Handbuch der naturwissenschaftlichen Bildung - Gisela Lück - E-Book

Handbuch der naturwissenschaftlichen Bildung E-Book

Gisela Lück

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Beschreibung

Kinder wollen den Phänomenen, die sie in ihrer Umwelt wahrnehmen, auf den Grund gehen. Gisela Lück legt ein entwicklungspsychologisch begründetes pädagogisches Konzept vor, in dessen Mittelpunkt die sinnliche Erfahrung des naturwissenschaftlichen Experiments steht. Mit einer sorgsamen Auswahl an Versuchen führt sie die Kinder auf spielerische Weise vom Staunen zum Begreifen und sprachlichen Erfassen naturwissenschaftlicher Phänomene.

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Gisela Lück

Handbuch der naturwissenschaftlichen Bildung

Theorie und Praxis für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen

Impressum

Titel der Originalausgabe: Handbuch der naturwissenschaftlichen Bildung

Theorie und Praxis für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2003, 2007

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung und Konzeption: R·M·E Roland Eschlbeck/​Rosemarie Kreuzer

Illustration: Barbara Theis

Fotos: Gisela Lück

E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin

ISBN (E-Book): 978-3-451-80474-8

ISBN (Buch): 978-3-451-28059-7

Meinem früheren Kinderarzt Dr.Dietrich C. Zschocke

Inhalt

Impressum

Vorwort

Teil I: Theoretische Vorüberlegungen

1 Stolpersteine der frühen Naturwissenschaftsvermittlung: eine Bestandsaufnahme

2 Warum die Naturwissenschaften in den elementar-pädagogischen Bildungsauftrag gehören

3 Was Vorschulkinder verstehen können: entwicklungs- und kognitionspsychologische Konzepte

Die kognitionspsychologische Sichtweise Piagets

Die psychoanalytisch geprägte Entwicklungspsychologie Eriksons

Exkurs: Neurophysiologische Aspekte zum naturwissenschaftlichen Lernen

4 Was Kinder bereits wissen: intuitive Zugänge zu Naturphänomenen

Unterscheidung zwischen materiell und immateriell

Gewicht-Konzept

Schweben und Sinken

Aggregatzustände und ihre Veränderungen

Lösungen

Kausalität

Resümee

5 Motivationale Aspekte der Naturwissenschaftsvermittlung

Interesse im frühen Kindesalter

Extrinsische und intrinsische Motivation

Vom Interesse zur Glückserfahrung

Zum Interesse von verhaltensauffälligen und behinderten Kindern an Naturphänomenen. Ein Erfahrungsbericht

6 Was bleibt hängen? Zur Nachhaltigkeit frühzeitiger Naturwissenschaftsvermittlung

Die Erinnerungsfähigkeit von Vorschulkindern

Langzeitwirkungen einer frühen Heranführung an die Naturwissenschaften

7 Wenn die unbelebte Natur beseelt wird: die Rolle der Animismen im Vermittlungsprozess

Was bedeutet Animismus?

Zur Kritik von Animismen in der Naturwissenschaftsdidaktik

Möglichkeiten und Grenzen animistischer Erklärungen

8 Die Bedeutung der sinnlichen Erfahrung beim naturwissenschaftlichen Experimentieren

Warum Sprache höher bewertet wird als die Sinne: ein kleiner Ausflug in die Philosophie

Mit Sinn und Verstand: Die Perspektive der Entwicklungs-psychologie

Exkurs: der Volksmund und die Sinne

Die Rolle der Ästhetik beim naturwissenschaftlichen Experimentieren

Teil II: Die Praxis

1 Experimentieren mit Kindern

Was grundlegend zu beachten ist

Vorbereitung und Ablauf eines Experimentiertages

Anforderungen zur Durchführung von Experimenten

Experimentierreihe I: Luft und Gas, Feuer und Lösungen

1. Experimentiertag: Luft begreifen

2. Experimentiertag: Luft hat Eigenschaften

3. Experimentiertag: Luft und die Kerze

4. Experimentiertag: Es gibt noch andere Gase als Luft

5. Experimentiertag: Die Löslichkeit von Feststoffen in Wasser

6. Experimentiertag: Wiedergewinnen von Feststoffen aus Lösungen

Experimentierreihe II: Wasser

7. Experimentiertag: Die Wasseroberfläche und die Mischbarkeit von Flüssigkeiten

8. Experimentiertag: Schwimmen und Sinken

9. Experimentiertag: Unterschiedliche Saugfähigkeit von Materialien und was dahinter steckt

10. Experimentiertag: … noch mehr Eigenschaften von Wasser

11. Experimentiertag: Versuche zur Chromatographie

Experimentierreihe Teil III: Lebensmittel

12. Experimentiertag: Vitamine

13. Experimentiertag: Rund ums Ei

14. Experimentiertag: … noch einmal Kohlenstoffdioxid

15. Experimentiertag: Farbindikatoren

2 Was Medien zur frühen Naturwissenschaftsvermittlung beitragen

Naturwissenschaftsvermittlung durch Fernsehsendungen

Was der Bücherwurm über Naturwissenschaften erfahren kann

Hörkassetten oder: Was Benjamin Blümchen von Naturwissenschaften versteht

Experimentierkästen für Kinder

Naturwissenschaftsmuseen für Kinder

Kinder und elektronische Medien

Resümee

Eine Schlussbemerkung

Glossar der chemischen Begriffe

Literatur

Vorwort

Genau genommen ist es eigentlich nichts Neues, Kinder im frühen Kindesalter mit Naturphänomenen vertraut zu machen. Nicht nur die Vermittlung biologischer, sondern vor allem auch physikalischer und chemischer Erscheinungen hat bereits eine lange Tradition.

