Haie unter dem Eis - Kira Lunds erste Reportage - H. Dieter Neumann - E-Book
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Haie unter dem Eis - Kira Lunds erste Reportage E-Book

H. Dieter Neumann

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Beschreibung

Klirrend kalt − erster Band der Küstenkrimis mit der jungen TV-Journalistin Kira Lund »Dies war das Land der Stürme, in dem es wenig Liebliches gab. Überall hatte der scharfe Wind seine Spuren hinterlassen, war über die Äcker gefegt, hatte die weiße Pracht bis auf die braune Krume hinunter eingesammelt und an anderen Stellen zu Schneewehen aufgeworfen, die sich wie Dünen bis zu einem Meter hoch auf den Wegen und vor den Knicks türmten.« Eiswinter im deutsch-dänischen Grenzland. Eine Beamtin der Flensburger Stadtverwaltung kehrt vom Tauchgang unter die zugefrorene Ostsee nicht zurück. Erst als Tauwetter einsetzt, wird ihre Leiche auf dem Meeresgrund gefunden. Die forensischen Untersuchungen zeigen, dass die erfahrene Sporttaucherin unter Wasser ermordet wurde. Die junge Reporterin Kira Lund soll über den rätselhaften Fall berichten. Schnell stößt sie dabei auf undurchsichtige Machenschaften rund um einen millionenschweren Immobiliendeal, gerät deshalb plötzlich selbst ins Visier skrupelloser Gegner und wird zum Ziel eines heimtückischen Mordanschlags. »Ein spannender Thriller mit nordischen Flair, der nicht nur den Fall, sondern auch Land und Leute näher bringt.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Christiane Geldmacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Cardaf/Shutterstock; lifeforstock/Freepik

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

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Epilog

Randnotizen

Dank

 

Für meinen Freund Heiner,dem ich die Idee zu diesem Roman verdanke.

Prolog

Plötzlich ist sie allein.

Ruhig bleiben!, mahnt sie sich, schaut in die Richtung zurück, aus der sie gekommen ist, versucht, im trüben Wasser irgendeine Bewegung auszumachen.

Nichts.

Der Tiefenmesser an ihrem Handgelenk zeigt sechs Meter an. Der Meeresgrund muss etwa ebenso viele Meter unter ihr liegen, doch so weit reicht die Sicht nicht.

Nur fahles Dämmerlicht. Streifig dringen die Strahlen der Nachmittagssonne durch das Wasser, schaffen kaum Helligkeit.

Bevor Jesper und sie am Strand ins Wasser gestiegen sind, haben sie abgesprochen, dicht beieinander zu bleiben. Bei diesen Verhältnissen ist es nicht ungefährlich, im Meer zu tauchen. Der heftige Frosteinbruch der letzten Tage hat einen Teil der Flensburger Förde zufrieren lassen.

Sie haben sich vorgenommen, bis an die Kante der Eisdecke zu tauchen und dann gemeinsam einen kurzen Ausflug unter das Eis zu machen – ein besonderes Erlebnis, auf das sie kaum noch zu hoffen gewagt hatten, friert doch das Salzwasser der Ostsee schon seit vielen Jahren nicht mehr zu. Nicht einmal in Küstennähe. Selbst die Förde vor ihrer Haustür bleibt fast immer eisfrei.

Auch dieser Winter im Norden hat sich monatelang nicht von all den vorherigen unterschieden: die Temperaturen viel zu hoch, unablässig aufeinander folgende Tiefdruckfronten, Starkwind und Dauerregen.

Und jetzt, Mitte Februar, ganz plötzlich der Kälteeinbruch. Ein Hochdruckgebiet mit eisigem Kontinentalwind hat das Land zwischen Nord- und Ostseeküste seit Tagen fest im Griff. Nächtliche Temperaturen unter minus zehn Grad haben Teile der Förde in eine stabile Eisfläche verwandelt. Viele Schiffe im Hafen sind eingefroren, Enten und Möwen spazieren auf dem Eis herum, und die Küstenbewohner stehen in Scharen am Kai und betrachten staunend das ungewohnte Bild.

Endlich die Chance für einen Eistauchgang im Meer!

›Dass mir aber keiner allein unter das Eis schwimmt!‹, hat Jan ihnen noch eingeschärft. ›Ihr könnt erst mal ohne Leinenverbindung am Strand ins Wasser einsteigen, müsst aber zusammenbleiben, immer in Sichtweite, bis über euch die Eiskante zu sehen ist. Spätestens dann verbindet ihr euch mit einer Sicherungsleine!‹.

Sie schaut an sich herab. Die Leine hängt in Schlaufen an ihrem Gürtel. Wenn Jesper hier wäre, würde er jetzt das lose Ende übernehmen und mit einem Karabinerhaken an seinem Gürtel einklinken.

Himmel, wo steckt er bloß?

Sie fühlt Beklemmung in sich aufsteigen, schaut hoch. Dort wird es zwar heller, mehr aber kann sie nicht erkennen.

Ob da oben über ihr schon das Eis anfängt?

Unmöglich, es auf diese Entfernung zu sehen. Eigentlich sieht sie gar nichts außer Milliarden winziger Partikel, die im grünlichen Wasser dicht um sie herumschweben.

Überhaupt nicht zu vergleichen mit der kristallenen Klarheit der Bergseen, geht es ihr durch den Kopf.

Jedes Jahr im Winter organisiert ihr Tauchclub eine Kurzreise nach Oberösterreich. Die Alpenseen dort sind ein Mekka für erfahrene Sporttaucher, die den besonderen Kick suchen. Und auch sie hat es sofort gepackt. Schon beim allerersten Mal. Seither freut sie sich jedes Jahr auf das nächste Eistauchen dort. Auf das unvergleichliche Wohlgefühl, im wärmenden Trockenanzug durch die frostige Zauberwelt unter Wasser zu schweben. Auf die bunten Kiesel im Flachwasser, die im Licht der Wintersonne funkeln wie Edelsteine. Auf die vor Kälte starren Fische am Seegrund, die ihre Kiemendeckel wie in Zeitlupe träge aus- und einklappen. Und darauf, um die aus der Tiefe ragenden Felsen herumzuschwimmen, deren glatte Gipfel sogar unter Wasser das Sonnenlicht hellweiß spiegeln, was so aussieht, als wären sie schneebedeckt.

Nichts von solcher Schönheit sieht man hier, aber das hat sie auch nicht erwartet. Dass das Fördewasser nicht klar ist wie das jener Bergseen, wusste sie schließlich. Und doch liebt sie die Ostsee, ihr Heimatrevier. Zwar gibt es hier selbst im Sommer unter Wasser nicht gerade ein Überangebot an Flora und Fauna zu bestaunen, aber dafür liegt das Tauchrevier direkt vor ihrer Haustür.

Verdammt, wo ist Jesper?

Unvermittelt wird ihr kalt, und was eben noch eine vage Beklemmung war, wandelt sich schleichend zu einem viel bedrohlicheren Gefühl: Angst.

Reiß dich zusammen!, ruft sie sich zur Ordnung.

Sie ist schon zig Mal getaucht. Kein Grund, sich in die Hose zu machen, bloß weil der blöde Kerl nicht in der Nähe ist. Dann fällt das Eistauchen eben aus.

Der kriegt was zu hören, wenn wir wieder aus dem Wasser heraus sind!

