Händler der Geheimnisse - Elisabeth Bronfen - E-Book

Händler der Geheimnisse E-Book

Elisabeth Bronfen

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Beschreibung

Fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs stirbt der jüdisch-amerikanische Veteran George Bromfield auf verdächtige Weise in einem Krankenhaus in New York. Kann es sein, dass seine zweite Ehefrau seinen Tod beschleunigt hat? Beim Versuch, die mysteriösen Todesumstände aufzudecken, graben seine Tochter Eva und ihr Bruder Max immer tiefer in der geheimnisumwobenen Vergangenheit ihres Vaters. In München und New York gehen die Geschwister auf Spurensuche, um herauszufinden, warum ihr Vater nach Kriegsende nach Bayern zurückgekehrt ist und wie das mit seiner Freundschaft mit einem Porträtmaler und Nazikollaborateur zusammenhängt. Gekonnt verbindet Elisabeth Bronfen eine Spionagegeschichte mit einem Familiendrama und stellt dabei das Nachwirken einer Kultur der Geheimhaltung dar, wie sie für die Nachkriegszeit ab 1945 prägend war.

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Seitenzahl: 384

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Fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs stirbt der jüdisch-amerikanische Veteran George Bromfield auf verdächtige Weise in einem Krankenhaus in New York. Kann es sein, dass seine zweite Ehefrau seinen Tod beschleunigt hat? Beim Versuch, die mysteriösen Todesumstände aufzudecken, graben seine Tochter Eva und ihr Bruder Max immer tiefer in der geheimnisumwobenen Vergangenheit ihres Vaters. In München und New York gehen die Geschwister auf Spurensuche, um herauszufinden, warum ihr Vater nach dem Kriegsende nach Bayern zurückgekehrt ist und wie das mit seiner Freundschaft zu einem Porträtmaler und Nazikollaborateur zusammenhängt.

Gekonnt verbindet Elisabeth Bronfen eine Spionagegeschichte mit einem Familiendrama und stellt dabei das Nachwirken einer Kultur der Geheimhaltung dar, wie sie für die Nachkriegszeit prägend war.

Foto Ayṣe Yavaṣ

Elisabeth Bronfen, geboren 1958 in München, lebt in Zürich. Sie ist als Kulturwissenschaftlerin an der Universität Zürich und an der New York University tätig und arbeitet in den Bereichen Literatur, visuelle Kultur und Gender Studies. Die Autorin hat zahlreiche Publikationen verfasst, u.a. zu weiblichen Todesdarstellungen, zur Kulturgeschichte der Nacht, zu Krieg im Hollywood-Kino, zur Serialität in Shakespeares Dramen, sowie ein Kochbuch.

ELISABETH BRONFEN

HÄNDLER DER GEHEIMNISSE

Roman

Limmat VerlagZürich

INHALT

PROLOG: DIE FOTOGRAFIE

KRYPTOMANIEN

DER ANRUF

ENTER GHOST

DIE BEICHTE

DER NYPD DETECTIVE

DIE ERMITTLUNG

DIE BEWEISLAST

DIE FBI-AKTE

DER EINSPRUCH

EPILOG: DER FALLSCHIRM

PROLOG

DIE FOTOGRAFIE

Wahrscheinlich war es ein Nachmittag im Frühling, denkt Eva, als sie das Foto betrachtet. Die Szene ist in Sonnenlicht getaucht und dennoch muss es kühl gewesen sein. In dem Blumenkasten, der an der Wand unter dem Fenster steht, sind noch keine Kräuter gepflanzt. Sie versucht, sich den Tag in Erinnerung zu rufen. Der Porträtmaler Konstantin Hummler, ein guter Freund ihrer Eltern, war bei ihnen zu Besuch und ließ sich mit ihr und ihren Geschwistern auf der Terrasse hinter dem Haus fotografieren. Ob er sich die Bildkomposition im Vorhinein ausgedacht hatte? Der Holzstuhl, auf dem er sich niedergelassen hat, das eine Bein über das andere geschlagen, steht genau in der linken Ecke, direkt unter einem der Fenster des Wohnzimmers. Ein Vorhang vor dem einen, die Topfpflanze auf der Fensterbank des anderen versperren die Sicht ins Innere. Die Außenwand, an der die Witterung ihre Spuren hinterlassen hat, wirkt auf Eva wie die Kulisse für eine Innigkeit, die auf dieser Bühne vorgeführt wird.

Sie selbst steht auf der rechten Seite des alten Mannes, ihre Schwester Lena auf der linken. Er hat seine Arme um die Mädchen gelegt, eine willkommene Stütze für Eva, die nur auf einem Fuß steht, das linke Bein ist angewinkelt, die Fußspitze wippt leicht nach hinten. Ihre jüngere Schwester schmiegt sich an den Oberkörper des Mannes, doch ihren Kopf hat sie nicht auf seine Schulter gelegt, sondern hält ihn gerade. Ihr Bruder Max steht etwas abseits. Mit der rechten Hand hält er sich an der Lehne des Holzstuhls fest. Sein sicherer Griff erlaubt ihm, sich leicht von dem Maler wegzuneigen, während seine Füße in der fünften Position des Balletts gekreuzt sind. Die elegante Kleidung des alten Mannes lässt Eva darauf schließen, dass die Aufnahme an einem Sonntag gemacht worden sein muss. Eine dezent gemusterte Seidenkrawatte schmückt das helle Hemd des Porträtmalers. In der Brusttasche seines Tweedjacketts steckt ein gefaltetes Taschentuch. Seine großen, handgefertigten Lederschuhe bilden einen Kontrast zu den abgetragenen Halbschuhen der Kinder. Abgesehen davon haben aber auch sie und ihre Geschwister sich für das Foto zurechtgemacht. Ihr Bruder trägt eine Strickjacke mit großen hellen Knöpfen. Sein weißes, glatt gebügeltes Hemd ist bis zum Kragen zugeknöpft. Sie selbst hat ein zu ihrem gepunkteten Kleid und dem Jackett passendes Stirnband angezogen, das die langen dunklen Haare nach hinten hält. Die hellen Wollstrümpfe passen zu der Spitzenborte an ihrem Kragen und ihrer Rocktasche. Über dem linken Ohr der jüngeren Schwester schmückt eine Schleife die Zopffrisur. Dass einer ihrer Kniestrümpfe nach unten gerutscht ist, scheint sie nicht bemerkt zu haben. Ein kleiner visueller Makel in dem ansonsten perfekten Tableau, und doch wirkt diese Unachtsamkeit passend. Eine versonnene Stimmung herrscht über der Szene.

Keine der vier Personen auf dem Bild blickt direkt in die Kamera. Vielmehr schauen die beiden Mädchen verträumt vor sich hin. Ihr jüngeres Ich lächelt Eva verschmitzt zu, als wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen, den sie für sich behalten will. Zwar hat der Maler sein Gesicht leicht nach unten zu ihrer Schwester gesenkt, doch seine Augen sind geschlossen. Eva fragt sich, ob er sich bereits vorzustellen versuchte, wie er dieses Gruppenbild auf seiner Leinwand darstellen könnte. Ihr Bruder blickt von oben auf den alten Mann herab, mit zugekniffenen Augen, als würde er diesen genau betrachten. Eva fällt auch die minime Distanz zwischen ihm und den Schwestern auf. In der Lücke, die sich zwischen seinem Körper und ihnen ergibt, erscheint der Schatten seines Arms auf der Wand hinter ihm, wodurch sich seine Gestalt im Bild geisterhaft verdoppelt.

