Hainberg - Dominik Kimyon - E-Book

Hainberg E-Book

Dominik Kimyon

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Unweit des Göttinger Hainbergs wird der Kunstwissenschaftler Marcel Hofmeister tot aufgefunden. Als bekannt wird, dass der Doktorand unter Plagiatsverdacht stand, gerät seine Doktormutter und Geliebte Arlene unter Mordverdacht. Auch der Immobilienhai Gartner war nicht gut auf den Toten zu sprechen, denn dieser verhinderte sein Bauprojekt. Da geschieht ein zweiter Mord und Kommissar Christian Heldt findet sich zwischen dubiosen Kunstliebhabern und in einem mörderischen Beziehungsgeflecht wieder.

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Seitenzahl: 270

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Dominik Kimyon

Hainberg

Kriminalroman

Zum Buch

Mord am Hainberg In der Nähe des Göttinger Hainbergs wird ein Toter gefunden. Es handelt sich um Marcel Hofmeister, Doktorand am Kunstgeschichtlichen Seminar in Göttingen. Zusammen mit seiner egozentrischen Doktormutter Arlene Rossberg soll er seine Doktorarbeit plagiiert haben. Als herauskommt, dass die beiden außerdem ein Verhältnis hatten und Marcel alles andere als treu war, gerät Arlene unter Mordverdacht. Schnell findet sich ein weiterer Verdächtiger: Immobilienunternehmer Tobias Gartner. Dessen neuestes Bauprojekt verzögerte sich, weil sich sein letzter Mieter – Marcel – weigerte auszuziehen. Dann geschieht ein zweiter Mord. Die Kommissare Christian Heldt und Tomek Piotrowski decken verworrene Verbindungen auf und sind sich bald nicht mehr sicher, wer sie hier an der Nase herumführt. Als wäre das nicht schon genug, gerät auch Heldts Privatleben aus den Fugen und einmal mehr muss er der Wahrheit auf den Grund gehen …

Dominik Kimyon wurde 1976 in Duderstadt im Eichsfeld geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Nordhessen, doch mit Anfang zwanzig zog es ihn zurück nach Niedersachsen in die Universitätsstadt Göttingen. Dort studierte er Medienwissenschaft und Sozialpsychologie. Der Autor arbeitete als freier Mitarbeiter für eine Lokalzeitung und in der Werbebranche. Seit einigen Jahren ist er in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Mit feinem Gespür für menschliche Abgründe gelingt es ihm, Figuren zum Leben zu erwecken, die niemand in der eigenen Nachbarschaft haben möchte – die aber mit Sicherheit genau dort leben.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Stallgeruch (2017)

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Christian / stock.adobe.com

und © voobino / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6130-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bestimmte örtliche Gegebenheiten wurden aus

dramaturgischen Gründen leicht verändert.

Kapitel 1

Kondome, Taschentücher und Pfefferminzbonbons – Marcel hatte an alles gedacht. Er tastete den Beifahrersitz ab, ja, auch die Decke lag griffbereit. Sein Weg führte ihn durch das noble Göttinger Ostviertel, um hinauf zum Wildgehege im Stadtwald zu gelangen, und er hoffte, dabei nicht ausgerechnet Arlene zu begegnen. Nicht, dass sie sich ewige Treue geschworen hätten. Aber auf eine Diskussion, wohin er um diese Zeit unterwegs war, hatte er keine Lust. Sie legte bisweilen einen Ton an den Tag, der ihn an seine alte Musiklehrerin erinnerte. Für gewöhnlich störte ihn das nicht. Im Gegenteil, es machte ihn sogar ziemlich scharf, und sie wusste das nur zu gut für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Jetzt war er es, der den einen oder anderen Befehl aussprechen und einfach genießen wollte.

Seine Zeigefinger trommelten rhythmisch auf das Lenkrad, während er an einer Ampel auf Grün wartete. Es war gerade kurz nach acht, längst dunkel und die Straßen wie leer gefegt. Die hängen alle vor der Tagesschau, dachte er amüsiert. Ungesehen erreichte er die Schillerwiesen aus nördlicher Richtung, die verwaist zu seiner Rechten lagen und bis hinauf an den Wald grenzten. Der Märzabend war mild und die Narzissen verströmten einen verheißungsvollen Duft durch das heruntergelassene Fenster.

Er hatte sie online kennengelernt. Eine dieser Apps, die er installiert hatte und deren Zweck allein darin bestand, willige Frauen zum Sex zu finden. Im echten Leben stand er auf reifere Semester. Doch wenn es um den Moment ging, waren ihm diejenigen lieber, die noch von ihm lernen konnten. Marcel ließ die Schillerwiesen hinter sich und bog in die Straße ab, die hinauf zum Wildgehege führte.

Es war ein ungewöhnlicher Treffpunkt. Sie hatte ihn vorgeschlagen, nachdem er ihr verklickert hatte, dass seine Bude für ein Date absolut ungeeignet war. Das war zwar gelogen, aber er hatte keinen Bock darauf, dass seine Abenteuer etwas bei ihm vergaßen, den Slip, die Hausschlüssel, was auch immer, und ihn damit in Schwierigkeiten brachten. Außerdem mussten sie gar nicht so genau wissen, wo er wohnte. Ihm genügte, dass sie Fotos von sich austauschten.

