Halbierte Wirklichkeit - Hans-Dieter Mutschler - E-Book

Halbierte Wirklichkeit E-Book

Hans-Dieter Mutschler

4,7

Beschreibung

Weithin hat die Meinung um sich gegriffen, allein mit Hilfe der Naturwissenschaften seien das Leben und die Welt zu begreifen. Doch das wäre nicht nur eine Bankrotterklärung für die Religion. Mit einer Absolutsetzung der Naturwissenschaften ist es zudem nur noch ein kleiner Schritt hin zur Ideologisierung einer Weltanschauung - mit unabsehbaren Folgen für unser Menschenbild. Demgegenüber zeigt Hans-Dieter Mutschler, dass die Naturwissenschaften und ganz besonders der sich daraus ableitende Materialismus nicht ausreichen können, um das Leben in all seinen Dimensionen zu verstehen. Denn die materialistische Weltsicht blendet weite Teile der Realität aus, die durch materielle Prozesse allein eben nicht erklärbar sind. In sowohl naturwissenschaftlich als auch philosophisch fundierter Weise führt der Autor durch dieses spannende Grenzgebiet. Letztlich gelingt es ihm, eine Brücke zu einer "narrativen Theologie der Natur" zu schlagen, in der er eine begründbare Alternative zum weitverbreiteten Verstehen der Welt sieht.

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Hans-Dieter Mutschler Halbierte Wirklichkeit

Hans-Dieter Mutschler

Halbierte Wirklichkeit

Warum der Materialismus die Welt nicht erklärt

Butzon & Bercker

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1721-7

E-Book ISBN 978-3-7666-4226-4

E-Pub ISBN 978-3-7666-4227-1

© 2014 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in Germany

Inhalt

1. Einleitung

2. Wissenschaft und Lebenswelt

3. Die drei Säulen des Materialismus

3.1 Das Materieprinzip

3.2 Das Supervenienzprinzip

3.3 Das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Welt

4. Das Neue in der Welt: Emergenz

5. Der Hegel’sche Idealismus

6. Spiritualistisches und materialistisches Einheitsdenken

7. Die Selbstaufhebung des monistischen Materialismus

8. Was wäre die Alternative?

9. Wegzuräumende Hindernisse

10. Das spirituelle Narrativ

11. Anmerkungen

12. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Weltanschauungen kommen und gehen. Noch vor 300 Jahren waren bei uns Atheisten ärgerliche Ausnahmeerscheinungen in einem Umfeld, das im Wesentlichen durch das Christentum geprägt war. Inzwischen ist es, jedenfalls in Intellektuellenkreisen, gerade umgekehrt. Wer sich in diesen Kreisen zum Christentum bekennt, wird belächelt als jemand, der den Fortschritt noch nicht zur Kenntnis genommen hat. „Glaubst Du noch, oder denkst du schon?“ heißt der Slogan der sogenannten „Neuen Atheisten“, die ihre Überzeugungen aus der Naturwissenschaft ableiten oder abgeleitet zu haben vorgeben und die heute zumeist das Sagen haben.

Vor 200 Jahren hingegen war in Deutschland, jedenfalls in den besseren Kreisen, der Hegelianismus Mode. Man glaubte an den Fortschritt zum je Besseren, weil nämlich der Weltgeist alles auf ein gutes Ziel hin ausrichten würde. Natur und Geschichte waren gleichermaßen dafür da, den Weltgeist zur Erscheinung zu bringen und alles und jedes würde immer nur besser werden, zwar auf einem etwas mühsamen, aber letztlich dennoch erfolgreichen Weg. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben uns diesen optimistischen Fortschrittsglauben ausgetrieben, nicht aber einen eher diesseitigen Glauben an die segensreiche Wirkung von Wissenschaft und Technik, die jetzt zum Garanten des Fortschritts wurden. Karl Popper war davon überzeugt, dass unsere Zeit „die beste aller Zeiten ist, von der wir Kenntnis haben.“1 Hat Popper noch nie etwas von Umweltzerstörung, Überbevölkerung, Hochrüstung, den Atomwaffen, von Auschwitz oder vom Archipel Gulag gehört?