Beim Betrachten der Fotografie wird ihr klar, wie gestellt die Szene ist. Es scheint, als hätten alle eine Pose eingenommen. Sie kann sich nicht daran erinnern, wer an diesem Nachmittag hinter der Kamera stand. Wahrscheinlich war es ihr Vater. Wenn Besuch kam, hatte er immer seinen Fotoapparat zur Hand. War er es, der die Anordnung der Personen vorgegeben hat? Hat er durch den Sucher der Kamera gesehen, dass die Bildkomposition dadurch eine Spannung gewinnen würde? Eva kann sich vorstellen, wie ihr Vater ihr und Lena die Anweisung gab, näher an den Maler heranzurücken, und Max aufforderte, sich etwas zu entfernen. Eines ist jedenfalls sicher: Ihr Vater wollte für die Aufnahme etwas Distanz von seinem Freund und seinen Kindern. Er kann sich nicht mit den anderen auf der Terrasse befunden haben, die durch mehrere Stufen von dem Rasen abgesetzt war, der sich hinter dem Haus ausbreitet. Die Perspektive, aus der das Foto aufgenommen wurde, lässt Eva vermuten, dass er dort unten gestanden haben muss, als er auf den Auslöser drückte. Die Inszenierung des Vertrauens, die er einfängt, findet auf einer leicht erhöhten Bühne statt. Er ist der Spielleiter, der die Fäden in der Hand hält. Diese unsichtbare Präsenz spürt Eva im Bild. Wenn sie den eingefrorenen Augenblick heute betrachtet, wird die Vergangenheit wieder lebendig. Noch einmal meint sie die Geborgenheit der Umarmung zu spüren und die Ruhe, die der alte Mann ausstrahlt. Doch sie weiß nicht, ob die Vertrautheit dieser Szene tatsächlich in ihrer Erinnerung gespeichert ist oder ob es nicht eher das Foto ist, das diese überhaupt erst erzeugt.

Erst viel später, als der Porträtmaler schon längst verstorben war, wurde Eva bewusst, wie ungewöhnlich seine Besuche bei ihnen zu Hause gewesen sein müssen. Seit Ende der Dreißigerjahre war Konstantin Hummler ein bedeutender Professor an der Berliner Kunstakademie gewesen. Hitler, den er mehrfach porträtierte, hielt ihn sogar für einen der wichtigsten Kunstmaler des Dritten Reichs. Zu der Zeit war Evas Vater, der Sohn osteuropäischer Juden, die irgendwann um 1910 nach Brooklyn ausgewandert waren, in London stationiert. Getroffen haben sich die beiden erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als ihr Vater als Offizier bei der amerikanischen Militärregierung in Bayern tätig war. In München konnte er den Krieg gegen die Nazis fortführen, als es nach Kriegsende darum ging, zu entscheiden, wer vor der Spruchkammer für seine Aktivitäten im Dritten Reich angeklagt werden sollte und wer ohne Bedenken entnazifiziert werden durfte.

Auch Konstantin Hummler war nach Kriegsende in seine Heimat in die bayerische Hauptstadt zurückgekehrt. Mit dem Wegzug aus Berlin wollte er sich von dem politischen System distanzieren, er musste jetzt einsehen, wie grausam und unrechtmäßig es war. In München unterrichtete er nicht mehr. Er nahm keine öffentlichen Ämter mehr an, saß in keiner Jury. Er malte nur noch Porträts in privatem Auftrag.

Das Foto hat Eva von Hummlers Ehefrau Katja, die ihn um viele Jahre überlebt hat. Beim Aufräumen ist es ihr wieder in die Hände gefallen. Als die ältere Dame es Eva überreichte, versicherte sie ihr, ihr Mann habe sich nirgends so wohl gefühlt wie bei der Familie seines jüdischen Freundes. Es kam Eva damals vor, als hätte Katja ihr mit dieser Gabe etwas beweisen wollen. Seither hat sie sich immer wieder gefragt, ob es einen bestimmten Grund gab, warum der Porträtmaler sich an diesem Sonntagnachmittag mit ihr und ihren Geschwistern fotografieren ließ. Hatte er sich diese Aufnahme gewünscht? Oder war es ihr Vater gewesen, der ihm etwas schenken wollte? Ein Zeichen der Anerkennung ihrer Verbundenheit?

Evas Vater war in den Fünfzigerjahren mit seiner deutschen Ehefrau an den Ort zurückgezogen, wo er einst als Besatzungsoffizier gedient hatte. Konsti, wie ihn alle nannten, und seine Frau Katja waren regelmäßige Gäste in dem Haus in der Münchner Vorstadt, in dem Eva aufgewachsen ist. Dass die beiden sich dort so wohl gefühlt haben, hat Eva später immer wieder gewundert. War es ihnen zum Zufluchtsort geworden, an dem sie sich nicht rechtfertigen mussten? Ihr Zuhause schien auf jeden Fall eine neutrale Zone zu sein. Ihr Vater hielt sich nicht an die religiösen Bräuche seiner Eltern. Über den Krieg, über Kollaboration und Komplizenschaft wurde nicht gesprochen. Auch nicht über Antisemitismus.

Lange hat sie danach gesucht, was sie an dieser Fotografie anzieht. Ihre Freundin Samantha war es, die sie auf ein Detail aufmerksam gemacht hat: Es sind die übergroßen Hände des alten Mannes, die verstörend wirken. So wuchtig, als wären sie ein Fremdkörper im Bild, der sich verselbständigt hat. Behutsam umgreifen sie die schmalen Arme der beiden Mädchen, doch Eva meint darin auch etwas Vereinnahmendes zu erkennen. Jetzt fällt ihr auch etwas anderes auf: Die beiden Mädchen haben die Hände sachte nach innen gerollt, als wollten sie sie zu Fäusten ballen. Sie berühren damit das Jackett des Malers, halten sich aber nicht an ihm fest. Eine zufällige, belanglose Geste? Ein intuitiver Selbstschutz?

Das Foto will Eva nicht loslassen, zu sehr fesselt sie das Besondere dieser Zusammenkunft. Erst nach dem Krieg war das Gruppenbild des alten Porträtmalers mit den Kindern seines jüdischen Freundes möglich. Dreißig Jahre früher hätte er die Familie vielleicht angezeigt. Oder hätte er sich selbst in Gefahr begeben, um sie zu verstecken oder ihnen bei der Flucht zu helfen?

Damals kann sie das alles nicht gewusst oder erahnt haben. Als zehnjähriges Kind macht man sich keine Notizen von dem, was um einen herum passiert. Eva wird auch nie wissen, wie Konsti diesen Nachmittag erlebt hat. Für sie aber birgt dieses Foto eine ganz eigene Bedeutung: Es ist das Familienbild mit einem deutschen Großvater, den sie nie hatte.

KRYPTOMANIEN

1.

«Etwas ist mir noch nicht so ganz klar», sagt Sam, während sie auf die Bücher deutet, die sie zuvor ans andere Ende des Tischs geschoben haben, um Platz fürs Mittagessen zu schaffen. «Wie wollen wir das böse Spiel, das Maria mit Malvolio in Was ihr wollt spielt, mit der ausgeklügelten Strategie des Decius Brutus in Julius Caesar verknüpfen? In der Komödie fällt der Haushofmeister Malvolio auf den Trick mit dem Liebesbrief herein, weil er getäuscht werden will. Die kryptische Botschaft bezieht er sofort auf sich, weil er schon lange die Fantasie hegt, die Gräfin Olivia sei insgeheim in ihn verliebt. Die ganze Intrige der Hofdame Maria funktioniert aber nicht nur darum so gut, weil sie die Handschrift ihrer Herrin perfekt nachahmen kann, sondern weil in dem Brief die Liebesbekundung als Rätsel daherkommt. Malvolio reizt auch die Idee, dass seine Herrin es genießt, ihm ihre geheime Liebe auf chiffrierte Weise mitzuteilen.»