Noch einmal sucht sie die fahltrübe Welt rundum mit ihren Augen ab. Nichts als Leere.

Wo mag er stecken? Was hat ihn aufgehalten?

Bestimmt sucht er nach ihr und kann sie ebenso wenig sehen wie sie ihn, fällt ihr ein. Sie greift zu der lichtstarken Stablampe, die in ihrem Gürtel steckt, und schaltet sie ein. Ein paar Mal beschreibt sie mit dem Strahl Kreise, um auf sich aufmerksam zu machen.

Doch nichts rührt sich.

Wo immer Jesper auch sein mag – irgendetwas muss passiert sein, sonst wäre er nicht einfach zurückgeblieben.

Ruhig bleiben, keine Panik zulassen! Einfach wieder zurück zum Strand schwimmen. Geradewegs nach Südost.

Überhaupt kein Problem.

Sie hebt den linken Arm, schaut auf den Kompass am Handgelenk. Okay, sie weiß jetzt, wohin sie schwimmen muss.

Alles unter Kontrolle. Kein Grund zur Aufregung. In etwa zehn Minuten wird sie den Sand des Strandes unter den Füßen haben.

Gerade will sie den ersten kräftigen Schlag mit den Schwimmflossen machen, da wird sie plötzlich hart nach hinten gerissen. Sie will den Kopf herumdrehen, doch im selben Moment zerrt ihr jemand mit einem einzigen schmerzhaften Ruck die Taucherbrille vom Kopf.

Sie kneift die Augen zusammen, atmet unwillkürlich durch die Nase ein, schluckt das salzige Wasser, tastet mit den Händen nach der Brille, reißt die Augen wieder auf, sieht nichts, beißt wie verrückt auf das Mundstück ihres Atemschlauchs und …

Warum atmest du nicht einfach weiter, du blöde Kuh?, brüllt eine Stimme in ihr. Scheiß auf die Taucherbrille, der Luftschlauch steckt doch immer noch in deinem Mund!

Tief saugt sie die Luft ein. Sehen kann sie nichts, aber sie spürt es nur zu deutlich: Der Angreifer ist immer noch hinter ihr und zieht sie an ihrer Druckluftflasche rückwärts durchs Wasser.

Wieder dringt Salzwasser in ihre Nase, beißend bis hinauf in die Stirnhöhle. Hektisch rudert sie mit den Händen, will nur noch hoch an die Oberfläche. Aber gegen den kraftvollen Zug von hinten kommt sie nicht an.

Ruhig bleiben, einfach durch den Mund atmen wie immer! Und nachdenken. Was zum Teufel ist hier …

Ihre Lunge zieht sich stechend zusammen. Keine Luft mehr!

Unmöglich! Die Flasche ist noch voll genug für mehr als eine halbe Stunde …

Blanke Panik flammt in ihr hoch, sie saugt mit aller Kraft am Mundstück, doch da kommt nichts mehr.

Das Ventil muss vereist sein, schießt ihr durch den Kopf, und ihre Gedanken beginnen zu rasen, überschlagen sich. Einer davon: Du hast zwei getrennte Atemregler!

Sie müsste nur die Tragegurte lockern, um die Flasche auf dem Rücken ein wenig anheben zu können. So käme sie mit der Hand an das zweite Ventil am oberen Ende und könnte es aufdrehen. Doch sie weiß im selben Moment, dass sie sich etwas vormacht. Sie kann nur noch verzweifelt am Mundstück saugen, aus dem kein Quäntchen Luft mehr kommt. Sie reißt es sich aus dem Mund, zieht jetzt das Meerwasser in ihre Lunge, weiß, dass genau das niemals passieren darf, kann nichts mehr dagegen tun, windet sich mit letzter Kraft, kann dem eisernen Griff nicht entkommen, mit dem sie weiter und weiter nach hinten durch das Wasser gezogen wird.

Dorthin, wo das Eis sein muss, fällt ihr in diesem Augenblick ein.

Jesper, um Gottes willen, wo bist du? Warum hilfst du mir nicht?

Niemals Panik zulassen!

In irrwitzigen Schleifen kreisen diese Worte gellend in ihrem Kopf, bis sie das Bewusstsein verliert.

1

Kira trat aus dem Wald heraus, atmete tief die kalte Winterluft ein und ließ ihre Augen über das ungewohnte Panorama gleiten.

Welch ein Bild! In winterlichem Weiß breitete sich vor ihr das flache Marschland Nordfrieslands aus. Äcker, Wiesen und Feldwege waren über Nacht verschneit – auch die Wallhecken, die man hierzulande Knicks nannte, und die zum Schutz gegen den ständigen Wind dicht mit Büschen und Bäumen bewachsen waren.

Ein bemerkenswertes Ereignis im Grenzland zwischen Deutschland und Dänemark, wo milde Winter die Regel waren. Solch klirrenden Frost wie in den letzten Tagen hatte man im Land zwischen den Meeren nur selten erlebt.

Die Warmfront, die den nächtlichen Schnee gebracht hatte, war inzwischen abgezogen. Kira blickte hoch zu den dickbauchigen grauen Wolken, die jetzt in schneller Folge am blassblauen Himmel aus Westen von der nahen Nordsee heranflogen. Ihre Schatten huschten wie ruhelose Gespenster über das weite weiße Land.

Eine gleichmäßige weiche Decke, kuschelig und anheimelnd, wie man es aus den einschlägigen Winterparadiesen kannte, bildete der Schnee dennoch nirgends.

Natürlich nicht.

Dies war das Land der Stürme, in dem es wenig Liebliches gab. Überall hatte der scharfe Wind seine Spuren hinterlassen, war über die Äcker gefegt, hatte die weiße Pracht bis auf die braune Krume hinunter eingesammelt und an anderen Stellen zu Schneewehen aufgeworfen, die sich wie Dünen bis zu einem Meter hoch auf den Wegen und vor den Knicks türmten.

In einer davon, ein paar Meter entfernt, steckte Ditch, wie Kira erst jetzt bemerkte.

Kein Wunder, denn zu sehen war so gut wie nichts von ihm. Nur seine buschige schwarzbraune Rute wedelte begeistert aus dem weißen Haufen hervor. Offenbar hatte der Hund etwas Spannendes gewittert, das unter dem Schnee verborgen lag. Eine Fuchsspur vielleicht oder den Eingang zu einem Kaninchenbau.

Kira schob den Ärmel der dick gefütterten Winterjacke hoch und sah auf ihre Armbanduhr.

Es wurde Zeit, die morgendliche Runde zu beenden und nach Flensburg ins Studio zu fahren.

»Ditch, hier!«, rief sie, was beim Befehlsempfänger jedoch keinerlei Wirkung zeigte. Nur der letzte Zipfel der Rute war noch zu sehen, so tief hatte sich das große Tier inzwischen in den Schneehaufen hineingearbeitet.

Kira wiederholte das Kommando, diesmal deutlich schärfer. Unwillig schnaufend, schob sich der Hund rückwärts aus der Wehe, schüttelte sein langhaariges Fell aus, was ihn in dichtes Schneegestöber hüllte, und sah Kira vorwurfsvoll an.

»Sorry, aber wir müssen los – arbeiten«, erklärte sie ihm und zeigte in die Richtung, in der das Haus lag. »Lauf schon mal zum Auto!«

Ditch setzte seinen mächtigen Körper sofort in Bewegung und rannte los. Schmunzelnd sah Kira, dass er immer wieder seitwärts in eine Schneewehe sprang, um sie übermütig mit seinem Bärenkopf zu durchpflügen.