Während heute das frühzeitige Heranführen an Phänomene der unbelebten Natur oft mit Erstaunen und manchmal sogar mit Skepsis betrachtet wird, gehörte dies zu anderen Zeiten zum selbstverständlichen Bildungskanon - auch von jüngeren Kindern. Diese Zeiten liegen allerdings schon etliche Jahre zurück. Nachdem im 18. und 19. Jahrhundert die Naturwissenschaften eine nie zuvor gekannte Blüte erlebten und viele neue Entdeckungen hervorbrachten, die das alltägliche Leben erleichterten - etwa die Erfindung des elektrischen Lichts oder der künstlichen Düngemittel -, entwickelte sich im viktorianischen England geradezu eine Naturwissenschaftseuphorie, die in der Mitte und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Menschen erfasste: Das Interesse an Chemie und Physik war so verbreitet, dass viele Haushalte ihre eigenen kleinen Labors einrichteten, um die neuen Entdeckungen ins eigene Haus zu holen, und auf diese Weise Anteil am Zeitgeschehen zu haben. Entsprechend entstand auch eine Nachfrage an Büchern mit einfachen chemischen und physikalischen Experimenten, die - wenn nicht im eigenen Labor - so doch am Küchentisch durchgeführt werden konnten. Das Buch „The Science of Home Life” - sinngemäß übersetzt ‚Naturwissenschaften in unserm Haushalt‘ von A. J. Bernays oder das Buch „Chemical Recreations” - zu Deutsch „Chemische Lustbarkeiten” erfreuten sich schon in Kürze zweistelliger Auflagen. Nicht selten wurde die in diesen Büchern beschriebene Küchenchemie als gemeinsamer Zeitvertreib in der Familie durchgeführt: Man ließ ein Stück Kreide in ein Glas mit Essig fallen, beobachtete, wie es sprudelte, und goss das entstandene Gas über eine Kerzenflamme, wodurch diese zur allgemeinen Verblüffung sofort gelöscht wurde.

Entsprechend groß war auch das öffentliche Interesse an naturwissenschaftlichen Vorlesungen. Wenn Humphry Davy, einer der Begründer der Elektrochemie und Entdecker zahlreicher chemischer Elemente, Vorträge an der Londoner Royal Institution hielt, versammelten sich große Menschenmengen vor den Sälen und blockierten sogar die Straßen. Es ist überliefert, dass auch Kinder an diesen Ereignissen teilnahmen und noch viele Jahre später nachhaltig beeindruckt waren!

Ein Schüler Davy's, Michael Faraday, ließ es sich nicht nehmen, alljährlich zur Weihnachtszeit Vorlesungen für Kinder und Jugendliche abzuhalten, die zu einer Art ‚Straßenfeger‘ Londons wurden, so etwa seine berühmte Vorlesungsreihe ‚Naturgeschichte einer Kerze‘.

Eine zweite Welle der Naturwissenschaftseuphorie liegt weniger lange zurück und erfasste auch die Menschen hierzulande: Nach dem so genannten Sputnikschock in Folge der ersten Weltraumerkundungen, der den Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen aufdeckte, wurden in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Unterrichtslehrpläne neu formuliert und gerade auch jüngeren Kindern das Lernen von Chemie und Physik nahe gebracht, oder besser gesagt: ‚verordnet‘. Anders als bei der ersten Welle strebte man dabei allerdings -wie so oft in diesen Fällen - ein Extrem an, das an den Interessen und den kognitiven Möglichkeiten der Kinder vorbeiging. Durch Mathematisierung der Naturphänomene und unnötigen Formeldrill wurde das aufkeimende kindliche Naturinteresse schon bald nachhaltig erstickt. Die Reaktionen blieben nicht aus: Desinteresse, ja sogar Ressentiments machten sich gegenüber den Naturwissenschaften breit. Späte Einführung der Naturwissenschaften und resolutes Herausnehmen aller naturwissenschaftlichen Inhalte aus den Lehrplänen der Fachschulen für Sozialpädagogik waren die Folgen. Diese Auswirkungen bestimmten fast dreißig Jahre unser Bildungssystem.

Erst allmählich wird seitens der Frühpädagogik wieder wahrgenommen, dass Kinder sogar schon im Vorschulalter mit großem Interesse die Vorgänge ihrer Umgebung verfolgen und ihre Zusammenhänge ergründen wollen. Nicht von ungefähr sind Naturwissenschaftssendungen für Kinder schon seit Jahrzehnten ein Renner. Vor allem aber die für das Bildungsniveau deutscher Schüler erschreckenden Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien haben wieder frischen Wind in die Debatte gebracht. Wir befinden uns heute in der bildungspolitisch bemerkenswerten Situation, dass für das frühe Kindesalter wieder mehr Bildung eingefordert wird, auch und gerade im Bereich der Naturwissenschaften. Das Pendel scheint wieder deutlich in Richtung Naturwissenschaftsvermittlung zurückzuschwingen - und zwar mit der Wucht von 30 Jahren aufgestauten Verharrens.

Statt bildungspolitischem Aktionismus und gut gemeinten Reformbemühungen ist daher Behutsamkeit gefragt, damit das kindliche Interesse nicht unter einem möglichen Naturwissenschaftsdrill verschüttet wird.

Es besteht die berechtigte Sorge, die Fehler von damals zu wiederholen. Daher werden heute Fragen diskutiert, die in den früheren Naturwissenschaftswellen keine Rolle spielten: ‚Ist die Vorschule aus Sicht der Entwicklungspsychologie überhaupt schon in der Lage, Naturphänomene begreiflich zu machen, ohne das Kind zu überfordern?‘ oder ‚Welche Konsequenzen hat es, ein Kind schon so früh in Kognitionsprozesse einzubinden?‘ Ist die von Donata Elschenbroich kritisierte ‚wissensfreie Kindheit‘ nicht doch ein Privileg, das wir den Kindern erhalten sollten? Die Pädagog/​innen vor Ort im Kindergarten stehen vor einer großen Herausforderung, vor allem auch deshalb, weil in ihrer eigenen Ausbildung das Thema Naturwissenschaftsvermittlung oftmals deutlich zu kurz gekommen ist.