Eva gefällt das Gedankenspiel ihrer Freundin. «Dass der Brief verschlüsselt ist, macht den eigentlichen Reiz des Liebesbeweises aus», pflichtet sie ihr bei.

«Genau. Malvolio redet sich ein, dass Olivia ihn liebt, weil sie ihm diese Liebe in einem Rätsel eingesteht, das er sofort versteht. Das leuchtet mir alles vollkommen ein. Nur – Geheimnisse in einer Liebesgeschichte sind doch etwas ganz anderes als eine politische Verschwörung.»

Es war Sams Idee, sich in das Ferienhaus ihrer Mutter am Schliersee zurückzuziehen. Es schien ihr der perfekte Ort, um ungestört zu arbeiten. So lange schon haben die beiden sich vorgenommen, ihr Shakespeare-Projekt voranzutreiben. Die einzelnen Stücke wollen sie wie Teile eines einzigen großen Textapparates behandeln, jedes eine kleine Maschine in sich, die zugleich auf alle anderen eine Wirkung ausübt. Eva machte den Vorschlag, sich auf Geheimnisse und Verschwörungen zu fokussieren, auf Figuren, die etwas versteckt halten oder sich tarnen. In den letzten Monaten haben sich die beiden Freundinnen bereits mehrmals getroffen, um zu besprechen, auf welche Stücke sie sich konzentrieren wollten, obwohl ihnen noch immer nicht ganz klar war, was sich daraus ergeben würde. Die eigentliche Planung hat noch nicht stattgefunden, weil immer wieder etwas dazwischengekommen ist. Es war nicht allein die Lehrtätigkeit der fünfunddreißigjährigen Theaterwissenschaftlerin, die sie sehr in Beschlag nahm. Eva ließ sich auch leicht ablenken. Zwar stöhnte sie immer über die vielen Sitzungen an der Universität, doch Sam wusste, dass diese ihr insgeheim Spass machten, weil sie sich dabei unentbehrlich vorkam. Deshalb nahm sie auch immer neue Aufgaben an.

Sam hat sich schon oft gefragt, ob ihre Freundin mit dieser Geschäftigkeit etwas ausblenden wolle. Eva kam ihr manchmal wie ein Kreisel vor, der auf keinen Fall aufhören darf, sich um seine Spitze zu drehen. Allerdings muss sich Sam eingestehen, dass auch sie selbst nicht schuldlos an dem Aufschub ihres gemeinsamen Projekts ist. Als freischaffende Fotohistorikerin kann sie es sich kaum leisten, gute Angebote abzulehnen. Weil die Planung einer Ausstellung zusammen mit einem anderen Fotografen in den letzten Monaten viel Zeit in Anspruch genommen hat, war sie sogar froh, dass die Frage nach dem Shakespeare-Projekt nicht aufkam.

Jetzt sitzen die beiden endlich gemeinsam auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus. Eva ist auf dem Markt gewesen, hat Unmengen Spinat mitgebracht und diesen zum Mittagessen zubereitet. Die Teller sind noch nicht abgeräumt. Reste vom Käse und der aufgeschnittenen Wurst, die sie dazu gegessen haben, liegen noch auf dem schmalen langen Holzbrett.

Eva pickt an den Brotkrümeln, die auf der Tischdecke verstreut sind, und hört Sam aufmerksam zu. Es gefällt ihr, wie sie mit ihrer haspelnden Stimme ihre Gedanken vorantreibt, als wären sie ein Ball auf einer Spielfläche. Wie eine Wortakrobatin kommt ihr die Freundin mit den kurz geschnittenen rotblonden Haaren vor. Gewandt vollzieht sie ihre Ideenschlaufen und läuft dabei nie Gefahr, den Ball zu verlieren. Eva selbst hat den Hang, sich vor lauter Begeisterung in den Seilen ihrer Gedanken zu verheddern. Doch mit Sam kann sie allen spontanen Einfällen freien Lauf lassen. Auf die Freundin, die sie seit ihrer Schulzeit kennt, ist Verlass. Sie wird sie jedes Mal wieder aus diesen Seilen befreien. Jetzt aber will sie den Ball an sich reißen. Auf Sams Einwand muss sie antworten.

«Die Liebe ist durchaus eine Art Verschwörung», verteidigt sie sich. «Politische Verschwörungen sind zwar gegen eine ganz bestimmte Person oder eine konkrete staatliche Ordnung gerichtet, aber wichtig daran ist doch, dass diejenigen, die die Intrige durchführen, gemeinsam im Geheimen planen. Und wenn man verliebt ist, meint man doch auch, man sei mit der geliebten Person heimlich verbunden. Man glaubt felsenfest an dieses geheime Bündnis.» Kurz hält sie in ihrer Rede inne, um sich zu vergewissern, dass Sam ihr nicht widersprechen will, und fährt, weil kein Anzeichen dafür kommt, fort. «Es geht aber noch weiter. Hat man sich erst einmal auf diese Fantasie eingelassen, gibt es nur noch diese Zweisamkeit. Alles andere verschwindet im Hintergrund. Deshalb ist die Liebe auch immer eine Spur gewalttätig. Das Ziel ist es, die geliebte Person irgendwie zu überwältigen. Man will sie in den Strudel der eigenen Leidenschaft mit hineinziehen.» Eva blickt die Freundin mit ihren klaren blauen Augen herausfordernd an. «Ich würde es so auf den Punkt bringen: Geheimhaltung in der Politik arbeitet mit Verschwörungen, Geheimhaltung in der Liebe arbeitet mit Verschweigen.»

Während Eva weiterspricht, lehnt Sam sich auf dem Stuhl zurück. Sie ertappt sich dabei, vor allem auf die Bewegungen der Hände ihrer Freundin zu achten. Mit ihren Fingern zeichnet diese unsichtbare Figuren in die Luft – kleine Quadrate, das Schrauben an einem Zylinder, ein emphatisch gesetzter Punkt oder schnell aufeinanderfolgende Striche. Sam fühlt sich daran erinnert, was Eva ihr von dem rhetorischen Geschick ihres Vaters erzählt hat. Dieser soll von sich behauptet haben, sein Erfolg als Rechtsanwalt habe im Wesentlichen damit zu tun gehabt, dass es ihm immer leichtgefallen sei, aus dem Beweismaterial eine plausible Geschichte zusammenzubasteln. Geschworene könne man dann überzeugen, wenn die eigene Rekonstruktion der Ereignisse glaubwürdiger sei als die der Staatsanwaltschaft. Dabei sei aber gar nicht das juristische Argument ausschlaggebend, sondern die emotionale Wirkung des Plädoyers. Stolz gab Eva zu, dass sie diese Kunstfertigkeit von ihrem Vater gelernt habe. Nur sind an diesem Nachmittag die Geschworenen, die sie mit ihrem begeisterten Vortrag überzeugen will, unsichtbare Gestalten.