Sie folgte dem Hund im Laufschritt, und wenige Minuten später kam am Ende des Feldwegs das Haus in Sicht. Unter dem Carport saß Ditch bereits hinter der Heckklappe des alten Volvo Kombi und blickte Kira erwartungsvoll entgegen, während sie mühsam durch eine Schneewehe stapfte, die sich direkt vor der Auffahrt angesammelt hatte.

Unwillkürlich flogen Kiras Gedanken zu Lukas. Wäre er jetzt hier, hätte er, der notorische Frühaufsteher, die Einfahrt längst geräumt. Doch es würde noch einige Zeit dauern, bis er von seinem dreimonatigen Forschungsauftrag aus der Antarktis zurückkehrte.

Ach, Lukas …

Sie war kein sentimentaler Mensch, aber jetzt, in diesem Augenblick, war ihr auf einmal das Herz schwer. Er war gerade einen Monat fort, aber er fehlte ihr schon seit der ersten Woche.

Nicht nur zum Schneeschippen.

Seit vier Wochen war sie nun allein mit Ditch, während Lukas im meteorologischen Observatorium der Station Neumayer III saß und draußen auf dem Ekström-Schelfeis arbeitete, um klimarelevante Veränderungen im Strahlungshaushalt der Erde zu messen. Das Projekt machte offenbar gute Fortschritte, von denen er ihr immer wieder erzählte. Kira wusste sehr wohl, welche Bedeutung es für neue Erkenntnisse über den Klimawandel hatte, dennoch war ihr klar, dass sie allenfalls oberflächliches Wissen darüber besaß, was genau Lukas da tat. So begeistert er stets von seiner Arbeit berichtete, so klug war er doch, sie nicht mit allzu vielen wissenschaftlichen Details zu überfordern.

Zwar schrieben sie sich oft Nachrichten über WhatsApp – Kira fand es immer noch faszinierend, dass das sogar zwischen der Antarktis und Norddeutschland problemlos funktionierte – und telefonierten fast täglich miteinander, aber das konnte nur wenig daran ändern, dass sie ihn schrecklich vermisste. Seine Nähe, sein Lachen, seine Wärme. Und seine Stärke.

Noch zwei lange Monate, bis er wieder neben ihr liegen würde, sie ihn riechen und in seinen Armen einschlafen könnte.

Unwillig verscheuchte sie den Anflug von Traurigkeit. »Wir werden ordentlich Gas geben müssen, um durch diesen Haufen durchzukommen«, rief sie dem Hund zu und öffnete die Heckklappe. »Ich bin zu faul, mich noch lange mit dem Schneeschieber abzuquälen.«

Ditch gab ein zustimmendes Grunzen von sich, als teilte er Kiras Abneigung gegen die schweißtreibende Schneeschipperei, und sprang ins Auto, dessen Laderaum damit vollständig ausgefüllt war.

»Komme gleich wieder, muss nur rasch noch meine Sachen holen.« Kira schloss die Heckklappe und ging hinüber zum Haus.

Einsam stand es hier mitten in der Marschlandschaft, das ehemalige Bahnwärterhäuschen. Hinten grenzte der Garten an ein klägliches Wäldchen aus niedrigen, im Wind schief gewachsenen Krüppelkiefern, und vorn, nur ein paar Schritte vor der Gartenpforte, führte neben dem Feldweg die Trasse der ehemaligen Eisenbahnverbindung von Flensburg an die Westküste vorbei. Die Strecke war längst stillgelegt, die Schranken von dem bedeutungslos gewordenen Bahnübergang der Nebenstraße nach Niebüll schon vor vielen Jahren abgebaut worden.

Es war ein winziges, spitzgiebliges Backsteinhaus und ziemlich heruntergekommen gewesen, als Kira und Lukas es im letzten Sommer erworben hatten. Der Makler hatte ihnen von einem uralten Mann erzählt, der bis zu seinem Tod darin gewohnt hatte, einem kauzigen Sonderling, der sich als Metallbildhauer betätigt hatte. Beim ersten Besichtigungstermin waren vier kräftige Männer gerade damit beschäftigt gewesen, die seitlich angebaute Werkstatt des Alten leerzuräumen. Diesen Anbau, aber auch die drei Räume im Haus und den gesamten großen Garten, hatte der Künstler mit skurrilen Metallplastiken vollgestopft, allesamt abstrakt. Angeblich war schon seit Jahrzehnten niemand mehr hierhergekommen, der sich für die ebenso wuchtigen wie verrosteten Kunstwerke interessiert hätte.

Eines davon war allerdings übriggeblieben. Jetzt ragte das etwa zwei Meter hohe Fantasiekonstrukt neben dem Gartentor trotzig aus einem Schneehügel heraus. Lukas hatte sich auf der Stelle in die verrückte Plastik verguckt, die allerlei Deutungen zuließ. Kira beispielsweise glaubte, darin ein riesenhaftes Erdmännchen mit Schlapphut zu erkennen, während Lukas überzeugt war, das Rostgebilde stellte zweifellos einen mittelalterlichen Nachtwächter dar.

Kira hatte sich inzwischen an das hässliche Teil gewöhnt, das sie spontan ›der Schrat‹ getauft hatte. Nur Ditch störte sich bis heute daran und warf dem Schrat stets einen misstrauischen Blick zu, wenn er an ihm vorbeilief.

Sie schloss die Tür auf und griff nach der Umhängetasche, die sie bereits an die Garderobe gehängt hatte.

»Wie sehe ich eigentlich aus?«, murmelte sie, zog die Wollmütze vom Kopf und warf einen Blick in den Spiegel. »Hab ich mir doch gedacht«, stöhnte sie leise, hängte die Tasche wieder an den Haken, griff nach der Haarbürste und fuhr sich mit ein paar kräftigen Zügen durch ihr volles kupferfarbenes Haar.

»Besser geht’s nicht.« Sie streckte ihrem Spiegelbild mit den vielen Sommersprossen auf Nase und Wangen – eigentlich müssten die Dinger Ganzjahressprossen heißen, stellte sie wieder einmal fest – die Zunge raus und schloss die Haustür hinter sich zu.

Der Volvo sprang sofort an, was bei dieser Kälte einem Wunder gleichkam, und mit beherztem Schwung gelang es Kira, durch die Schneewehe hindurch auf die schmale Straße zu fahren.

»Siehst du, Ditch«, rief sie über die Schulter, »hat doch prima geklappt!« Im Spiegel sah sie, dass das imposante Fellbündel im Heck sich überhaupt nicht rührte. Stattdessen drang jetzt ein sonores Schnarchen nach vorn.

»Penner«, murmelte Kira und steuerte den Wagen vorsichtig über die Nebenstraßen mit ihren vielen Schneehaufen, bis sie wenig später auf die B 199 nach Flensburg abbog, die bereits geräumt war.

Wie sie natürlich hätte wissen müssen, dauerte die Fahrt heute länger als gewöhnlich. Sie war eine Viertelstunde zu spät dran, als sie auf dem Parkplatz aus dem Wagen stieg und die Heckklappe öffnete.

