Hannibal Rising - Thomas Harris - E-Book
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Hannibal Rising E-Book

Thomas Harris

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Beschreibung

Das dunkle Trauma des Hannibal Lecter

Der Dämon erwacht: Thomas Harris führt uns in die Kindheit des genialen, äußerst kultivierten und monströsen Serienkillers. Er enthüllt den Albtraum, den Hannibal erlebt und der ihn bald zu eigenen Gräueltaten treibt. Das dunkle Trauma des Hannibal Lecter – die atemberaubende Vorgeschichte zu den Welterfolgen »Roter Drache«, »Das Schweigen der Lämmer« und »Hannibal«.

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Das Buch

Litauen, 1945: Sowjetische Soldaten greifen im Wald einen halb verhungerten Jungen auf. Er trägt eine Kette mit einem Vorhängeschloss um den Hals und bringt kein einziges Wort hervor. Niemand ahnt, was dieser Junge, Hannibal Lecter, in den letzten Kriegsmonaten durchgemacht hat. Seine Erlebnisse gipfelten im Tod seiner Eltern und seiner kleinen Schwester Mischa und müssen so schrecklich gewesen sein, dass sie ihn verstummen ließen. Hannibals Onkel und dessen japanische Gattin Lady Murasaki nehmen den hochtalentierten Jungen in ihrem Schloss in der Nähe von Paris auf. Von seinen Dämonen kann er sich aber erst befreien, als er für die entsetzlichen Geschehnisse zu Kriegsende Rache nimmt.

Der Autor

Thomas Harris, 1940 geboren, begann seine Karriere als Kriminalreporter in den USA und Mexiko, bevor er sich der Schriftstellerei widmete. Er ist Schöpfer der legendären Serienkiller-­Figur Hannibal Lecter, die erstmals in dem Roman Roter Drache auftritt. Der internationale Bestseller Das Schweigen der Lämmer machte Thomas Harris schließlich weltberühmt, die Verfilmungen der Hannibal-Bücher wurden zu großen Erfolgen. Nach einer längeren Pause feiert Harris mit seinem Thriller Cari Mora ein sensationelles Comeback!

THOMAS

HARRIS

HANNIBAL

RISING

THRILLER

AUS DEM AMERIKANISCHEN

VON SEPP LEEB

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Hannibal Rising bei Delacorte Press (Randomhouse Inc.), New York
Vollständige deutsche Ausgabe 06/2019 Copyright © 1999 by Yazoo Fabrications Inc. Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, und © 2006/2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Covergestaltung: punchdesign

Musashi Miyamoto,

Tuschezeichnung eines Würgers

auf einem Zweig

PROLOG

Die Tür zu Dr. Hannibal Lecters Gedächtnispalast befindet sich in dem Dunkel im Zentrum seines Geistes, und sie hat eine Klinke, die nur mit dem Tastsinn gefunden werden kann. Dieses eigenartige Portal öffnet sich auf äußerst große und gut beleuchtete Säle, früher Barock, und auf Gänge und Kammern, die es an Zahl und Vielfalt mit denen des Topkapi-Museums aufnehmen können.

Überall sind Ausstellungsstücke, großzügig gehängt und gut beleuchtet, jedes an Erinnerungen gekoppelt, die in geometrischer Folge zu anderen Erinnerungen führen.

Säle, die Hannibal Lecters frühesten Jahren gewidmet sind, unterscheiden sich insofern von den anderen Archiven, als sie unvollständig sind. In einigen Fällen handelt es sich um statische Szenen, bruchstückhaft, wie bemalte attische Scherben, zusammengehalten von nacktem Gips. Andere Räume enthalten Klang und Bewegung, große im Dunkeln sich wälzende Schlangen, immer wieder blitzartig erhellt. Manche Areale der Anlage, die Hannibal selbst nicht betreten kann, sind gefüllt mit flehentlichen Bitten und Schreien. Doch die Wände der Korridore werfen keine Schreie zurück, und es gibt Musik, wenn Sie das möchten.

Mit dem Bau des Palastes wurde schon früh in Hannibals Leben als Lernender begonnen. In den Jahren der Inhaftierung verbesserte und vergrößerte er seinen Palast, und seine Schätze halfen ihm über die langen Durststrecken hinweg, wenn Wärter ihm Bücher verweigerten.

Lassen Sie uns hier, im heißen Dunkel seines Geistes, gemeinsam nach der Türklinke tasten. Und wenn wir sie finden, wollen wir uns für Musik in den Korridoren entscheiden und, nicht nach links oder rechts blickend, zum Saal des Beginns gehen, wo die Exponate am lückenhaftesten sind.

Wir werden ihnen hinzufügen, was wir anderswo in Erfahrung gebracht haben, in Kriegsdokumenten, Polizeiberichten und Interviews, in stummer Forensik, in den Körperhaltungen der Toten. Die Briefe seines Onkels Robert Lecter, vor Kurzem entdeckt, könnten uns dabei helfen, den Lebenslauf Hannibals zu rekonstruieren, denn er selbst hat die einzelnen Daten nach eigenem Gutdünken immer wieder geändert, um die Ermittlungsbehörden und seine Chronisten zu verwirren.

Vielleicht können wir dank dieser Bemühungen dabei zusehen, wie sich die Bestie dort drinnen von der Zitze abwendet und sich, trotz Gegenwind, in die Welt hinausbegibt.

I

Das ist das Erste,

das ich erkannte:

Die Zeit ist wie das Echo

einer Axt im Wald.

PHILIP LARKIN

1

Hannibal der Schreckliche (1365–1428) erbaute Burg Lecter in fünf Jahren und setzte dabei die Soldaten ein, die er bei der Schlacht von Žalgiris gefangen genommen hatte. An dem Tag, als zum ersten Mal sein Banner auf den fertiggestellten Türmen flatterte, rief er die Gefangenen im Gemüsegarten der Burg zusammen, stieg auf das Galgengerüst, das dort stand, und schenkte ihnen, wie versprochen, die Freiheit. Statt in ihre Heimat zurückzukehren, entschieden sich jedoch wegen der vorzüglichen Verpflegung viele dafür, in seinen Diensten zu bleiben.

Mehr als fünfhundert Jahre später stand Hannibal Lecter, acht Jahre alt und der Achte dieses Namens, mit seiner kleinen Schwester Mischa im Gemüsegarten und fütterte die schwarzen Schwäne auf dem schwarzen Wasser des Burggrabens mit Brot. Mischa, die sich Halt suchend an Hannibals Hand klammerte, traf bei mehreren Würfen mit ihren Brotstücken nicht einmal den Burggraben. Dicke Karpfen stießen gegen die Seerosenblätter, und die Libellen flogen erschrocken auf.

Jetzt kam der Leitschwan aus dem Wasser. Auf seinen kurzen Beinen watschelte er auf die Kinder zu und zischte sie herausfordernd an. Der Schwan kannte Hannibal schon sein ganzes Leben lang, und trotzdem kam er immer noch drohend an und verdeckte mit seinen schwarzen Flügeln Teile des Himmels.

»Ohh, Anniba!«, stieß Mischa erschrocken hervor und ging hinter ihrem großen Bruder in Deckung.