Aus diesen Gründen ist eine grundlegende Neuorientierung der frühen Naturwissenschaftsvermittlung notwendig. Das vorliegende Buch möchte diese vermitteln. Es will Bedenken gegenüber einer zu frühen Naturwissenschaftsvermittlung anhand neuerer Untersuchungsergebnisse ausräumen und Hilfestellungen zum Einstieg ins naturwissenschaftliche Experimentieren mit Kindern geben. Gleichzeitig soll es dazu beitragen, dass die Heranführung an die Naturphänomene mit Augenmaß betrieben wird, so dass das natürliche Interesse der Kinder im Blick bleibt, ohne einen zu frühen Lernstress in Gang zu setzen.

Deshalb beginnt das vorliegende Handbuch zur naturwissenschaftlichen Bildung in Teil I mit theoretischen Aspekten: Nach einer kurzen Einführung in den naturwissenschaftlichen Bildungsbegriff wird in Ausführungen zur Entwicklungspsychologie mit dem alten Vorurteil aufgeräumt, dass Kinder im Vorschulalter noch ‚zu klein‘ für einen Zugang zu Naturphänomenen seien. Diese Überlegungen werden durch Erkenntnisse der Neurobiologie unterstützt. In weiteren Kapiteln folgen Ausführungen zu kindlichen Zugängen zu Naturphänomenen, die bereits intuitiv angelegt sind, zur Interessensbildung bei Kindern zum Thema Naturphänomene, zu ihrer Erinnerungsfähigkeit an die Deutung durchgeführter Experimente, zur Rolle der Animismen im Vermittlungsprozess sowie zur Bedeutung der sinnlichen Dimension beim naturwissenschaftlichen Experimentieren.

Der zweite Teil dieses Buches widmet sich ausschließlich der Praxis. Hier wird eine Auswahl von 26 Experimenten vorgestellt, die für den Elementarbereich zusammengestellt und dort evaluiert wurden. Neben einer ausführlichen Beschreibung der Experimentdurchführung wird dabei ganz besonders viel Wert auf die Deutung des Phänomens und deren Vermittlung an Kinder gelegt. Im letzten Kapitel werden außerschulische Naturwissenschaftsmedien, wie Fernsehen oder Sachbücher, kritisch unter die Lupe genommen.

… und um zum Anfang zurückzukehren: So manch ein Küchenchemie-Experiment, das im 19. Jahrhundert das viktorianische Bürgertum begeisterte, hat auch heute noch nichts an Attraktivität verloren und ist daher auch in der vorliegenden Sammlung von Experimenten für den Elementarbereich dabei.

Ich wünsche Ihnen und den Kindern viel Spaß beim Staunen über und Begreifen von Naturphänomenen.

Teil I: Theoretische Vorüberlegungen

1 Stolpersteine der frühen Naturwissenschaftsvermittlung: eine Bestandsaufnahme

In einer der wohl packendsten neueren Autobiographien erinnert sich der Mediziner und Neurologe Oliver Sacks, wie er in seiner rund 60 Jahre zurückliegenden Kindheit an Naturphänomene herangeführt worden ist:

„Ständig bombardierte ich meine Eltern mit Fragen. Woher die Farben kämen. Wie es meiner Mutter gelinge, die Flamme des Gasbrenners zu entzünden. Was mit dem Zucker geschehe, wenn man ihn in den Tee rühre. Wo er bleibe. Warum sich Blasen bildeten, wenn Wasser koche […]”(Sacks 2002, S.10).

Und etwas später schreibt er einen Satz, der angesichts seiner späteren Naturwissenschaftlerkarriere eigentlich gar nicht verwunderlich ist: „Meistens ging meine Mutter geduldig auf meine Fragen ein […]” (Ebd., S.10f.).

So wie es dem fünfjährigen Oliver vor vielen Jahrzehnten erging, so fordern auch heute noch Kinder im Vorschulalter mit ‚Warum-Fragen‘ Antworten auf ihre Neuentdeckungen ein, wie etwa, warum es nachts dunkel wird oder warum die Sonne heiß ist. Kinder im Vorschulalter sind nicht nur an der Tier- und Pflanzenwelt, sondern gerade auch an Phänomenen der unbelebten Natur interessiert.

Oftmals wird dann aber nicht - wie im Falle von Oliver Sacks - die Mutter zur Stelle sein können, um kindgerechte Antworten zu geben und zu weiteren Fragen zu inspirieren. Stattdessen wird mit Sätzen wie: ‚Dafür bist du noch zu klein‘ von der eigenen Unwissenheit abgelenkt oder die Ungeduld kaschiert. Gerade wir, die wir den Bildungsauftrag erfüllen wollen und im Staffellauf der Generationen das Wissens- und Bildungsgut weitergeben sollen, haben in unserer eigenen Schul- und Berufsausbildung so wenig über Naturphänomene erfahren. In trockener Formelsprache und fernab jeglicher Anschaulichkeit vermittelt, blieben für viele von uns Chemie und Physik ein Buch mit sieben Siegeln. Zwar war auch in unseren Kindertagen das Interesse an Naturphänomenen sicherlich groß, doch durch das häufig vergebliche Warten auf Antworten ging dieses im Laufe der Zeit verloren und wich einer Gleichgültigkeit bis hin zum Ressentiment gegenüber den Themenfeldern, die doch so viel Einfluss auf unser Leben haben.