Es sieht so aus, als hätten wir ein unstillbares Verlangen nach Stimmigkeit, nach einer Insel des Glücks, die nicht von Korruption und Verfall bedroht wäre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine ganz reale Sehnsucht nach solchen Inseln und nicht nur Paul Gauguin machte sich auf nach Tahiti, um sein Glück zu finden. Die meisten dieser Abenteurer endeten jämmerlich in ihren vorgeblichen Paradiesen, so wie im großen Stil der Weltgeschichte die Sehnsucht nach einem marxistischen Reich der Freiheit im stalinistischen Terror endete.

Der postmoderne Philosoph Jean-François Lyotard sprach daher vom „Ende der großen Erzählungen“ und brachte damit eine Intuition zum Ausdruck, die viele Zeitgenossen mit ihm teilen, dass nämlich all dieses umfassende Streben nach Stimmigkeit, Glück und Einheit gescheitert sei, so dass wir uns mit dem kleinen Glück und mit partikulären Sinnressourcen zufrieden geben sollten, letztlich ein Rückzug ins gemüthaft Private des Biedermeier. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die Menschen an diesen gut gemeinten Ratschlag halten werden. Die Sehnsucht nach dem Ganzen, Umfassenden, nach unwiderruflicher Erfüllung, ist dem Menschen ins Herz geschrieben und weil diese Sehnsucht notwendigerweise auch eine soziale Komponente hat, wird niemals der Fall eintreten, dass die Gesellschaft auf solche Großerzählungen verzichten wird.

Es ist ja auch nicht wahr, dass sie verschwunden sind. Obwohl wir eine enorme Pluralität von Wissenschaften haben, mit ihren je eigenen Methoden und Gegenstandsbereichen, gibt es doch die verbreitete Rede von der Wissenschaft im Singular, von der man mit Karl Popper erwartet, dass sie unser gesamtes Weltverhalten auf eine rationalere Basis stellen werde. Und selbst postmoderne Philosophen wie Richard Rorty haben sich diesem Glauben verschrieben, obwohl Rorty doch sonst an allem zweifelt, was in Richtung umfassender Vernunft geht. Nach Rortys Überzeugung haben sich insbesondere die Naturwissenschaftler als „hervorstechende Musterbeispiele für bestimmte moralische Tugenden“ erwiesen und ihr Anspruch, vom Atom bis zum menschlichen Geist alles zu erklären, begrüßt Rorty als einen wahren Fortschritt.2 Auch hier fragt man sich verblüfft, ob dieser Philosoph niemals zur Kenntnis genommen hat, mit welchem Feuereifer und mit wie wenig moralischen Skrupeln die besten Physiker auf der Welt dazu beigetragen haben, die erste Atombombe zu bauen und man fragt weiter, wie es sein kann, dass Rorty an allem zweifelt, nicht aber am Totalerklärungsanspruch der Naturwissenschaft. Wir haben also den charakteristischen Sachverhalt, dass ein postmoderner Philosoph, der ansonsten alles in Frage stellt, an der Illusion einer heilen Welt der Wissenschaft festhält und dass er ihr die privilegierte Möglichkeit zuspricht, das wahre Wesen der Dinge zu erkennen, eine Möglichkeit, die Rorty doch ansonsten der menschlichen Vernunft vehement abgesprochen hatte. Dieser schroffe Widerspruch wird im Wesentlichen das Thema des vorliegenden Buches sein, nämlich der ideologische Missbrauch der Naturwissenschaften zu Zwecken des materialistischen Monismus, der sich auf diese Art seriös gibt.

Einer meiner Freunde versichert ständig, Atheist zu sein, begeistert sich aber recht zeitaufwändig für nichts als Barockkirchen, sodass er letztendlich viel mehr Zeit in den Kirchen verbringt als jeder Gläubige sonst. Es scheint also, dass der Mensch an etwas glauben muss, sei es an solche Barockkirchen, an die Wissenschaft und Technik, das Nirvana oder an Jesus Christus, sonst hält er sein Dasein nicht aus. Es ist aber nicht nur der Schmerz, der uns dazu treibt, sondern auch die Schönheit hat eine solch überschießende Kraft in sich. Wer ständig Barockkirchen besucht, bringt der Schönheit ein Opfer. Offenkundig verhält es sich so, dass wir nicht nur be- und anklagen wollen, sondern wir möchten auch dankbar sein.