Treffpunkt war der Parkplatz oben bei den Wildschweinen und dann würde sie ihn zu einer Stelle beim Bismarckturm führen, wo sie garantiert ungestört sein würden. Er dachte an ihren Profilnamen, LippGloss. Mann, war er reif für diesen Abend! Arlene hatte ihn zuletzt arg auf Distanz gehalten. Die ganze Sache mit der Doktorarbeit legte sie geradezu trocken. Aber das war nicht sein Problem. Zumindest nicht heute.

Die noch kahlen Bäume verengten sich über ihm zu einem Dach, als er die Straße hinauffuhr. Mit den Scheinwerfern scheuchte er das Unterholz auf, das bis zum Straßenrand wucherte. Rechter Hand blitzten die Lichter der Stadt durch die Zweige, je weiter er in den Wald hineinfuhr. Marcel lächelte, denn der Anblick erinnerte ihn an eine dieser amerikanischen Jugendkomödien, in denen das Traumpärchen immer irgendwo nachts knutschend von einer Anhöhe auf eine erleuchtete City schaute. Schon nach der nächsten Kurve war von Göttingen allerdings nichts mehr zu sehen. Marcel schaltete in den vierten Gang. Eine weitere Biegung folgte, und erst im letzten Augenblick sah er es: Auf der Straße lag jemand! Ein Quietschen, und der Wagen stand.

Er drückte den Hebel nach vorne, das Fernlicht flutete die Szene. Da lag tatsächlich ein Mann. Neben ihm ein Fahrrad, die Katzenaugen an den hinteren Speichen reflektierten gespenstisch.

»Hey«, rief er durch das offene Fenster.

Keine Reaktion. Ach du Kacke! Er löste den Gurt, ließ den Motor laufen, damit das Licht an blieb, und stieg aus.

»Alles in Ordnung?« Er ahnte, dass nichts in Ordnung war. Zaghaft ging Marcel einen Schritt auf den Mann am Boden zu. Bizarre Schatten seines eigenen Körpers verzerrten seine Bewegungen. Dann war er endlich bei ihm. Marcel ging in die Hocke und streckte die Hand aus. Da erkannte er es erst: Das war gar kein Mensch! Warum stopfte jemand eine Jeans und eine Jacke mit Stroh aus und legte sie hier im Wald auf die Straße? Er kratzte sich nachdenklich an der Stirn.

Auf einmal schlug die Autotür zu.

Marcel fuhr herum, das Licht blendete ihn. Da heulte der Motor auf.

»Hey!«, rief er wütend und stand wieder auf.

Im nächsten Moment raste das Auto auf ihn zu.

Kapitel 2

Christian Heldt sah in den Spiegel und setzte an. Im nächsten Moment färbte sich der Schaum rot. Mist, er würde aussehen, als habe ihn Edward mit den Scherenhänden attackiert. Nach der Rasur duschte er heiß, was ihn nur noch müder machte. Lieber noch, als auf die Eröffnungsfeier der Galerie seiner Ex-Freundin Ellen zu gehen, Sekt zu schlürfen und Häppchen in sich hineinzustopfen, hätte er sich aufs Sofa geworfen. Die eine Hand an der Fernbedienung, die andere in der Chipstüte. Aber das konnte er Joshua nicht antun, ihrem gemeinsamen Sohn.

Er streifte sich ein weißes Hemd über und schlüpfte in ein Paar dunkle Chinos. Dann überließ er das Badezimmer dem Jungen. Der Countdown lief. Wenn sie nicht pünktlich waren, würde Ellen ihnen mindestens den Hals umdrehen. Endlich war Joshua fertig, und Christian musste bei dem Anblick lächeln: Für den großen Abend seiner Mutter hatte er sich richtig in Schale geworfen. Kapuzenpulli und Baggy Jeans waren einem schicken Outfit gewichen. Mit dem Gel hatte er allerdings übertrieben, kein Sturm der Welt hätte seine Haare durcheinanderwirbeln können. Er nickte anerkennend, als Joshua sich vor ihn stellte. »Jetzt aber los«, hielt er ihn zur Eile an. »Wir sind spät dran.«

Es war bereits dunkel und in den schicken Stadthäusern des Stegemühlenwegs mit ihren dekorativen Simsen und Eingangstreppchen, den Eisengeländern an Balkonen und Stuckdecken in den Zimmern, leuchteten die Fenster. Sie liefen eilig weiter bis zum Fußgängertunnel, der sie unter der vierspurigen Bürgerstraße hindurchführte. Auf der anderen Seite tauchten sie an den Wallanlagen wieder auf, die die Innenstadt wie ein grüner Gürtel umringten und an dieser Stelle einem kleinen Park glichen. Abends war es hier nur mäßig beleuchtet und dadurch attraktiv für Menschen, die sonst nicht wussten, wohin. Als Christian die Punks sah, die bei den milden Temperaturen biertrinkend auf einer Bank herumlungerten, zog er Joshua dichter zu sich heran. Sie eilten vorbei und die Jungs prosteten ihnen zu. Christian hob grüßend die Hand, froh, dass Joshua bislang keinerlei rebellische Züge zeigte.