Man hatte sich beim Sender, dessen nördlichstes Studio an einer der Hauptstraßen der Stadt lag, mittlerweile daran gewöhnt, dass Kira ihren Hund mitbrachte, wenn sie im Haus zu tun hatte. Allzu häufig war das sowieso nicht der Fall, denn der größte Teil ihrer Arbeit als Videojournalistin, kurz VJ, fand draußen im Land statt. Ausgerüstet mit einer kompakten HD-Kamera und einem Dreibein-Stativ machte Kira nichts anderes als gute alte Reporterarbeit, nur eben als Journalistin, Kamerafrau, Beleuchterin und Tontechnikerin in Personalunion.

Wenn sie nach einem Dreh im Studio ihr Material sichtete, schnitt und vertonte, um einen filmischen Beitrag für den Sender daraus zu machen, brachte sie Ditch meistens zu Tim Scholler, der ebenfalls VJ war. In dem Büro im ersten Stock, das sie sich mit Scholli teilte, wie er genannt wurde, hatte der Hund seinen Platz unter dem Fenster. Scholli und Ditch waren dicke Freunde, was wohl auch damit zusammenhing, dass in der Schreibtischschublade des Kollegen stets Leckerlis in großer Menge vorrätig waren.

Ditch stürmte fröhlich auf die Eingangstür des Studiogebäudes zu, und Kira kam nicht zum ersten Mal in den Sinn, wie gut es ihr gefiel, den riesenhaften Bernhardiner-Labrador-Mischling an ihrer Seite zu haben. Das gutmütige Tier war ihr in dieser Zeit des Alleinseins ein treuer Gefährte, wachsam und ziemlich anspruchslos – bis auf seinen fabelhaften Appetit.

Als sie das Büro betraten, telefonierte der Kollege gerade. Ditch lief zu ihm, setzte sich schwanzwedelnd vor den Tisch und starrte gebannt auf die Hundekekse, die Scholli grinsend aus der Lade holte und ihm nacheinander zuwarf. Jeden einzelnen fing er geschickt mit dem Maul auf, kaute ihn genüsslich und trottete schließlich zu seiner Decke unter dem Fenster, wo er sich mit wohligem Grunzen niederließ.

»Du bist spät dran«, sagte Scholli, nachdem er aufgelegt hatte. »Geh bitte gleich mal rüber zum Chef. Der hat irgendwas Dringendes für dich.«

»Dir auch ein fröhliches ›Moin‹, Scholli. So viel Zeit muss sein.« Sie sah Ditch an, rief ihm »Du bleibst!« zu und ging über den Gang zum Büro des Studioleiters.

 

»Unglaublich«, sagte Kira. »Seit wann wird sie vermisst?«

»Seit gestern Nachmittag«, erwiderte Michael de Jong. »Da ist sie nicht von ihrem Tauchgang zurückgekehrt.«

»Wer hat denn bemerkt, dass sie nicht wieder aufgetaucht ist?«

»Ihr Mann, glaube ich. Die beiden sind wohl zusammen getaucht. Er hat dann erst mal mit einem befreundeten Taucher nach seiner Frau gesucht, aber erfolglos. Erst danach ist eine größere Suche nach ihr angelaufen, aber da wurde es schon dunkel. Heute Morgen bei Sonnenaufgang hat man die Suche fortgesetzt. Mit Booten der Berufsfeuerwehr und des THW. Und natürlich mit allen verfügbaren Tauchern. Sogar ein Polizeihubschrauber mit Wärmebildkamera fliegt jetzt da draußen herum. Gefunden hat man aber bisher nichts, soviel ich weiß.« Der Studioleiter legte seine Stirn in Falten. »Bei den Temperaturen besteht sowieso kaum noch Hoffnung, sie lebend zu finden, hat man mich wissen lassen. Es sei denn, sie ist an einer anderen Stelle wieder an Land gegangen, warum auch immer.«

»Dann hätte sie sich ja längst gemeldet«, gab Kira zurück.

»Aber nur, wenn sie nicht verletzt ist und hilflos irgendwo am Strand liegt.«

»Wo genau ist sie getaucht?«

»Auf der Ostseite der Förde, am Strand von Klintwischen, soweit ich weiß.«

Kira sah ihren Chef zweifelnd an. »Wie soll das gehen – ich meine: Kann man jetzt überhaupt tauchen? Ist da draußen inzwischen nicht alles vereist?«

»Keine Ahnung. Was weiß ich schon davon? Vom Tauchen verstehe ich nichts.« De Jong lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Kannst du ja alles herausfinden. Wäre gut, wenn du gleich hinfahren würdest. Bestimmt laufen dort schon massenhaft Kollegen herum. Vor allem unsere Freunde von der Sensationspresse. Für die ist das natürlich ein gefundenes Fressen.« Er reichte Kira einen Zettel. »Da stehen der Name und die Handynummer des Einsatzleiters von der Wasserschutzpolizei drauf, der die Suche koordiniert. Ich brauche für Unser Land am Abend einen Beitrag. Und wir müssen unbedingt schon vorher online etwas über die Sache bringen. Wird höchste Zeit.«

»Okay«, erwiderte Kira und stand auf. »Ach, wer ist die Vermisste eigentlich? Wie heißt sie?«

»Habe ich aufgeschrieben, auf der Rückseite.«

Kira drehte das kleine Blatt um und sank wie vom Blitz getroffen auf den Stuhl zurück. »Das kann doch nicht wahr sein!«, rief sie fassungslos aus. »Bist du dir völlig sicher mit dem Namen?«

»Wieso? Warum fragst du?«

»Da … da steht … das kann doch nicht … Du hast da ›Carola Hansen‹ geschrieben«, stammelte Kira.

»Genau.« De Jong sah seine Reporterin verblüfft an. »Was hast du? Sagt dir der Name etwas?«

Kira starrte auf das Papier, das sie auf einmal zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, als wäre es mit einer giftigen Substanz getränkt. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, hob langsam ihren Blick und schaute in den Raum, ohne etwas wahrzunehmen.

Ihre Stimme klang dumpf, als sie sagte: »Carola Hansen ist meine beste Freundin. Und begeisterte Sporttaucherin.«

2

Das beängstigende Knacken des Küchenfensters, das unaufhörliche Prasseln des Regens an die Scheibe, der Sturm, der wie eine Furie um das Haus fährt, überlaut heulend bis hinauf in ihre Wohnung im vierten Stock. Und plötzlich kein Licht mehr. Stromausfall.

Januar 2015. Das Orkantief Elon hat Flensburg in seiner Gewalt.

Erst vor Kurzem ist Kira hier eingezogen, hat die Stelle als Reporterin beim Sender angetreten. In der Altbauwohnung unter dem Dach des hübsch restaurierten Hauses am Hafendamm stehen überall noch Kartons herum, warten darauf, endlich ausgepackt zu werden.

Jetzt bräuchte man Kerzen. Und Streichhölzer. So was hat man doch immer in der Schublade. In jedem Haushalt.

Sie nicht. Die Rolle der vorbildlichen Hausfrau hat sie bisher erfolgreich umschifft. Aber – ha! – sie hat ja eine Taschenlampe!

Bloß liegt die leider unten im Auto. Im Handschuhfach. Sie tritt ans Fenster, starrt durch die Regenflut hinunter auf den Parkstreifen. Totale Finsternis. Nichts zu erkennen. Die ganze Stadt dunkel, nirgendwo ein Licht. Auch die mächtigen bunkerähnlichen Gebäude der Stadtwerke auf der anderen Seite der Förde, sonst nachts immer in grünliches Scheinwerferlicht getaucht, sind im schwarzen Nichts verschwunden.

