Hatz - Jørgen Gunnerud - E-Book

Hatz E-Book

Jørgen Gunnerud

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

"Nach zwanzig Minuten Fahrt lichtete sich der Wald, und eine der schönsten Kulturlandschaften Norwegens lag vor ihnen. Umgepflügte Äcker und gelbe Stoppelfelder badeten in der tief stehenden Morgensonne. Breite Hügel erstreckten sich wellenförmig über den ländlichen Bezirk Toten." Wir sind in Norwegen. In Lundby. In der tiefsten Provinz.Kriminalkommissar Knut Moen und sein alter Freund Asbjørn Gihle haben im Urlaub nur ein Ziel: Elche zu jagen. Aber ein Kollege sucht sie in ihrer einsamen Hütte auf. Seine Cousine wurde an ihrem Arbeitsplatz, einem Wohnheim für auffällig gewordene Jugendliche, brutal ermordet. Einer der jungen Bewohner gesteht, die Nachtwache Anne Sørli aus Rache erstochen zu haben. Die beiden Kommissare finden in einem nahe gelegenen Haus die Tatwaffe– und einen weiteren Toten. Als klar wird, dass die Tote schwanger war, geraten die Ermittler in einen Strudel, der nicht nur Bewohner wie Angestellte des Heims mit sich zu reißen droht, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung des kleinen Ortes. Nun nimmt an Stelle der Elchjagd eine Jagd - eine Hatz - auf einen kaltblütigen Mörder ihren Anfang.

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Jør­gen Gunne­rud

Hatz

 

 

Saga

1

Knut Moen richtete sich mit einem Ruck in seiner Schlafkoje auf. Es kribbelte in den Fingerspitzen. Er versuchte, den Körper unter Kontrolle zu bekommen, doch die Angst saß überall, vom Haaransatz bis in die Zehen. Es war derselbe Albtraum. Im Traum kam ein Mann mit erhobenem Messer auf ihn zu, und wie immer wachte Moen starr vor Schreck auf, kurz bevor das Messer eindrang. Er langte nach den Streichhölzern und entzündete den Kerzenstumpf auf dem Nachttisch. Der Wecker zeigte halb vier. Es war kalt im Raum, doch sein wollenes Unterhemd war schweißdurchtränkt. Er stand auf und machte Feuer in dem alten Holzofen.

Als es halb sechs geworden war, saß er am offenen Fenster und schaute über die Almwiese. Der Vollmond hing über dem Waldrand und beleuchtete ein Reh mit zwei halbgroßen Kitzen. Er griff nach seinem Gewehr, legte gegen den Fensterrahmen gestützt an und bekam die Ricke ins Fadenkreuz. Lange saß er so da, bevor er abdrückte. Es machte klick. Das Reh hob den Kopf und nahm Witterung auf. Im nächsten Augenblick waren die drei Tiere verschwunden. Er lächelte. Es war der erste Tag der Herbstjagd, und er war bereit.

Im Haupthaus der Alm wurde das Licht angemacht. Dort oben saß der Lensmann, ein alter Freund von der Polizeihochschule, der die Jagdrechte im Grenzwald zwischen Romerike und Toten innehatte. Moen zwängte sich in die grüne Militärjacke und ging hinaus. Es war jetzt endgültig Herbst geworden. Moens Atem ähnelte weißen Dunstschwaden, die aus seinem Mund strömten, während er über die Almwiese und hinein in die Küche lief. Der Lensmann war schon mit dem Frühstück beschäftigt. Moen setzte sich und sah seinen Freund dankbar an, als er ihm die erste Tasse Kaffee des Tages einschenkte. Auf dem Fußboden der Küche lief der Elchhund im Kreis herum. Er war bereit, er auch, doch sein Besitzer hatte es nicht eilig.

