Mad Men - Elisabeth Bronfen - E-Book

Mad Men E-Book

Elisabeth Bronfen

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Beschreibung

Mit die meistbejubelte und bekannteste unter den sogenannten Qualitätsserien, führt »Mad Men« (2007–2015) mitten ins Herz der US-amerikanischen Gesellschaft und Kultur der 1960er Jahre. Visuelle Kultur, Musik, Mode, Familienbild, Geschlechterverhältnisse, gesellschaftliche und politische Situation der Zeit werden auf geradezu unheimliche Weise lebendig. Der prototypische Aufstieg eines Werbegenies mit dunkler Vergangenheit zeichnet das Modell der Selbstperfektionierung nach, wie es zentral für den amerikanischen Traum ist. Dass ausgerechnet eine Werbeagentur den Dreh- und Angelpunkt bildet, entlarvt die angestrebten Ideale von Familie und persönlichem Glück als symbolische Fiktionen, mit denen die »Kreativszene« unentwegt das kollektive Begehren bedient. »Mad Men« ist ein Schlüsselroman auf DVD: individuelle Geschichte und Kommentar zur Lage der Nation, zeithistorisches Sittenbild, Zerrspiegel des Heute und nicht zuletzt eine intelligente Selbstreflexion über die Rolle des Fernsehens.

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Seitenzahl: 146

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Elisabeth Bronfen

Mad Men

Inhalt

Der Schwindel des amerikanischen Traums

We’re Selling America

Jenseits des Glücksprinzips

Heterotopie Fahrstuhl

Heimsuchungen der Nation

Der Schwindel des amerikanischen Traums

Joyce is right about history being a nightmare – but it may be the nightmare from which no one can awaken. People are trapped in history and history is trapped in them.