An sich sollte uns das 20. Jahrhundert eine Lehre gewesen sein. Die grausamsten Ideologien dieses Jahrhunderts, Faschismus und Kommunismus, missbrauchten das idealische Streben der Menschen zu ihren verbrecherischen Zwecken. Dieses idealische Streben suchte die Einheit, die dem isolierten Individuum abhanden kam, da ihm die Religion als prägende gesellschaftliche Kraft offenkundig verloren ging. Man sollte diesen Verlust nicht auf die Leichtfertigkeit des säkularen Bewusstseins zurückführen, wie manche Kirchenfürsten vorschnell glauben. Die Menschen sind heute nicht besser oder schlechter als jemals. Der Akzeptanzverlust der christlichen Religion liegt auch an ihr selbst. Aber dies ist nicht unser Thema, sondern worum es hier geht, ist die Überblendung von Ideologie und Intelligenz, die man auch im Faschismus und Kommunismus im großen Stil beobachten konnte. Ernst Bloch sang Loblieder auf Stalin und Martin Heidegger wäre am liebsten der Vorzeigephilosoph der Nazis geworden. Beide haben ihre Verirrungen niemals bereut.

Die Verführbarkeit des Intellektuellen wäre nicht der Rede wert, wenn wir nicht allgemein mit Rorty die illusionäre Überzeugung hegten, die Vernunft sei von Natur aus objektiv und moralisch integer. Der Begriff des Intellektuellen hat in unserer Kultur einen durch und durch positiven Klang: Der Intellektuelle weiß Bescheid. Er deckt die Machenschaften der Herrschenden auf und wird selbst von ihrer Korruption nicht berührt. Die Vernunft zehrt daher von einer prinzipiellen Unschuldsvermutung. Während wir sonst damit rechnen, dass alles, was Menschen tun und denken, der Korruption unterworfen ist, machen wir bei der Vernunft eine rühmliche Ausnahme. Sie ist unsere heilige Kuh, das Tahiti Gauguins. Die Überzeugung von einer prinzipiellen Unschuld der Vernunft hat ihren Ursprung in der Aufklärung, die mit Voltaire und Rousseau erstmals den Typus des modernen Intellektuellen hervorbrachte. Der Intellektuelle war der Religion feindlich gesonnen oder er ersetzte sie durch einen Vernunftglauben, der sich von der Offenbarung, insbesondere aber von der Kirche, ablöste. Die Vernunft hat dem Menschen das Rechte ins Herz geschrieben, ganz unabhängig von jeder Autorität. Seither ist die Vernunft das, was vorher die Kirche war: Der Ort oder auch Hort der Wahrheit.

Daher sind wir erschüttert, wenn der Intellektuelle sich als ebenso korrumpierbar erweist wie jeder Mensch sonst auch. Über Jahrzehnte waren in Deutschland Intellektuelle wie Günter Grass oder Hartmut von Hentig diejenigen, die uns anstelle der traditionellen Autoritäten die moralische Richtung vorgaben. Grass denunzierte mit oberlehrerhafter Attitüde Reste vom Faschismus, wo immer er sie aufspüren konnte, nur um schließlich kleinlaut gestehen zu müssen, dass er selbst einmal Angehöriger der SS war. Und von Hentig, der führende aufklärerische Pädagoge der BRD, war liiert mit Gerold Becker, dem langjährigen Leiter der Odenwaldschule, der systematisch Schüler missbraucht hatte, von denen sich viele später aus Verzweiflung umbrachten. Von Hentig bestritt, davon etwas gewusst zu haben und erklärte die Verbrechen leichthin für Erfindungen der Opfer. Der Punkt hier ist nicht, dass auch Intellektuelle irren können. Der Punkt ist vielmehr, dass sie nicht damit rechnen, solche Fehler zu machen und dass auch die Öffentlichkeit nicht damit rechnet, sonst wären wir nicht so erschüttert, wenn solche Abgründe gerade hier zutage treten, wo wir eine heile Welt vermutet hatten. Worum es nun geht, ist dieses: Vernunft, die wir seit der Aufklärung als eine heile Welt ausgespart hatten, ist so korrumpierbar wie überhaupt alles, was es gibt, aber wir scheinen nach wie vor nicht damit zu rechnen.