»Bloß keinen Stress heute! Du hast doch gestern schon gearbeitet«, sagte Asbjørn Gihle und setzte sich ebenfalls. »Da draußen steht ein Elch und wartet auf uns, so oder so.«

Moen nickte und studierte seinen Freund. Der dunkle Schopf Gihles war seit ihrer letzten Begegnung grauer geworden, registrierte er, doch die Haare waren dicht und fest wie zuvor. Der Lensmann sah Moen prüfend an.

»Du bist wohl in Kristiansand gewesen, schätze ich mal«, sagte der Mann aus Toten vorsichtig.

Moen nickte. Die Rede war von einem ungewöhnlich komplizierten Kindermordfall, der sowohl die Polizeibeamten als auch die Öffentlichkeit stark beschäftigt hatte.

»Ich sehe schon, darüber reden wir besser an einem anderen Tag.« Gihle streckte die Hand aus. »Gibst du mir eine Zigarette?«

»Hast du nicht aufgehört?«

»Doch, sicher, aber jetzt sind Ferien.«

Moen stand auf und ging zu seiner Feldjacke, die neben der Küchentür an der Wand hing. Sie hörten das Geräusch eines Autos, das schnell auf den Hof gefahren kam. Auf den letzten Metern knirschte es im Kies und die Bremsen stotterten. Moen und Gihle blickten sich an.

»Gib mir die Zigarette«, sagte Gihle und zündete sie an, als draußen die Autotür zuknallte. Ein großer blonder Kerl stürmte in die Küche und rannte Moen fast über den Haufen. Der Elchhund spürte die Aufregung und sprang auf. Der Mann blieb abrupt stehen, als Gihle knurrte:

»Das ist hoffentlich wichtig, Sørli.«

»Anne, meine Cousine, ist ermordet worden«, sagte der Mann und schlug die Hände vors Gesicht. Dann ließ er die Arme herabsinken und atmete langsam aus. »Tut mir leid, Chef. Ich soll Sie abholen. Die anderen sind schon am Tatort.«

»Und wo?«

»Sie war Nachtwache in Lundby.«

»Sie sollten sich einen Moment hinsetzen.« Gihle deutete auf einen Stuhl. »Das ist mein Mitarbeiter, Odd Sørli«, sagte er zu Moen gewandt.

»Ich hab keine Ruhe, Asbjørn. Ich muss zurück. Kommen Sie?«

»Fahren Sie, ich komme nach.«

Sørli verschwand auf demselben Weg wieder nach draußen. Moen setzte sich und schaute zu Asbjørn Gihle hinüber, während draußen auf dem Hof die Wagenräder im Kies durchdrehten. Der Lensmann zerdrückte seine Zigarette.

»Das ist doch wirklich ausgemachte Scheiße. Ich hab das Handy abgestellt, aber vergessen, mich zu verstecken.« Der Lensmann stand auf und schwieg einen Moment. Er starrte auf seine Hände, öffnete und schloss ein paarmal die Faust.

»Ich nehme an, ich kann dich nicht bitten, mitzukommen.« Moen brachte ein vages Lächeln zustande. Er sah einen Mann, der etwas anderes meinte, als er sagte, und er dachte an die Lebensweisheit der Vorfahren: Man soll seinem Freund ein Freund sein.

»Die Abteilung weiß, wo ich bin. Sie haben ohnehin kaum Leute in Bereitschaft. Ich werde auf die Sache angesetzt, egal wie du es auch drehst und wendest. Ich ruf an und melde mich gleich.«

Asbjørn Gihle murmelte ein Dankeschön. Sein Blick war niedergeschlagen. Er nahm die Jacke vom Haken und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Dann schüttelte er den Kopf und hielt Knut Moen die Küchentür auf.

2

Nach zwanzig Minuten Fahrt lichtete sich der Wald, und eine der schönsten Kulturlandschaften Norwegens lag vor ihnen. Umgepflügte Äcker und gelbe Stoppelfelder badeten in der tief stehenden Morgensonne. Breite Hügel erstreckten sich wellenförmig über den ländlichen Bezirk Toten. Gihle hielt in einer Kurve an.