James Baldwin

Im Vorspann jeder Episode der Serie Mad Men verliert der als Silhouette gezeichnete Don Draper (Jon Hamm) wörtlich den Boden unter den Füßen. Gerade hat er sein Büro betreten und den Aktenkoffer auf den Boden gestellt, da fallen die Zeichnungen von der Wand und die Möbel sinken in sich zusammen. Ganz plötzlich also befindet er sich im freien Fall und schwebt inmitten der Wolkenkratzer von New York Citys Midtown viele Stockwerke nach unten. Zuerst spiegelt er sich noch in den lockenden Werbeplakaten, die auf die gläsernen Fassaden projiziert sind: einer Pin-Up-Sirene, deren tiefgeschnittenes rotes Kleid farblich auf den Lippenstift und die langen Fingernägel abgestimmt ist, und einer adretten Hausfrau mit Perlen im Ohr. Dann rückt der Bildausschnitt in eine Totale, während der Fallende, zum winzigen Blickpunkt reduziert, an einem wohlgeformten Frauenbein mit Netzstrumpf und Strapse entlanggleitet. Die umliegenden Fassaden ergeben eine heterogene Bildserie von Insignien bürgerlicher Zufriedenheit: ein Badestrand, eine auf der Veranda versammelte Kleinfamilie, das lächelnde Gesicht einer Frau, ein Glas Bier, bis unser Blick wieder dichter an den Helden herangeführt wird, der sich im Flug zu drehen begonnen hat. Ist er anfangs noch in Rückenlage mit Blick nach oben durch die Luft gefallen, sodass er die an ihm vorbeiziehenden Bilder sehen konnte, zieht die Schwerkraft seinen Kopf nun bedrohlich nach unten. Von neuem stabilisiert sich die fallende Gestalt und, in die Rückenlage zurückgekehrt, erblickt Don einmal mehr Bildfragmente zu denen allesamt der Slogan »Enjoy the best America has to offer« passt. Auch an diesen Objekten lässt sich sein Begehren festmachen: knapp bekleidete Verführerinnen, Old Taylor Bourbon und zwei Hände, deren Ringe das Ehegelübde bezeugen. Indem er an ihnen vorbeischwebt, haucht er diesen Bildern Leben ein, und aus den Werbeplakaten werden Zeichentrickfilme. Der goldene Whiskey schlägt Wellen im Glas, der Diamant am Finger der Braut funkelt und ein Frauenbein fängt den fallenden Mann fast mit der Fußspitze auf. Und Don Draper fällt weiter nach unten, umgeben von Bildern, die als Aneinanderreihung den unlösbaren Konflikt seines Treibens auf den Punkt bringen: Nahaufnahmen reizvoller Frauen stehen einem vierköpfigen Familienportrait gegenüber. Dann wechselt noch einmal die Bildeinstellung und zum ersten Mal stimmt unser Blick mit dem des fallenden Mannes überein. Vor dem hellen Hintergrund, auf den er unweigerlich zustürzt, erscheint im Zentrum des Bildausschnittes die Schrift ›Created by Matthew Weiner‹. Umgeben ist sein Name nicht nur von den Glasfassaden, an denen entlang unser Blick weiter nach unten stürzt, sondern auch von Bildern, welche die dort projizierte Werbung aufgreifen. Zuoberst die Zeichnung einer rothaarigen Badeschönheit, die links von Ferien-Schnappschüssen flankiert ist, welche zugleich Filmstills aus Mad Men sein könnten. Hingegen ist Weiners Name rechts umrandet vom Schwarz-Weiß-Foto eines Hochzeitspaares im festlich geschmückten Auto, sowie dem Polaroid eines Vaters, der, neben seiner Gattin stehend, sein Baby stolz in den Armen hält. Tiefe und Fläche des Bildes treffen im Namen des creators dieser Quality-TV-Serie zusammen und verbinden drei unterschiedliche Darstellungsmöglichkeiten für jenes Glücksversprechen, um das der amerikanische Traum kreist: Persönliche Erinnerungsbilder und eine fiktionale Rekonstruktion der Vergangenheit fließen mit kommerziellen Zeichnungen zusammen, die vorführen, was man zu erreichen wünscht. Sie ergeben einen selbstreflexiven Kommentar zur seriellen Erzähllogik. Was in jeder Episode folgen wird ist eine ebensolche Zusammenstellung zurückgewonnener und nachempfundener Bilder eines narrativen Handlungsbogens, der die Geburt einer neuen Generation aus den realisierten Fantasien ihrer Eltern vorführt. Ist dies das erste Mal, dass wir durch Don Drapers Augen seinen Fall erblicken durften, sehen wir im Gegenschuss auch zum ersten Mal diesen im Schwindel begriffenen amerikanischen Träumer direkt von vorne. Die mit Werbebildern geschmückten Glasfassaden überragen ihn nun, er fällt direkt an uns Zuschauenden vorbei und landet endlich wieder auf festem Boden. Uns den Rücken zugewandt sitzt er gelassen auf einem Stuhl, eine Zigarette in der rechten Hand, direkt vor einer von allen Bildspuren bereinigten weißgrauen Fläche. Nur in der allerersten Episode zeigt man uns einen Zwischentitel, der uns erklärt, ›Mad Men‹ sei der Begriff, den die Führungskräfte der Madison Avenue in den späten 1950er-Jahren für sich selber geprägt hätten; ein Verweis auf den Schauplatz, an dem sie für die Träume der Nation Bilder und Geschichten entworfen haben, sowie ein Hinweis auf ihre eigene geistige Haltung: Sie waren die Superstars ihrer Zeit.

