianchi hatte sich während seiner Rede zornig und zunehmend erregt erhoben. Seine Zigarre verglühte langsam mit einer aufsteigenden grauen Fahne in dem schweren Aschenbecher aus Carrara Marmor. Das Cognacglas war geleert. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es in dem Arbeitszimmer nach den heftigen Worten des Kardinals geworden.

Im Nachbarraum, dem Sekretariat des Kardinalstaatssekretärs, hatte Fra Ignatio die drei Nonnen aus dem Zimmer geschickt und sein Ohr an sein, leise gestelltes Handy gelegt. Ohne, dass es sein Vorgesetzter jemals mitbekommen würde, hatte der umtriebige Zisterzienser eine winzige Kamera mit einem Stecknadelkopf großen Mikrophon hinter dem Lederrücken eines der obersten Bücher versteckt, welches der alte Kurienkardinal mit Sicherheit niemals wieder in die Hand nehmen würde. Fra Ignatio verstand sein Geschäft. Er sammelte und er handelte mit Informationen. Bereits bei der Einladung an die Vorstandsmitglieder hatte der Mönch geahnt, dass die heutige Sitzung und die Informationen, die er mitbekam, wertvoll und wichtig für ihn sein konnten.

Sein Handy speicherte die Film- und Tonaufnahmen in dem Arbeitszimmer und übertrug die Daten der brisanten Unterredung an einen sicheren Speicher, dessen Standort und Bedienung nur der Sekretär kannte.

Lorenzo Bianchi betupfte sein gerötetes Gesicht mit einem weißen Seidentaschentuch, welches die Insignien des Geheimbundes, ein flammendes Schwert mit sechs Engelflügeln, trug und fuhr fort.

„Wir haben das untadelige Leben von Kardinal Salazar prüfen und durch den Kirchenanwalt bestätigen lassen. Das gesamte irdische Dasein von Alvaro Salazar war geprägt von Glauben, Nächstenliebe, Demut und unbefleckter Hingabe an Gott. Kein noch so dunkler Fleck hat sein Leben besudelt. Bis zu seinem Tod war der Kardinal ein heroisches Vorbild an Tugend für alle Gläubigen“.

Bianchi musste sich jetzt doch wieder setzen und machte erschöpft eine kurze Pause. Sein Stellvertreter, Fitzgerald Kardinal Collins aus Boston, nutzte die Unterbrechung um seinerseits eine Erklärung abzugeben.

„Auch die zweite Voraussetzung für die Seligsprechung konnten wir erfüllen. Unser Bund hat dem Präfekten der Kongregation für die Seligsprechung nicht nur ein, sondern drei Wunder nachgewiesen, welche durch die Anrufungen an Kardinal Salazar und dessen Fürsprache bei Gott bewirkt wurden. Ein fünfunddreißigjähriger Mann aus Umbrien, der Zeit seines Lebens schwere Sprachstörungen hatte und unheilbar stotterte, wurde von seinem Leiden nach intensiven Gebeten zu unserem früheren Vorsitzenden spontan komplett geheilt und spricht seitdem ohne Behinderung“.

Der Rest der Geladenen nickte wissend. Obwohl ihnen die beiden anderen Wunder ebenfalls bekannt waren, fuhr Collins fort.

„Eine Nonne aus Padua wurde nach ihren Anrufungen und Fürbitten an Alvaro Salazar von ihrem jahrelangen, schmerzhaften Rheuma erlöst. Und eine junge Mutter aus Sizilien, die nach einem Unfall unter einer Amnesie litt, wurde ebenfalls durch die Bitten an den verstorbenen Kardinal von ihrem Leiden befreit. Alle drei Krankheiten wurden mit Alvaro Salazars Beistand vor Gott weggebetet. Und diese drei Wunder wurden jeweils von zwei unterschiedlichen Fachärzten medizinisch bestätigt. Es gibt also überhaupt keinen Grund für Papst Innozenz, die Beatifikation zu verzögern oder gar zu verweigern“.