Hannibal hob, wie es ihm sein Vater beigebracht hatte, die Arme auf Schulterhöhe und streckte sie seitlich weit von sich, wobei durch die Weidengerten in seinen Händen die Reichweite noch zusätzlich vergrößert wurde. Der Schwan blieb stehen, nahm Hannibals größere Spannweite zur Kenntnis und zog sich ins Wasser zurück, um weiter zu fressen.

»Es ist jeden Tag das Gleiche«, sagte Hannibal zu dem großen Wasservogel. Aber dieser Tag war kein Tag wie jeder andere, und er fragte sich, wohin die Schwäne fliehen könnten.

Mischa hatte vor Aufregung ihr Brot auf den feuchten Boden fallen lassen. Als Hannibal sich bückte, um es für sie aufzuheben, machte sie sich einen Spaß daraus, ihm mit ihrer sternförmigen kleinen Hand etwas Schmutz auf die Nase zu schmieren. Auch er tupfte ihr etwas Schlamm auf die Nasenspitze, und sie lachten über ihre Spiegelbilder im Burggraben.

Plötzlich spürten die Kinder drei heftige Einschläge im Boden, das Wasser des Burggrabens begann zu zittern, und ihre Gesichter auf der dunklen Oberfläche verschwammen. Der Lärm ferner Explosionen rollte über die Felder. Hannibal zog seine Schwester vom Boden hoch und rannte mit ihr in den Schutz der Burg zurück.

Im Burghof hatte man Cesar, das große Zugpferd, vor die Kutsche gespannt. Berndt in seiner Stallknechtschürze und Lothar, der Majordomus, luden drei kleine Koffer in das Gepäckabteil der Kutsche.

Auf dem Treppenabsatz stand der Koch. »Junger Herr, Madame wünscht Sie in ihrem Zimmer zu sprechen«, rief er Hannibal zu, als er ihn erblickte.

Hannibal übergab seine kleine Schwester Nana, dem Kindermädchen, und rannte die ausgetretenen Stufen des Haupthauses hinauf.

Hannibal liebte das Zimmer seiner Mutter mit seinen vielen Gerüchen, der bemalten Decke und der Holzvertäfelung mit den geschnitzten Gesichtern. Madame Lecter war väterlicherseits eine Sforza, mütterlicherseits eine Visconti und hatte das Zimmer aus Mailand mitgebracht.

Im Moment war sie sichtlich in Aufregung, und das Licht brach sich in rötlichen Funken in ihren strahlend braunen Augen. Wortlos drückte sie Hannibal eine Schatulle in die Hand, dann ging sie auf eine mit Reliefdarstellungen von Engeln verzierte Stelle der Wand zu und legte den Zeigefinger auf die Lippen eines Puttos, worauf sich in der Wand eine Klappe öffnete, hinter der ein Geheimfach verborgen war. Sie nahm den Schmuck, den sie darin aufbewahrt hatte, heraus und legte ihn in die Schatulle. Obenauf packte sie noch so viele der gebündelten Briefe aus dem Geheimfach, wie in dem Kästchen Platz fanden.

Hannibal dachte, dass seine Mutter aussah wie ihre Großmutter auf der Kamee, die mit dem restlichen Schmuck in die Schatulle purzelte.

Wolken, auf die Decke des Zimmers gemalt. Wenn er als Baby gestillt wurde, öffnete er immer die Augen und sah den Busen seiner Mutter mit den Wolken verschwimmen. Er wusste noch genau, wie sich die Säume ihrer Bluse an seinem Gesicht angefühlt hatten. Und die Amme – ihr goldenes Kreuz funkelte wie das Sonnenlicht zwischen den wundervollen Wolken und drückte gegen seine Wange, wenn sie ihn hielt. Und wie sie dann den Abdruck des Kreuzes auf seiner Haut weg zu reiben versuchte, damit er verschwand, bevor Madame ihn sah.

Aber jetzt erschien sein Vater mit den Hauptbüchern in der Tür.

»Simonetta, wir müssen aufbrechen.«

Die Babywäsche wurde in Mischas Kupferbadewanne gepackt, und Madame steckte die Schmuckschatulle dazwischen. Sie blickte sich im Zimmer um, nahm ein kleines Gemälde von Venedig von der Kommode und drückte es nach kurzem Überlegen Hannibal in die Hände.

»Bring das dem Koch. Aber sieh zu, dass du es schön am Rahmen hältst.« Sie lächelte ihn an. »Und dass du vor allem die Rückseite nicht wieder schmutzig machst.«

Der Majordomus Lothar trug die Badewanne nach unten und lud sie in die Kutsche. Hannibal brachte das kleine Gemälde dem Koch und ging dann auf den Burghof hinaus. Dort stand Mischa ganz allein herum und wurde immer quengeliger, weil sich in der Hektik des Aufbruchs niemand um sie kümmerte.

Hannibal hob seine Schwester hoch und ließ sie Cesars Kopf tätscheln. Um das große Zugpferd zum Wiehern zu bringen, kniff sie es ein paar Mal, aber Cesar blieb ruhig und bewegte nicht einmal den Kopf. Als es Mischa wieder langweilig wurde, nahm Hannibal eine Handvoll Getreidekörner aus dem Futterkübel und streute damit ein großes »M« auf den Boden des Hofs. Sofort kamen Tauben angeflogen und bildeten beim Aufpicken des Getreides ein »M« aus lebenden Vögeln.

Hannibal zog den Buchstaben in Mischas Handfläche nach – sie war schon drei Jahre alt, und er konnte es kaum erwarten, dass sie lesen lernte. »›M‹ wie Mischa!«, sagte er und sah sie eindringlich an. Aber sie schenkte ihm keine Beachtung, sondern rannte lachend auf die am Boden hockenden Tauben zu, die laut flatternd aufflogen, einmal um die Türme kreisten und sich dann im Glockenturm niederließen.

Der Koch, ein großer, kräftiger Mann in weißer Küchenkleidung, brachte den packenden Männern etwas zu essen. Das Pferd drehte ein Auge in seine Richtung und folgte dem Geräusch seiner Schritte mit einem kreisenden Ohr. Als Cesar noch ein Fohlen war, hatte ihn der Koch mehr als einmal unter lautem Schimpfen und Fluchen, mit einem Besen auf sein Hinterteil eindreschend, aus dem Gemüsegarten verscheucht.

»Ich bleibe noch und helfe Ihnen, in der Küche alles zusammenzupacken«, bot der Hauslehrer Herr Jakov dem Koch an.

»Nein, gehen Sie lieber mit dem Jungen«, entgegnete der Koch.

Graf Lecter hob Mischa in die Kutsche, und Hannibal schloss die Arme um seine kleine Schwester. Als sein Vater eine Hand an seine Wange legte, stellte Hannibal überrascht fest, dass Graf Lecter zitterte.

»Drei Flugzeuge haben die Bahngleise bombardiert. Oberst Timka sagt, wir haben mindestens noch eine Woche Zeit, wenn die Deutschen überhaupt bis hierher kommen, und dann wird es höchstens an den großen Straßen zu Gefechten kommen. Wir ziehen uns erst einmal ins Jagdhaus zurück. Dort haben wir nichts zu befürchten.«

Es war der 23. Juni 1941, der zweite Tag von »Unternehmen Barbarossa«, Hitlers Blitzvorstoß durch Osteuropa nach Russland.