Leicht lässt sich dieser Vorspann als verdichtete Vignette jener Bildkonzeption lesen, von der die ganze TV-Serie zehrt. Denn mit dieser computeranimierten Bildabfolge übernimmt Matthew Weiner von der Pop-Art nicht nur die Überzeugung, dass unser Zugang zur Welt unweigerlich über Darstellungen verläuft, die uns die Massenkultur von einer zur Ware gewordenen Welt anbietet. Im Zuge des Recyclings erhalten Objekte aus dem Bereich der Alltagskultur zudem einen brisanten Mehrwert. Sie lenken unsere Aufmerksamkeit darauf, dass wir es mit künstlich erzeugten Fantasien zu tun haben, die aber auf reale Wünsche und Ängste verweisen. So stellen Andy Warhols serielle Reproduktionen der bereits damals zum ikonischen Werbezeichen gewordenen Coca-Cola-Flasche eine besonders griffige Instanz jener imaginären Vermittlung und Verwaltung realer Lebensumstände dar, mit der der American dream als konsumierbare Ware entlarvt und zugleich erneut angepriesen werden kann – mit einem ironischen Mehrwert. Wenn Don Draper also anfangs sein Gesicht den Werbebildern zuwendet, die er selber mitgestaltet hat, so ist es, als würde er im freien Fall noch einmal jene Vergangenheit Revue passieren lassen, die ihn als Bildserie ergreift und die er zugleich nur mit Hilfe von Bildern begreifen kann. Und wir mit ihm.

Zu beachten ist jedoch nicht nur, dass wir es entweder mit fragmentierten Bildausschnitten oder offenen Bildreihen zu tun haben, sondern auch, dass Don Draper bei den Bildern, die an ihm vorbeiziehen, nicht verweilen kann. Die Bruchstücke lassen sich nicht zu einem Gesamtbild zusammensetzen, denn die Schwerkraft treibt ihn unaufhaltsam in jene Zukunft, in der er schließlich entspannt sitzend landen wird. Was wir den American dream nennen, ist dieser Sog. Es geht nicht um eine Erlösung von den Bildern, die Don und seine Welt bestimmen, sondern um einen Neubeginn, nachdem eine alte Welt zerfallen ist. Jene Drehung, mit der die Silhouette sich von den Bildern der Vergangenheit abwendet, ist für den Ausgang entscheidend, hat sich doch mit ihnen eine Geschichte, nach der auch wir uns nostalgisch zurücksehnen, aufgelöst. In dem Augenblick, als die dunkle Gestalt durch die Schnappschüsse hindurch auf die leere Fläche am Fluchtpunkt des Bildes zustürzt, scheint der Verlust von Welt komplett. Dann richtet sich die grauweiße Bodenfläche zur Leinwand auf und der Zerfall der einen Bildwelt erweist sich als Bedingung für einen kreativen Neuanfang. Trifft der Blick des Helden nun auf einen Horizont, der wieder offen ist, so vollzieht die im Schwindel fallende Silhouette im Verlauf der gesamten Serie Mad Men 92 Mal jene Flugbahn, welche das amerikanische Projekt charakterisiert. Jon Hamms Darstellung eines charismatischen creative directors der Madison-Avenue-Werbebranche fungiert als ihre serielle Personifikation.1

Jede von diesem Vorspann eingeleitete Episode belebt die verlorene Zeit, indem sie jene Bilder, an denen entlang Dons Silhouette gefallen ist, in personalisierte Geschichten übersetzt: das suburban home mit Betty (January Jones), welches Don am Ende von drei Staffeln endgültig verlassen wird, das Upper East Side Penthouse mit Megan (Jessica Paré), welches er in der siebten Staffel schließlich verkaufen kann, dazwischen etliche Besuche an der kalifornischen Westküste. Im Sinne eines ausgeklügelten intertextuellen Netzwerkes lässt Mad Men zudem unvergessliche Versatzstücke des kulturellen Imaginären aufflackern: Mode, Architektur und Design der 1960er-Jahre sind akribisch nachgestellt worden, während die Pop-Songs der Zeit die Handlung sowohl dramaturgisch untermalen als auch griffig kommentieren. Kurze Sequenzen aus Film und Fernsehen werden entweder eingespielt oder von Figuren anzitiert, um die Medienbilder, an denen diese sich orientieren, aufzurufen, so wie wir auch wiederholt Figuren vorgeführt bekommen, die Bücher in den Händen halten, die den damaligen Zeitgeist bestimmten. Doch wie bei jeder historischen Re-Imagination gilt ein double voicing, was diese mediale Rückkehr in und der Vergangenheit betrifft. Die versprengten Hinweise auf das reale Tagesgeschehen, das über Nachrichtenmeldungen im Fernsehen ebenfalls in die fiktionale Rekonstruktion eingeblendet wird, geben präzise den historischen Rahmen an, mit dem Wahlsieg Kennedys am Ende der ersten Staffel und der Mondlandung in der Mitte der letzten.