«Was mich bei Shakespeare interessiert, ist die Lust am Geheimnis», führt Eva, die auf das Ende ihres Plädoyers zusteuert, nun aus. «Die Figuren, die den Akt der Geheimhaltung an sich begehren. Ich bezeichne das als ‹Kryptomanie›: ein zwanghafter Trieb zur Geheimhaltung. Indem die Figuren ihren Mitmenschen Information vorenthalten, werden sie – zumindest in ihren Augen – besonders wichtig.»

«Das ist auch ein Akt der Selbsttäuschung», wirft Sam ein, «denn ob es ein Geheimnis gibt oder nicht, spielt gar keine Rolle.»

Eva lächelt zustimmend. «Eine Kryptomanin wittert ständig Geheimnisse in ihrem Umfeld. Sie glaubt, ihre Mitmenschen würden ihr etwas vorenthalten oder hinter ihrem Rücken etwas aushecken. Sie steht im Zentrum der Verschwörung. Alles, was sie erlebt, ist bedeutsam und geheimnisvoll. Sie allein ist feinfühlig genug, Geheimnisse aufzuspüren, wo andere nichts vermuten.»

Sam merkt, wie weit sie von ihrem eigentlichen Thema abzuschweifen drohen. Die Leidenschaft, mit der Eva sich in dieses Projekt einbringt, hat für sie auch einen Hauch von Selbstbespiegelung. Ihr wäre es wohler, sachlich zu bleiben und das Gespräch zu Shakespeare zurückzuführen. Doch sie bleibt ihrem Namen treu: Samantha – diejenige, die zuhört. Geduldig lässt sie Eva ihre gedanklichen Pirouetten drehen. «Wenn wir bei unserem Projekt von der Kryptomanie ausgehen, dann müssen wir uns fragen, was den Figuren eigentlich bleibt, wenn alles, was nur im Geheimen genossen werden konnte, aufgeklärt worden ist. Bei Shakespeare ist die Auflösung im fünften Akt nie wirklich befriedigend. Überhaupt ist es doch oft so, dass man ein Geheimnis wie einen verborgenen Schatz behandelt. Man will ihn um keinen Preis offenlegen.»

Sam versucht, nicht auf Evas Einfall einzugehen, sondern knüpft daran an, was die Freundin über Shakespeare gesagt hat. «Wir dürfen bei all diesen Spekulationen den historischen Hintergrund nicht vergessen. Schließlich ist Königin Elizabeth für das ausgeklügelte Spionagenetzwerk berühmt, das sie an ihrem Hof betrieben hat. Du hast mir doch erzählt, sie habe nicht nur ihre politischen Gegner, sondern auch ihre Höflinge ständig überwachen lassen. Heute würden wir das eine Kultur der Paranoia nennen. Alle standen unter Verdacht. Wenn wir bei unserem Projekt den Fokus auf die Geheimpolizei am Hof Elizabeths legen, würde uns das zu den politischen Verschwörungen zurückbringen.»

«Und zu den Geistern, die in diesen Stücken herumspuken», ergänzt Eva. «Das sind doch auch Geheimagenten, die aus der Unterwelt mit verschlüsselten Botschaften zurückkehren. Genau wie wir von dem heimgesucht werden, was wir verdrängen. Und was uns heimsucht, versuchen wir wiederum geheim zu halten.»

Sam spürt eine gewisse Ungeduld in sich aufkommen. Sosehr sie die fantasievollen Ausführungen ihrer Freundin schätzt, es irritiert sie auch, wenn sie zu sehr vom Weg abführen. Sie laufen Gefahr, nicht weiterzukommen. Sie wird pragmatisch bleiben müssen. «Wenn wir das nicht wie persönliche Angelegenheiten behandeln, könnten wir den Bezug zur Gegenwart deutlicher herausarbeiten», wirft sie ein. «In den letzten Wochen wurde in den Medien das fünfzigjährige Jubiläum der Kapitulation des Nationalsozialismus thematisiert. Dabei bleibt vieles aus dieser Zeit noch immer unausgesprochen. Man weiß es zwar und will es trotzdem nicht benennen. Man behält es lieber für sich. Ist das nicht auch eine Form der Kryptomanie?»

Eva hat nicht richtig zugehört und ist mit ihren Gedanken noch immer bei den Geistern der Vergangenheit. «Vielleicht halten wir grundsätzlich an Geheimnissen fest, weil sie für uns aus irgendeinem Grund wichtig sind. Deshalb beharre ich auf dem Vergleich mit einem verborgenen Schatz. Wir wissen, wir könnten ihn bergen. Aber nur als Versprechen behält dieser Schatz seinen Wert.»

Seit sie begonnen haben, den Geheimnissen und Verschwörungen bei Shakespeare nachzugehen, hat Sam immer wieder darüber nachgedacht, warum die Idee der Heimsuchung für ihre Freundin so wichtig ist. Als Eva mit dem Vorschlag für dieses Projekt zu ihr kam, sagte sie, es hänge auch mit einem persönlichen Anliegen zusammen. Ihr sei es schon immer vorgekommen, als gäbe es auch in ihrer Familie ein Geheimnis. Da seien Unstimmigkeiten in der Familiengeschichte, die sie sich nicht erklären könne.

Sam kannte Shakespeare hauptsächlich von den Verfilmungen. Evas Vorschlag reizte sie, weil er sie zwingen würde, endlich die Stücke selbst zu lesen. Es kam ihr aber auch wegen der Ausstellung mit Tony Vaccio gelegen, an der sie bereits seit mehr als einem Jahr arbeitete. Der amerikanische Fotograf war nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Bayern geblieben. Er wollte mit seiner Kamera die Spuren der Verwüstung einfangen, die er nach der Kapitulation dort vorfand. Als die deutsche Bevölkerung aus ihrem patriotischen Rausch aufwachte. Diesen «Katzenjammer einer Nation», wie er es nennt, wollte er in seinen Momentaufnahmen festhalten.

Die Durchsicht seines Archivs ist für Sam immer mehr zu einer historischen Spurensicherung geworden. Mit ihrem Hang, überall einen verborgenen Sinn zu suchen, hat Eva sie tatsächlich angesteckt. Aber Geheimbündlerinnen waren die beiden immer schon. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, war der Grund, warum sie sich in der Munich American High School angefreundet haben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Schülerinnen wohnten sie nicht auf der military base. Täglich wurden sie von einem gelben Schulbus, wie man ihn aus dem amerikanischen Kino kannte, zu Hause abgeholt.

Die Schule im Perlacher Forst gibt es seit drei Jahren nicht mehr. Nachdem die U. S. Army alle Truppen aus München abgezogen hatte, wurde sie geschlossen. Doch damals war die Siedlung um sie herum eine perfekte Nachbildung des amerikanischen Kleinstadtlebens – mit einer eigenen Kirche und Läden, in denen nur Angehörige des Militärs einkaufen durften, sogar ein eigenes Kino gab es. Jedes Mal, wenn der Bus den Wachposten am Eingang der Siedlung passierte, kam es Sam so vor, als würde sie einen fremden Ort betreten. Nicht so bunt und zauberhaft wie Oz, aber doch ganz abgeschottet von der restlichen Welt.

Wenn die Freundinnen sich in der Cafeteria zur Mittagspause trafen, spöttelten sie gerne über das, was aus den Lunchboxen ihrer Mitschülerinnen zum Vorschein kam. Das in Wachspapier eingewickelte Sandwich bestand immer aus zwei luftigen Scheiben Wonder Bread, belegt mit Erdnussbutter und grape jelly. «PB and JS» nannten es ihre Mitschülerinnen. Oder es war ein Salamisandwich mit von Mayonnaise dick umhüllten Wurstscheiben. In der Thermoskanne war meist Kakao und ein Cookie war auch immer dabei. Das einzig Gesunde war der rote Apfel, der nie fehlen durfte.