Endlich standen sie vor der »Black Bear Gallery«. In bemerkenswert kurzer Zeit hatte Ellen das Gebäude in der Altstadt in ein wahres Schmuckstück verwandelt. Den heruntergekommenen Fachwerkbau in der Fußgängerzone, dem der jahrelange Leerstand nicht gutgetan hatte, hatte sie zu einem lichtdurchfluteten Tempel der Kunst umbauen lassen und dabei so viel Feingefühl bewiesen, dass sich das Gebäude dennoch nicht wie ein Fremdkörper in der Kurzen Straßeausmachte. Ellen wollte Göttingen zu einer der ersten Adressen des Landes für zeitgenössische kanadisch-indianische Kunst machen und nichts in der Welt hätte sie aufhalten können. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, musste sie es umsetzen. Das galt im positiven wie im negativen Sinn. Andere hätten seine Ex-Freundin vielleicht als stur bezeichnet. Doch davon war sie weit entfernt, wie er inzwischen wusste. Wenn sie den Ruf hörte, konnte sie nicht anders, als ihm zu folgen. Obwohl er allen Grund gehabt hätte, ihr immer noch dafür sauer zu sein, dass sie ihn und Joshua nach dessen Geburt allein gelassen hatte und zurück nach Kanada gegangen war, hatte sie ihn seit ihrer spontanen Rückkehr im letzten Herbst mit ihrem Tatendrang überrascht. Außerdem genoss er es, wie Joshua seither aufgeblüht war. Er hatte in all den Jahren zwar regelmäßigen Kontakt zu Ellen gehabt, doch über einen Ozean hinweg war es schwierig für beide gewesen, eine innige Beziehung aufzubauen. Der Junge war jetzt bald zwölf Jahre alt und allem Anschein nach war es nicht zu spät, dass seine Mutter wieder eine größere Rolle in seinem Leben einnahm.

Vor der Galerie standen ein paar Gäste, die Hände wahlweise mit Sektgläsern oder Zigaretten bestückt. Er kannte niemanden von ihnen. Christian ließ Joshua vorgehen und sie bahnten sich einen Weg nach drinnen. Hübsche junge Menschen flogen adrett gekleidet über das Parkett und verteilten Getränke und Canapés, hier wurde herzhaft gelacht, da steckten Köpfe über dem neuesten Tratsch zusammen. Schultern wurden getätschelt, Begrüßungsküsschen verteilt und über allem schwebte der Duft der großen, weiten Kunstwelt. Er schnappte sich zwei Gläser – einmal Sekt und einmal Orangensaft – von einem vorbeischwebenden Tablett, gab den Saft seinem Sohn und gönnte sich selbst einen Schluck Alkohol. Dann entdeckte er, wonach er die ganze Zeit Ausschau gehalten hatte: Tanja! Ahnte sie, dass sie ihn allein durch ihre Anwesenheit betörte? Sie trug eine enge schwarze Hose und eine ebenso schwarze Bluse, die zwar ihre Blässe unterstrich, ihr aber dennoch nicht zum Nachteil gereichte. Um den Hals hatte sie als Farbtupfer ein seidenes Tuch gelegt, das in allen Regenbogenfarben schimmerte. Ihr Haar trug sie offen und es fiel in sanften Strähnen auf ihre Schultern. Das Bild wurde nur durch ihren Klotz von Ehemann getrübt, dessen Krawatte windschief am Hals hing. Markus und Tanja standen vor einem Sockel, auf dem eine Skulptur aus Holz ausgestellt war.

Christian konnte Markus Kratzer nicht ausstehen. Es war die schmierige, immer ein Stück zu großkotzige Art, die der Staatsanwalt an den Tag zu legen pflegte. Und es rührte natürlich daher, dass er mehr für Tanja empfand, als er sollte. Mehr empfand? Jetzt mach dich nicht lächerlich, dachte Christian. Verknallt bist du, bis über beide Ohren! Tanja holte ihn aus seinem geistigen Selbstgespräch:

»Du kommst gerade rechtzeitig«, begrüßte sie ihn. »Was soll das deiner Meinung nach sein?«

»Ja, Herr Kommissar«, mischte sich Markus ein. Er zeigte auf die Skulptur. »Womit haben wir es hier zu tun? Oder hat Ellen dir damals nicht nur die Ehre, sondern auch den Kunstverstand geraubt, als sie dich verlassen hat?« Seine Lache war dreckig, und obwohl niemand einstimmte, nickte er eifrig, um sich selbst zu bestätigen.

Wäre Tanja nicht dabei, wären sie nicht unter so vielen Gästen mitten in der Galerie, Christian hätte ausgeholt und ihm die Faust ins Gesicht gedrückt. Stattdessen antwortete er: »Ich kann verstehen, dass es dir schwerfällt, Kunst wertzuschätzen. Das ist auch nicht leicht, da mache ich dir gar keinen Vorwurf. Es liegt nicht jedem, das Schöne, das Wertvolle wahrzunehmen, selbst wenn es direkt vor einem steht.« Er schaute Markus direkt in die Augen und blickte dann zu Tanja. Christian war klar, worum es hier eigentlich ging. Denn auf den Kopf gefallen war Markus Kratzer nicht. Es direkt anzusprechen, dazu war der Herr Staatsanwalt aber doch zu feige. Tanja zupfte verlegen an ihrem Halstuch, wohl in der Hoffnung, dass die Männer nicht in einen Streit gerieten.