2

Damit sich das Pferd nicht am Kopf verletzte, ging der Stallknecht Berndt auf dem Waldweg vor der Kutsche her und hackte mit einer kurzen Pike herabhängende Zweige weg.

Herr Jakov folgte, die Satteltaschen voller Bücher, auf einer Mähre. Er war kein guter Reiter, und um unter den tief hängenden Ästen hindurchzukommen, klammerte er sich unbeholfen am Hals seines Pferds fest. Manchmal, wenn der Weg zu steil wurde, stieg er ab, um wie Lothar, Berndt und selbst Graf Lecter zu Fuß weiterzugehen. Hinter ihnen schnellten die beiseitegeschobenen Zweige zurück, um den Weg wieder zu verschließen.

Hannibal roch das von den Rädern der Kutsche zerquetschte Laub und das warme Haar Mischas, die auf seinem Schoß saß. Hoch über ihnen flogen deutsche Bomber. Zum Bordun ihres tiefen Brummens, akzentuiert vom trockenen Stakkato der Flugabwehrgeschütze, summte Hannibal seiner Schwester ein Lied vor. Es war keine fröhliche Melodie.

»Nein, Anniba«, sagte Mischa. »Sing das Männlein!« Gemeinsam stimmten sie darauf das Lied von dem geheimnisvollen kleinen Mann im Wald an. Ihre Mutter und das Kindermädchen Nana fielen in der heftig schaukelnden Kutsche mit ein, und wenig später ertönte von draußen auch die Stimme des Hauslehrers Herrn Jakov, obwohl er Mühe hatte, sich im Sattel zu halten, und zudem nicht gern auf Deutsch sang.

Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm,

Es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um.

Sagt, wer mag das Männlein sein,

Das da steht im Wald allein

Mit dem purpurroten Mäntelein …

Nach zwei beschwerlichen Stunden erreichten sie tief im Wald eine von hohen Bäumen umgebene Lichtung.

Das Jagdhaus war im Lauf der letzten dreihundert Jahre von einem primitiven Unterstand im Wald zu einem komfortablen Fachwerkhaus mit einem hohen Steildach ausgebaut worden. Ein Stück abseits davon stand eine kleine Scheune mit zwei Pferdeboxen und einem Schlafraum für das Gesinde, und direkt dahinter, durch eine Hecke den Blicken entzogen, befand sich ein mit zahlreichen Schnörkeln verziertes Aborthäuschen im viktorianischen Stil.

Das Fundament des Jagdhauses bestand zum Teil aus den Steinen eines mittelalterlichen Altars, der von Anhängern eines Ringelnatterkults errichtet worden war. Als der Majordomus Lothar ein paar Ranken weghackte, damit Nana die Fenster öffnen konnte, sah Hannibal eine Ringelnatter aus dem alten Gemäuer kommen und in den Wald fliehen.

Graf Lecter hatte für das Zugpferd einen Eimer Wasser aus dem Brunnen hochgezogen und strich ihm mit den Händen über das Fell, als es gierig daraus trank. Über Cesars Rücken hinweg wandte er sich dem Stallknecht zu. »Bis du wieder zurück in der Burg bist, Berndt, hat der Koch in der Küche sicher schon alles fertig zusammengepackt. Cesar soll sich über Nacht in seiner Box ausruhen, und dann kommst du bei Tagesanbruch zusammen mit dem Koch hierher zurück, auf keinen Fall später. Ich möchte, dass die Burg spätestens bis zum Morgen geräumt ist.«

Der Hilfswillige Vladis Grutas hatte sein freundlichstes Gesicht aufgesetzt, als er den Hof von Burg Lecter betrat. Forschend ließ er den Blick von einem Fenster zum andern wandern, dann rief er mit lauter Stimme: »Hallo, ist da jemand?«

Grutas war schmächtig, hatte schmutzig blondes Haar und auffallend blaue Augen, die so hell waren, dass man in ihnen den leeren Himmel zu sehen glaubte. Er rief noch einmal in die Stille hinein: »Hallo, ist da jemand?«

Als er wieder keine Antwort erhielt, ging er in die Küche, wo mehrere Kisten mit Lebensmitteln herumstanden. Er vergewisserte sich kurz, dass niemand ihn beobachtete, und ließ hastig ein paar Beutel Kaffee und Zucker in seinem Rucksack verschwinden. Die Kellertür im hinteren Teil der Küche stand offen. Grutas spähte die Treppe hinunter. Aus dem Dunkel des Kellers drang ein schwacher Lichtschein zu ihm herauf.

Nachdem er sich noch einmal umgesehen hatte, tastete er sich vorsichtig die steinerne Treppe hinab. Unten angekommen, umfing ihn die kühle Höhlenluft des riesigen Gewölbekellers der Burg. Das Eisengitter des Weinkellers stand offen.

Im schwachen Schein zweier flackernder Laternen sah Grutas den riesigen Schatten des Kochs über die hohen, mit Etiketten versehenen Stellagen tanzen, die voll mit verstaubten Weinflaschen waren. Der große, kräftige Mann stand mit dem Rücken zur Tür über den Verkostungstisch in der Mitte des Weinkellers gebeugt und war damit beschäftigt, ein kleines Gemälde mit kostbarem Rahmen in Packpapier einzuschlagen und mit Bindfaden zu verschnüren.

Als der Koch damit fertig war, legte er das Bild zu den anderen Paketen auf dem Tisch. Dann nahm er eine der Laternen und zog an dem eisernen Leuchter, der über dem Verkostungstisch von der Decke hing. Es ertönte ein leises Klicken, und eines der Weinregale löste sich ein paar Zentimeter von der Rückwand des Kellergewölbes. Unter lautem Quietschen zog der Koch das Regal ganz heraus. Dahinter kam eine dunkle Öffnung in der Wand zum Vorschein.

Der Koch ging in den Raum, der sich dort hinten befand, und hängte die Laterne an einen Haken. Dann kam er in den Weinkeller zurück und machte sich daran, die Pakete, die auf dem Verkostungstisch lagen, in die verborgene Kammer zu tragen.

Als er damit fertig war, schob er das Weinregal wieder an seinen Platz vor dem geheimen Durchgang zurück. Das war für Grutas das Zeichen, sein Versteck zu verlassen und lautlos die Treppe hinauf zu huschen. Doch dann hörte er draußen einen Schuss fallen, und gleich darauf dröhnte aus dem Keller die Stimme des Kochs.

»Halt! Wer ist da?«

Für einen Mann seiner Größe kam der Koch erstaunlich schnell die Treppe herauf.

»Halt! Bleib sofort stehen! Was hast du hier zu suchen, Kerl?«

Vladis Grutas rannte durch die Küche und stürmte winkend und rufend auf den Burghof hinaus.

Der Koch griff sich einen Besenstiel und wollte ihm hinterherstürzen, als er in der Tür zum Hof die Silhouette eines Mannes mit den unverkennbaren Umrissen eines Stahlhelms auf dem Kopf auftauchen sah. Einen Moment später kamen auch schon drei deutsche Fallschirmjäger in die Küche, jeder mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Hinter ihrem Rücken drückte sich auch Vladis Grutas wieder herein.

»Kochlöffel, mein Freund, wie geht’s, wie steht’s?«, fragte Grutas grinsend und nahm einen Schinken aus einer der Kisten auf dem Boden.