Dabei gesteht Weiner, er hätte zwar anfänglich die Serie als eine beißende Analyse dessen konzipiert, was in den 1960er-Jahren in den USA passiert ist, »aber je mehr ich mich in Don versetzte, desto mehr habe ich begriffen, was für ein erstaunlicher Ort das ist. Etwas hat sich in den Jahren wirklich verändert«. So lädt er uns zwar auf eine Zeitreise an diesen vergangenen Schauplatz ein, jedoch stets unter dem Vorzeichen des Umbruchs, der damals stattgefunden hat. Im selben Interview mit Fred Kaplan fügt er hinzu: »Mich interessiert, wie Menschen auf Umbrüche reagieren. Sind sie begeistert über die Veränderung oder haben sie große Angst davor, alles was sie kennen, zu verlieren? Erkennen die Menschen überhaupt, dass ein Wechsel stattfindet?«2 Deshalb stellt Mad Men keine Zeitkapsel dar, welche eine Anzahl an typischen Gegenständen und Bildformeln enthält, die ausgewählt wurden, um in der Zukunft Rückschlüsse auf eine vergangene Zeit zu erlauben. Die Frage danach, wie die amerikanische Kultur auf unaufhaltsame Veränderung reagiert, trifft vielmehr, wie Frank Rich analysiert hat, den Puls des gegenwärtigen Augenblicks: die Jetztzeit. Nicht ungetrübte Nostalgie für ein Amerika, das wir aufgrund des damals grassierenden Sexismus und Rassismus sowieso nur in Form von rezyklierten Versatzstücken zurückholen wollen, macht den Charme dieser Serie aus, sondern vielmehr unsere Identifikation mit einem Amerika, welches, sosehr es sich auch von der Gegenwart unterscheiden mag, eine wachsende Angst angesichts anstehender beunruhigender Veränderungen vorwegnimmt: »Mad Men handelt vom Anbruch einer neuen Ära [dawn of a new era], und auch wir befinden uns in solch einer Morgendämmerung [dawn]. Und wir sind unsicher und besorgt darüber, was als Nächstes auf uns zukommen wird«.3

Natürlich basiert der Wetteinsatz einer jeden filmischen Zeitreise auf dem Wissensvorsprung der Zuschauer. Wir kennen bereits den Ausgang jener Ereignisse, welche auf dem Bildschirm zu neuem Leben erweckt werden. Unweigerlich blicken wir durch die Linse der Konsequenzen, welche sich aus einer historischen Epoche ergeben haben, auf diese verlorene Welt zurück. Wenn also Matthew Weiner mit seiner Serie jene für die Jetztzeit nach wie vor virulente Problematik auslotet, wie Menschen mit Veränderungen umgehen, die sie nicht aufhalten können, so nimmt er die 1960er-Jahre aus einem ganz besonderen Grund ins Visier. Der Schwindel, der Don Draper ergreift und ihm über sieben Staffeln immer wieder den Boden unter den Füßen wegzieht, setzt zwar in der ersten Staffel mit einem für das Ende der Nachkriegszeit bezeichnenden Wandel ein: Dem leisen Verlust an Selbstvertrauen und der wachsenden Desorientierung jener führenden Schicht, der diese politisch republikanisch ausgerichtete Werbeagentur angehört. Er betrifft aber zunehmend auch die Desintegration nationaler Zuversicht angesichts der Niederlage in Vietnam und die Idee, wie Weiner festhält, »dass die Revolution irgendwie gescheitert ist und es an der Zeit ist, sich mit dem auseinanderzusetzen, was man in den Griff bekommen kann, nämlich sich selber, diese neue Innerlichkeit«.4