Während wir uns im Praktischen die Lehre Freuds zu eigen gemacht haben, wonach unsere Handlungen unbewusst und gegen unseren Willen von undurchschauten, dunklen Motiven gesteuert werden können, die oft genug unserem bewussten, ja sogar unserem moralischen Streben zuwiderlaufen, kennen wir eine solche Dialektik für die Vernunft (noch) nicht oder wenn, dann nur in der marxistisch herablassenden Rede vom „falschen Bewusstsein“, die sich keiner zurück wünscht, weil sie vielfach missbraucht wurde oder sogar dazu erfunden wurde, missbraucht zu werden. In Wahrheit gibt es auch im Theoretischen die gleichen Phänomene, die Freud für das Praktische beschrieben hat: dass wir nämlich radikal gespalten sein können, ohne es zu bemerken. Die Werke von Heidegger und Bloch enthalten tiefe Einsichten und niemand würde ernstlich die Kompetenz von Hentigs bestreiten, was die Pädagogik anbelangt. So war es schon seit den Tagen der Aufklärung. Während Rousseau seinen Erziehungsroman Émile schrieb, ließ er seine eigenen Kinder im Findelhaus verkommen. Das Vertrackte ist: Émile ist ein guter Roman! Das heißt: Auch die Vernunft erlaubt Abspaltungen, die ihre explizite Rede ins Gegenteil verkehren.

Das Thema dieses Buches ist ein Spezialfall dieser verstörenden Dialektik, nämlich die Verbindung von wissenschaftlichem Scharfsinn und ideologischer Verblendung, die heute dazu führt, dass eine erdrückende Phalanx von Intellektuellen sich einerseits an den nicht genug zu lobenden Naturwissenschaften orientiert, damit aber auf der anderen Seite einen außerordentlich simplen Materialismus verbindet. Dieser richtet sich dann aggressiv gegen die Religion, macht sich aber zugleich zum guten Gewissen der Wissenschaft. Auch hier würde man doch zunächst einmal vermuten, dass die ausdifferenzierte Ratio, die die Naturwissenschaft vor allem auszeichnet, es uns verbieten würde, auf dem Gebiet des Weltanschaulichen derart unter Niveau zu gehen. Und dennoch geschieht es, und zwar gar nicht so selten.

Ein Beispiel vorweg: Obwohl der Genzentrismus, den Richard Dawkins noch heute vertritt, durch die Systembiologie überholt wurde, bleibt Dawkins von Hause aus zu Recht ein geachteter Wissenschaftler. Liest man hingegen sein Buch „Der Gotteswahn“, in dem er alles Übel der Welt auf die Religion zurückführt, dann schämt man sich für diesen Gelehrten, der sich derart unter Preis verkauft. In einem Interview wurde er gefragt, wie es denn käme, dass die größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts, Hitler, Mao, Stalin oder Pol Pot, keine religiösen Menschen gewesen seien, wenn doch alles Böse von der Religion komme. Da gab er trocken zur Antwort, diese Verbrecher seien alle religiös gewesen. Auch der Faschismus und der Kommunismus seien eine Religion. Das heißt: Von der Religion kommt alles Schlechte und alles Schlechte ist ex definitione religiös. Diese These ist unwiderlegbar, aber nur, weil sich Dawkins gegen jede Kritik immunisiert hat. Er verkündet vollmundige Tautologien.