Christian besann sich seiner Manieren und wendete sich der Skulptur zu. Indianisch, überlegte er, das würde selbst der Dummkopf Markus erkennen. Ellen hatte zu Anfang ihrer Beziehung in unzähligen Stunden versucht, ihn in die Kunst der kanadischen Ureinwohner, der »First Nations«, wie sie sich stolz selbst nannten, einzuweihen. Welche Bedeutung ihre Schnitzereien hatten. Was die Reihenfolge der Figuren auf einem Totempfahl zu bedeuten hatte, solche Sachen. Viel war nicht hängen geblieben. »Das ist ein Adler, der auf einem Pottwal sitzt«, antwortete er, obwohl er sich nicht wirklich sicher war.

»Streber«, hörte er es hinter sich. Sein bester Freund Fabian gesellte sich leichtfüßig zu ihnen, und sie alle lachten.

Dann erklang ein helles Klimpern; jemand schlug mit einem Ring gegen ein Sektglas. Das Gemurmel erstarb, die Gäste schauten auf den Treppenabsatz in der Mitte der Galerie. Dort stand Ellen. Sie hatte sich für ihren großen Abend herausgeputzt, das rubinrote Kleid schmeichelte ihrer yogagetrimmten Figur, ihre braune Mähne hatte sie zu einem strengen Zopf gezähmt, mörderisch hohe Absätze machten sie noch größer, als sie ohnehin war. Ellen wirkte beinahe zu kosmopolitisch für die beschauliche Studentenstadt. Zugleich machte sie einen aufgeregt glücklichen Eindruck und er gestand sich ein, dass er sich für sie freute.

Kaum, dass Ellen ihre Rede beendet und sich für ihren starken kanadischen Akzent entschuldigt hatte, brandete Applaus auf. Christian hatte das Gefühl, dass Joshua von allen am lautesten in die Hände klatschte. Bald schon waren die Gäste wieder auf ihre Gespräche konzentriert, das Gemurmel startete von Neuem. Joshua hatte sich inzwischen einen Weg zu seiner Mutter gebahnt und auch Christian seilte sich von Tanja und ihrem Ehemonster ab, um Ellen zu gratulieren. Weit kam er nicht.

»Heldt«, brüllte Markus so laut hinter ihm her, dass er neugierige Blicke auf sich zog.

Christian drehte sich um und sah, dass Markus ihn mit Handy am Ohr zu sich winkte. Was sollte das jetzt bedeuten?

»Die Pflicht ruft«, sagte Markus, als er das Telefon in die Hosentasche gleiten ließ.

Nicht jetzt, dachte Christian. Trotz seiner anfänglichen Unlust hatte er gerade die Kurve bekommen und Gefallen an der Feier gefunden. Er ging auf den Staatsanwalt zu.

Markus zog ihn konspirativ näher zu sich heran und flüsterte: »Deine Kollegen von der Polizeiinspektion haben ein Osterei entdeckt.«

Christian war sofort hellhörig. »Schon irgendwelche Details?«

»Männlich, 30 Jahre alt. Liegt tot auf der Rückbank eines Autos.«

»Herzinfarkt?«

»Ich denke, das herauszufinden ist nicht mein Job.« Kratzer schaute genervt von Christian zu Tanja und zuckte mit den Schultern. »Diese Party ist für euch wohl vorbei.«

Kapitel 3

Tobias Gartner liebte gesellschaftliche Anlässe wie diese Galerieeröffnung. Oberflächliche Gespräche, belangloses Palaver über alles und nichts. Seine Frau konnte er schon lange nicht mehr dafür gewinnen, ihn zu solchen Feiern zu begleiten, und er verübelte es ihr nicht. Sie war dafür zu pragmatisch, es langweilte sie. Aber sie hatte sich auch nicht wie er darauf spezialisiert, sich auf das zu konzentrieren, was nicht gesagt wurde. Zu beobachten, wer mit wem wie lange beieinanderstand. Genau diese Beobachtungen waren seinem Geschäft äußerst zuträglich. Auf so einer Stehparty hatte er vor einigen Jahren einen Investor kennengelernt, mit dem er nun im Norden der Stadt ein ganz neues Viertel aus dem Boden stampfte. Er genoss es, diese schnöden Meet ’n’ Greets zu seinem Vorteil zu drehen.

Er hatte sein Auto am Geismartor stehen, also nippte er nur ein wenig an dem handwarmen Sekt. Mit einem Anzugträger, dem die Brause nicht schnell genug nachgeschenkt werden konnte, war er ins Gespräch gekommen. Erst hatten sie über das Wetter geplaudert. Dann kamen sie auf das Baugewerbe zu sprechen und schließlich erwähnte der Typ Tobias’ Großprojekt. Er hätte sich da eine Goldgrube geschaffen, lobte er ihn angesäuselt, und er würde sich freuen, bei einem Kaffee über die finanziellen Möglichkeiten der Firma »Gartner Immobilien« zu sprechen. Er – der Visitenkarte nach war er »Entrepreneur« – würde ihn zu gerne dabei unterstützen, diese Möglichkeiten auszubauen.