»Gibst du mir noch was zu rauchen?«

Sie zündeten ihre Zigaretten an, und Moen ließ den Blick über die Landschaft schweifen, vom hoch oben gelegenen Vestre Toten über Lena in Østre Toten bis hinunter nach Skreia und den Höfen bei Balke. Auf den Höhenzügen lagen gut sichtbar die größten Höfe mit den kurzen, uralten Namen und intakten Grabstätten der Vorfahren. Ein paar weiß angemalte Kirchen waren ebenfalls gut erkennbar und zeugten von der legendären Gottesfürchtigkeit der Totener. Moen gehörte dem Nachbarvolk an. Er stammte aus Hadeland und lächelte in sich hinein bei dem Gedanken, den er eben formuliert hatte: Die legendäre Gottesfürchtigkeit der Totener. Sein Freund, der gottesfürchtige Totener, unterbrach die Gedankenfolge.

»Dort liegt Lundby, oder Store Lundby, um genau zu sein.« Asbjørn Gihle deutete auf die nächstgelegene Anhöhe. »Siehst du das lange, zweistöckige Gebäude mit dem Walmdach?«

Moen nickte und studierte die Anlage; ein enormes, rot gestrichenes Wirtschaftsgebäude mit Glockenturm, ein breites, gelbes Vorratshaus, Gesindestuben und Holzschuppen.

»Sieh mal nach rechts, dort, vor den Grabhügeln.«

Moen lenkte den Blick auf eine Häusergruppe. Siedlungshäuser aus den 70er-Jahren. Er nickte.

»Internat und Personalwohnungen.« Gihle legte den Gang ein und fuhr weiter.

»Eine Anstalt?«

»Aus der Bahn geworfene Jugendliche.«

»Jugendhilfe oder Psychiatrie?«

»Um ehrlich zu sein, ich bin nicht ganz sicher.«

Und dann, als er den Wagen nach rechts lenkte und die lange Ulmenallee nach Store Lundby hinauffuhr, murmelte Gihle: »Mein Bruder betreibt den Nachbarhof, Lille Lundby. Meine Schwägerin leitet diese Einrichtung.« Er drehte sich zu Moen: »Ich hoffe, ich gelte deswegen nicht als befangen.«

»Das klären wir dann später.«

Als sie angekommen waren, gingen sie vom Auto zum Haus, in dem das Verbrechen stattgefunden hatte, eine dunkel gebeizte, großzügige Siedlungsvilla aus den 70er-Jahren mit Souterrain. Auf der Treppe saß Gihles Kollege, Odd Sørli. Ein rundlicher Typ Mitte vierzig, in T-Shirt und Flanellhemd gekleidet, saß daneben und hatte den Arm um die Schultern des weinenden Riesen gelegt.

»Das ist mein Bruder Harald«, sagte der Lensmann und hob den Arm zur Begrüßung. Harald Gihle stand auf und fühlte sich deutlich unbehaglich.

»Ich vertrete Sissel. Sie ist vollkommen zusammengeklappt, als sie von dieser Geschichte hier erfahren hat. Du weißt ja, wie das ist«, sagte er zu seinem Bruder. »Tut mir wirklich leid.« Lensmann Gihle schnitt eine Grimasse und ergriff die Türklinke.

»Dann schauen wir mal, was passiert ist.«

Die Tür war verschlossen.

»Ist jemand hier?«, fragte er Sørli.

»Ein Junge und ein Sozialtherapeut. Die anderen sind auf einem Ausflug. Gehen Sie von der anderen Seite rein. Jenny hält Wache und der Arzt ist noch da.«

Vor dem Souterrain lag eine große Thermopenscheibe. Sie war aus dem Fensterrahmen herausgeschraubt worden und lag ordentlich auf dem Rasen. In der Fensteröffnung stand eine Polizeibeamtin in dunklem Overall. Sie hatte eine gedrungene Nase und helles Haar. Ihr war sichtlich unwohl, und Asbjørn Gihle legte die Hand auf ihre Schulter und drückte sie vorsichtig. Dann drehte er sich zu Moen:

»Das ist Jenny Kammerstuen.« Ihr erklärte er, wer Knut Moen war. Moen nickte und blickte sich um.