»Leg das Fleisch sofort wieder zurück, du Ratte!«, befahl der deutsche Unterscharführer und richtete seine Waffe genauso bedenkenlos auf Grutas, wie er sie zuvor auf den Koch gerichtet hatte. »Und jetzt verschwinde, geh raus zur Patrouille.«

Der Weg zurück zur Burg war meistens leicht abschüssig, und mit der leeren Kutsche kam Berndt gut voran. Kurz bevor er das Ende des Waldes erreichte, bildete er sich ein, von einem hohen Baum einen Storch auffliegen zu sehen. Doch als er näher kam, stellte er fest, dass das weiße Flattern von einem großen Stück Stoff herrührte, einem Fallschirm mit durchtrennten Fangleinen, der sich hoch oben im Geäst verfangen hatte. Berndt zog abrupt an den Zügeln und brachte die Kutsche zum Stehen. Er legte seine Pfeife beiseite, kletterte vom Kutschbock, ging zu Cesar und legte ihm beruhigend die Hand an den Hals, um ihm etwas ins Ohr zu murmeln. Dann setzte er seinen Weg vorsichtig zu Fuß fort.

Er kam nicht weit. Von einem Baum neben dem Weg hing an einem niedrigen Ast ein Mann in bäuerlicher Kleidung, der erst vor Kurzem gehängt worden war, die Drahtschlinge tief in seinen Hals eingegraben, das Gesicht blauschwarz angelaufen, die schmutzigen Stiefel dreißig Zentimeter über dem Boden baumelnd. Hastig drehte sich Berndt nach der Kutsche um und hielt nach einer Stelle Ausschau, wo er auf dem schmalen Waldweg wenden könnte.

In diesem Moment kamen sie unter den Bäumen hervor, drei deutsche Soldaten, ein Unterscharführer und sechs Männer in Zivil. Der Unterscharführer überlegte kurz, dann zog er den Verschluss seiner Maschinenpistole zurück.

Einen der Zivilisten kannte Berndt.

»Grutas, was ist denn hier los?«, fragte er den Mann.

»Berndt, der brave Berndt, der immer tut, was man ihm sagt.« Mit einem freundlichen Lächeln ging Grutas auf ihn zu. »Das ist der Stallknecht des Grafen«, erklärte er dem deutschen Unterscharführer. »Er kann sich um das Pferd kümmern, das da vorne steht.«

»Und wer sagt mir, dass er kein Freund von dir ist?«, wollte der Deutsche wissen.

»Ich«, sagte Grutas und spuckte Berndt ins Gesicht. »Den anderen habe ich doch auch aufgehängt, oder etwa nicht? Und den habe ich auch gekannt. Es gibt schließlich keinen Grund, weshalb wir zu Fuß gehen sollten, wenn wir auch eine Kutsche nehmen können.« Und leiser, ausschließlich an den Unterscharführer gewandt, fügte er hinzu: »Wenn Sie mir mein Gewehr kurz zurückgeben, erschieße ich ihn, sobald wir wieder in der Burg sind.«

3

Hitlers Blitzkrieg fegte schneller über Osteuropa hinweg, als irgendjemand sich vorstellen konnte. In der Burg hatte sich eine Kompanie der SS-Division Totenkopf eingenistet. Neben einem Jagdpanzer und mehreren Halbkettenfahrzeugen standen zwei Panzer am Burggraben.

Der Gärtner Ernst lag, den Kopf voller Schmeißfliegen, mit dem Gesicht nach unten im Gemüsegarten.

Das alles sah Berndt vom Kutschbock aus. In der Kutsche fuhren nur die Deutschen. Grutas und die anderen mussten hinterhergehen. Sie waren sogenannte Hilfswillige oder kurz Hiwis; so wurden in den von den Nazis besetzten Gebieten Einheimische bezeichnet, die sich bereit erklärten, mit den Besatzern zu kooperieren.

Hoch oben auf einem Turm der Burg entdeckte Berndt zwei Soldaten, die das Lecter-Banner mit dem wilden Eber einholten und an seiner Stelle eine Hakenkreuzfahne hissten und eine Funkantenne aufstellten.

Ein SS-Sturmbannführer in schwarzer Uniform mit dem Totenkopf-Abzeichen kam aus der Burg, um sich Cesar anzusehen.

»Sehr schön, aber zum Reiten ist sein Rücken leider zu breit«, sagte er bedauernd – er hatte seine Reithose und die Sporen mitgebracht, um in seiner Freizeit reiten zu können.

Zwei SS-Männer hatten den Koch in ihre Mitte genommen und schleppten ihn aus der Küche vor den Sturmbannführer.

»Wo ist der Graf mit seiner Familie?«

»In London«, sagte Berndt. »Darf ich die Leiche des Gärtners zudecken?«

Der Sturmbannführer gab seinem Unterscharführer ein Zeichen, worauf dieser Berndt den Lauf seiner Schmeisser unters Kinn hielt.

»Und wer soll deine zudecken, Freundchen?«, fragte der Sturmbannführer. »Riech mal am Lauf. Er raucht noch. Und wenn du nicht spurst, knallen wir dich auch ab. Also raus mit der Sprache, wo steckt der Graf mit seiner Familie?«

Berndt schluckte. »Nach London geflohen, Herr General.«

»Bist du Jude?«

»Nein, Herr General.«

»Zigeuner?«

»Nein, Herr General.«

Der Sturmbannführer blickte auf ein Bündel Briefe, die seine Männer im Haus gefunden hatten. »Das ist Post für einen gewissen Jakov. Bist du dieser Jude Jakov?«

»Nein, das ist der Hauslehrer, Herr General. Der ist schon lange nicht mehr bei uns.«

Der Sturmbannführer untersuchte Berndts Ohrläppchen, um zu sehen, ob sie durchstochen waren. »Los, zeig dem Unterscharführer deinen Schwanz!« Und als Berndt zögerte: »Na, wird’s bald, oder soll ich dich gleich über den Haufen schießen?«

»Herr Sturmbannführer, diese Leute kennen sich alle«, sagte der Unterscharführer.

»Wirklich? Vielleicht mögen sie sich ja auch.« Er wandte sich Vladis Grutas zu. »Vielleicht mögt ihr eure Landsleute ja mehr als uns, oder wie ist das, ihr Hiwis?« Der Sturmbannführer wandte sich wieder dem Unterscharführer zu. »Glauben Sie wirklich, wir brauchen diese Galgenvögel?« Als er ihm ein Zeichen gab, richtete der Unterscharführer die Maschinenpistole auf Grutas und seine Männer.

»Der Koch ist Jude«, sagte Vladis Grutas schnell. »Glauben Sie einem Einheimischen, der Bescheid weiß: Wenn Sie ihn für sich kochen lassen, sind Sie von seinem Judengift in einer Stunde tot.« Er schob einen seiner Männer vor. »Topfgucker hier kann auch kochen – und Essen beschaffen und als Soldat kämpfen kann er ebenfalls.«

Der Lauf der Maschinenpistole des Unterscharführers blieb immer auf ihn gerichtet, als Grutas mit langsamen Schritten in die Mitte des Hofs ging. »Herr Sturmbannführer, Sie tragen den Ring und die Narben Heidelbergs. Aber auch hier wurde einmal Kriegsgeschichte geschrieben, wie Sie sie jetzt wieder schreiben. Der Stein, den Sie hier sehen, ist der Rabenstein Hannibals des Schrecklichen. Hier starb einer der tapfersten Deutschritter. Wird es da nicht langsam Zeit, den Stein mit Judenblut reinzuwaschen?«

Der Sturmbannführer zog die Augenbrauen hoch. »Dann lass mal sehen, ob du es auch wirklich verdienst, einer der Unseren zu werden.«

Er nickte seinem Unterscharführer erneut zu. Dieser nahm die Pistole aus der Tasche an seiner Koppel, entfernte bis auf eine alle Kugeln aus dem Magazin und reichte die Waffe Grutas. Auf seinen Wink hin schleppten zwei SS-Männer den Koch zum Rabenstein.