Was für ein Schaumschläger! Tobias nickte freundlich und zerknüllte die Karte dann demonstrativ. Er hob sein Sektglas zum Gruß, bevor er sich umdrehte und an einer Wand mit Zeichnungen aus dem westlichen Kanada vorbeischlenderte. Den kleinen Schildern nach, die jedem Werk einen Namen, eine kurze Erläuterung und einen Preis gaben, zeigten sie allesamt mystische Unterwasserwesen, mal umringt von Walen, mal von Wellen, mal von kleinen Fischen. Tobias legte nicht viel Wert auf Kunst, und er konnte nicht verstehen, dass Menschen bereit waren, Geld dafür auszugeben. Seine Wertanlage war der Beton.

Aus den Augenwinkeln sah er ihn: Gerald Hübner, eingezwängt in ein Jackett aus dem letzten Jahrtausend, das ihm die Statur eines Pinguins verlieh. Tobias hatte keine Lust, ihm ausgerechnet hier über den Weg zu laufen. Er tauchte in der Menge unter, in der Hoffnung, ungesehen davonzukommen. Er hatte es schon fast bis zur Tür geschafft, da bohrte sich ein spitzer Finger in sein Schulterblatt.

»Schon was Nettes ausgesucht?«, fragte Hübner.

Seine leicht speckige Haut ließ ihn immer eine Spur verschwitzt wirken. In Hübner hatte Tobias einen Mann gefunden, der sich auch mal die Hände schmutzig machte, wenn die Gegenleistung stimmte. Er verstand es, sich zur rechten Zeit dienlich zu zeigen, und schämte sich nicht, dafür auch die Pfoten aufzuhalten. Genau deshalb zog Tobias es vor, in der Öffentlichkeit nicht allzu vertraut mit ihm zu wirken. Man wusste nie, wer einen beobachtete.

»Ist nicht ganz mein Geschmack«, antwortete Tobias beiläufig und stellte sein Glas auf einem Sockel ab. Er nickte kaum merklich zum Gruß, um dann weiterzugehen. Doch Hübner packte ihn am Ärmel.

»Wir hatten einen Deal«, zischte Hübner und setzte ein Lächeln auf. Offenkundig war auch ihm daran gelegen, dass sie niemandem auffielen.

»Das weiß ich selbst«, blaffte Tobias zurück. Wollte Hübner ihm jetzt etwa eine Szene machen, hier, vor all den Leuten? Er flüsterte: »Bevor mein hart verdientes Geld in dein Portemonnaie wandert, will ich Ergebnisse haben!«

»Na, da kann ich dich ja beruhigen«, gab Hübner an. Er zog das Jackett etwas zurecht. »Ich habe alles erledigt. So wie du es gewünscht hast. Du kannst die Abrissbirne sausen lassen.«

Tobias’ Miene hellte sich auf. Endlich war er einen wichtigen Schritt weitergekommen. Dieser eine letzte Mieter hatte sich derart quergestellt, dass er fürchtete, er könne sein Projekt begraben, noch bevor es richtig begonnen hatte. Doch das Problem schien nun gelöst zu sein. Schon bald würde sich das bisschen Schmierseife, mit dem er Hübner glitschig machte, doppelt und dreifach auszahlen. Trotzdem mahnte er sich zur Vorsicht.

»Wenn alles glattgeht, sollst du deinen Anteil bekommen. Wie vereinbart.« Tobias war nicht so naiv, ihm einfach zu glauben und das Geld herauszurücken, bevor er sich nicht vergewissert hatte, dass jetzt wirklich alles reibungslos lief.

Hübners Mundwinkel verzogen sich.

»Geteiltes Risiko, geteiltes Geld.«

»Das ist nicht mein Problem«, knurrte Tobias und schob Hübners Hand von seiner Schulter. »Und jetzt reiß dich gefälligst zusammen! Das ist nicht der richtige Ort!«

Bislang hatte er Hübner zwar als bestechlich, aber dennoch verlässlich erlebt. Er hoffte, dass sich das nicht änderte, denn sie beide wussten, was sie voneinander hatten.

»Wenn du morgen nicht –«

»Willst du mich erpressen?« Der Kerl war ja verrückt geworden. »Du bekommst deinen Anteil so bald wie möglich. Und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe!« Tobias’ Laune war ruiniert. Er ließ Hübner ohne einen Abschiedsgruß stehen und verließ die Feier.

Kapitel 4

Das Auto musste von Osten kommend über den Gehweg gerollt und von dort direkt auf die Schillerwiesen gefahren sein, vorbei an den ausladenden Trauerweiden, an deren Ästen im Sommer Kinder schaukelten. Die Lichtkegel der Scheinwerfer, die die Spurensicherung aufgestellt hatte, warfen düstere Schatten über die Szene. Das Wasser aus den nahe gelegenen Teichen, die in Terrassen am nördlichen Rand der Schillerwiesen angelegt waren und bis ganz hinunter zur Hauptstraße reichten, überzog das Gras mit einem feinen Dunst. Die Stille der Nacht wurde nur vom geschäftigen Treiben der Gewerke durchbrochen, die ein Leichenfund regelmäßig auf den Plan rief. Christian lief ein Schauder über den Rücken.