Woher kommt es, dass hoch angesehene Wissenschaftler oder auch Philosophen derart unter Niveau gehen? Es scheint, dass sie selbst von Motiven gesteuert werden, die zwar nicht religiös, aber dem Religiösen insofern verwandt sind, als dass sie auf die Einheit aller Dinge zielen, die sie monistisch fassen. Der materialistische Monist erkennt hinter dem bunten Wechsel der Erscheinungen ein Identisches mit klar durchschaubaren Eigenschaften. Das Reale ist Materie und nichts als Materie und ihre wesentlichen Eigenschaften sind Zufall und Notwendigkeit: der blinde Zufall und ebenso blinde Naturgesetze. (Daher Dawkins’ Titel „Der blinde Uhrmacher“.) Der Materialist weiß also ein für alle Mal, woran er mit sich und mit der Welt dran ist. Er erspart sich das Bodenlose des Glaubens, die Kontingenz des Wissens, den bohrenden Zweifel, die unaufhebbare Vieldeutigkeit der Erfahrung. Der materielle Seinsbestand trägt und bestimmt in einem monistischen Sinne alle höheren Formen, Bewusstsein, Moral und Kultur eingeschlossen. Selbst die verschwenderische Fülle des Lebendigen reduziert sich auf ein einziges Prinzip. Lebewesen sind nach Dawkins nichts als blind programmierte Überlebensmaschinen. Sie haben keine eigene Substanz oder Bedeutung, sondern sie gehen darin auf, rein funktional fürs Überleben programmiert zu sein. Daher sieht Dawkins keinen Unterschied zwischen technischen Artefakten und Lebewesen.3

Die Welt wird in dieser Sicht auf eine verhängnisvolle Weise eins, indem nämlich alle Unterschiede eingeebnet werden. Aber gerade das macht die Attraktivität des materialistischen Monismus aus, besonders für diejenigen, die die Religion aufgegeben haben und die nun statt Gott einen neuen Einheitspunkt in der Flucht der Erscheinungen suchen, letztlich einen existentiellen Halt, der sie psychisch stabilisieren soll. Es sieht fast so aus, als sei die Suche nach der Einheit aller Dinge eine Art anthropologischer Konstante. Plato hat sie mit der Sexualität verglichen und das gibt uns einen Hinweis auf ihren irrationalen Charakter. So wie Sexualität die Menschen oft in die unwirtlichsten Verhältnisse hintreibt, indem sie sich spielend über alle Vernunftprinzipien hinwegsetzt, so scheint auch der metaphysische Trieb zur Einheit von der Art, dass er die Vernunft spielend hinter sich lässt, um eine oberflächliche Ideologie an ihre Stelle zu setzen.

Der Intellektuelle wird diese unangenehm dunkle Seite – das gebietet ihm die Selbstachtung – rational verbrämen. Er wird also seine monistische, aus blindem Trieb hervorgehende Weltanschauung theoretisch überhöhen mit Hilfe von Prinzipien, die sich wissenschaftlich anhören sollen. Man spricht dann von kausaler Geschlossenheit der Welt, vom Supervenienzprinzip, von den letzten Bestandteilen der Materie und was solcher ad-hoc-Prinzipien mehr sind. Sie halten jedoch keiner ernsthaften Überprüfung stand, wie sich noch zeigen wird. Aus diesem Grunde werden sie gewöhnlich nicht überprüft, sondern einfach nur als gültig vorausgesetzt. Auch die Materialisten haben ihre Dogmen, an die sie oft fester glauben als die Christen an die ihren. Man kann auch an die Nichtexistenz Gottes glauben.

In diesem Buch werden solche Dogmen als Kompensation eines metaphysischen Einheitsbestrebens interpretiert. Der Theologe Karl Rahner hat dafür schon vor langer Zeit den Begriff der „gnoseologischen Konkupiszenz“ geprägt, der aber leider nicht die verdiente Beachtung gefunden hat.4 Rahner bezieht sich gerade auf solche Phänomene der Unterfütterung echter Wissenschaft durch eine desolate Einheitsmetaphysik, die dem irrationalen Bedürfnis, nicht aber der Vernunft, entspringt. Was Konkupiszenz im Fleisch ist, wissen wir – niemand, den sein Trieb nicht schon in die unsäglichsten Verhältnisse verwickelt hätte. Aber „gnoseologische Konkupiszenz“ ist uns fremd, weil sie sich auf unser Erkenntnisvermögen bezieht, das wir seit der Aufklärung aus der Sphäre der Korruption herausgenommen haben. Daher Kants Rede von der „reinen Vernunft“. Kant lässt natürlich zu, dass unsere Vernunft empirisch relativiert ist, ständig der Gefahr des Irrtums ausgesetzt. Aber unser Entschluss zur Rationalität („sapere aude“) erhebt uns mit einem Schlag über die Relativität der empirisch codierten Vernunft empor ins Reich des reinen Apriori, wo eine höhere Notwendigkeit den Sockel der Wahrheit bildet, auf dem das imponierende Gebäude der Wissenschaft steht.