Der Sturmbannführer hatte sich abgewandt; er schien sich mehr für das Pferd zu interessieren. Grutas hielt dem Koch die Pistole an den Kopf und wartete, weil er wollte, dass der Sturmbannführer zusah.

Der Koch spuckte ihn an.

Als der Schuss fiel, flogen Schwalben von den Türmen auf. Der Stallknecht Berndt wurde beauftragt, Möbel für die Offiziersunterkunft ins Obergeschoss der Burg zu schaffen. Als er die Treppe hochging, sah er an sich hinab, ob er sich vor Angst in die Hose gemacht hatte. Oben angekommen, konnte Berndt aus einer Kammer unter dem Dach das laute Rauschen und Knacken eines Funkgeräts hören.

Kurz darauf rannte der Funker mit einem Schreibblock die Treppe hinunter. Er wechselte ein paar Worte mit dem Sturmbannführer, dann kehrte er wieder nach oben zurück und machte sich daran, das Funkgerät abzubauen.

Die Deutschen zogen nach Osten weiter.

Aus einem Fenster im Obergeschoss beobachtete Berndt, wie die SS-Männer ein Tornisterfunkgerät aus einem der Panzer hoben und es in den kleinen Stützpunkt trugen, den sie in der Burg einzurichten vorhatten. Grutas und sein zwielichtiges Gesindel, die inzwischen alle mit deutschen Waffen ausgerüstet waren, luden sämtliche Lebensmittelvorräte aus der Küche auf ein Halbkettenfahrzeug. Als die Soldaten in ihre Fahrzeuge stiegen, kam Vladis Grutas aufgeregt aus der Küche gerannt, um nicht zurückgelassen zu werden.

Die Einheit zog nach Russland weiter und nahm Grutas und die anderen Hiwis mit. Den Stallknecht Berndt schienen sie vergessen zu haben. In der Burg blieb nur ein Trupp Panzergrenadiere mit einem Maschinengewehr und dem tragbaren Funk­gerät zurück.

Berndt hatte sich in der Latrine im alten Turm versteckt und wartete, bis es dunkel wurde. Als die kleine deutsche Besatzungstruppe in der Küche zu Abend aß, stand nur noch ein Mann auf dem Hof Wache. Die Soldaten hatten im Küchenschrank Schnaps gefunden, und entsprechend ausgelassen war in kürzester Zeit die Stimmung.

Diese Gelegenheit machte sich Berndt zunutze, um aus der Latrine in das Zimmer von Madame Lecter hinaufzuschleichen, wo die Deutschen das Funkgerät aufgestellt hatten. Der Boden vor der Kommode, auf der es stand, war von zerbrochenen Duftfläschchen übersät. Die Soldaten hatten sie einfach von der Kommode gefegt, um Platz zu schaffen. Berndt betrachtete das Funkgerät nachdenklich. Er musste an Ernst, den Gärtner, denken, der tot im Gemüsegarten lag, und an den Koch, der Grutas mit seinem letzten Atemzug ins Gesicht gespuckt hatte.

Beim Betreten des Zimmers hatte Berndt das Gefühl gehabt, sich bei Madame für sein Eindringen entschuldigen zu müssen, aber jetzt kam er mit dem schweren Funkgerät auf dem Rücken, die Stiefel in seinen Händen, wieder heraus und schlich lautlos die steinerne Treppe hinunter. Unbemerkt von den deutschen Soldaten, die in der Küche lautstark feierten, verließ Berndt die Burg durch eins der Ausfalltore.

Das Funkgerät und der handbetriebene Generator wogen zusammen über zwanzig Kilo. Berndt schleppte beides in den Wald und versteckte es dort. Er bedauerte, dass er das Pferd zurücklassen musste.

In der Stube des Jagdhauses brannte ein Feuer. Sein warmer Schein legte einen sanften Glanz auf die Gesichter der um den offenen Kamin versammelten Familie und spielte um die bunt bemalten Balken des Hauses. Wenn sich das Licht in den staubigen Augen der ausgestopften Tierköpfe an den Wänden brach, schien es fast, als erwachten sie für kurze Zeit wieder zum Leben. Die stolzen Jagdtrophäen waren schon alt und verblichen, ihr Fell stellenweise kahl getätschelt von Generationen von Kinderhänden, die durch das Geländer der Galerie gefasst hatten, um sie zu streicheln.

Das Kindermädchen Nana hatte Mischas Kupferbadewanne auf den Herd gestellt und goss aus einem Kessel heißes Wasser hinein, bis der Inhalt der Wanne die richtige Temperatur hatte. Dann schäumte sie das Wasser mit einem Stück Seife auf und setzte Mischa behutsam hinein. Fröhlich patschte das kleine Mädchen mit der Hand nach dem dicken Schaum. Währenddessen legte Nana ein paar Handtücher ans Feuer, um sie aufzuwärmen.

Hannibal hatte sich neben die Kupferbadewanne gesetzt, streifte Mischa ihren kleinen Armreif ab, tauchte ihn in die warme Seifenlauge und blies behutsam hindurch. Dutzende bunter Seifenblasen schwebten über seine kleine Schwester hinweg und spiegelten auf ihrem kurzen Flug die leuchtenden Gesichter der um den Kamin versammelten Familie, bevor sie über dem Feuer zerplatzten. Mischa war begeistert. Sie grabschte ausgelassen nach den Seifenblasen, aber zugleich wollte sie unbedingt ihren Armreif zurückhaben und gab erst Ruhe, als Hannibal ihn ihr wieder übers Handgelenk streifte.

Hannibals Mutter spielte auf dem alten Klavier in der Ecke polyphone Barockmusik, die zart und zerbrechlich durch das alte Jagdhaus schwebte, während draußen vor den mit Decken verhängten Fenstern die Nacht hereinbrach und der Wald seine schwarzen Schwingen um sie legte.

Dann öffnete sich die Tür, und Berndt stolperte zutiefst erschöpft herein. Die Musik verstummte. In Graf Lecters Augen traten Tränen, als er Berndts Erzählung vernahm. Hannibals Mutter ergriff die Hand des Stallknechts und tätschelte sie beruhigend.

Auf ihrem Weg nach Russland fackelten die Deutschen nicht lange. Sie sahen in Litauen nichts weiter als eine kleine deutsche Kolonie, die nach der Auslöschung der minderwertigen slawischen Lebensformen mit Ariern besiedelt werden sollte. Auf den Straßen des Landes waren deutsche Marschkolonnen unterwegs. Auf den Bahnstrecken beförderten deutsche Züge schwere Artilleriegeschütze nach Osten.