»Das Auto hier mitten auf der Wiese sieht irgendwie aus wie hingestellt«, kommentierte Tanja die unwirkliche Szenerie. Sie hatte für die Galerieeröffnung ein neues Parfum aufgetragen. Ein Hauch von Pfingstrosen und Freesien umspielte seine Nase, ein lieblicher Duft, den er hier draußen viel intensiver wahrnahm als unten in der Stadt. Ihre High Heels hatte sie gegen Sneaker aus dem Kofferraum getauscht, sie trug aber noch ihr elegantes schwarzes Ensemble. Die Kombination ließ sie jugendlich wirken, dachte er. Jugendlich und sportlich. Das genaue Gegenteil also von ihm. Von Bauchansatz konnte bei Christian schon nicht mehr die Rede sein und den kümmerlichen Rest seines sportlichen Talents hatte er im letzten Jahr beim Herbstmarathon zu Grabe getragen. Dabeisein war da tatsächlich alles gewesen. Er passte nicht zu ihr, dachte Christian bitter, nur um von ihren verschiedenfarbigen Augen, eins war blau, das andere grün, gleich wieder fasziniert zu sein. Wie sie ihn anschaute! Er hätte die ganze Nacht dort stehen und sie bewundern können. Da berührte sie ihn plötzlich am Arm.

»Bist du noch da?«, fragte sie verwundert.

Christian unternahm nickend einen kläglichen Versuch, sich seine Fantasien nicht anmerken zu lassen, den Tanja nicht gelten ließ.

»Du hast mir gar nicht zugehört, gib es zu. Typisch Mann!« Sie schüttelte in gespielter Enttäuschung den Kopf. »Ich habe gesagt, dass mir der Fundort zu arrangiert wirkt.« Sie zeigte in Richtung des Autos.

Christian ging nicht darauf ein – er hätte sich sonst nur verraten. Stattdessen studierte er mit zusammengezogenen Augenbrauen die Lage. Er nahm ebenfalls an, dass das Auto nicht zufällig an Ort und Stelle zum Halten gekommen war. Die Schillerwiesen waren abschüssig und weder Bäume, Bänke noch Mülleimer hatten den Wagen am Weiterrollen gestoppt. Die Spur, die das Auto im Gras hinterlassen hatte, zeigte schnurgerade nach oben zur Straße, die bis hinauf zum Wildgehege führte. Seltsam war daher, dass die Stoßstange eine ordentliche Beule aufwies und auch die Motorhaube einen kräftigen Schlag abbekommen hatte. Das hatte Christian sofort irritiert. Dass das Auto unverschlossen war und der Schlüssel noch im Zylinder steckte, machte die Angelegenheit noch undurchsichtiger. Der Fahrersitz war leer, die Handbremse angezogen. Auf der Rückbank lag der Tote, die Beine unwirklich nach hinten angewinkelt. Seine Augen waren halb geöffnet, aus Mund und Nase war Blut gequollen, das längst eine dunkelrote Kruste gebildet hatte.

»Jemand muss die Kiste absichtlich bis hierhin gefahren haben und dann ausgestiegen sein«, sagte er, streifte sich ein paar Latexhandschuhe über und inspizierte die Leiche, so gut er durch die geöffnete Seitentür an sie herankam. »Vielleicht war es ja der Typ selbst. Kann es ein Selbstmord gewesen sein?«, fragte er.

»Möglich ist es schon«, antwortete Tanja. »Er kann etwas eingenommen haben, was starke innere Blutungen auslöst. Anschließend hat er sich auf die Rückbank gelegt, die Krämpfe über sich ergehen lassen und irgendwann war es dann vorbei.« Sie zögerte kurz und legte eine Strähne ihres braunen Haars zurück hinters Ohr.

»Aber du hast Zweifel?«, hakte Christian nach, der an ihren Augen ablesen konnte, dass sie ihre Antwort selbst nicht überzeugend fand.

Sie nickte langsam. »Ich kann dir mehr sagen, wenn ich ihn auf dem Tisch liegen habe.« Tanja rief die Bestatter heran und bat sie, den Leichnam für den Transport in die Rechtsmedizin fertig zu machen.

Dann fiel Christian die Plastiktüte im Fußraum des Beifahrersitzes auf. Er hatte die Latexhandschuhe noch an, griff nach der Tüte und schaute hinein.

»Oh«, staunte er, »da hatte jemand aber einen netten Abend in Aussicht.« Auf Tanjas neugierigen Blick zog er eine ungeöffnete Kondompackung hervor. Für ihn war es spätestens jetzt absurd zu glauben, der Mann hätte sich selbst ins Jenseits befördert. »Würdest du Kondome einpacken, wenn du dich eigentlich umbringen willst?«

»Ich bin seit sieben Jahren verheiratet«, lachte Tanja. »Kondome gehören da nicht mehr zu meiner Grundausstattung.«

»Das will ich dir auch geraten haben«, polterte es aus dem Dunkel und Markus Kratzer trat in den Lichtkegel.