In dieser Sichtweise gibt es kein Unbewusstes, das durch unsere Rationalität verfälschend hindurchgreifen könnte. Vergessen ist Leibniz’ Lehre, dass menschliche Vernunft kontinuierlich ins clair-obscure des Unbewussten hinabreicht, wo die Dämonen zu Hause sind, wie dann später Schopenhauer, Freud und Jung verdeutlicht haben. Man kann also sagen, Rahners Misserfolg mit dem Begriff der „gnoseologischen Konkupiszenz“ verdankt sich diesem verbreiteten aufklärerischen Selbstmissverständnis, wonach wir uns nur zur Vernunft entschließen müssen, um vernünftig zu sein. Man hätte aber besser seinem Hinweis folgen sollen. Gerade im Zusammenhang mit fundamentalen Entdeckungen der Naturwissenschaft bemächtigt sich unserer Vernunft leicht ein vorschneller Trieb, die Lösung aller Probleme in einem monistischen Konzept zu suchen, das weit über alles hinausgeht, was wissenschaftliche Vernunft jemals zu begründen in der Lage ist.

Der Inhalt der folgenden Untersuchung bezieht sich zunächst einmal hauptsächlich auf die Leib-Seele-Debatte, die für den Materialismus die stärkste Herausforderung darstellt, denn wir Menschen verstehen uns selbst gerne als psychosomatische Wesen, die also neben ihren materiellen auch eigenständige geistige Eigenschaften haben. Diese geistigen Eigenschaften kann der Materialist nicht als etwas Autonomes stehen lassen. Er muss sie auf die Dynamik der Materie zurückbiegen, um seinen Monismus zu retten. Der Mensch ist dann mit all seinen Qualitäten ein Objekt der Naturwissenschaft, wie andere Objekte auch. Darüber wird natürlich viel gestritten und man fragt sich, wozu dann noch ein weiteres Buch über diesen kontroversen Sachverhalt geschrieben werden muss, wo es doch der kritischen Bücher genug gibt, manche davon ganz ausgezeichnet.5 Der Grund ist der, dass dieser strittige Sachverhalt wohl noch nie von dieser Perspektive der „gnoseologischen Konkupiszenz“ her beleuchtet wurde, wodurch sich eine zwanglose Anbindung an die Theologie ergibt, die ebenfalls in diesem Zusammenhang keine große Beachtung findet.

Natürlich ist die Frage nach dem Materialismus zunächst eine philosophische Frage und sollte auch auf diesem Niveau behandelt werden. Wenn es aber um Monismus und um Weltanschauung geht, dann spielt die Fragestellung ins Theologische hinein und es wäre wohl wert, die Sache einmal von diesem Blickwinkel aus zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll hier ein Vergleich gewagt werden, der zunächst einmal weit hergeholt erscheinen wird: Es soll nämlich der heute herrschende materialistische Monismus mit dem Geistmonismus Hegels verglichen werden. Wer sowohl mit der heutigen Diskussion und mit Hegel einigermaßen vertraut ist, wird verblüfft sein über die Parallelen zwischen diesen beiden völlig verschiedenen Weltanschauungen, die aber eine kryptische Verwandtschaft aufweisen. Beide sind der Substanz nach monistisch.

Natürlich ist dem Gegensatz materialistischer versus spiritualistischer Monismus nichts abzuhandeln, sie sind zunächst einmal strenge Gegensätze, kommen aber darin überein, dass sie jeweils im Grenzbereich ihrer Paradigmen radikal versagen. Der materialistische Monist setzt bei der Natur an und kommt nie mehr zum Geist. Der spiritualistische Monist setzt beim Geist an und verfehlt die Natur. Es ist eben so, dass unsere endliche Vernunft an distinkte Perspektiven gebunden ist. Wir verfügen nicht über das Auge Gottes, das in ursprünglicher Selbigkeit Einheit und Vielheit zugleich überschauen würde. Endliche Vernunft ist vielmehr an solche distinkte Perspektiven gebunden, die sich nicht in eine metaphysische oder physikalische Weltformel hinein verrechnen lassen. Versucht man es dennoch, dann erzeugt man eine monistische Ideologie, die ihren ideologischen Charakter durch krasse Widersprüche, ungerechtfertigte Extrapolationen oder bloße Wissenschaftsrhetorik bemerkbar macht, die noch nicht einmal gut klingt. Aber – und das ist jetzt hier der entscheidende Punkt – dies hindert nicht, dass die zu kritisierenden Monisten zugleich sehr klug sind und dass sie wesentliche Einsichten zutage gefördert haben, von denen wir uns belehren lassen sollten.