Die Marschkolonnen der deutschen Wehrmacht wurden von sowjetischen Kampfbombern erbittert bombardiert und beschossen. Hinzu kam noch das Flächenbombardement durch die großen Iljuschin-Bomber, denen es gelungen war, das massive Feuer der deutschen Flugabwehrgeschütze auf den Zügen zu durchbrechen.

Die vier schwarzen Schwäne flogen in Formation, so hoch sie konnten, die Hälse weit nach vorn gereckt. Auf ihrem Weg nach Süden begleitete sie das unablässige Dröhnen der Flugzeuge, sobald der Tag anbrach.

Plötzlich traf sie eine Salve aus einer Flak. Der Leitschwan erschlaffte mitten im Flügelschlag und begann den langen Absturz auf die Erde hinab, während die anderen Vögel abdrehten und unter klagenden Rufen in weiten Kreisen tiefer gingen.

Der tödlich getroffene Schwan prallte auf einem Feld auf und blieb reglos liegen. Seine Gefährtin, die neben ihm landete, stupste ihn immer wieder mit ihrem Schnabel an und watschelte laut schreiend um ihn herum. Aber er rührte sich nicht mehr.

Ein Stück weiter schlug eine Granate ein, und unter den Bäumen am Rand des Felds erschien sowjetische Infanterie. Ein deutscher Panzer überquerte holpernd einen Graben und ratterte, aus seinem Maschinengewehr feuernd, auf den Wald zu, in dem die Infanteristen Stellung bezogen hatten. Sein Weg führte direkt auf den toten schwarzen Schwan zu, der blutüberströmt auf der Erde lag.

Die Gefährtin des Schwans breitete schützend die Flügel aus und stellte sich todesmutig dem anrollenden Panzer entgegen, obwohl dieser wesentlich breiter war als die Spannweite ihrer Flügel und sein Motor um vieles lauter als ihr heftig schlagendes Herz. Ohne von der Stelle zu weichen, stand sie zischend da und schlug im letzten Moment entschlossen mit den Flügeln nach dem Panzer, doch der rollte nur achtlos über sie hinweg und ließ in der Spur seiner ratternden Ketten einen blutigen Matsch aus Fleisch und Federn zurück.

4

Familie Lecter überstand die fürchterlichen dreieinhalb Jahre von Hitlers Russlandfeldzug unbeschadet in ihrem Jagdhaus im Wald. Im Winter war der lange Weg durch den Wald tief verschneit, im Frühling mit Gestrüpp zugewachsen und im Sommer vom Regen so stark aufgeweicht, dass es für einen Panzer kein Durchkommen gab.

Die reichen Mehl- und Zuckervorräte im Jagdhaus brachten sie ohne Probleme durch den ersten Winter, zumal es dort auch mehrere Fässer mit Salz gab. Im zweiten Winter fanden sie ein erfrorenes Pferd. Es gelang ihnen, das erstarrte Fleisch mit Äxten zu zerteilen und in Salz einzulegen. Auch Forellen und Rebhühner pökelten sie.

Manchmal kamen nachts Männer in Zivilkleidung vorbei, um wenig später, lautlos wie Schatten, wieder im Wald zu verschwinden. Graf Lecter und der Stallknecht Berndt sprachen auf Litauisch mit ihnen. Einmal brachten sie einen Mann mit einem blutgetränkten Hemd, der auf einer Pritsche in der Ecke starb, während ihm das Kindermädchen Nana mit einem feuchten Tuch das Gesicht abtupfte.

An den Tagen im Winter, an denen der Schnee zu tief war, um im Wald auf Nahrungssuche zu gehen, erteilte der Haus­lehrer Herr Jakov den Kindern Unterricht. Angepasst an ihre jeweiligen Fähigkeiten, brachte er Hannibal und Mischa Englisch und die Grundbegriffe des Französischen bei und unterrichtete sie und manchmal auch die Erwachsenen in römischer Geschichte, wobei er sich hier ganz besonders mit den Belagerungen Jerusalems befasste. Er fand in ihnen allen aufmerksame Zuhörer, denn er schilderte die historischen Ereignisse und biblischen Geschichten sehr spannend und anschaulich, und manchmal schmückte er sie in einem Maß aus, das nicht mehr unbedingt etwas mit Wissenschaft zu tun hatte.

In Mathematik unterrichtete er Hannibal allein, weil hier kaum jemand mit dem Jungen mithalten konnte.

Unter Herrn Jakovs Büchern im Jagdhaus befand sich eine ledergebundene Ausgabe von Christiaan Huyghens’ Abhandlung über das Licht, die es Hannibal besonders angetan hatte. Wenn er Huyghens’ Gedankengängen Schritt für Schritt folgte, hatte er das Gefühl, sich auf geistiges Neuland zu begeben. Er brachte die Abhandlung über das Licht mit dem Funkeln des Schnees und mit den regenbogenfarbenen Schlieren in den alten Fensterscheiben des Jagdhauses in Verbindung. Die reizvolle Geradlinigkeit von Huyghens’ Gedanken erschien ihm wie die klaren und einfachen Linien des Winters, wie die Struktur unter den Blättern. Wie ein geheimnisvolles Kästchen, das sich mit einem leisen Klicken öffnete und den Blick freigab auf das Prinzip in seinem Innern, das sich auf alles anwenden ließ. Dieser verlässlich sich einstellende Kitzel war ihm vertraut, seit er lesen konnte.

Hannibal Lecter war ständig in irgendwelche Bücher vertieft, so erschien es zumindest Nana, dem Kindermädchen. Als er zwei Jahre alt war, hatte sie ihm noch vorgelesen, meistens aus einer Ausgabe der Grimm’schen Märchen, die mit Holzschnitten illustriert war, auf denen alle Figuren lange, spitze Zehennägel hatten. Hannibal hatte ihr dann, den Kopf an ihre Brust geschmiegt, fasziniert zugehört und dabei unablässig auf die Wörter auf den Seiten geschaut, bis sie ihn eines Tages dabei ertappte, wie er selbstständig in dem Buch las. Er drückte die Stirn auf die Seite, hob dann den Kopf auf Sichtweite und begann, in Nanas Akzent laut zu lesen.

Hannibals Vater hatte eine hervorstechende Eigenschaft – Neugier. Und diese Neugier veranlasste Graf Lecter damals dazu, dem Majordomus Lothar aufzutragen, Hannibal die schweren Wörterbücher aus der Schlossbibliothek zu holen – das englische, das französische, das deutsche und die 23 Bände des litauischen Wörterbuchs –, und dann wurde der Junge mit den Büchern sich selbst überlassen.

Als Hannibal sechs war, hatte er drei einschneidende Erlebnisse, die sich prägend auf sein ganzes späteres Leben auswirken sollten.

Zuerst stieß er in der Schlossbibliothek auf eine alte Ausgabe von Euklids Elementen. Er fuhr die von Hand gezeichneten Abbildungen mit dem Finger nach und drückte die Stirn auf sie.

Als Nächstes bekam er im Herbst seine kleine Schwester Mischa. Er fand, sie sah aus wie ein verschrumpeltes rotes Eichhörnchen. Insgeheim bedauerte er, dass sie nicht das Aussehen seiner Mutter hatte.