Christian fluchte innerlich. Als diensthabender Staatsanwalt hatte Markus Kratzer ihn sofort mit der Ermittlung beauftragt, auch wenn es noch keinerlei Anhaltspunkte gab, womit sie es hier zu tun hatten. Dass der Staatsanwalt höchstpersönlich den Fundort einer Leiche aufsuchte, war zwar ungewöhnlich, aber leider auch nicht verboten.

»Wir haben hier alles im Griff«, betonte Christian.

»Na, wenn meine Frau sich mit dir über Kondome unterhält, sollte ich vielleicht häufiger als Überraschungsgast auftauchen.« Kratzer lachte über seinen eigenen Witz.

»Ich lasse die Leiche jetzt in die Rechtsmedizin bringen«, sagte Tanja und aus ihrer resoluten Stimme schloss Christian, dass sie die Reaktion ihres Ehemanns unpassend fand.

»Sie will mir sagen, dass ich schnell machen muss, wenn ich mir den Kerl noch einmal ansehen möchte«, gab Kratzer den Kumpel und winkte ab. »Mir liegen die Lachshäppchen noch etwas quer im Magen. Da muss ich mir das nicht antun.« Er tätschelte seinen flachen Bauch.

Was wollte er dann? Christian versuchte zu ergründen, weshalb Kratzer sich die Mühe machte, sie hier draußen mit seiner Anwesenheit zu beglücken. Als ob er Christians Gedanken lesen könnte, zog Markus Kratzer ihn etwas zur Seite.

»Nimm es nicht persönlich«, begann er und senkte die Stimme konspirativ, »aber bei dieser Ermittlung arbeitest du nicht mit Tomek zusammen.«

»Ich glaube, jetzt überschreitest du deine Kompetenzen!« Christian war empört. Kratzer war ein gewiefter Strippenzieher mit äußerst engen Kontakten ins Polizeipräsidium. Nicht wenige sprangen, wenn er es befahl. Aber wieso in aller Welt er sich darin einmischte, mit wem er zusammenarbeitete, war Christian ein Rätsel.

»Bauschke«, sagte Markus Kratzer. Ein Wort, eine Erklärung: Christians Chef wollte es so.

»Was kümmert ihn das?« Christian fand überhaupt keinen Sinn in dieser Aktion. Hubert Bauschke war nicht gerade ein Sympathieträger. Sein Hauptziel war es, seinen eigenen Hintern warm zu betten und nach der nächsten Karriereoption Ausschau zu halten. Um Nebensächlichkeiten wie die Zusammenstellung eines Ermittlungsteams hatte er sich in der Vergangenheit wenig geschert.

»Liegt nicht an dir«, versicherte Kratzer gönnerhaft.

»An wem oder was denn sonst?« Langsam hatte Christian genug von Andeutungen und geheimen Absprachen. »Raus damit!«

Anstatt zu antworten, hielt Kratzer die rechte Hand affektiert in die Höhe und spreizte den kleinen Finger ab.

Christian war baff. »Das glaube ich doch nicht!«

»Er kann es halt nicht ausstehen.«

»Er kann was nicht ausstehen? Dass einer seiner Mitarbeiter schwul ist?«

»Bauschke ist von der alten Garde.«

Kratzer ließ die Aussage stehen, ganz als ob sie als Rechtfertigung für Bauschkes Einstellung genügte. Als sein Mitarbeiter Tomek Piotrowski sich vor einigen Monaten ihm gegenüber als schwul geoutet hatte, hatte Christian schroff reagiert. Denn dieses Outing passierte mitten in einer Mordermittlung und Tomek hatte damit einen sehr, sehr engen Kontakt zu einem der Tatverdächtigen zugegeben. Als sich dieser Zusammenhang dann aber schnell als irrelevant für die Aufklärung entpuppte, war es ihm völlig egal gewesen, mit wem Tomek was unter der Bettdecke trieb. Dass Bauschke jetzt Tomek deswegen außen vor lassen wollte, konnte er nicht hinnehmen.

»Das ist mir wurscht. Tomek ist ein Kollege und ein guter noch dazu. Ob er schwul ist oder nicht, hat Bauschke überhaupt nicht zu interessieren«, schimpfte Christian. »Ihm ist hoffentlich klar, dass das diskriminierend ist und entsprechend für Wirbel sorgen kann?«

»Du kennst deinen Chef nicht gut genug. Er würde das nie offiziell sagen«, entgegnete Kratzer und schlug den Kragen seines Mantels auf. Trotz der milden Tagestemperaturen kühlten sich die Nächte doch noch deutlich ab.

Natürlich würde Bauschke sich die Finger nicht schmutzig machen, dachte Christian. Der Feigling schob lieber den Staatsanwalt vor. Aber das letzte Wort war hierzu noch nicht gesprochen, so viel war sicher.