Heute auf jenen Epochenwechsel zurückzublicken, aus der die Gegenwart entstanden ist, betrifft also nicht nur das Feststellen von Ähnlichkeiten. Man mag eine verblüffende Parallele erkennen zwischen dem knappen Wahlsieg Kennedys über Nixon und dem von George W. Bush über Al Gore im Jahr 2000. Oder man mag in den focus groups und spin doctors, auf die unsere zeitgenössische politische Kultur setzt, eine Entsprechung in jener unheilvollen Verbrüderung von Werbestrategien und Politik entdecken, welche in den 1960er-Jahren einsetzte. Der Rückblick auf diese Vergangenheit nährt sich jedoch entscheidend aus der Erkenntnis, dass damals entstandene Probleme ungelöst geblieben sind und uns weiterhin gefangen halten. Es ist ein Gespräch mit der Vergangenheit und aus der Vergangenheit, welches deren Nachleben überhaupt erst sichtbar macht. Aus dem Sog der ständigen Transformation, welcher das amerikanischen Projekt im Innersten definiert, gibt es womöglich wirklich kein Erwachen. Denn Weiners Zeitreise lenkt unsere Aufmerksamkeit nicht nur darauf, wie sehr eine verlorene Welt uns heimsuchen kann, sondern auch darauf, dass die Umbrüche, die damals stattgefunden haben, die Haltungen prägen, mit denen wir auf unsere Jetztzeit reagieren.

Mit ebendiesem doppelt justierten Blick lässt uns Mad Men in den Fokus nehmen, was uns – heute wieder – umtreibt. Denn wenn wir die Jetztzeit nur als Weiterführung dessen, was in der Vergangenheit angelegt worden ist, verstehen, so wirft die Serie die Frage auf, wie wir denn an den Punkt gekommen sind, an dem wir uns heute befinden. Wenn der fallende Don Draper als klassischer Archetypus des sich stets neu erfindenden amerikanischen Helden zu verstehen ist, steht eindeutig mehr als nur ein persönliches Schicksal auf dem Spiel. Über den Lauf, den seine Geschichte nimmt, eröffnet Mad Men einen Denkraum für ein Gespräch mit und über das kulturelle Imaginäre Amerikas in einem ganz spezifischen Sinn. Die Serie erweist sich als Bühne für ein Nachdenken über jenen schwindelerregenden Anspruch auf moralische Perfektionierbarkeit, die eine ständige Neuerfindung und Veränderung des eigenen Ichs sowohl erlaubt als auch einfordert. Durchaus im Sinne dessen, was der amerikanische Philosoph Stanley Cavell für das klassische Hollywood behauptet, lässt sich Mad Men als philosophischer serieller Roman begreifen, weil hier im partikularen wie kollektiven Sinn Betrachtungen über die Lage der Nation – damals wie heute – angestellt werden.

Es ist deshalb nicht unbedeutend, dass Cavell in einem Aufsatz über Shakespeares King Lear, den er 1968 verfasst hat, die Fragilität dieser Vision auf den Punkt bringt. »Klassische Tragödien waren immer national«, schreibt er, »deshalb ist es vielleicht kaum verwunderlich, dass Nationen tragisch geworden sind«. Bei keiner der großen Nationen hingegen ist die Tragödie so sehr mit ihrer Geschichte und Identität verschränkt wie in Amerika. Die Inbesitznahme der neuen Welt stellte von Anfang an die Erfüllung der biblischen Schrift dar. Die ersten Pilgerväter betraten das Land wie eine Bühne, auf der ein von ihren Propheten versprochener Traum der Möglichkeiten der Selbsterneuerung wahr werden sollte. Amerika war also nie einfach nur ein geografischer Ort, sondern immer schon Bühne eines mythischen Ereignisses: »Bevor Frankreich und England entstanden sind, gab es Frankreich und England; aber bevor Amerika entstand, gab es kein Amerika«. Dieses Amerika, folgert Cavell, »wurde entdeckt, und was entdeckt wurde, war nicht ein Ort, einer unter vielen, sondern ein Schauplatz, der Hintergrund eines Schicksals. Es begann als Theater«.5 Doch so gewagt der Gedanke auch gewesen sein mag, einen göttlichen Auftrag zu erfüllen, indem man einen Kontinent besiedelt, war er von Anfang an auch mit dem Gefühl befrachtet, dass dieser Auftrag ungewiss blieb. Wenn Amerika darauf gründet, dass dort den Puritanern ihr eigenes Schicksal vor Augen geführt wurde, so musste dieses immer wieder neu erkämpft und bestätigt werden.