Auch Sam hatte eine Lunchbox, die ihr ein Freund ihrer Mutter im PX gekauft hatte. Ein Miniaturbus mit Walt-Disney-Figuren auf den Fenstern. Doch weil ihre Mutter im Geschäft, das den Amerikanern vorbehalten war, nicht einkaufen durfte, enthielt Sams Metallbüchse immer nur gesundes Essen – Bauernbrot mit Käse oder Schinken und selbst gebackenen Kuchen.

Sam und Eva kam dieses kleine Amerika wie eine reine Kulisse vor. Sie fühlten sich wie Fremdlinge darin. Schon damals wunderten sich die anderen Schüler über die ungleichen Freundinnen: die rotblonde Sam eher verschwiegen, die dunkelhaarige Eva ungeniert ausdrucksvoll. Und doch waren sie ganz aufeinander eingespielt. Zusammen mit Evas Bruder Max bildeten sie ein unzertrennliches Trio.

Die Geschwister haben später oft darüber gerätselt, warum sie und ihre jüngere Schwester Lena überhaupt in diese Schule geschickt wurden. Ihre Mutter behauptete, es sei nicht klar gewesen, wie lange die Familie in Bayern bleiben würde. Doch Eva wollte sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengegeben. Ein Umzug nach Amerika stand nie in Aussicht. Sie fragte sich, ob es mit der Schulerfahrung ihrer Mutter im Dritten Reich zu tun haben könnte. Oder wollte ihr jüdischer Vater seine Kinder nicht in eine deutsche Schule schicken?

Sam hingegen hat sich, was den Besuch auf der amerikanischen Schule betrifft, mit der Erklärung ihrer eigenen Mutter einfach zufriedengegeben. Radio Free Europe sei bereit gewesen, alle Kosten zu übernehmen, und das sei ein Angebot, das man nicht ausschlagen könne. Ein Stück Loyalität gegenüber dem langjährigen Arbeitgeber der Mutter spielte bei dieser Entscheidung gewiss auch mit. Als der Sender Ende der Vierzigerjahre in München sein Büro eröffnete, war es für Sams Mutter, die im Gymnasium fließend Englisch gelernt hatte, leicht, dort eine Anstellung als Sekretärin zu erhalten. Das bedeutete ein gutes Gehalt in Dollar in einer Zeit, in der andere sich mit viel weniger Geld du rchschlagen mussten. Bald darauf lernte sie ihren zukünftigen Gatten kennen, der von Anfang an dem Stab von ausländischen Journalisten angehörte. Ein Berichterstatter im eigentlichen Sinn war Sams Vater nie. Seine Arbeit bestand vielmehr darin, Informationen zu sammeln. Er war nach dem Krieg aus Polen geflohen und bewegte sich seitdem vorwiegend unter Emigranten. Er kannte die politischen Ansichten seiner Landsleute ebenso gut wie die Spaltungen in der Gemeinde, in der sie lebten. Laut ihrer Mutter soll er ein besonderes Geschick für Interviews mit Überläufern gehabt haben. Er war eben auch ein guter Zuhörer. Sam fragt sich oft, ob sie diese Eigenschaft von ihm geerbt hat.

Sie selbst hatte kaum Gelegenheit, von ihrem Vater mehr über seine Tätigkeit zu erfahren. Auch nicht über sein Leben im Krieg. Er starb früh an Krebs. Ihre Mutter hat ihrerseits dieses Kapitel für sich abgeschlossen. Die Kriegsjahre tauschte sie konsequent durch ihre Arbeit im Sender aus, als hätte es diese Zeit nie gegeben. Sie ging ganz im Kreis der neuen Freunde auf, die mit ihr in den Büroräumen am Englischen Garten arbeiteten. Einige von ihnen trifft sie heute noch, obwohl sie längst pensioniert ist. Die Verklärung der Vergangenheit, über die Eva immer schimpft, ist Sam von ihrer eigenen Mutter allzu vertraut. Auch sie gibt auf Nachfragen gerne Floskeln von sich. Damals waren sich alle einig, der Kalte Krieg sei ein Kampf der Ideen, mit klaren Fronten. Niemand zweifelte daran, diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Das behauptet ihre Mutter auch heute noch.

Eine Erinnerung hat Sam an ihren Vater. Als sie ganz klein war, las er ihr vor dem Schlafengehen immer vor. Eine ganze Schar Zauberfiguren tauchte dann in ihrem Kinderzimmer auf und unterhielt sich lebhaft. Schon damals war sie erstaunt darüber, dass ein einzelner Mensch so viele unterschiedliche Stimmen hervorbringen konnte. Sie fragte sich, ob diese Figuren alle in der Brust ihres Vaters hausen würden. Bei ihrem letzten Gespräch mit Tony ist diese Erinnerung wieder aufgetaucht. Auf einem von Tonys Kontaktbogen war ein junges Mädchen zu sehen, das mitten in einer zerbombten Landschaft mit ihrer Puppenküche spielt. Dabei zeigt ihr Gesicht in jeder Sekunde eine andere Stimmung. Einige dieser Aufnahmen hatte Tony mit einem roten Stift bereits durchgestrichen. Für die Ausstellung hatte er nur ein Foto ausgesucht, in dem er das Wesentliche dieses Augenblicks zu erkennen glaubte. Sam aber hatte den Eindruck, dass diese vielen einzelnen Stimmungen gerade als Serie funktionieren würden. Ihren Vorschlag hat Tony abgewiesen. Sie will aber versuchen, ihn doch noch davon zu überzeugen.

2.

Später, als es an diesem Aprilabend zu kalt geworden ist, um draußen zu sitzen, verlegen die beiden Freundinnen ihr Gespräch ins Wohnzimmer. Eva hat eine Flasche Rotwein geöffnet und schenkt ihnen beiden ein, bevor sie es sich auf dem Sofa bequem macht. Die Dunkelheit vor den Fenstern, die die beiden von der Außenwelt ganz abschirmt, bietet einen heimeligen Schutzmantel. Das Gespräch wird intimer. Eva ist noch immer mit dem Familiengeheimnis beschäftigt. Ihr fällt eine Szene ein, mit der sie Sam illustrieren könnte, warum sie dieses Unbehagen nicht loslässt.

«Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als ich meinen Vater in seinem Büro besuchte. Ich musste eine Entscheidung treffen und wollte ihn deshalb um Rat bitten. Es war ein dunkler, regnerischer Tag. Das diesige Licht im Raum lag wie ein Schleier über uns. Er verließ seinen Schreibtisch, um sich zu mir auf das schwarze Ledersofa zu setzen, das an der einen Wand stand. Vor uns beiden der tiefe, längliche Glastisch, bedeckt mit Akten, an denen er gerade arbeitete. Er hat mir aufmerksam zugehört, wie er es sonst kaum tat. Darüber war ich verwundert, aber es schmeichelte mir auch. Ich hatte das Gefühl, dass er mich ernst nimmt. Dann erzählte er mir davon, wie er am Ende des Krieges mit zwei Kameraden im Fallschirm hinter feindlichen Linien abgesprungen ist. Er hat den Absprung als Einziger überlebt. Als er unten landete und sich aus seinem Fallschirm schälte, fand er seine beiden Kameraden tot am Boden liegen. ‹Es gab einen George Bromfield davor und einen George Bromfield danach›, sagte er. Diese Szene ist mir geblieben, während ich vergessen habe, worum ich ihn um Rat bitten wollte. Schon damals dachte ich mir, dass es für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen sein muss. Jedes Mal, wenn ich an diese Anekdote denke, stelle ich mir vor, dass ihn diese Erfahrung sein Leben lang nicht loslassen wollte. Überlebende haben oft auch Schuldgefühle gegenüber den Toten, weil diese an ihrer Stelle gestorben sind.»