Im Sachunterricht überwiegen biologische Themen

Rudimente naturwissenschaftlichen Verstehens hielt bestenfalls die belebte Natur bereit: Biologische Phänomene, wie das Wachsen einer Tulpe aus einer Zwiebel oder die eines Schmetterlings aus einer Raupe sind nicht nur farbenprächtige Naturereignisse, sondern vermitteln uns durch die Zuverlässigkeit der Wiederholung auch ein Gefühl der Vertrautheit und des Verstehens. Wer als Kind mit biologischen Themen vertraut gemacht worden ist, kann diese Beobachtungen an Kinder weitergeben. Folgerichtig nehmen biologische Themen, vor allem im Elementar- und Primarbereich, immerhin rund 40% des Sachunterrichtsanteils ein! Aber gelingt es uns wirklich, einem staunenden Kind zu erklären, warum sich aus einer Raupe ein Schmetterling entwickelt, wie aus einer Zwiebel eine Tulpe entstehen kann? Finden wir für diese hochkomplexen Vorgänge kindgerechte Erklärungen? Häufig sieht das Kind in den unterschiedlichen Entwicklungsstadien auch voneinander völlig unabhängige Lebewesen (Carey; Gelman 1991, S.270). Und wie sieht es mit einem experimentellen Zugang aus, der gerade im Vorschulalter so wichtig ist? Können wir Kindern bei biologischen Phänomenen eine Gelegenheit zum Experimentieren bieten, die die Nähe zum Phänomen, zur Beobachtung und sinnlichen Wahrnehmung fördert? Nach dem Einpflanzen der Zwiebel muss das Kind -bei allem Handlungsdrang - in der Beobachterrolle verharren und zahlreiche Kaulquappen haben das Froschstadium niemals erreicht, weil ungeduldige Kinderhände ‚mitmachen‘ wollten …1

Damit soll keinesfalls die Biologie verunglimpft werden, und es ist natürlich in jedem Fall sinnvoll und richtig, Kinder an biologische Phänomene heranzuführen. Allerdings bieten sich diese weniger für eine Deutung an. Problematisch wird es überdies, wenn die Naturerfahrung ausschließlich auf Phänomene der belebten Natur begrenzt bleibt und Phänomene der unbelebten Natur zu kurz kommen, weil wir sie selbst nicht vermitteln können. Das kann zu einem einseitigen Naturwissenschaftsverständnis führen, demzufolge alles Belebte, Biologische gut und alles Chemische schlecht ist.

Auch die unbelebte Natur hält viele ästhetische Erlebnisse bereit

Und vielleicht gibt es auch noch ein ästhetisches Argument, das der Pflanzen- und Tierwelt den Vorzug gibt: Diese hält so faszinierende Naturschauspiele bereit, mit denen die unbelebte Natur scheinbar nicht konkurrieren kann. Aber haben Sie schon einmal genau hingeschaut, wie sich ein Zuckerwürfel in einem Glas mit Wasser auflöst und die Ästhetik des allmählichen Auflösens, beginnend an den Ecken, dann an den Zuckerwürfelkanten bis hin zu den Flächen, bewundert?!

Es gibt viele Gründe dafür, dass neben biologischen Phänomenen auch die Phänomene der unbelebten Natur im Elementarbereich (wieder) Einzug halten sollten. Voraussetzung dafür ist jedoch die fachliche Unterstützung der Elementarpädagog/​innen bei der Auswahl und Deutung der Naturphänomene, nicht zuletzt deshalb, weil dieses Themenfeld vielen noch nicht so ganz vertraut ist.

In der Pubertät dominiert das Interesse an soziologischen Themen

Wenn in der Familie oder im Kindergarten die Antworten auf Warum-Fragen ausbleiben, bieten sich den interessierten Kindern meist nur zwei Möglichkeiten an, ihren Wissensdurst zu stillen: zum einen die Medien - allen voran das Fernsehen mit Kindersendungen, wie die ‚Sendung mit der Maus‘ oder ‚Löwenzahn‘, die mit hohen Einschaltquoten Zeugen des Wissensdurstes der Kleinen sind. Die andere Möglichkeit ist das Warten. Warten, bis das Bildungssystem die naturwissenschaftliche Neugierde befriedigt. Dazu wäre allerdings viel Geduld erforderlich, denn in der Grundschule kommen naturwissenschaftliche Themenfelder nur im Sachunterricht vor, der bislang als Fächerkonglomerat aus Sozial- und Naturwissenschaften nur wenig Zeit für Themen der unbelebten Natur reserviert; biologische Themen sind deutlich häufiger vertreten. Es muss also weiter gewartet werden, bis in den weiterführenden Schulen nun endlich Chemie und Physik eingeführt werden - je nach Bundesland oftmals erst in Klasse sieben oder acht. Es kann als gesichert gelten, dass bei den inzwischen Dreizehn- oder Vierzehnjährigen die einstmalige Neugierde an naturwissenschaftlichen Themen verflogen ist, zumal sich das Interesse mit Beginn der Adoleszenz eher hin zu soziologischen Themenfeldern verlagert, die den Jugendlichen Antworten auf das Erwachsenwerden geben. Unter entwicklungspsychologischen Aspekten wird also für die Naturwissenschaftsvermittlung nicht gerade der günstigste Zeitpunkt gewählt. Bei so viel Ignoranz überrascht daher die Quittung nicht, die unser Bildungssystem in den jüngsten internationalen Vergleichsstudien erhalten hat.

Aus diesem Grund sind Kindergärten und Kindertageseinrichtungen bei der Hinführung zu Naturphänomenen ganz besonders gefordert. Neben den anderen Erziehungs- und Bildungsaufgaben zählen auch die Naturwissenschaften zum Bildungskanon des Elementarbereichs.

2 Warum die Naturwissenschaften in den elementarpädagogischen Bildungsauftrag gehören

Im allgemeinen Bewusstsein gilt es als unbestritten, dass geisteswissenschaftliche Kenntnisse, sei es über Philosophie, Poesie oder Geschichte eindeutig zur Bildung gehören. Einen Menschen, der bei diesen Themen ‚mitreden‘ kann, würden wir ohne zu zögern als gebildet bezeichnen. Wenn jedoch jemand die Elemente des Periodensystems aufzuzählen vermag, mit der Nachweisreaktion von Zucker oder Eiweiß vertraut ist oder erklären kann, warum sich im Herbst die Blätter verfärben, so würden wir diesen Menschen nicht unbedingt als gebildet wahrnehmen. Bei naturwissenschaftlicher Kompetenz wird eher von Wissen gesprochen.