Wir möchten hier nicht die einseitige Strategie verfolgen, die konservative Theologen vor 50 Jahren gegen die Marxisten bevorzugten. Damals hat z. B. der Jesuit Gustav Wetter den Marxismus einseitig und nur als Ideologie hingestellt. Er ging eben auch irrigerweise davon aus, dass die Vernunft nur entweder stimmig oder ganz verdorben ist. Aber das war weder damals noch heute so, weil es ganz selten so ist. Jedenfalls kann man von den hier zu behandelnden Monisten sehr viel lernen, nicht nur von den zahlreichen analytischen Philosophen, die den materialistischen Szientismus halten, sondern auch von Hegel, der inzwischen eine persona non grata geworden zu sein scheint. Hegels geistphilosophischer Pomp ist freilich abgetan, aber dahinter verbirgt sich eine gigantische Denkleistung, die man nicht ohne Schaden ignoriert. Sinn und Unsinn verteilen sich eben nicht glatt auf verschiedene Personen oder Denkrichtungen, sondern sie verschränken sich auf verwirrende Art aufgrund der fundamentalen Sehnsucht des Menschen nach Einheit, die sich nach Meinung des Verfassers nur als riskanter Glaube, nicht jedoch als ein in sich geschlossener Wissensbestand artikulieren lässt. Wenn sich die Einheit des Seins überhaupt unserer Vernunft mitteilt, dann höchstens auf die diskrete Art der Aristotelischen Metaphysik. Ihr Grundsatz lautet: „To on pollachos legetai“ – das Seiende wird im mehrfachen Sinn ausgesagt. Dies bedeutet: Der Seinsbegriff ist nur formal zu fassen und er hat die Differenzen, die Vielheit der Bezüge außerhalb seiner selbst. Das heißt im Klartext, dass wir die Kategorien unseres Weltverständnisses aus der Erfahrung gewinnen müssen, ohne sie auf eine einzige zu reduzieren, für die dann die Wissenschaft (im Singular) zuständig wäre. Es bedeutet, dass wir die Spannung zwischen Theorie und Praxis aushalten müssen, ohne sie vorschnell aus einem spirituellen Einheitsprinzip abzuleiten oder, was heute beliebter ist, Praxis derart an die Theorie anzugleichen, dass ihre Eigenständigkeit verloren geht und alles im unterschiedslosen Einerlei materieller Prozesse verschwindet.

Der unreduzierbaren Vielfalt unserer Erkenntnismittel entspricht eine ebensolche unreduzierbare Vielfalt des Realen. Wir haben nur die Möglichkeit, diese Vielfalt behutsam und formal zu bestimmen, wie die Aristoteliker, sie als ein krudes Faktum stehen zu lassen oder aber ihre letzte, paradoxe Identität dem Bereich des Glaubens und der Spiritualität zu überantworten, wo sie der prekäre Modus der Hoffnung in der Schwebe lässt. Hier gibt es keine abrufbaren Resultate. Was wir nämlich nicht können ist, diese Einheit in den Bereich des Wissens herabzuziehen und mit den Ergebnissen der Naturwissenschaft zu identifizieren, die darüber hinaus auch noch eine materialistische Instanz sein soll. Die Einheit aller Dinge ist für die Vernunft – so Charles Sanders Peirce – eine „verzweifelte Hoffnung“6, kein zu katalogisierendes Resultat. Wer mehr verspricht, verspricht uns zu viel.