Als wolle sie deutlich machen, dass sie ans Ende ihres Geisterschauens gekommen ist, richtet Eva sich auf. Die Füße gleiten zum Boden und sie wendet sich Sam zu, um auch sie in die Gegenwart zu holen. Dann fährt sie fort: «In letzter Zeit habe ich mich allerdings gefragt, ob diese Szene überhaupt stattgefunden haben kann. Mein Vater hat als kleiner Junge beim Spielen mit einer Luftpistole sein linkes Auge verletzt und ist auf diesem fast blind. Deshalb kann er im Zweiten Weltkrieg gar nicht bei den Paratroopers gekämpft haben. Er kann also auch nicht hinter feindlichen Linien abgesprungen sein. Ich habe eher den Verdacht, dass er diese Geschichte aus einem der Bücher über den D-Day hat. Oder aus einem der Krimis, die er so gerne liest. Er hat sich einfach in diese Szene hineinversetzt und in seiner Einbildung nachträglich daraus eine Erinnerung gemacht. Eines aber weiß ich mit Sicherheit – als er mir diese Anekdote erzählte, war er absolut überzeugt davon, dass ihm das wirklich passiert ist.»

«Aber warum würde dein Vater so eine Geschichte nachträglich für sich erfinden?», fragt Sam verdutzt. «Man würde doch denken, wenn man sich schon falsche Erinnerungen aneignet, dann nur solche, die mit erfreulichen Ereignissen zu tun haben. Oder hat ihm diese Geschichte gefallen, weil er stolz darauf war, dass er überlebt hat? Vielleicht hat es gar nichts mit Schuldgefühlen zu tun, sondern mit dem Gefühl der Macht. Die anderen sind tot, er selbst aber ist noch am Leben. Dein Bruder hat euren Eltern zwar immer einen sturen Egoismus vorgeworfen, er hat aber auch zugegeben, dass diese Selbstbezogenheit mit den traumatischen Erlebnissen des Krieges zusammenhängen muss. Dinge, die sie lieber verherrlichen.»

«Oder verschweigen», fügt Eva hinzu.

«Mag sein», erwidert Sam. «Aber was ich nicht verstehe, ist dies: Wenn ihr so davon überzeugt seid, eure Eltern würden euch etwas verschweigen, warum habt ihr sie nicht einfach danach gefragt?»

«Aber ich habe sie doch immer wieder konfrontiert», sagt Eva ungeduldig. «Du kennst mich doch, ich will die Dinge immer klarstellen, weil ich es so schlecht ertrage, wenn Leute sich etwas vormachen. Aber ich bekomme von meinen Eltern nie eine direkte Antwort. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass sie einen geheimen Pakt miteinander haben.»

Es kommt Sam vor, als machte sich Eva selbst etwas vor, indem sie sich in diese Vorstellung hineinsteigert. Sie will wissen, was hinter diesen Vorwürfen steckt. «Ich habe nie richtig verstanden, warum ihr das Vergangene nicht loslassen könnt», erwidert sie vorsichtig. «Max blickt noch immer so vorwurfsvoll auf seine Jugend zurück. Wenn er aus New York zu Besuch ist, kommen wir irgendwann meistens auf die vielen kleinen Verletzungen zu sprechen, die er noch immer mit sich herumträgt. Und trotzdem hält er an seinen Familienerinnerungen fest. Das letzte Mal, als er hier war, hat er mir das dicke Fotoalbum gezeigt, an dem er seit einiger Zeit arbeitet. Er hat offenbar ganz viele Schnappschüsse aus den Alben eurer Mutter entfernt und neu zusammengesetzt. Beim Durchblättern hat er mir die verschiedenen Szenen, die dort abgebildet sind, liebevoll bis ins kleinste Detail beschrieben. Mir wurde klar, dass ich euren Vater fast ausschließlich aus den Geschichten kenne, die ihr mir von ihm erzählt habt.»

«Aber genau das ist der Punkt. Max und ich stehen selbst vor diesen Fotos wie vor Reliquien aus einer Zeit, zu der wir keinen direkten Zugang haben. Und zugleich haben sie mit uns zu tun.»

Nun doch ungeduldig, fällt Sam ihr ins Wort: «Aber warum gefällt es euch so sehr, alles, was ihr nicht wisst, gleich für ein Familiengeheimnis zu halten? Vielleicht ist da gar nichts. Oder – und das kenne ich nur zu gut von meiner eigenen Mutter – was du einen geheimen Pakt nennst, ist einfach nur der Wunsch, zu vergessen.»

Eva nimmt den Einwand als eine Aufforderung, ihren Verdacht weiter auszuführen. «Es hat damit zu tun, dass es keine anderen Verwandten gibt, die man fragen könnte. Als ich zur Welt kam, lebte mein deutscher Großvater schon nicht mehr. Er ist irgendwo in Russland verschollen. Und unsere Großmutter in München hatte sich mit unserer Mutter verstritten. Warum, wissen wir nicht. Das gehört auch zu den Dingen, die unter Verschluss gehalten wurden. Die amerikanischen Großeltern wiederum konnte ich nur ein einziges Mal in Brooklyn besuchen, bevor sie starben. Du darfst nicht vergessen, in unserer Jugend waren transatlantische Flüge schrecklich teuer. Das meiste, was wir über unsere Familie wissen, haben wir von unseren Eltern. Sie sind nicht nur die Hauptzeugen; es gibt auch niemanden mehr, der ihre Aussagen widerlegen könnte.»

«Und deine Schwester Lena, wie steht sie zu all dem?»

«Mit Lena haben wir nie viel darüber gesprochen. Du weißt ja, wie das früher war: Max und ich waren so innig verbunden, dass wir sie nicht dabeihaben wollten. In unser Bündnis passte sie nicht, deshalb haben wir sie aus unseren Spielen oft ausgeschlossen. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass wir hochnäsig waren, aber sie war dafür extrem launisch. Als kleines Kind hatte sie immer Tobsuchtsanfälle, wenn sie nicht sofort bekam, was sie wollte. Dann hat sie stundenlang geheult und gebrüllt und mit ihrem Spielzeug um sich geworfen. Nur unser Vater konnte sie dann beruhigen. Deshalb war sie von klein auf sehr auf ihn fixiert und tat so, als wäre sie in all seine Geheimnisse eingeweiht. Sie war auch die Einzige von uns, die schon immer eine gute Beziehung zu Tash hatte, noch bevor mein Vater sich endgültig von meiner Mutter getrennt hat und mit ihr nach New York gezogen ist. Max besucht die beiden zwar auch hin und wieder. Aber als wir das letzte Mal telefoniert haben, gestand er mir, dass es ihm bei diesen Besuchen immer unheimlich zumute sei. Unser Vater scheint mit seiner ehemaligen Sekretärin eine Ersatzfamilie gegründet zu haben, samt Hund und Häuschen in Brooklyn.»