Dies überrascht angesichts der Tatsache, dass in Deutschland seit dem Beginn der modernen Naturwissenschaften vor rund 250 Jahren eine große Anzahl von naturwissenschaftlichen Entdeckungen gemacht wurden, im deutschen Nationalmythos aber nur vom Volk der ‚Dichter und Denker‘ gesprochen wird, die ‚Forscher und Tüftler‘, die den Weg für volkswirtschaftlichen Wohlstand und zivilisatorischen Komfort geebnet haben, hingegen außen vor gelassen werden.

Ob Chemie, Physik oder Astronomie - sämtliche Naturwissenschaftsdisziplinen haben es schwer in der Anerkennung ihrer Inhalte als Bildungsgüter. Das hat sicherlich auch etwas mit der Selbstdarstellung dieser Disziplinen zu tun. Einzelfakten scheinen im Vordergrund zu stehen, in der Forschung eine extreme Spezialisierung, die kaum mehr soziale oder ökologische Faktoren berücksichtigt, so dass die Kenntnisse kaum zu einer Werteorientierung oder ganzheitlichen Sichtweise der Mitwelt beitragen.

Differenzierte Einsichten in die Prozesse unserer Umwelt

Naturwissenschaftliche Grundkenntnisse eröffnen berufliche Perspektiven und fördern die Meinungsbildung

Tatsächlich können aber gerade die Naturwissenschaften viele Erkenntnisse im Hinblick auf Vernetzung und Zusammenhänge hervorbringen, die uns eine differenzierte Einsicht in die Prozesse unserer Umwelt vermitteln, die uns helfen, selbstverantwortlich und eigeninitiativ an der Gestaltung unserer zukünftigen Lebensbedingungen mitzuwirken und die uns erfahren lassen, wie wir unsere Umwelt nutzen können und wann wir sie schützen müssen. Zu diesen Einsichten zählt sicherlich u.a. die Tatsache, dass Stoffe nicht einfach spurlos verschwinden können (Gesetz von der Erhaltung der Masse), auch wenn wir dies umgangssprachlich mit Formulierungen wie ‚Mein Schlüsselbund ist weg‘ vorgeben. So wie der Schlüsselbund ganz sicherlich nicht weg, sondern nur an einem anderen Ort ist, so ist ein Stoff niemals ganz verschwunden, er hat sich lediglich chemisch umgewandelt, so etwa im Falle von Wachs, aus dem beim Abbrennen einer Kerze Kohlenstoffdioxid und Wasser entstanden ist. Oder der Stoff ist für unser Auge unsichtbar geworden, beispielsweise wenn ein Zuckerwürfel sich in Wasser oder Tee löst. Weg ist der Zucker bestimmt nicht, sonst könnten wir ihn nicht schmecken. Aus einem derartigen Beziehungsgeflecht von Erkenntnissen, zu deren Grundlage sicherlich auch Faktenwissen gehört, erwächst eben nicht allein naturwissenschaftliches Wissen, sondern naturwissenschaftliche Bildung. Nun ist der Bildungsbegriff, seitdem Wilhelm von Humboldt ihn vor ca. 200 Jahren prägte, mit sehr viel widersprüchlichen Inhalten belegt worden.1 Hier sei deshalb nur ein Aspekt in Bezug auf unser Thema herausgehoben: Naturwissenschaftliche Grundkenntnisse stellen eine der wesentlichen Kompetenzen für die partizipative Gestaltung unserer Gesellschaft dar und eröffnen neben beruflichen Perspektiven vor allem auch den Weg zu einer eigenständigen Meinungsbildung in Bezug auf technische bzw. naturwissenschaftliche Entwicklungen.

Warum aber sollte naturwissenschaftliche Bildung Bestandteil der Elementarpädagogik sein? Zu den Kernaufgaben des Elementarbereichs zählen nach dem Sozialbundesgesetzbuch VIII die drei Säulen Bildung, Erziehung und Wissensvermittlung. Gerade dem Bildungsaspekt kommt in den letzten Jahren eine zunehmend größere Rolle zu. So heißt es etwa in der Empfehlung des Forums Bildung: „Weichen für Bildungschancen und damit für Lebenschancen werden bereits früh gestellt. Insbesondere die Motivation und die Fähigkeit zu kontinuierlichem und selbstgesteuertem Lernen sind früh zu wecken. Neben dem wichtigen Lernen in der Familie sind die Möglichkeiten der Kindertageseinrichtungen zur Unterstützung früher Bildungsprozesse deutlich besser zu nutzen”. (Arbeitsstab Forum Bildung 2001, S.9).

Die Schlüsselqualifikationen, die durch Bildung vermittelt werden, sind in einem langen Katalog durch die Bund-Länder-Kommission zusammengefasst, von denen hier nur drei hervorgehoben werden sollen:

System- und Problemlöseorientierung:

Darunter wird das Verstehen komplexer Situationen sowie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel zusammengefasst. Ebenso zählen dazu die Urteilsfähigkeit, zukunftsgerichtetes Denken, Phantasie, Kreativität, Forschungsgeist u.

a.

Situations-, Handlungs- und Partizipationsorientierung

: Diese Fähigkeiten sollen u.

a. zur Entscheidungsfähigkeit beitragen, Mitbestimmung ermöglichen und Handlungskompetenzen fördern.

Ganzheitlichkeit

: Sie umfasst u.

a. eine möglichst umfassende Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit (vgl. Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung 1998). 

Naturwissenschaftliche Erfahrungen fördern die Problemlöseorientierung

Dass naturwissenschaftliche Bildung einen Beitrag zu diesen genannten Schlüsselqualifikationen leisten kann, liegt auf der Hand. Mehr noch: Naturwissenschaftliche Erfahrungen und insbesondere die Deutung naturwissenschaftlicher Phänomene bieten sich geradezu dazu an, Qualifikationen wie Problemlöseorientierung und Ganzheitlichkeit zu erwerben.