Dieses Buch behandelt also vor allem den heute herrschenden szientifischen Materialismus, aber nicht ausschließlich. Der Kontrast zu Hegel soll deutlich machen, dass es nicht eigentlich der Materialismus ist, der unsere Vernunft in die Irre führt, sondern die Vernunft selbst, wenn sie sich totalitär gebärdet. Totalitär ist der Anspruch, das Sein auf den Begriff gebracht zu haben mittels weniger Prinzipien, die dann als Generalschlüssel zur Realität gültig sein sollen. Letztlich verbirgt sich dahinter die Sehnsucht, die Welt so zu sehen, wie Gott sie sehen würde. Dieser Blick ist uns endlichen Wesen verwehrt, denn wir sind der Vielheit und Sperrigkeit der Erfahrungsbezüge ausgesetzt, die keine Vernunft in eine Einheitsperspektive verrechnet, möge sie materialistisch oder spiritualistisch bestimmt sein. Wir sind zwar imstande, die Vielheit und das Chaos der Erfahrung mit Vernunft und Wissenschaft partiell zu ordnen, das Ganze bleibt uns aber letztlich unverständlich und fragwürdig. So fragwürdig, wie wir uns selber sind. Darauf gibt es letztlich nur zwei mögliche Antworten: Skeptizismus oder Agnostizismus auf der einen, religiöses Vertrauen auf der anderen Seite. Es ist heute üblich, dieser Konsequenz auszuweichen mit dem Verweis auf die Leistungen von Wissenschaft und Technik. Aber beide tragen zu solchen fundamentalen, existentiellen Fragen nichts bei. Selbst wenn wir alles berechnet und alles manipuliert hätten, blieben wir uns selbst ein Rätsel.

Es ist darüber hinaus üblich, ja übel, die Religion pauschal als Gegnerin der Wahrheit zu denunzieren, so als hätte nicht alles auf dieser Welt seine Schattenseiten. Demgegenüber sollen hier in einem abschließenden Kapitel religiös-theologische Fragen explizit behandelt werden. Es ist die Überzeugung des Verfassers, dass wir insbesondere unsere eigene christliche Religion heute weit unter Preis verkaufen, indem wir ihr Sinnangebot ignorieren. Mehr als ein Angebot ist es freilich nicht. Glaube ist kein Wissen im Vergleich mit dem, was die Wissenschaften liefern. Er ist ein beglückendes Wagnis, das zwar empfohlen, nicht aber bewiesen werden kann. Deshalb ist das letzte Kapitel vom Rest des Buches durch eine Zäsur des Geltungsanspruchs abgesetzt. Wissenschaft und Philosophie führen uns nur bis zur Frage und dort, wo wir eine Antwort zu geben versuchen, hat sie lediglich den schwebenden und äußerst riskanten Charakter einer Verheißung, die ins Glück führt oder einfach nur ins Nichts. Die Frage, die wir selber sind, bleibt bestehen. Sie hat entweder keine Antwort oder eine solche des Vertrauens.

2. Wissenschaft und Lebenswelt

Zusammenfassung

Wir kennen zwei Versionen der Wirklichkeit, nämlich aus den korrespondierenden Quellen von Wissenschaft und Lebenswelt. Die Lebenswelt ist zunächst einmal soziale Welt, charakterisiert durch Sinnperspektiven, durch ein System von Zielen, Werten und Zwecken, die meist normativ geregelt sind. Die wissenschaftliche Version der Welt arbeitet mit neutralen Kausalitätsrelationen, näherhin bestimmt durch die Naturgesetze und durch regellose Zufälle. Hält man die wissenschaftliche Version der Welt für die Eigentliche, dann degeneriert die Lebenswelt zum Oberflächenphänomen, sie wird zum wesenlosen Dampf auf dem Gewässer des Realen und ist dann nichts Eigenständiges oder Substanzielles mehr. Vertritt man diese Position, dann sind materialistische Schlussfolgerungen unausweichlich. Dagegen soll in diesem Kapitel gezeigt werden, dass sich Wissenschaft und Lebenswelt wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse verhalten, die diese Figur allererst aufspannen. Es gibt jedoch auch die gegenteilige pragmatische Auffassung von Wissenschaft als einer unselbständigen Fortsetzung von lebensweltlicher Praxis. In beiden Fällen schrumpft die Ellipse unseres Weltverständnisses zum Kreis, der sich ewig nur um sich selbst dreht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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