Als sich die Aufmerksamkeit der anderen plötzlich nur noch um seine kleine Schwester drehte, begann er sich zunehmend häufiger vorzustellen, wie schön es wäre, wenn der Adler, den er manchmal über der Burg kreisen sah, Mischa behutsam in die Lüfte höbe und in ein fernes Land mit glücklichen Gnomen trüge, die alle wie Eichhörnchen aussahen und bestens zu ihr passten. Zugleich stellte er jedoch auch fest, dass er Mischa über alles liebte, und er nahm sich fest vor, ihr, sobald sie alt genug wäre, sich eigene Gedanken zu machen, alle möglichen interessanten Dinge zu zeigen und sie mit dem Reiz des Forschens und Entdeckens vertraut zu machen.

Im selben Jahr bemerkte Graf Lecter, dass sein Sohn unter, wie Hannibal es ausdrückte, »Euklids persönlicher Anleitung« anhand der Länge ihrer Schatten die Höhe der Burgtürme berechnet hatte. Das veranlasste Graf Lecter, sich nach einem besseren Hauslehrer umzusehen – und keine sechs Wochen später traf Herr Jakov, ein bettelarmer Gelehrter aus Leipzig, auf Burg Lecter ein. Die Begegnung mit ihm führte zum dritten einschneidenden Erlebnis Hannibals.

Graf Lecter stellte Herrn Jakov seinen neuen Schüler in der Schlossbibliothek vor und ließ die beiden dann allein. An regnerischen Tagen hing ein Hauch von kaltem Rauchgeruch in der Bibliothek, der unauslöschlich in das uralte Gemäuer eingegraben schien.

»Mein Vater sagt, Sie werden mir viel beibringen.«

»Wenn du viel lernen willst, kann ich dir dabei helfen.«

»Er hat mir erzählt, Sie sind ein großer Gelehrter.«

»Ich bin ein Lernender.«

»Meiner Mutter hat er erzählt, Sie wären von der Universität ausgeschlossen worden.«

»Ja, das stimmt.«

»Warum?«

»Weil ich Jude bin – Aschkenase, um genau zu sein.«

»Aha. Sind Sie unglücklich?«

»Dass ich Jude bin? Darüber bin ich froh.«

»Nein, ich meinte: Sind Sie traurig, nicht mehr an der Universität lehren zu können?«

»Ich bin froh, hier zu sein.«

»Fragen Sie sich, ob ich Ihre Zeit auch wert bin?«

»Jeder verdient es, dass man sich mit ihm beschäftigt, Hannibal. Wenn jemand auf den ersten Blick langweilig erscheint, musst du nur genauer hinsehen, du musst in ihn hineinsehen.«

»Hat man Sie in dem Zimmer mit dem Eisengitter vor der Tür untergebracht?«

»Ja.«

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen – es lässt sich nicht mehr abschließen.«

»Das habe ich zu meiner Beruhigung auch schon festgestellt.«

»In diesem Raum war früher einmal Onkel Elgar untergebracht.« Hannibal begann, seine Stifte vor sich aufzureihen. »Das war in den 1880er Jahren, lange vor meiner Zeit. Sehen Sie sich die Fensterscheibe in Ihrem Zimmer einmal genauer an. In das Glas ist mit einem Diamanten ein Datum eingeritzt. Das hier sind die Bücher, die Onkel Elgar geschrieben hat.«

Hannibal deutete auf ein Regal voll riesiger Lederfolianten, von denen einer stark verkohlt war.

»Wenn es draußen regnet, riecht es hier drinnen immer nach Rauch. Die Wände waren mit Heuballen verkleidet, um seine Reden zu dämpfen.«

»Seine Reden?«

»Ja, es ging darin um religiöse Fragen, aber … wissen Sie, was ›Unzucht‹ oder ›unzüchtig‹ bedeutet?«

»Ja.«

»Ich selbst weiß es zwar nicht so genau, aber ich glaube, es bedeutet Dinge, die man in Mutters Anwesenheit nicht sagen würde.«

»So könnte man es ausdrücken«, bestätigte Herr Jakov.

»Was das Datum auf der Fensterscheibe angeht – es ist genau der Tag, an dem jedes Jahr der erste Sonnenstrahl auf das Fenster trifft.«

»Onkel Elgar hat auf die Sonne gewartet.«

»Ja, und es ist auch der Tag, an dem er dort drinnen verbrannt ist. Sobald der erste Sonnenstrahl in sein Zimmer fiel, bündelte er mit dem Monokel, das er beim Verfassen dieser Bücher trug, das Licht und entzündete damit das Heu, mit dem die Wände ausgekleidet waren.«

Im Anschluss an dieses Gespräch zeigte Hannibal seinem neuen Lehrer Burg Lecter. Nach der Besichtigung des Hauptgebäudes überquerten sie den Hof mit dem mächtigen Steinblock, in dessen Mitte ein massiver eiserner Ring eingelassen war. Auf der flachen Oberseite des Steins waren die Scharten einer Axt zu erkennen.

»Dein Vater hat mir erzählt, du hast die Höhe der Burgtürme berechnet.«

»Ja.«

»Wie hoch sind sie?«

»Der Südturm genau vierzig Meter, der andere einen halben Meter niedriger.«

»Was hast du als Gnomon verwendet?«

»Den Stein hier. Ich habe die Höhe des Steins und die Länge seines Schattens gemessen und dann um die gleiche Uhrzeit den Schatten der Türme, und anhand dieser Längenverhältnisse habe ich anschließend mithilfe des Strahlensatzes die Höhe der Türme berechnet.«

»Die Seitenkanten des Steins sind aber nicht genau senkrecht.«

»Deshalb habe ich mein Jojo als Senkblei verwendet.«

»Konntest du die zwei Messungen gleichzeitig vornehmen?«

»Nein, Herr Jakov.«

»Wie groß ist die durch den Zeitunterschied bedingte Abweichung zwischen den beiden Schattenmessungen?«

»Wegen der Drehung der Erde beträgt sie alle vier Minuten ein Grad. Das hier ist übrigens der Rabenstein. Nana darf mich auf keinen Fall auf ihn setzen.«

»Verstehe«, sagte Herr Jakov. »Er hat wohl einen längeren Schatten, als ich dachte.«

Sie hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, gemeinsam spazieren zu gehen und sich dabei zu unterhalten. Hannibal, der neben Herrn Jakov herlief, konnte beobachten, wie sich sein neuer Lehrer erst darauf einstellen musste, mit jemandem zu sprechen, der deutlich kleiner war als er. Oft drehte Herr Jakov den Kopf einfach nur zur Seite und sprach zu der Luft über Hannibal, als hätte er vergessen, dass er sich mit einem Kind unterhielt. Manchmal fragte sich Hannibal, ob Herr Jakov sich wünschte, jemanden in seinem Alter zu haben, mit dem er sich unterhalten und spazieren gehen könnte.

Deshalb achtete Hannibal sehr genau darauf, wie der Hauslehrer mit Lothar, dem Majordomus, und Berndt, dem Stall­burschen, auskam. Sie waren einfache Männer, verfügten über gesunden Menschenverstand und machten ihre Arbeit gut. Aber sie hatten eine andere Art von Verstand. Hannibal stellte fest, dass Herr Jakov keinerlei Anstrengungen unternahm, seine geistigen Fähigkeiten zu verstecken oder sie besonders herauszustellen, doch er richtete sie nie direkt auf jemanden. In seiner Freizeit brachte er Lothar und Berndt bei, mit einem primitiven selbst gebauten Theodolit die Ländereien der Burg zu vermessen. Die Mahlzeiten nahm Herr Jakov zusammen mit dem Koch ein, von dem er zum Erstaunen der Familie einiges an holprigem Jiddisch aufschnappte.