Betrachtet man Bildung nicht im Sinne von Bildungsziel, sondern als Aktivität, die vom Kind ausgeht, so kann man diese auch als ‚Aneignung von Welt‘ im Sinne von Selbstbildung verstehen, wobei dem Elementarbereich die Aufgabe zukommt, bei diesem Prozess helfend die Hand auszustrecken (vgl. hierzu auch Laewen, Andres 2002; Schäfer 1995). Auch aus diesem Blickwinkel des Bildungsbegriffs kommt der naturwissenschaftlichen Bildung im Vorschulbereich ein fester Platz zu, bedenkt man einmal, mit welchem Eigenantrieb und Interesse Kinder Antworten auf Fragen zu Naturphänomenen geradezu ‚einklagen‘. Im Folgenden sollen die unter dem Bildungsaspekt vielfältigen Ansatzpunkte der frühkindlichen Annäherung an Naturphänomene an einem Beispiel genauer beleuchtet werden.

Umgangssprachlich hat sich der Begriff ‚Nichts‘ auch bei Vorschulkindern bereits fest etabliert. Da werden Formulierungen verwendet wie: „In der Spielecke ist nichts”, wenn eigentlich gemeint ist, dass sich dort nicht die gewünschten Spielsachen befinden, wohl aber ein Teppich, eine Kiste, möglicherweise auch ein Stuhl und ein Tisch … und eben auch Luft. Letztere kommt in unserem Sprachgebrauch nur selten unter naturwissenschaftlicher Perspektive vor. Meistens wird sie mit dem Begriff ‚nichts‘ gleichgesetzt. So ist beispielsweise ein Glas leer, obwohl es eigentlich randvoll mit Luft gefüllt ist. Ohne Frage zählt Luft zu den lebenswichtigsten Stoffen, die uns umgeben. Trotzdem findet sie kaum eine Berücksichtigung - allenfalls umgangssprachlich durch einen Satz wie: „Wir gehen nach draußen an die frische Luft”, was bei Kindern zu der Vorstellung führt, dass sich Luft eben nur draußen im Freien befindet.

In einem einfachen Experiment, das im Praxisteil dieses Buches ausführlich beschrieben wird, kann das Phänomen Luft Vorschulkindern näher gebracht werden: Ein leeres Glas wird mit der Öffnung nach unten in eine mit Wasser gefüllte Salatschüssel getaucht und leicht schräg gehalten. Dabei entweichen mit einem blubbernden Geräusch Luftblasen nach oben. Luftblasen oder Nichtsblasen? Das Kind schließt schnell darauf, dass es sich hier um mehr als nur um ‚nichts‘ handeln muss. Blasen sind auch im Innern mit etwas gefüllt - nämlich mit Luft, die aus dem schräg gehaltenen Glas entweicht.

Sinnliche, soziale und kognitive Erfahrungen durch Experimente

Dieses Experiment enthält unterschiedliche Bildungsfacetten: Die sinnliche Erfahrung wird auf ein Ereignis fokussiert: Neben dem Experimentieren selbst, das schon ein wenig Geschicklichkeit erfordert, kommen der Gesichtsinn, der akustische Sinn, aber auch die taktile Wahrnehmung zum Einsatz. Es muss genau beobachtet werden, und zwar zu einem vorgegebenen Zeitpunkt, denn im nächsten Augenblick ist das Geschehen vorbei. Damit auch die anderen Kinder der Gruppe ‚ganz Ohr‘ sein können, müssen sich alle für einen Augenblick ruhig verhalten und dürfen dem anderen die Sicht nicht nehmen. Es spielen also auch soziale Komponenten beim Experimentieren mit hinein. Soll das Beobachtete formuliert werden, sind sprachliche Kompetenzen gefordert oder genauer: sie werden gefördert. Um beim Beispiel zu bleiben: Das Aufzählen der zum Experimentieren erforderlichen Gegenstände bereitet manch einem Kind schon einige Schwierigkeiten: Da wird anstelle des Begriffs ‚Glas‘ der Begriff ‚Becher‘ verwendet. Der Begriff ‚Blase‘, ist sicherlich auch nicht allen geläufig. Das Nennen der Begriffe bei gleichzeitigem sinnlichen Wahrnehmen des Gegebenen bietet einen unmittelbaren Zugang zur sprachlichen Umsetzung.

Neben sinnlicher Erfahrung, sozialem Austausch und sprachlicher Förderung kommt nun noch der entscheidende kognitive Aspekt hinzu. Das Naturphänomen bedarf einer Deutung. Dies entspricht dem Wissensdrang der Vorschulkinder, den sie mit zahlreichen Warum-Fragen zum Ausdruck bringen. ‚Warum kommt eine Blase aus dem Wasser, wenn ich ein leeres Glas schräg halte? Woraus besteht die Blase? Wo kommt das Blaseninnere her?‘ Von der Luft in der Blase auf die Luft in dem vermeintlich leeren Glas zu schließen, macht es erforderlich, dass das Kind in Kausalbeziehungen zu denken lernt: ‚Wenn - dann‘ ist eine der grundlegenden Beziehungen im naturwissenschaftlichen Verstehen. Wenn in der Blase Luft ist und die Blasen aus dem unter Wasser gehaltenen Glas entwichen, dann muss auch im Glas Luft sein. Und wie kommt die Luft ins Glas? Sie war schon vorher dort. Die nächste Wenn-dann-Beziehung wird eingeleitet. Wenn Luft schon vorher im Glas war, dann ist Luft eben nicht nur draußen, sondern zumindest auch in dem Glas - aber vielleicht auch überall. Das kann in weiteren Experimenten überprüft werden. Mit der Deutung des Experiments wird nun allmählich eine entscheidende Erkenntnis vorbereitet. Nicht ‚Nichts‘ ist existent, sondern Luft. Nur das, was vorhanden ist, kann auch geachtet, geschützt und erhalten werden.