„Zumal die Seligsprechung, die ja auch lediglich die Verehrung des spanischen Kardinals in seiner Ortskirche von Malaga erlaubt, für uns nur der erste Schritt für eine spätere Heiligsprechung sein darf. Unser Ziel muss es weiterhin sein, dass unser früherer Vorsitzender als Heiliger weltweit verehrt wird und dass allen Gläubigen in unserer Kirche bewusst gemacht werden soll, dass Kardinal Salazar seine Vollendung bei Gott erreicht hat“, ereiferte sich der Erzbischof von Lusaka, Desmond Malingo.

„Unser Bund wäre dann mächtiger, als je zuvor. Kein Papst könnte es dann noch wagen, unsere Vereinigung einzuschränken, oder gar zu verbieten. Auch gegen die noch bestehenden Kontrollen von „Opus Angelo“ durch einen päpstlichen Delegaten könnten wir dann verstärkt und sicher auch erfolgreich vorgehen. Ganz abgesehen davon, dass unser Erzfeind Murdinger, der allem Anschein nach von bösen Dämonen besessen ist, empfindlich geschwächt wäre. Sein Einfluss auf den Heiligen Vater würde spürbar geringer werden“, ergänzte Ronaldo Benitez Duarte, der Bischof von Asuncion, aufgebracht.

„Natürlich. Aber um den Sekretär kümmern wir uns im nächsten Schritt. Im Moment hat der Mann wieder starkes Oberwasser erhalten, den Prozess der Seligsprechung zu verzögern oder vielleicht sogar zu verhindern“.

Die vier Gäste schauten ihren Vorsitzenden fragend an.

„Mein Sekretär hat mir letzte Woche die Kopie eines Briefes besorgt, welcher im Sekretariat von Erzbischof Murdinger eingegangen ist. Ich verteile Kopien dieses Pamphletes an Euch“.

Der Kardinalstaatssekretär holte zitternd vor Empörung Fotokopien aus einer Akte und schob die Papiere an die überraschten Besucher. Nachdem jeder der Vorstandsmitglieder den handschriftlichen Brief gelesen hatte, ging ein entsetztes Murmeln durch den Raum.

Im Nachbarzimmer musste Fra Ignatio leicht schmunzeln. Er kannte ja den Inhalt des Briefes, den er von einem seiner Glaubensbrüder im Vorzimmer des Erzbischofs Murdinger unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit erhalten hatte, genau. Auf seinem Server schlummerte ebenfalls eine Kopie dieser Zeitbombe, die im Vatikan eingegangen war.

„Wie Ihr gelesen habt, stellt die Verfasserin dieses Lügengespinstes Behauptungen auf, die das Leben von Alvaro Salazar auf ein unsägliches Maß beflecken. Ja, die ihn außerhalb aller Normen stellen würde, die sich die Heilige Mutter Kirche gesetzt hat. Eine Seligsprechung oder gar eine spätere Heiligsprechung wäre somit völlig ausgeschlossen. All unsere Ziele wären hinfällig, wir würden empfindlich geschwächt und die Existenz von „Opus Angelo“ wäre ernsthaft gefährdet. Noch ist es nur ein Brief, der im Sekretariat Seiner Heiligkeit eingegangen ist, dessen falsche Vorwürfe allerdings logisch begründet werden. Aber der Sekretär des Pontifex wird diesen Behauptungen natürlich nachgehen. Wie ein Jagdhund, der eine Spur aufgenommen hat, wird Murdinger niemals aufgeben, bis er sein Ziel, unsere Vernichtung, mit Hilfe dieser Lügen erreicht hat. Ich gehe daher davon aus, dass der Erzbischof Kontakt zu der Verfasserin aufnehmen und sie schnellstens zu einer Anhörung in den Vatikan einladen wird. Sie wird dann aufgefordert werden, dass in dem Pamphlet erwähnte Tagebuch und den angeblichen Brief, den Salazar geschrieben haben soll, vorzulegen. Sollten Schriftsachverständige und psychologische Gutachter zu dem Ergebnis kommen, die Unterlagen und die Anschuldigungen wären echt, beziehungsweise wahr, hätten wir verloren“.