Das Dilemma der steten Selbstverwirklichung besteht wiederum darin, dass jeder gegenwärtige Zustand nicht nur an der fantastischen Verheißung seines Ursprungs gemessen werden muss und an den großartigen Möglichkeiten, die man sich für dieses Land versprochen hat. Der Optimismus, der für die Aufrechterhaltung dieser Anstrengungen erforderlich ist, schlägt (wie im fünften Kapitel genauer beleuchtet wird), überdies leicht in eine Angst vor der Möglichkeit des Scheiterns um; in die leise Ahnung, der Traum könnte schon sehr bald verloren gehen oder sei tatsächlich schon längst verloren gegangen. Dabei ist das Wissen um die Fragilität dieser nationalen Vision auch wesentlicher Bestandteil ihrer Anziehungskraft. Tiefgreifender Zweifel und die Lust auf Herausforderung halten sich immerzu die Waage. Eben weil man alles verlieren kann oder bereits verloren hat, lässt man sich auf die Wette eines Neubeginns überhaupt ein. Diese zwiespältige Einsicht, dass das Versprechen des als Projekt begriffenen amerikanischen Traums entweder nicht realisierbar oder zumindest stets gefährdet ist, bringt Cavell mit folgendem Denkbild auf den Punkt: Amerika als perfektionierte Demokratie ist erreichbar, aber noch nicht erreicht worden. Und eben jenes verheißungsvolle und zugleich fehlbare nationale Streben nach Vollkommenheit findet in der amerikanischen Verfassung eine individuelle, subjektive Entsprechung darin, dass jedem Bürger und jeder Bürgerin nicht nur das Recht auf Leben und Freiheit zugesprochen wird, sondern auch das Recht auf pursuit of happiness. Das amerikanische Subjekt, wie jene Demokratie, der dieses seine Zustimmung geben muss, darf sich und muss sich stets neu beweisen; sein Recht auf Glück und Glücklichsein stets neu begründen.

So beängstigend also ein unaufhaltsamer Wille zur Transformation auch sein mag, als Herzstück des amerikanischen Traums gilt es diesen als günstige Gelegenheit zu ergreifen. Der Verlust einer vertrauten Welt muss als Möglichkeit der Erneuerung begriffen werden. Es bedarf der Krise, um zu sich zurückzukommen, sich wiederzuentdecken. Ein Selbstentwurf muss zerfallen, will man wieder neu ansetzen, von vorne beginnen, zu neuen Projekten erwachen. Der Anspruch auf Selbstperfektionierung erfordert es, die eigene Fremdheit anzunehmen, bewusst aus dem Gewöhnlichen herauszufallen. Denn wiedergewinnen kann man nur etwas, das man verloren oder verlassen hat; perfekt machen nur das, was noch nicht vollkommen ist. Sich auf der Kippe zur Veränderung zu befinden mag bedeuten, dass man eine neue Richtung einschlagen muss, ohne zu wissen, welche Gestalt das Neue annehmen wird, wie der neue Tag sein wird. Entscheidend ist lediglich die Bereitschaft, stets unterwegs zu sein, um somit stets wieder, von neuem, ankommen zu können. Diese grundsätzliche Zuversicht entspricht jenem uramerikanischen Vertrauen in eine zweite Chance, welche immer auch eine Portion Selbsttäuschung, eine Illusion enthalten muss. Gesetzt wird auf eine noch zu realisierende Vorstellung, auf die grundsätzliche Bereitschaft, eine noch ungewisse Gelegenheit zu ergreifen, sollte sich diese ergeben.