Stellt man diese im Experimentieren und Deuten enthaltenen Bildungsaspekte den genannten Schlüsselbegriffen gegenüber, so wird ersichtlich, dass Bildung ohne naturwissenschaftliche Aspekte nicht auskommen kann und unser Auftrag im Elementarbereich nur unzulänglich verwirklicht wird.

Auch mit einer noch so umfassenden Definition des Bildungsbegriffs und seiner Übertragung auf eine frühzeitige Heranführung an Naturphänomene ist noch nicht geklärt, ob die Vermittlung naturwissenschaftlicher Inhalte im Elementar- bzw. Vorschulbereich überhaupt auf fruchtbaren Boden fällt: Können Vorschulkinder denn überhaupt naturwissenschaftliche Experimente nachvollziehen und die Deutungen verstehen und behalten? Welche Antworten gibt uns die Lern- und Entwicklungspsychologie?

3 Was Vorschulkinder verstehen können: entwicklungs- und kognitionspsychologische Konzepte

Die Tatsache, dass Kinder im Kindergartenalter über Naturphänomene staunen und interessierte Warum-Fragen stellen, ist ein zwar wichtiger Hinweis auf einen günstigen Zeitpunkt zur Naturwissenschaftsvermittlung. Für eine fundierte Begründung ist jedoch die Auseinandersetzung mit entwicklungspsychologischen und kognitionspsychologischen Erkenntnissen unerlässlich. Es geht um die Frage, inwieweit Kinder die notwendigen geistigen Voraussetzungen entwickelt haben, um naturwissenschaftliche Phänomene verstehen und begreifen zu können.

Es würde den Rahmen sprengen, sich hier mit allen unterschiedlichen Positionen auseinander zu setzen, die zur Diskussion um Naturwissenschaftsinteresse und kognitive Fähigkeiten beigetragen haben. Daher sollen im Folgenden nur zwei maßgebliche Vertreter exemplarisch vorgestellt werden: Jean Piaget und Erik Erikson. Der eine steht für eine kognitionspsychologische Sichtweise, der andere für eine psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie.

Die kognitionspsychologische Sichtweise Piagets

„Wer die Fragen der Entwicklung geistiger Strukturen bearbeiten will, hat keine andere Wahl, als sich mit Piaget zu befassen” - so lauten die einführenden Worte von Hans Aebli, einem ehemaligen Schüler von Piaget, in seinem Vorwort zu „Über die geistige Entwicklung des Kindes”. (Aebli 1982, S.11).1 Tatsächlich zählt der Schweizer Psychologe Jean Piaget (1896-1980) zu den bedeutendsten Pionieren der Entwicklungspsychologie und übt bis heute einen erheblichen Einfluss auf unser Bildungssystem aus.

Für das Denken sind geistige Strukturen notwendig

In zahlreichen empirischen Untersuchungen erforschte Piaget „Die Entwicklung des Erkennens” - so ein Titel seines mehr als zehn Bände umfassenden Gesamtwerks.2 Er stellte die Frage in den Mittelpunkt, wie sich die Erkenntnisfähigkeit des Menschen entwickelt.3 Ausgangspunkt war für ihn, dass der Mensch bestimmte Kategorien und Fähigkeiten besitzt, die unsere Art wahrzunehmen und zu denken bestimmen. Demnach ist Denken nicht nur eine Ansammlung von Informationen. Vielmehr geht es darum, wie Erfahrungen gesucht, eingeordnet und verknüpft werden. Die für das Denken notwendigen geistigen Strukturen liegen aber nicht mit der Geburt einfach vor, sondern entwickeln sich stufenweise. Piaget ist also weniger allgemein entwicklungspsychologisch orientiert, sondern konzentriert sich darauf, wie das kindliche Denken, die Erkenntnisfähigkeit des Kindes entsteht. In seinen Studien stellt er eine Entwicklung fest, die als „Stadientheorie” in die Literatur eingegangen ist.

Wie sich das kindliche Denken entwickelt: die Stadientheorie

Die ersten beiden Lebensjahre sind von der sensu-motorischen Phase geprägt. Das heißt, dass die Entwicklung des Kleinkindes durch das Ertasten, das Fühlen und die Ausbildung der Motorik bestimmt wird. Das Kind bildet ein „vorbegriffliches Denken” aus, das sich rein auf der Wahrnehmungs-Handlungsebene vollzieht. In der Fähigkeit, ungefähr ab Mitte des zweiten Lebensjahres die Ergebnisse von Handlungen gedanklich vorwegnehmen zu können, liegt der Übergang zum Denken. Ein wichtiger Schritt hierbei ist die so genannte Objektpermanenz, d.h. das Kind hat nun auch eine Vorstellung von Gegenständen, die es nicht unmittelbar wahrnimmt.

Vom vorbegrifflichen Denken zur Hypothesenentwicklung

Diese Entwicklungsstufe wird von der so genannten präoperationalen Phase abgelöst. Die Kinder können sich zwar zusehends Gegenstände in räumlicher und zeitlicher Beziehung vorstellen. Ihr Denken ist jedoch noch stark an die konkrete Anschauung gebunden, d.h. sie sind ungefähr bis zum siebten Lebensjahr noch nicht in der Lage, logische Verknüpfungen herzustellen, beispielsweise im Sinne von „immer, wenn … dann”, oder Kausalbezüge zu erkennen. Dies gelingt erst in der nächsten Phase zwischen ca. sieben und zwölf Jahren, die von Piaget als konkretoperationale Phase bezeichnet wird. Das Denken löst sich zunehmend vom konkret Beobachteten, indem dieses auch gedanklich nachvollzogen wird. Das bedeutet, dass das Kind anhand konkret gegebener Sachverhalte logische Schlüsse ziehen kann. Die letzte Entwicklungsstufe schließlich, die formal-operationale Phase, ermöglicht logische Schlussfolgerungen auch bei nicht konkret gegebenen Objekten. Das Denken der Kinder abstrahiert nun von Sicht- und Greifbarem. Kinder entwickeln Hypothesen und prüfen diese durch planvolles Experimentieren.4

Abb.1: Piagets kognitive Entwicklungsstufen nach Miller 1993, S.57ff.