»Wollen wir reingehen?«

Die Polizeibeamtin reichte ihnen vier Überzüge. Die streiften sie sich über ihre Schuhe, und Moen warf einen Blick auf die Uhr. Die zeigte fast 08:00. Er kletterte durch die Fensteröffnung in den kahlen Kellerraum. Der Boden war mit Couronnesteinen übersät. Das Brett lag in einer Ecke zusammen mit dem Tisch, auf dem es gelegen hatte. Die Tür zum Kellerzimmer stand offen, und Moen schaute hinein. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er da sah. In gerader Linie von seinem Standort über das verschlissene Vinyl und weiter bis zur nächsten Tür zog sich eine etwa einen halben Meter breite Blutspur. Sie endete bei zwei Turnschuhen. Moen atmete tief durch. Er blickte zum Lensmann und ging vorsichtig weiter zur anderen Tür. Er hatte den Kellerflur erreicht. Dort lag eine Frau, die er auf Ende zwanzig tippte. Ihr Kopf ruhte auf der untersten Treppenstufe. Das viele Blut war durch ihre auf den Bauch gepressten Finger herausgelaufen, und Moen konnte sehen, dass sie arge Schmerzen gehabt hatte. Er beugte sich über sie, warf einen kurzen Blick auf die Wunde, richtete sich wieder auf und musterte die Frau aus geringer Entfernung.

Dunkles, kurz geschnittenes Haar. Sonnengebräunt. Die Brüste spannten das enge T-Shirt. Motorradhosen aus Leder. Als Moen die schreckliche Verletzung für einen Augenblick außer Acht ließ, die Augen zusammenkniff und den Menschen betrachtete, der da lag, musste er feststellen, dass es eine ziemlich attraktive Frau war. Es gab etwas Raubtier- oder Katzenähnliches an ihrer ganzen Erscheinung.

Er ging zurück in den Kellerraum, wo Asbjørn Gihle stand und verloren aussah. Moen ließ den Blick ein weiteres Mal prüfend durch den Raum gleiten. Ein schmutziges Viereck an der Holzverkleidung über dem verschlissenen Hüttensofa zeugte davon, dass etwas verschwunden war. Der Fernsehhocker in der Sofaecke stand einsam und verlassen da. Am Anfang des blutigen Streifens, den Anne Sørli hinterlassen hatte, sah er einen halben Fußabdruck. Asbjørn Gihle räusperte sich und zeigte auf etwas.

»Da liegt ein Handy unter dem Sofa. Ob es wohl ihr gehört?«

»Lass es liegen. Ist dir noch was anderes aufgefallen?«

»Das hast du bestimmt schon gesehen. Ihr Schlüsselbund hängt am Gürtel.«

Moen legte die Hand auf Gihles Schulter und sagte:

»Wollen wir nach oben gehen und nachsehen, was wir dort finden?«

Sie stiegen vorsichtig über Anne Sørlis Kopf hinweg und kamen hinauf in einen Gang innerhalb des Eingangsbereichs. Zur Linken führte eine offen stehende Tür in einen großen Aufenthaltsraum, auf der rechten Seite gab es eine Küche. Am Küchentisch saß ein Mann mit gebeugtem Kopf, die Hände vors Gesicht geschlagen. Beim Anblick der Polizisten zuckte er zusammen und erhob sich. Dann entdeckte er den Lensmann. »Gott sei Dank«, sagte er und ergriff Gihles Hand.