Verständnisvoll nickt Sam der Freundin zu, die entschlossen hinzufügt: «Da stimmt doch auch etwas nicht.»

Gerne hätte Sam nach dem Hund gefragt, doch das würde vielleicht als frivol rüberkommen. Jeder weitere Einwand scheint ihr im Augenblick unpassend.

3.

Nachdem sich Eva in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hat, laufen die Bilder, die das Gespräch mit Sam aufgerufen hat, in ihrem Kopf weiter. Die Fragen, die sie nur ungenau beantworten konnte, wollen sie nicht in Ruhe lassen. Nachdenklich schlüpft sie in ihr Nachthemd. Die Armbanduhr und die Ohrstecker legt sie in die kleine Porzellanschale, die neben der Lampe auf dem Nachttisch steht. Die Unterwäsche faltet sie ordentlich zusammen und legt sie auf den Stuhl neben dem Bett, das Kleid und die Strumpfhose über die Lehne, die Schuhe dicht nebeneinander darunter. Als würde sie mit diesem abgelegten Tag-Ich ein kleines Stillleben komponieren, das über ihren Schlaf wachen soll. Die Wasserkaraffe füllt sie vorsichtshalber nach, falls sie in der Nacht Durst bekommen sollte.

Eine Weile sitzt sie aufrecht im Bett, die angewinkelten Beine unter der Decke. Die Kissen hinter ihrem Rücken bieten ihr eine wohlige Stütze. Durch das leicht geöffnete Fenster schaut sie auf den klaren Nachthimmel. Ein Tierkreiszeichen kann sie nicht ausmachen, nur vereinzelte Sterne, die dort aufblitzen. Sie richtet ihren Blick auf einen besonders stark funkelnden Stern. Es hat Jahre gebraucht, bis sein Licht nun ihr Schlafzimmer erreicht. So weit weg ist er. Es ist durchaus möglich, dass dieser Stern, so wie sie ihn jetzt sieht, gar nicht mehr existiert. Er könnte schon lange erloschen sein. Nur in der Bewegung durchs All ist seine Gestalt erhalten geblieben. Was sie jetzt sieht, ist das, was er einmal war.

Von diesem Anblick in eine tiefe Ruhe versetzt, streckt sie ihre Beine aus, klopft die Kissen zurecht und zieht, während sie auf dem Bett genüsslich nach unten rutscht, die Decke bis unter das Kinn. In ihrer Erinnerung taucht ein Besuch ihrer Familie im Atelier von Konstantin Hummler auf.

Im obersten Stock des am Maximiliansplatz gelegenen Ateliers gingen riesige Glasfenster zum Innenhof. Zum Malen brauchte Konsti viel Licht. Vorne im großen Raum stand ein langer Holztisch, der bereits für das Abendessen gedeckt war. An den Wänden hingen bis dicht unter die Decke die Gemälde. Viele Porträts in verschiedenen Größen, aber auch ein paar Stillleben. Im hinteren Teil des Raums stand eine von Konstis Staffeleien. Auf einem Tisch daneben seine Malpalette, die vielen Tuben und Pinsel in schmutzigen Gläsern. Der Geruch von Farbe lag in der Luft. An diesem Abend sah Eva das Familienporträt zum ersten Mal in seiner endgültigen Fassung. Konsti hatte es auf einer zweiten Staffelei ausgestellt, sodass sie es vom Esstisch aus direkt anblicken konnten. Die Erwachsenen nippten an ihren Cocktailgläsern, während sie das Gemälde kritisch betrachteten. In der Bildkomposition stand der Vater im Zentrum, ganz in der Pose des Paterfamilias blickte er über die anderen Familienmitglieder hinweg. Eine Hand steckte lässig in der Hosentasche. Der Schwung in der Krawatte erweckte den Anschein, als würde er sich nach vorne bewegen, aus dem Rahmen herauslaufen, direkt auf Eva zu. Ihre Mutter hingegen kam Eva im Vergleich viel weniger lebensnah vor. Im Gemälde saß Inge auf einem Sessel ein wenig entfernt von ihrem Mann, die Hände im Schoß zusammengefaltet. Eva selbst lehnte sich an ihre rechte Seite. Lena saß links auf der Sessellehne, ganz vorne in der linken Ecke befand sich Max im Schneidersitz auf dem Boden. Evas Vater war die einzige Figur, die Konsti richtig getroffen hatte. Die ganze Vitalität steckte in ihm. Alle anderen hatten etwas Schablonenhaftes. Sie kamen Eva wie Puppen vor, ihnen irgendwie ähnlich und gleichzeitig fremd.

Eva erinnert sich, dass als Vorspeise eine Spargelcremesuppe serviert wurde, die mit Zitrone abgeschmeckt war. Sie biss auf einen Zitronenkern. Der bittere Geschmack blieb ihr minutenlang im Mund. Da dachte sie, dass das einer so guten Köchin wie Katja eigentlich nicht passieren dürfte. Während des Abendessens unterhielten sich die anderen weiterhin angeregt über das Porträt. Max, der seit einem Jahr die Malklasse in der Junior High School besuchte, sprach Konsti auf seine Technik an. Er fragte nach, wie er die Farben aufgetragen habe, wann er mit dem Pinsel gearbeitet habe und wann mit einem Spachtel. Evas Mutter zeigte sich geschmeichelt über die elegante Figur, die sie in dem Gemälde abgab. Lena rutschte die ganze Zeit gelangweilt auf ihrem Stuhl herum. Katja saß am oberen Ende des Tisches als Einzige mit dem Rücken zum Gemälde. Über die lobenden Kommentare der anderen freute sie sich. Sie war sichtlich stolz auf das Werk ihres Gatten. Als Gastgeberin war sie die ganze Zeit darauf bedacht, dass sich alle wohlfühlten. Sie griff nur dann in das Gespräch ein, wenn es ins Stocken zu geraten drohte.

Eva hatte damals das Gefühl, selbst nicht zu dieser Tischgesellschaft zu gehören. Statt mitzudiskutieren, beobachtete sie alle anderen. Sie wollte wissen, ob das Porträt auf sie dieselbe unheimliche Wirkung hatte. Und sie fragte sich, warum dieses Familienporträt überhaupt gemalt wurde. War es Konstis Idee gewesen? Oder hatte ihr Vater es in Auftrag gegeben?

Plötzlich hält Eva in ihrem Gedankenfluss inne. Es fällt ihr auf, dass sie den Vater in dieser Szene nicht ausfindig machen kann. Er muss an diesem Abend im Atelier dabei gewesen sein, aber sie bekommt ihn in ihrer Erinnerung nicht zu fassen. Umso deutlicher wirkt vor ihrem inneren Auge die gemalte Gestalt nach. So viel Strahlkraft hat der Porträtmaler ihr verliehen.

DER ANRUF

1.

Am nächsten Morgen setzt sich Eva an ihren gewohnten Platz auf der Terrasse und breitet ihr Arbeitsmaterial auf dem Gartentisch aus. Ganz oben auf dem Stapel liegt ihre Ausgabe von Romeo und Julia, das Stück, über das sie heute im Detail sprechen wollen. Daneben das schwarze Notizbuch mit dem rot umrandeten Aufkleber «Shakespeare-Projekt», verschiedene farbige Bleistifte, ein abgewetzter Radiergummi, ein kleines metallenes Lineal. Die Schreibutensilien platziert sie wie Seziermesser ganz akkurat nebeneinander, das Federmäppchen ein wenig abseits.