Es gibt keinen Fahrstuhl in diesem alten Haus. Sie wird sich wahrscheinlich die Knochen brechen, wenn sie jetzt im Dunkeln die Treppe hinuntersteigt. Aber …

Das Handy! Das Ding hat doch eine eingebaute Lampe!

Sie tastet sich durch den Flur ins Wohnzimmer, prallt mit ihrem kleinen Zeh an den Sockel des Bücherregals, stößt einen Fluch aus – verdammt, warum laufe ich auch immer in Socken herum? – und arbeitet sich langsam humpelnd bis zum Couchtisch vor.

Der stechende Schmerz im Fuß treibt ihr Tränen in die Augen.

Irgendwo auf dem Tisch muss das Smartphone liegen. Sie braucht es bloß noch zu finden.

Da leuchtet plötzlich – ein Wunder! – das Display auf, schafft einen farbigen Lichtbogen über dem Glastisch, und ein Lied erklingt. »Always Look On The Bright Side Of Life …« – kannst du dir nicht ausdenken, so was – und übertönt sogar das Wüten des Orkans vor der Balkontür.

Kira, glühender Monty-Python-Fan, muss grinsen. Life of Brian findet sie schon deshalb unwiderstehlich, weil ihr Vater es von ganzem Herzen verabscheut. Aber was auf dieser Welt verabscheut Preben Lund, bis zu seinem Unfall Pastor der dänischen Kirchengemeinde in Husum an der Nordsee, eigentlich nicht?

Sie seufzt und wirft einen Blick auf das Display des Handys. ›Carola Hansen‹ steht da. Carola, die als leitende Kommunalbeamtin im Flensburger Rathaus arbeitet, wohnt mit ihrem Mann im Erdgeschoss. Erst kürzlich haben Kira und sie die Telefonnummern ausgetauscht. ›Falls mal was sein sollte‹, hat die Nachbarin gesagt.

»Hallo Kira, ich bin’s, Carola. Wollte nur wissen: Kommst du zurecht da oben? Hast du Kerzen?«

»Nee, habe ich nicht. Aber das kann ja nicht so lange dauern mit dem Stromausfall, oder?«

»Da bin ich mir nicht sicher. Wenn der Orkan so weiterwütet, kann es noch ungemütlich werden. Über kurz oder lang wird’s nämlich saukalt in den Wohnungen. Wenn kein Strom da ist, fällt auch die Zentralheizung aus. Das kennen wir. Wir haben hier unten allerdings einen Kaminofen, der bollert schon ordentlich. Was meinst du, willst du nicht zu uns runterkommen? Hier können wir im Warmen darauf warten, dass der Strom wiederkommt.«

 

Kira hatte rasch noch eine Flasche Rotwein aus dem Regal in der Küche geholt und war dann mit dem Smartphone als Scheinwerfer in der Hand durch das stockdunkle Treppenhaus hinuntergestiegen zu den Hansens. Jesper, Carolas Mann, hatte schon in der geöffneten Wohnungstür gestanden und sie begrüßt. Und Carola, ein paar Jahre älter als Kira, war wie selbstverständlich auf sie zugegangen, hatte den Arm um sie gelegt und gesagt: »Wäre ja noch schöner, dass du da oben einsam ohne Licht in der Kälte sitzt. Komm, es gibt superleckere Ravioli aus der Dose. Hat Jesper auf dem Camping-Gaskocher warm gemacht.«

Der Anfang.

Fünf Jahre war das jetzt her. Erst. Und doch schien es Kira, als hätte sie Carola schon ihr Leben lang gekannt. Eine bessere Freundin hätte sie sich nicht wünschen können.

Und nun?

Carola, um Himmels willen, was ist dir zugestoßen?

Lass das alles einen riesigen Irrtum sein, schrie es unablässig in Kiras Kopf, während sie sich die Tränen aus den Augen wischte und mit der anderen Hand den Wagen über die schmale Straße lenkte, die kurz vor der Stadtgrenze in Windungen zwischen den in den Hang gebauten Häusern zum Strand von Klintwischen hinab führte.

Was für ein elender Straßenzustand! Die Asphaltdecke hätte längst erneuert werden müssen. Obwohl sie kaum schneller als Schrittgeschwindigkeit fuhr, wankte und ächzte der betagte Volvo gefährlich, als seine Räder immer wieder durch die tiefen Schlaglöcher rumpelten. Ditch hatte sich im Heck aufgesetzt, und Kira sah im Rückspiegel seinen missbilligenden Blick, während er versuchte, mit seinem Körper das wilde Geschaukel auszugleichen.

Für die großartige Aussicht, die sich von hier oben bot, hatte sie kein Auge. Nur nebenbei nahm sie das dunkelblaue Wasser der Förde wahr, auf dem verschneite Eisflächen schwammen, als wären über Nacht Inseln entstanden. Blendend weiß funkelten sie im Licht der Morgensonne, und die kalte Luft holte die dänische Küste gegenüber in allen Details ganz nah heran, obwohl sie fast zwei Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Wassers lag.

Kira erkannte mehrere Schlauchboote, die auf dem freien Wasser zwischen den Eisschollen hin- und herfuhren. Am Strand kamen jetzt auch Polizeiwagen und andere Einsatzfahrzeuge in Sicht, die roten der Feuerwehr und die blauen des Technischen Hilfswerks. Sie standen am Rande des seit der Kaiserzeit früher militärisch genutzten Teils von Klintwischen. Im sogenannten Dritten Reich hatte es hier dann einen Seefliegerhorst und eine Erprobungsstelle für Waffen und Kampfmittel der Wehrmacht gegeben.

Nach dem Krieg war die Stadt Flensburg Eigentümer der Liegenschaft geworden. Die noch vorhandene alte Flugplatzhalle war seit längerer Zeit an einen Segelmacher vermietet, und in den dürftig renovierten Baracken auf dem weitläufigen Gelände – wegen seiner traumhaften Lage direkt am Ufer der Förde ein wahres Sahnestück – residierten ein Tauchermuseum, eine Firma für Softwareentwicklung, eine Tauchschule und ein paar kleinere Nutzer, die sich häufig die Klinke in die Hand gaben. Wie man hörte, rebellierten die Mieter unter der Führung des Softwareentwicklers gerade gegen den Plan der Stadt, das gesamte Gelände nach all den Jahren nun doch endlich zu verkaufen. Über den oder die Kaufinteressenten war nichts Genaueres bekannt, aber allein das Vorhaben schlug in der Flensburger Ratsversammlung hohe Wellen.

Kaum war Kira am Strand angekommen und hatte den Wagen vor einem rot-weißen Flatterband ausrollen lassen, wurde es plötzlich laut. Mit dem typischen Rotorflappen und heulendender Turbine schwebte über der Förde ein Polizei-Helikopter heran und wirbelte den Schnee zu weißen Wolken auf, als er etwa hundert Meter entfernt auf einer Wiese zur Landung ansetzte.

Plötzlich war Kira nur noch die professionelle Reporterin, die sofort handelte, wenn sich die Gelegenheit für eine spektakuläre Aufnahme ergab. Reflexhaft sprang sie aus dem Wagen und filmte die Szene mit ihrem Smartphone. Diesen Take würde sie später in ihren Beitrag hineinschneiden.