Der Kardinalstaatssekretär hatte mit seiner linken Hand so heftig auf den massiven Tisch geschlagen, dass die leeren Gläser klirrten.

„Es ist zwingend geboten, dem Satan im Sekretariat unseres Oberhauptes zuvorzukommen. Wir müssen die Frau finden, bevor Murdinger sie erreicht.“

Der Erzbischof von Lusaka war mit vor Wut verzerrtem Gesicht aufgesprungen.

„Und wir müssen die Verfasserin verschwinden lassen, sie für immer zum Schweigen bringen“, stimmte ihm der Bischof aus Asuncion mit rotem Kopf eifrig zu.

„Das Wichtigste ist aber, dass die Unterlagen, das Tagebuch und der vermeintliche Brief, verschwinden. Am besten ganz vernichten, oder in den sicheren Archiven unseres Vorsitzenden für immer ablegen“. Der Kardinal aus Dublin hatte den Vorschlag mit kalter Stimme und nur schwer unterdrückten Emotionen in die Versammlung geworfen.

„Haben wir nicht Kontakte nach Spanien, die das für uns regeln können?“

Fitzgerald Kardinal Collins wusste, dass die Zeit drängte. Er wollte die Vernichtung der Verfasserin und der Schriftstücke über das Netzwerk von „Opus Angelo“ beschleunigen.

„Darüber habe ich mir bereits Gedanken gemacht. Wenn Ihr einverstanden seid, was ich Eurer Reaktion entnehme, beauftrage ich zuverlässige Verbündete, dieses leidige Problem für uns zu lösen“.

Die Geladenen nickten ihrem Vorsitzenden zu. Der erhob sich, ging an seinen Schreibtisch und zog einen Zettel aus seiner Soutane. Der Kardinalstaatssekretär tippte eine lange Nummer in sein Telefon. Nach fünfmaligem Läuten wurde wortlos abgehoben.

4

„Also I glaub‘, es wer’n so ein bis zwei Pfund gewesen sein. Und bei der Gerti auch“.

Kurti hatte es sich auf der Terrasse im Liegestuhl bequem gemacht. Gerti, seine Frau, räkelte sich auf der Liege und hielt sich wie üblich einen silbernen Sonnenreflektor unter ihr Kinn, während neben ihr ein lauer Wind in den Illustrierten raschelte.

Die beiden Wiener waren vor Jahren nach Andalusien ausgewandert und verbrachten das ganze Jahr in ihrem kleinen Haus in der Urbanisation „Cabo de mar“ in La Herradura. Außer den beiden unmittelbaren Nachbarn der deutschen Familie Thaler, den beiden Iren Daniel und Adrian, die ebenfalls ihre nasskalte Heimat dauerhaft gegen den Sonnenschein an der Costa Tropical getauscht hatten, waren die beiden Österreicher in Südspanien die besten Freunde von Klaus und Andrea Thaler, die dreimal im Jahr mit dem Auto von Kassel bis in den Vorort der kleinen Kreisstadt Almuñecar fuhren. Das Ehepaar aus Nordhessen hatte sich zeitgleich mit ihren späteren Freunden ein kleines Ferienhaus an der sonnenverwöhnten Küste unterhalb der Sierra Nevada gekauft. Und gemeinsam hatten sie über viele Jahre sehr viel Ärger mit dem unseriösen Bauträger Colgatex aus Granada ertragen. Die mittlerweile pleite gegangene Firma hatte weder mündliche noch schriftliche Zusagen eingehalten und die Häuser mit großen Mängeln widerrechtlich in dem eigentlich nicht bebauungsfähigen Randbereich eines Naturschutzgebietes am „Cerro Gordo“, dem dicken Felsen, auf der westlichen Seite des kleinen, weißen Ortes La Herradura, zu Deutsch „das Hufeisen“ errichtet. Nach vielen Jahren vergeblichen Kampfes gegen „Windmühlen“ hatten sich die Bewohner der Urbanisation zerknirscht damit abgefunden, dass bei dem Bauträger nichts mehr zu holen war.