Wie Kinder ihr Gleichgewicht erlangen: das Prinzip der Äquilibration

Die im Stadienmodell dargestellte altersspezifisch geprägte Entwicklung des kindlichen Denkens kann nicht losgelöst gesehen werden von Piagets „théorie des sch›mes”. Hier betrachtet er die handlungsorientierte Begegnung des Kindes mit der Umwelt und unterscheidet dabei grundsätzlich zwei Formen. Zum einen werden Handlungsresultate an bereits bestehende Strukturen angepasst. Hat ein Kind zum Beispiel bereits erlernt, Flüssigkeiten aus einem Trinkglas zu sich zu nehmen, wird der Umgang mit einer Tasse in das bereits bestehende Handlungsrepertoire integriert. Piaget nennt dies auch Anpassung des „Objekts an das Subjekt” und wählt für diese Interaktion des Kindes mit der Umwelt den aus der Biologie übernommenen Begriff Assimilation.

Ziel ist das Herstellen eines Gleichgewichts

Geht dagegen für das Kind eine Handlung unerwartet aus, wird sein Weltbild und damit ein bestehendes Gleichgewicht zunächst gestört (Perturbation). In diesem Fall nimmt es eine andere Form der Interaktion vor, nämlich eine Akkomodation. Darunter versteht Piaget eine Korrektur der bisherigen Interpretation, eine Anpassung des „Subjekts an das Objekt”, die dazu führt, dass die kindliche ‚Weltinterpretation‘ wieder ‚passt‘ (Piaget 1996, Bd.1, S.26). Auch hierzu ein Beispiel: Hat das Kind bislang die Erfahrung gemacht, dass es nur dann mit anderen sprechen kann, wenn diese in der Nähe sind, wird der Umgang mit einem Telefon, aus dem eine vertraute Stimme klingt, das bisherige Weltbild stören, weil offensichtlich auch andere Kommunikationswege existieren. Erst wenn das Kind durch Akkomodation das Telefon als Instrument erkennt, mit dem über Entfernungen kommuniziert werden kann, wird sein Weltbild wieder ins Gleichgewicht gebracht.

Assimilation und Akkomodation sind die beiden einander ergänzenden Funktionen, die Piaget zum Oberbegriff Adaptation zusammenfasst. Der Einsatz dieser Funktionen führt nach dem Prinzip der Äquilibration, dem Bestreben nach Widerspruchsfreiheit, zu einem ‚Gleichgewicht‘, das nun durch keinerlei Widersprüche mehr gestört wird. Dieses Gleichgewicht zu erreichen ist gleichsam die Motivation, die Funktionsweisen der Assimilation und Akkomodation einzusetzen.

Mit seiner Theorie der kindlichen Erkenntnisgewinnung bringt Piaget zweierlei zum Ausdruck: Zum einen die immense Bedeutung der eigenen Erfahrung für den Lernprozess und zum anderen die Rolle des Gleichgewichts, das immer wieder vom Kind angestrebt wird und auf dessen Suche sich der Erkenntnisgewinn des Kindes vollzieht. Die Erlangung des Gleichgewichts spielt bei der Knüpfung von Wenndann-Beziehungen und deshalb auch bei der Heranführung an Naturphänomene eine große Rolle.

Eines der häufigsten Argumente gegen eine Einführung naturwissenschaftlicher Fragestellungen im frühen Kindesalter zielt darauf ab, dass sich Kinder dieses Alters noch im präoperationalen Stadium befänden, in dem die Denkstrukturen vor allem intuitiv-anschaulich geprägt und in dem logische Schlussfolgerungen - für die Interpretation von Naturphänomenen unerlässlich - noch nicht verfügbar seien. Dazu sei das Erreichen des Stadiums der konkreten Operationen oder sogar das der formalen Operationen erforderlich. Was aber macht die präoperationale Phase aus und warum sind Kinder in dieser Phase aus Sicht der Piagetanhänger noch nicht in der Lage, beispielsweise naturwissenschaftlichen Experimenten zu folgen? Um dies nachvollziehen zu können, müssen wir uns im Folgenden dem komplexen Begriff der Invarianz zuwenden, denn dieser ist auf dem Wege zum kausallogischen Denken eine Art Schlüssel in die Welt der ‚Wenn-dann-Beziehungen‘.

Wie Kinder über Materie denken: das Invarianzprinzip

Kinder wissen noch nicht, dass Materie bei Formveränderung gleichbleibt

Piaget führte zusammen mit seiner Mitarbeiterin Inhelder empirische Untersuchungen zur kognitiven Entwicklung der Vier- bis Siebenjährigen vor allem anhand der Entwicklung des physikalischen Mengenbegriffs und des Zahlbegriffs durch. Mit Abschluss der sensumotorischen Phase hat das Kind eine Vorstellung darüber entwickelt, dass Gegenstände nicht plötzlich verschwinden, sich auch nicht auflösen -Konzept der Permanenz - und sich Gegenstände zudem nicht willkürlich und plötzlich verändern - Konzept der Identität. Auf dieser Grundlage können dann „quantifizierende Aspekte der Materie” wie Gewicht, Volumen etc. in der „zweiten Kindheit”, nämlich zwischen sieben und zwölf Jahren, erlernt werden (Piaget 1996, Bd.4, S.39). Anhand empirischer Untersuchungen haben Piaget und Inhelder beschrieben, dass ein Kind in der Phase des anschaulich-intuitiven Denkens noch nicht über die Fähigkeit verfügt, in Invarianzen zu denken, d.h. zu verstehen, dass Materie auch dann mengenmäßig unverändert bleibt, wenn sich ihre äußere Form verändert. So denkt ein Kind, vor dessen Augen (!) eine Tonkugel zu einer langen, dünnen Tonschlange