Die weißen Schwaden legten sich, der Lärm erstarb. Nachdem sie die Aufnahme beendet hatte, schaute sie auf das Display des Geräts, um zu sehen, ob Jesper Hansen zurückgerufen hatte. Als sie vorhin losgefahren war, hatte sie versucht, ihn zu erreichen, konnte jedoch nur eine Rückrufbitte auf seiner Mailbox hinterlassen. Nun versuchte sie es erneut, und wieder meldete sich Carolas Mann nicht.

Wo mochte er sein? Sie war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass er hier am Strand bei den Suchmannschaften war. Sie ging um das Auto herum, ließ Ditch hinten herausspringen und leinte ihn an. Dann nahm sie den Camcorder aus dem Wagen und hängte ihre Tasche über die Schulter.

»Fuß!«, befahl sie, und Ditch nahm folgsam seinen Platz an ihrer linken Seite ein. Gemeinsam gingen sie hinunter zum Strand zu einer Gruppe Leute. Einige davon waren Kira bekannt. Die Oberbürgermeisterin hatte sie schon mehrmals interviewt, und auch mit dem Chef der Polizeidirektion Flensburg war sie bei ihrer Arbeit schon ein- oder zweimal zusammengetroffen. Neben diesen beiden standen ein Mann in Feuerwehruniform und einer von der Wasserschutzpolizei, allesamt umringt von Presseleuten, die fortwährend lautstark Fragen stellten – allen voran der impertinente Lutz Schlager, der für den Privatsender LiveSat aus der Region berichtete. Sein Markenzeichen: Je schriller, desto besser. Außer ihm, den Kira insgeheim ›Schmierlappen‹ getauft hatte, waren noch fünf oder sechs weitere Kollegen vor Ort, darunter ein Stadtreporter des Flensburger Tageblatts und ein Journalist von Der Nordschleswiger, der deutschsprachigen Tageszeitung in Dänemark. Kira entdeckte auch Gyde Stenberg, eine gute Bekannte. Sie war Redakteurin von Flensborg Avis, der Zeitung der dänischen Minderheit in Flensburg.

Ein paar Meter vor den Leuten legte Kira den Hund ab, ging zu Gyde und tippte ihr auf die Schulter.

Die Kollegin fuhr herum. »Moin, Kira, da bist du ja! Hab mich gewundert, dass ich dich nirgends entdecken konnte.«

»Wie lange bist du denn schon hier?«

»Eine Stunde ungefähr. Hast aber nichts verpasst. Außer kalten Füßen kriegst du hier nichts. Schon gar keine Informationen.«

»Sagen die bloß nichts oder wissen sie nichts?«

»Der Einsatzleiter«, Gyde deutete auf einen der Uniformierten, »hat gerade erklärt, dass es von der Vermissten immer noch keine Spur gebe. Sie wollen noch ein paar Stunden weitersuchen, haben aber keine Hoffnung mehr, sie lebend zu finden. Wenn überhaupt.«

Kira schluckte, biss sich auf die Unterlippe, bis es wehtat, und schaute hinaus auf die Wasserfläche der Förde. »Ach, verdammt«, murmelte sie leise. »Verdammt, verdammt …« Mit aller Macht kämpfte sie gegen die Tränen an, die ihr in die Augen steigen wollten.

Gyde trat dicht an sie heran und fragte: »Warum bist du denn so …« Sie unterbrach sich und schlug die Hand vor den Mund. »Sag bloß, du kanntest die Frau?«

»Kanntest?«, erwiderte Kira trotzig. »Wieso kanntest? Ich kenne Carola. Und noch steht ja nicht fest …« Sie brach ab und grub in ihrer Tasche nach einem Tuch. Die Tränen waren nicht aufzuhalten.

»Mein Gott, das ist ja …«, sagte Gyde und legte Kira vorsichtig die Hand auf den Arm. »Kann ich was für dich tun?«

Kira schüttelte bloß mit dem Kopf. »Weißt du, ob Jesper Hansen … äh, also der Ehemann, der …« Sie kam nicht weiter, wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen und starrte ihre Kollegin aus trüben Augen an.

»Es scheint festzustehen, dass die beiden gemeinsam getaucht sind«, erklärte Gyde leise. »Der Mann ist jetzt bei der Kripo, soweit ich weiß, und wird befragt. Um vierzehn Uhr gibt es eine Pressekonferenz in der Polizeidirektion. Das heißt, dass wir genauso gut hier wegfahren können, bevor wir uns in dieser Kälte den Tod holen.«

Kira nickte abwesend. »Ich mache noch ein paar Aufnahmen von … von all dem hier.« Sie deutete über den Strand, die Fahrzeuge und den Hubschrauber hinaus zu den Booten auf dem Wasser. »Und dann versuche ich, ein kurzes Statement von den Offiziellen zu kriegen, am besten vom Einsatzleiter.«

»Der wird dir auch nur sagen, dass es Näheres erst auf der PK zu hören gibt.«

»Mag sein, aber wir wollen das so schnell wie möglich als Breaking News online stellen. Die PK kann ich später in meinem Abendbeitrag im Fernsehen bringen. Wir treffen uns dann in der Polizeidirektion, okay?« Kira hob die Hand und wollte gerade an den Mann in der Uniform der Wasserschutzpolizei herantreten, als aus ihrer Umhängetasche lautstark die Anrufmelodie ihres Smartphones heraustönte.

»An guten Tagen …«, sang Johannes Oerding.

Sie hatte das Lied erst vor ein paar Tagen aufgespielt. Zu keiner Gelegenheit hätte es deplatzierter klingen können als hier und jetzt. Das empfanden offenbar auch die Umstehenden so, zumindest ließen ihre verstörten Blicke darauf schließen. Nur der Schmierlappen vom Privatfernsehen grinste Kira frech an.

Unwirsch riss sie das Gerät aus der Tasche und schaute auf das Display.

›Jesper‹ stand da.

3

Kira fand einen Parkplatz am Omnibusbahnhof, ließ Ditch im Auto und ging hinüber zu dem imposanten weißen Gründerzeitbau, in dem die Polizeidirektion Flensburg untergebracht war.

Jesper hatte verzweifelt geklungen. »Seit drei Stunden hänge ich hier schon rum! Ich will mich endlich an der Suche beteiligen, aber man scheint mich zu verdächtigen.«

»Wieso, ich meine, was …?«

»Ich habe keine Ahnung, worauf das hier hinausläuft, aber ich spüre, dass die Polizei meinen Aussagen misstraut.«

»Was ist denn eigentlich passiert?«

»Ich habe sie unter Wasser aus den Augen verloren, Kira!« Ein Schrei, verzweifelt. »Dann bin ich da unten herumgeschwommen, bis meine Luft fast zu Ende war, aber ich konnte sie nicht mehr finden!«

»Du lieber Himmel, Jesper …«

»Hab das den Leuten von der Polizei schon x-mal erzählt. Sie scheinen mir aber nicht zu glauben.«

»Was genau glauben sie dir nicht?«

»Kann ich nicht sagen. Nur so ein Gefühl. Mir scheint, sie meinen, ich hätte etwas mit Carolas Verschwinden zu tun. Gleich wollen sie noch mal mit mir reden. So lange soll ich hierbleiben.«

»Das ist ja …«

»Unfassbar, das alles«, fiel ihr Jesper erregt ins Wort. »Hast du vielleicht etwas Neues in Erfahrung gebracht? Du bist ja unten am Strand, wenn ich dich richtig verstanden habe.«