Aber zumindest waren die Häuser der Wiener, der Iren und von Klaus und Andrea noch bewohnbar, während einige Häuser im Randbereich der maroden Anlage nur noch Ruinen waren. Andrea und Klaus, die mit Ende vierzig/Anfang fünfzig noch berufstätig waren, genossen mit ihren drei Kindern die wenigen Wochen im Herbst, Winter und im Frühjahr, die sie in ihrem mittlerweile liebevoll gestalteten „Schmuckstück“ verbringen konnten. Und jetzt sollte der Osterurlaub geplant werden. Andrea hatte ihre Wiener Freunde, die regelmäßig nach Thalers Domizil schauten, wie üblich angerufen und nachgefragt, ob alles in Ordnung wäre.

„Also an Occupante habt’s net wieder im Haus“, bestätigte der kugelrunde Österreicher lachend und erinnerte dabei an das Erlebnis vor einigen Jahren, als Andrea und Klaus sich unfreiwillig mit einem marokkanischen Paar auseinandersetzen mussten, die ihr Haus besetzt hatten.

Und dann erzählte Kurti im breitesten Wiener Dialekt von der Seereise, die Gerti und er vor zwei Wochen ab Malaga durch das westliche Mittelmeer gestartet hatten. Beide Wiener hatten ihren sechzigsten Geburtstag auf diese Weise gefeiert, denn sie hatten keine Kinder, und der Rest ihrer verbliebenen, kleinen Familie konnte oder wollte nicht zu ihrem Ehrentag nach La Herradura kommen.

„Du, die MS Aurora is a Wucht. Die Gerti und I hatten eine Balkonkabine vom Feinsten. Zwei Pools auf dem Schiff, wo I meine Kunstsprünge präsentieren konnte. Bis der Bademeister mi gebeten hatte, doch lieber morgens um sieben ins Wasser zu hupfen. Dann hab‘ I halt anderen Sport gemacht, mehr als in mein ganzem Leben“.

Andrea war etwas verwundert, denn der einzige Sport, den der stark übergewichtige Wiener bislang hinbekommen hatte, waren seine Sprünge in den Pool ihrer Urbanisation mit maximaler Wasserverdrängung. Und zusätzlich spielte der Auswanderer seit einem Jahr jede Woche Fußball. Allerdings am Kickerspiel im überladenen Wohnzimmer der beiden Freunde.

„Ja, doch, Andrea. I bin Formel eins gefahren. So wie der Nicki Lauda. Was glaubst, was I Gas geben habe“.

Kurti berichtete stolz, dass der zuständige Stewart in der Sportabteilung der Aurora ihm zuliebe gegen ein saftiges Trinkgeld die innere Seitenverkleidung und das Lenkrad des ausrangierten Formel Eins Boliden ausgebaut hatte, damit sich der ausladende, barocke Körper des früheren Wiener Versicherungsvertreters wie eine Wurst in die Pelle schwitzend in das enge Cockpit des Monopostos zwängen konnte.

„Dann ham’s das Lenkrad wieder eingebaut und I konnt Gas geben. Die Simulation auf den drei Bildschirmen is phantastisch. Die ersten drei Runden hab‘ I zwar gecrasht. Eigentlich hätte I auf einer wirklichen Strecke das Auto fünfmal total zerlegt. Aber dann ging’s immer besser. Von Tag zu Tag purzelten die Sekunden und am Ende des Urlaubs war zwar das Urlaubsgeld alle, aber dafür hab‘ I den Rekord geknackt. Eine Flasche Champus gab’s und an Urkunde, die jetzt gerahmt im Wohnzimmer hängt“.

Andrea interessierten allerdings mehr die Landausflüge, das Spa, der Wellnessbereich und die Restaurants. Kurti konnte und wollte auch nur zum Essen Auskunft geben. Und das war seiner Meinung nach spitze.

„Von morgens um sieben bis nachts um dreiundzwanzig Uhr – überall kannst was zu Dir nehmen. Und Drinks bis zum Abwinken. Wenn I an Boxenstopp hatte, war I entweder im Pool, an der Bar oder in einem der acht Restaurants“.