Nach dem Frühstück spazierte Eva zuerst gemeinsam mit Sam zum See. Der Tau lag noch auf der Wiese, sodass beim Durchqueren die Schuhe nass wurden. Von den Gräsern stieg ein herber Geruch in die Nase. Zum Schwimmen war es zwar noch zu kalt, aber die Brise, die über die trübe Wasseroberfläche zog, war erfrischend. Eva genoss das diesige Morgenlicht mit seinem Nachschimmer der Morgenröte. Die Zeit, bevor die Welt im Sonnenschein klare Konturen bekommt und der Tag langsam seine Gestalt annimmt, ist ihr die liebste. Dann ist noch nichts entschieden.

Geredet haben die beiden Freundinnen wenig, jede war in ihre eigenen Gedanken versunken. Der Spaziergang diente vielmehr als Einstimmen auf ihr Tagewerk. Die altmodische Bezeichnung kam von Sam, die sich für den Vormittag eine handfeste Aufgabe ausgedacht hat: Sie will Shakespeares Liebestragödie in seine Einzelteile zerlegen, um zu sehen, was die Maschinerie des Verhängnisses am Laufen hält. Wieder zu Hause angekommen, verschwand sie gleich in der Küche, um noch eine kleine Mahlzeit vorzubereiten. Eine Art Wegzehrung, wie sie sagte.

Eva zupft ihr wollenes Schultertuch zurecht und beginnt, in dem Stück zu blättern, auf der Suche nach Stellen, die sie schon markiert hat. Bereits bei der Rede des Chorus im Prolog hat sie etwas an den Rand geschrieben: Die beiden star-crossed lovers können nur im Geheimen agieren. Der Streit zwischen den Capulets und den Montagues verbietet eine offene Liebesbeziehung. Warum die Eltern verfeindet sind, weiß man nicht. Von Anfang an regieren Geheimhaltungen. Auf der aufgeschlagenen Seite ihres Notizbuches notiert Eva die Überschrift «Kryptomanische Wirkungen».

Sam erscheint mit einer Schüssel mit Trockenfrüchten und Nüssen und stellt sie auf den Tisch. «Der Kaffee ist bald so weit», sagt sie und zieht sich erneut in die Küche zurück.

Eva wendet sich wieder dem Stück zu. Sie fragt sich, ob nicht das Verbot der Eltern die Liebe zwischen Romeo und Julia überhaupt erst so reizvoll macht. Weil sie sich nur im Geheimen lieben dürfen, können sie sich vorstellen, es hätte überall Spione, die sie entdecken könnten. Kurz lässt sie ihren Blick von der Buchseite gleiten. Sie versucht, sich in die beiden jungen Leute hineinzuversetzen. Dann blättert sie weiter. Sie glaubt, im Verlauf des Stücks ein Muster zu erkennen. Die Lust auf das Verborgene zieht immer größere Kreise. Fast schamlos beziehen Romeo und Julia ihre Verbündeten in ihr heimliches Treiben ein. Julias Amme muss Botschaften zwischen den beiden überbringen. Der Franziskanermönch Lorenzo betreibt sogar auf eigene Initiative einen Handel mit Geheimnissen. Er hilft ihnen, die Eltern zu hintergehen, und vollzieht die geheime Trauung der Liebenden. Er meint, er könne damit zwischen den beiden Häusern Frieden stiften. Doch der Mönch gerät bald darauf in Zugzwang, weil der Vater Capulet seine Tochter mit einem ihrer Cousins verheiraten will. Um diese Trauung zu verhindern, kommt er auf die Idee, Julia einen Schlaftrunk zu geben, sodass sie am nächsten Morgen, dem Tag der Hochzeit, nicht erwacht. Statt zum Brautaltar geführt zu werden, wird Julia in der Familiengruft aufgebahrt. Im Schutz der nächtlichen Dunkelheit soll Romeo seine schlafende Braut wachküssen und mit ihr fliehen. Eva runzelt die Stirn und denkt, dass der Geistliche doch eigentlich wissen müsste, wie gefährlich diese Liebesverschwörung ist. Doch im Netz der Geheimnisse gefangen, scheint auch er alle Klarsicht verloren zu haben, so verblendet ist er von der Vorstellung, er könne den Groll der Familienväter in Versöhnung umwandeln.

Plötzlich klingelt das Telefon. Versonnen schaut Eva von ihrem Buch auf. Weil Sam noch immer in der Küche hantiert, läuft sie selbst ins Wohnzimmer und hebt ab. Es ist ihre Mutter.

«Eva! Ich hatte gerade ein verstörendes Gespräch mit Lena», verkündet Inge aufgeregt und fährt fort, ohne die Reaktion ihrer Tochter abzuwarten: «Du weißt, sie ist in engem Kontakt mit Tash …»

Leicht irritiert fällt Eva ihr ins Wort. «Ja, als ich das letzte Mal mit Lena gesprochen habe, hat sie angedeutet, sie habe in letzter Zeit ziemlich häufig mit ihr telefoniert. Aber ich habe nicht richtig zugehört. Sie will doch meistens nur wichtigtun, um mich zu ärgern.»

Bevor sie weitersprechen kann, unterbricht Inge sie. «Daddy liegt auf der Intensivstation in New York.»

Eva spürt, wie sich ein stumpfer Schmerz in ihrem Bauch ausbreitet. Für einen Augenblick kann sie kaum atmen. Der Raum um sie herum scheint zu schwanken. Krampfhaft hält sie sich am Telefonhörer fest. «Wie kann das sein? Er war doch letzte Woche noch ganz gesund.»

«Er hatte einen Schlaganfall, bereits am Flughafen in Washington D.C.»

Am anderen Ende der Leitung hört sie das vertraute Inhalieren des Zigarettenrauchs. Sie sieht ihre Mutter vor sich, wie sie an ihrem altmodischen Damenschreibtisch sitzt, die Zigarette in der knöchrigen, leicht zitternden Hand. «In Washington?», fragt Eva verstört nach. «Warum war er in Washington?»

«Er hatte wohl geschäftlich dort zu tun», sagt Inge. «Offenbar hat er als Berater für Dick gearbeitet. Dick Berman, der Rechtsanwalt, mit dem er damals nach dem Studium die Kanzlei in Virginia gegründet hat, erinnerst du dich? Es muss irgendein wichtiger Fall gewesen sein. Lena sagte, euer Vater sei mit Tash mehrere Tage bei Dick und seiner Frau Ruthy gewesen.»

Eva, die sich ein wenig gefangen hat, ist hellhörig geworden. «Aber warum liegt er dann in einem Krankenhaus in New York?»

«Tash hat darauf bestanden, dass sie den Flug zurück nicht verpassen dürfen. Ich war zu aufgeregt, als Lena mir das erzählt hat. Verstanden habe ich nur, dass sie nach der Ankunft in New York ein Taxi nach Hause genommen haben. Dort hat George sich hingelegt. Den Notfalldienst hat dann ein Arzt gerufen, mit dem sie gut befreundet sind. Den Namen habe ich mir nicht gemerkt.»

«Aber das ist doch fahrlässig!», wirft Eva ein. «Man hätte ihn doch noch vor dem Flug in ein Krankenhaus in Washington bringen müssen!»

«Das habe ich auch gedacht. Aber als ich nachgefragt habe, ist Lena ausgewichen. Schnippisch hat sie erwidert, sie habe mir nur mitteilen wollen, was vorgefallen ist. Damit ich im Bilde sei.»