»Sie suchen noch nach Carola, mit mehreren Booten, mit einer Menge Tauchern und sogar mit einem Helikopter. Aber bisher gibt es wohl keine Spur von ihr.«

»Mein Gott, ich werde verrückt, wenn ich hier herumsitzen muss, statt mitzuhelfen, sie zu finden!«

Da hatte Kira spontan entschieden, sich sofort auf den Weg zu machen. »Ich will sowieso nachher bei der Pressekonferenz dabei sein«, hatte sie gesagt, »also kann ich auch jetzt gleich zur Polizeidirektion fahren. Mal sehen, ob sie mich mit dir sprechen lassen. Du bist doch nicht etwa verhaftet worden, oder?«

»Natürlich nicht, nein! Das fehlte ja noch! Warum denn auch?«

»Mit welchem Grund hält dich die Polizei denn dann dort fest?«

»Na ja«, Jesper Hansens Stimme bekam plötzlich einen verzagten Ton, »angeblich dauert es noch, bis sie irgendetwas abgeklärt haben.«

»Was soll das heißen?«

»Man hat mich als Zeuge vernommen. Jedenfalls haben sie das am Anfang behauptet, aber inzwischen …« Er schluckte. »Und nun überprüfen sie wohl das, was ich gesagt habe. Zieht sich aber, das Ganze. Ich sage dir: Lange warte ich nicht mehr, dann geh ich hier raus – egal, ob der Polizei das passt oder nicht.«

»Wer sollte dich auch daran hindern? Aber hör mal: Mach lieber erst mal keinen Stress«, beschwichtigte Kira ihn. »Ich komme sofort in die Polizeidirektion.«

»Das wäre gut. Ich … ich dreh sonst durch und …« Die Stimme brach. Jesper schien dabei zu sein, die Fassung zu verlieren.

»Ich werde versuchen, jemanden zu finden, der mir sagen kann, warum sie dieses Theater mit dir veranstalten.«

Gedankenvoll stieg sie jetzt die Stufen hoch, trat an den Schalter in der Eingangshalle und zeigte ihren Presseausweis vor.

Der uniformierte Beamte warf einen Blick darauf und fragte: »Presse? Wohin möchten Sie denn? Geht es um die vermisste Taucherin? Wenn Sie wegen der PK kommen – die ist erst um zwei.«

»Weiß ich, danke. Ich möchte aber vorher noch mit Jesper Hansen sprechen, dem Ehemann der Vermissten. Er hält sich irgendwo hier im Hause auf.«

Der Beamte legte seine Stirn in Falten. »Was wollen Sie von dem?«

»Mit ihm sprechen will ich«, erwiderte Kira forsch, zwang sich aber zur Geduld. »Die Vermisste ist meine Freundin«, ergänzte sie in freundlichem Ton. »Ihr Mann hat mich gerade angerufen, und ich will sehen, ob ich ihm helfen kann.«

»Ihm helfen?«, hakte der Uniformierte nach, und wieder erschienen tiefe Falten auf seiner hohen Stirn. »Was für eine Hilfe braucht er?«

Kira beherrschte sich nur noch mühsam. »Nun, er macht sich Sorgen, weil er sich nicht an der Suche nach seiner Frau beteiligen kann. Stattdessen sitzt er seit Stunden bei der Polizei.«

»Aha«, sagte der Beamte und sah Kira erwartungsvoll an. Anscheinend erhoffte er sich weitere Ausführungen von ihr.

»Können Sie bitte feststellen, wo sich Jesper Hansen aufhält?«, fragte Kira und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.

»Hm«, kam es durch die Schlitze in der Glasscheibe. Der Polizist nahm den Telefonhörer hoch und drehte sich auf seinem Sessel zur Seite. Was er sprach, war nicht zu verstehen, aber nach kurzer Zeit legte er den Hörer auf, drehte Kira wieder sein Gesicht zu und sagte: »Hauptkommissarin Christ kommt gleich herunter und spricht mit Ihnen. Bitte warten Sie einen Augenblick. Am besten, Sie setzen sich da drüben hin.« Er wies auf eine Bank an der Wand neben dem Treppenaufgang.

»Danke.« Kira drehte sich um, ging zu dem langen hölzernen Sitzmöbel hinüber und nahm Platz.

Während sie sich das Telefonat mit Jesper noch einmal ins Gedächtnis rief, ließ sie ihren Blick durch die große Eingangshalle schweifen und ihr fiel plötzlich ein, dass sie schon in der Schule einiges über die wechselvolle Geschichte dieses Hauses gehört hatte. Es war, soweit sie sich erinnern konnte, ausgangs des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden und zunächst als Hotel Flensburger Hof die erste Adresse der Gastronomie in der der Stadt gewesen.

Kira war Angehörige der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, und auf ihrer dänischen Schule war natürlich das Thema der Volksabstimmungen von 1920 im damaligen Landesteil Schleswig eingehend behandelt worden. Daher wusste sie auch, dass dieses Gebäude mit der Adresse Norderhofenden 1 damals der Sitz der Internationalen Kommission zur Überwachung der Grenzlandbestimmungen gewesen war.

Einige Jahre später schon wurde es allerdings zum Schauplatz des Grauens, nachdem die Nazis es zum Polizeipräsidium und zur Gestapo-Zentrale umfunktioniert hatten. Hier hatte der Mörder Hinrich Möller, gelernter Kaufmannsgehilfe und frühes SS-Mitglied, als Polizeidirektor von Himmlers Gnaden geherrscht und die Judenverfolgung im Norden organisiert. In der Pogromnacht am 9. November 1938 hatte Möller das Überfallkommando persönlich angeführt, das das Anwesen der teilweise jüdischen Flensburger Familie Wolff – Angehörige der dänischen Minderheit – verwüstet und die Bewohner brutal misshandelt und verschleppt hatte.

In den letzten Kriegstagen hatten sich viele flüchtige NS-Verbrecher an diesem Ort versammelt, einem der Ausgangspunkte der sogenannten Rattenlinie Nord. Die schlimmsten Massenmörder hatten sich hier ein Stelldichein gegeben, darunter der ›Reichsführer‹ Heinrich Himmler, SS-Gruppenführer Walter Schellenberg und auch Rudolf Höß, der Kommandant des KZ Auschwitz.

Nach der bedingungslosen Kapitulation schließlich hatte das Haus internationale Aufmerksamkeit erhalten, als in seinem Hinterhof die berühmten Pressefotos von Karl Dönitz, Alfred Jodl und Albert Speer gemacht wurden, die um die ganze Welt gegangen waren. Heute erinnerte im sogenannten Dönitzhof nur noch eine kleine Gedenktafel an dieses historische Ereignis.

»Sind Sie Frau Lund?«

Die Stimme verscheuchte die beklemmenden Bilder, die Kira im Kopf hatte. Sie blickte hoch und sah eine groß gewachsene, schlanke Frau Mitte dreißig mit einer wilden, auffallend weißblonden Haarmähne die Treppe herunterkommen. Sofort fiel Kira auf, dass die Kriminalbeamtin offenbar die gleiche lockere Vorstellung von Berufskleidung hatte wie sie selbst. Zu einem dunkelroten Hoodie trug sie eine Stonewashed-Jeans und ihre Füße steckten in hohen Wintersneakers von deutlich überdurchschnittlicher Schuhgröße.