Kapitel 5

»Wer ist da?«

Jessica schrie in die Dunkelheit hinaus. Das Herz pochte ihr bis unter die Kopfhaut. Niemand antwortete. Nur das Rauschen eines ICE, der gerade durch das Leinetal an Bovenden vorbeiraste, drang an ihr Ohr. Sie schloss die Terrassentür und starrte durch die Scheibe in den Garten, der direkt an den Wurzelbruchpark grenzte. Da hatte sich etwas hinten am Zaun zwischen den Hortensienbüschen und dem Maulbeerbaum bewegt, sie war sich absolut sicher! Jessica kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Der Garten lag im nächtlichen Schatten des Hauses, der zunehmende Mond spendierte dank des bewölkten Nachthimmels nur wenig von seinem Licht. Doch das hatte ihr gereicht, um die Umrisse einer Person zu erkennen. Jessica hatte geahnt, wer das sein konnte. Sie riss erneut die Tür auf.

»Hau ab, sonst rufe ich die Polizei!«

Nichts regte sich. Ein ungutes Gefühl überkam sie. Schnell zog sie die Tür wieder zu.

Im gleichen Moment ging das Deckenlicht an und sie fuhr herum.

»Was machst du denn da?« Ihr Ehemann stand an der Wohnzimmertür und starrte sie verwundert an.

Jessica bedeutete ihm mit hektischen Bewegungen, das Licht wieder auszuschalten. »Da ist jemand im Garten«, flüsterte sie angestrengt.

Anstatt auf seine Frau zu hören, zog Tobias sein Jackett aus, warf es über den nächstgelegenen Sessel und ging auf Jessica zu.

»Waren wir uns nicht einig, dass das aufhören muss, Schatz?« Er strich ihr mit beiden Händen sanft über die Oberarme. Dann neigte er seinen Kopf zu ihr hinunter.

Jessica schüttelte seine Hände von ihrem Körper und wich dem Kuss aus.

»Hör auf, mir etwas einzureden, Tobias«, sagte sie streng. »Du weißt sehr wohl, dass das keine Hirngespinste sind.«

»Da draußen ist niemand. Das verspreche ich dir.« Er zog sie sachte von der Tür zum Sofa, auf das sie sich setzten.

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst«, entgegnete Jessica trotzig. Sie schaute zum großen Panoramafenster. Doch anstelle des Gartens sah sie ihr Spiegelbild: Sie beide auf dem Sofa. Wie ein altes Ehepaar. Seit Tabea zum Studium in die Stadt gezogen war, lebten sie allein in dem großen Haus. Besser gesagt war sie die meiste Zeit allein. Tobias arbeitete mehr denn je, dann noch der viele Sport und abends war immer irgendeine Veranstaltung, auf der er nicht fehlen durfte. Jessica fühlte seit Wochen eine Leere in sich aufsteigen, die sie kaum in Worte fassen konnte. Tabea fehlte ihr so sehr, dass es sie körperlich schmerzte. Darüber reden konnte sie mit niemandem. Ihr war klar, dass andere sie auslachen würden. Tabea wohnte ja keine Viertelstunde mit dem Auto entfernt. Für sie fühlte es sich aber so an, als sei ihre Tochter nach Ecuador ausgewandert. Ihr Ehemann war auch keine Hilfe. Sein ewig gleicher Ratschlag, Tabea erwachsen werden zu lassen, hing ihr zum Hals heraus. Jessica schaute zu Tobias und folgte seinem Blick. Da ahnte sie, was gleich auf sie zukommen würde.

»Hast du heute Abend schon wieder getrunken?«

Er hatte die offene Flasche auf der Anrichte entdeckt! Sie hätte sich damit herausreden können, einen Schuss Rotwein in das Abendessen getan zu haben. Doch sie hatte gar nicht gekocht. Das Weinglas mit einem Rest darin hätte sie obendrein Lügen gestraft.

»Ein Gläschen wird man sich wohl noch gönnen dürfen, oder etwa nicht?« Sie stand auf, ging die paar Schritte zur Anrichte und schenkte demonstrativ einen guten Schluck in das bauchige Glas nach. Tobias sagte kein Wort, und seine zur Schau gestellte Überheblichkeit machte sie nur noch wütender. Sie hatte noch nie viel getrunken, doch seit Tabea nicht mehr bei ihnen wohnte … Jessica setzte das Glas an und leerte es in einem Zug.

»Zufrieden?«, fragte sie. Der Rotwein war trocken und sie spürte, wie sich ein leichter Schmerz in ihrem Kopf ausbreitete. »Warum bist du überhaupt schon wieder zu Hause?«

Tobias tat es seiner Frau gleich, schenkte sich ein Glas vom Pinot noir ein und setzte sich wieder.

»Die Galerie ist wirklich ein Hingucker geworden«, sagte er anerkennend. »Aber irgendwie war ich heute Abend nicht in der Stimmung für Small Talk. Die Häppchen waren auch nicht überzeugend genug.«

»Ein Glück, dass ich nicht mitgekommen bin.« Jessica wollte gerade noch darauf hinweisen, dass im Brotkasten ein paar Toastscheiben lagen, die er stattdessen rösten konnte, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung im Garten wahrnahm.

»Da!« Jessica zeigte nach draußen und quengelte: »Mach doch was, Tobias!«

Ihr Mann schaute gelangweilt zu ihr herüber, erhob sich dann aber seufzend aus dem Sofa und ging zur Terrassentür. Anstatt sie zu öffnen, drehte er sich zu ihr. »Du weißt, dass du dich albern verhältst, oder?«