In einer Scheune waren noch die Teile eines alten Katapults gelagert, das Hannibal der Schreckliche gegen die Deutschritter eingesetzt hatte. Anlässlich Hannibals siebten Geburtstags bauten Herr Jakov, Lothar und Berndt das Katapult zusammen und ersetzten den morschen Wurfarm durch einen stabilen neuen Balken. Sie füllten die etwa 200 Liter fassende Schaufel des Balkens mit Wasser und schleuderten es in hohem Bogen über die Türme der Burg hinweg auf die andere Seite des Burggrabens, wo es heftig spritzend aufschlug und die Watvögel kreischend das Weite suchen ließ.

In dieser Woche hatte Hannibal das lustvollste Erlebnis seiner ganzen Kindheit. Als Geburtstagsgeschenk demonstrierte ihm Herr Jakov mithilfe von Fliesenabdrücken in einem Sandbett einen nicht mathematischen Beweis des Satzes von Pythagoras. Hannibal ging um die Abdrücke der Quadrate im Sand herum und betrachtete sie nachdenklich. Der Lehrer hob eine der Fliesen und fragte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, ob er den Beweis noch einmal sehen wolle. Und dann fiel bei Hannibal der Groschen. Die plötzliche Erkenntnis war für ihn mit einem ähnlich starken Kitzel verbunden, als würde er mit dem Katapult in die Luft geschleudert.

Herr Jakov brachte zu ihren Gesprächen selten ein Lehrbuch mit, und ebenso selten bezog er sich auf eines. Im Alter von acht Jahren fragte ihn Hannibal nach dem Grund dafür.

»Würdest du dich gern an alles erinnern können?«, fragte Herr Jakov.

»Ja.«

»Sich erinnern zu können ist nicht immer ein Segen.«

»Ich würde mich aber gern an alles erinnern.«

»Dann wirst du einen Gedächtnispalast brauchen, um alles darin zu speichern. Einen Palast in deinem Kopf.«

»Muss es denn unbedingt ein Palast sein?«

»Jedenfalls wird dieser Ort immer größer werden, bis er irgendwann so riesig ist wie ein Palast«, sagte Herr Jakov. »Und schön sollte er doch auch sein, oder nicht? Was ist der schönste Raum, den du kennst? Führe dir am besten einen Ort vor Augen, mit dem du gut vertraut bist.«

»Das Zimmer meiner Mutter«, antwortete Hannibal sofort.

»Dann werden wir damit beginnen«, sagte Herr Jakov.

Zweimal beobachteten sie, wie im Frühling der erste Sonnenstrahl auf Onkel Elgars Fenster traf, aber im dritten Jahr mussten sie sich bereits im Wald versteckt halten.

5

Beim Zusammenbruch der deutschen Ostfront im Winter 1944/45 wälzte sich die Rote Armee wie Lava über Osteuropa hinweg und ließ eine Spur aus Rauch und Asche hinter sich zurück, bevölkert von Hungernden und Toten.

Von Osten und Süden bewegten sich die sowjetischen Einheiten der 2. und 3. weißrussischen Front auf die Ostsee zu und trieben die zerschlagenen Einheiten der Waffen-SS vor sich her, die auf ihrem Rückzug verzweifelt die Küste zu erreichen versuchten, von wo sie per Schiff nach Dänemark evakuiert zu werden hofften.

Das war das Ende der ehrgeizigen Ziele der Hiwis. Obwohl sie für ihre Nazi-Herren gehorsamst gemordet und geplündert sowie Juden und Zigeuner erschossen hatten, wurde keiner von ihnen in die SS aufgenommen. Sie wurden als Osttruppen bezeichnet und wie Soldaten zweiter Klasse behandelt. Tausende wurden zur Zwangsarbeit eingezogen und zu Tode geschunden.

Einige desertierten jedoch und schlugen sich auf eigene Faust durch.

Ein prächtiges litauisches Gutshaus an der polnischen Grenze, auf einer Seite offen wie ein Puppenhaus, weil eine Granate die gesamte Außenwand weggerissen hatte. Die Bewohner, beim ersten Einschlag aus dem Keller gescheucht, beim zweiten getötet, lagen in der Küche im Erdgeschoss. Im Garten waren tote Soldaten verstreut, Deutsche und Russen. Neben dem Haus lag ein umgestürzter deutscher Stabswagen, von einer Granate zerfetzt.

Auf einem Diwan vor dem Kamin im Salon saß ein SS-Sturmbannführer mit gefrorenem Blut an den Hosenbeinen. Sein Unterscharführer zog eine Decke von einem Bett und breitete sie über ihn, dann machte er Feuer, aber weil das Haus auf einer Seite vollkommen offen war, wurde es dadurch auch nicht wärmer. Er zog dem Sturmbannführer einen Stiefel aus. Die Zehen waren schwarz. In diesem Moment hörte der Unterscharführer im Freien ein Geräusch. Er nahm seinen Karabiner von der Schulter und schlich ans Fenster.

Ein Halbkettenfahrzeug, ein russischer ZiS-44 mit einem roten Kreuz an den Seiten, rumpelte die gekieste Zufahrt herauf.

Vladis Grutas stieg aus und hielt ein weißes Tuch hoch. »Wir sind vom Roten Kreuz. Haben Sie Verwundete? Wie viele sind Sie?«

Der Unterscharführer blickte sich nach dem Verletzten um und sagte leise: »Sanitäter, Herr Sturmbannführer. Wollen Sie mit ihnen mitfahren?« Sein Vorgesetzter nickte, und er gab Grutas ein entsprechendes Zeichen.

Grutas und der einen Kopf größere Enrikas Dortlich holten eine Tragbahre aus dem Halbkettenfahrzeug.

Der Unterscharführer ging nach draußen, um mit ihnen zu sprechen. »Seien Sie vorsichtig mit ihm. Es hat ihn an den Beinen erwischt. Seine Zehen sind erfroren. Möglicherweise Erfrierungsgangrän. Haben Sie ein Feldlazarett?«

»Ja, natürlich, aber ich kann auch gleich hier operieren«, sagte Grutas und schoss ihm aus nächster Nähe zweimal in die Brust, sodass kleine Staubwölkchen von seiner Uniform aufstiegen. Ohne einen Laut von sich zu geben, sank der Unterscharführer zu Boden und blieb reglos liegen. Grutas stieg über ihn hinweg, ging ins Haus und schoss dem Sturmbannführer durch die Bettdecke in die Brust.

Darauf kamen Zigmas Milko, Petras Kolnas und Bronys Grentz hinten aus dem Halbkettenfahrzeug geklettert. Sie trugen ein seltsames Sammelsurium unterschiedlichster Uniformteile: von der litauischen Polizei und Sanitätern, von estnischen Sanitätstruppen und vom Internationalen Roten Kreuz. Aber alle hatten eine weiße Armbinde mit einem deutlich sichtbaren roten Kreuz.