Die Polizistin reichte Kira eine Visitenkarte, stellte sich als Hauptkommissarin Christ vor und fragte: »Aus welchem Grund wollen Sie mit Jesper Hansen sprechen?«

Am liebsten hätte Kira mit ›Aus welchem Grund halten Sie ihn hier fest?‹ gekontert, verkniff sich das aber gerade noch rechtzeitig. Es wäre schlicht dämlich gewesen, jetzt auf Konfrontationskurs zu gehen. Stattdessen sah sie lächelnd zu der Polizistin hoch, die sie um Haupteslänge überragte, und sagte in sachlichem Ton: »Ich bin mit Carola Hansen befreundet. Daher kenne ich natürlich auch ihren Mann. Er hat mich vorhin angerufen, weil er nicht verstehen kann, wieso Sie ihn daran hindern, sich an der Suche nach seiner Frau zu beteiligen.«

»So, hat er das gesagt?« Die Kriminalbeamtin legte ihre Stirn in Falten. »Es geht aber nicht darum, ihn an etwas zu hindern, sondern wir wollen seine Rolle beim Verschwinden seiner Ehefrau aufklären.«

»Seine Rolle? Welche Rolle soll er dabei gespielt haben?«

»Das genau wollen wir herausfinden.«

»Aber …« Verwirrt warf Kira einen Blick auf die Visitenkarte, und ein kalter Schauer überlief sie plötzlich. Helene Christ stand da, darunter Kriminalhauptkommissarin, und …

»Was bedeutet das?«, stieß sie überrascht aus. »Da steht Mordkommission!« Sie schluckte trocken. »Carola ist noch nicht einmal gefunden worden, und schon tritt die Mordkommission auf den Plan und beschuldigt ihren Ehemann …«

»Stopp!«, kam es scharf von der Beamtin und sie hob die Hand, um Kiras Redefluss zu unterbrechen. »Wir tun nichts dergleichen! Noch wissen wir nicht, was mit Frau Hansen geschehen ist. Wir alle hoffen, dass sie wohlbehalten wieder auftaucht, obwohl …« Ein fast unmerkliches Schulterzucken, dann: »Jedenfalls ist Herr Hansen nicht als Beschuldigter hier, sondern als Zeuge. Schließlich haben die beiden den Tauchgang gemeinsam unternommen, von dem die Frau nicht mehr zurückgekehrt ist. Wir wollen von ihm erfahren, was da unter Wasser geschehen ist.«

Kira nickte. »Sie haben natürlich recht, entschuldigen Sie meine … ach, verdammt, das Ganze geht mir gehörig unter die Haut. Ich kenne die beiden seit fünf Jahren, wir sind lange Nachbarn im selben Haus gewesen und …« Sie blickte die Kriminalbeamtin an. »Glauben Sie mir, es ist ganz ausgeschlossen, dass Jesper etwas mit Carolas Verschwinden zu tun hat.«

»Das habe ich auch nicht behauptet, Frau Lund«, erwiderte die Hauptkommissarin und musterte Kira freundlich. »Sagen Sie, in welcher Eigenschaft sind Sie eigentlich hier? Als Freundin der Vermissten oder als Reporterin?«

Kira war überrascht. »Woher …?«

»Ich habe ein paarmal Berichte und Reportagen von Ihnen im lokalen Sender gesehen. Haben mir übrigens meistens gut gefallen.«

»Das freut mich«, sagte Kira. »Um ehrlich zu sein: Ich bin sowohl hier, weil Jesper mich angerufen hat, als auch als Journalistin. Um vierzehn Uhr findet hier im Hause eine Pressekonferenz statt, wie ich erfahren habe.«

»Stimmt. Aber wissen Sie was: Gehen wir doch hoch in mein Büro, da redet es sich besser«, schlug die Kriminalbeamtin vor und machte eine Geste zur Treppe. »Ich kann mir durchaus vorstellen, welche Sorgen Sie sich um Ihre Freundin machen.«

»Danke«, sagte Kira und folgte der Frau die breiten Stufen hinauf. »Was meinen Sie, wie lange wird Jesper wohl noch hierbleiben müssen? Ich glaube, er dreht durch, wenn er sich nicht an der Suche nach Carola beteiligen kann.«

»Das verstehe ich durchaus«, erwiderte Hauptkommissarin Christ ohne hörbare Gemütsbewegung. »Herrn Hansens Vernehmung als Zeuge wurde von der Staatsanwaltschaft angeordnet, aber wir sind damit nun so gut wie fertig, sonst hätte ich auch nicht selbst nach unten kommen können, um Sie abzuholen. Meine Kollegen klären gerade noch ein paar Details ab, die er erwähnt hat. Sehr viel weiter werden wir aber im Augenblick nicht kommen, was den Ablauf der Ereignisse angeht. Dafür brauchen wir noch mehr Ermittlungserkenntnisse.«

Kira zuckte zusammen. »Ich weiß nicht recht, was Sie damit sagen wollen.«

»Dass dies wahrscheinlich nicht die letzte Vernehmung des Herrn Hansen gewesen sein wird. Und dass ich nicht weiß, ob er zu den nächsten ebenfalls noch als Zeuge vorgeladen werden wird, um das ganz deutlich zu sagen. Wir sind da nämlich auf einige …« Die Kriminalbeamtin räusperte sich kurz. »Nun, nennen wir es Ungereimtheiten gestoßen, die er leider bisher nicht erklären konnte.«

»Wie darf ich das verstehen?«

Helene Christ blieb auf dem Treppenabsatz stehen und sah Kira ins Gesicht. »Ich glaube, Sie verstehen das sehr gut! Er ist zusammen mit ihr getaucht und ohne sie wieder an Land gekommen. Finden Sie nicht, dass sich da einige brisante Fragen auftun?«

»Doch, natürlich«, räumte Kira rasch ein. »Und er gibt keine schlüssigen Antworten, richtig?«

»Richtig. Unter uns – für Sie als Freundin der Vermissten und vertraulich: Er verschweigt uns irgendetwas, da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Was meinen Sie damit?«

»Darauf kann ich nicht näher eingehen, sorry. Und falls ich auch nur eine vage Anspielung auf das, was ich Ihnen gerade anvertraut habe, in der Presse finde …« Der Satz blieb unvollendet.

»Schon klar, machen Sie sich darüber keine Sorgen. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Wann kann ich mit ihm reden?«

»Ein privates Gespräch unter vier Augen ist leider nicht möglich, bevor wir fertig sind«, erwiderte die Beamtin. »So etwas sieht die Strafprozessordnung während einer laufenden Zeugenvernehmung nicht vor. Herr Hansen hat natürlich das Recht, einen Zeugenbeistand hinzuzuziehen …«

»Sie meinen einen Anwalt?«

»Genau, aber darauf hat er verzichtet. Was ich übrigens für falsch halte.« Die Kommissarin ging ein paar Schritte über den Flur und öffnete eine Tür. »Hier ist mein Büro. Am besten, Sie trinken erst mal einen Kaffee. Ich gehe kurz noch einmal in den Vernehmungsraum und bringe Herrn Hansen anschließend her. Kann nicht mehr lange dauern. Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«

»Mit Milch bitte.« Kira nahm an einem Besprechungstisch Platz, der unter dem Fenster stand. Sie blickte auf die große digitale Zeitanzeige auf der Uhr an der Wand.

Ende der Leseprobe