»Ich heiße Reidar Olsby. Ich habe sie gefunden.«

»Gihle«, antworte der Lensmann. »Das ist Knut Moen, Kommissar von der Kripo-Zentrale. Sind noch andere hier?«

»Einer der Bewohner, Per Erik Henriksen. Er saß auf der Treppe bei Anne und war voller Blut. Aus einer Verletzung an der Hand floss das Blut wie in Strömen.«

»War er alleine mit ihr?« Gihle stand auf. »Wo zum Teufel ist der Junge jetzt?«

»Er ist im Wachraum, zusammen mit dem Arzt. Er hat was zur Beruhigung bekommen.«

Gihle ging zum Eingang, schloss die Tür auf und schrie Odd Sørli an, er solle seinen Hintern in Bewegung setzen. Sørli stolperte fast in den Flur hinein und erhielt den Befehl, auf den Arzt aufzupassen. Sørli und Gihle verschwanden in dem Zimmer, das Olsby als Wachraum bezeichnet hatte. Die Hälfte der Tür war aus Verbundglas, mit einem sternförmigen Sprung in der Mitte.

Moen setzte sich an den Küchentisch, zündete sich eine Zigarette an und wurde gleich darauf hingewiesen, dass es eigentlich nicht erlaubt sei, innerhalb des Internats zu rauchen.

»Vielleicht könnten Sie uns etwas Kaffee machen?«, erwiderte Moen freundlich. Reidar Olsby lächelte zum ersten Mal. Er stand auf und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, während Moen ihn betrachtete. Er war ein gut aussehender, dunkelhaariger Typ, etwas älter als Moen zunächst gedacht hatte. Er hatte einen hellblauen Jeansanzug mit weißem T-Shirt an, à la James Dean, und trug Holzschuhe, etwas, das Moen seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die glatte Olivenhaut wurde nur durch eine hässliche Narbe am Kinn verunstaltet.

»Ich muss Sie etwas fragen: Was ist das hier eigentlich? Ist es ein Jugendheim?«

Reidar Olsby schraubte am Kaffeefilter herum und lehnte sich rücklings gegen die Arbeitsplatte.

»Nein, wir sind hier in der Jugendpsychiatrie, oder besser gesagt, einer psychiatrischen Einrichtung für Jugendliche. Zwölf bis achtzehn. Ein Jugendheim ist Teil der Jugendhilfe. Wir gehören zum Gesundheitswesen.« Olsby grinste schwach. »So steht es auf alle Fälle in den Papieren.«

Moen fragte nicht, was er damit meinte, und rauchte weiter.

»Wollen Sie mich nicht fragen, was passiert ist?«

»Wenn Gihle hier ist. Schenken Sie ihm auch was ein.«

Moen hatte dies in breitestem Oppland-Dialekt von sich gegeben, sodass Olsby ihn erstaunt ansah und fragte, ob er aus Toten komme. Moen erwiderte wahrheitsgemäß, dass er aus Hadeland stamme. Daraufhin lächelte Reidar Olsby schwach und sagte:

»Die Prügelei verschieben wir dann wohl auf später.«

»Es war sieben, als ich zur Arbeit kam. Wir fangen um acht Uhr an, aber ich bin gerne rechtzeitig hier.« Reidar Olsby blickte auf seine Hand, in der er die Tasse hielt. Sie zitterte, und mit einem Klappern stellte er die Tasse ab. »Können Sie nicht einfach nur Fragen stellen? Ich bin etwas aufgeregt.«

»Nehmen Sie sich Zeit«, gab Gihle zurück.

»Also, ich habe gleich bemerkt, dass irgendwas nicht stimmte. Jemand hatte versucht, das Verbundglas der Tür zum Wachraum einzuschlagen. Die Tür war verschlossen, ich habe einen Schlüssel, aber Anne war nicht da drin. Ich hab eine Weile hier oben gesucht, und dann fand ich sie im Keller.« Er seufzte schwer, und seine Stimme klang ein wenig gebrochen.

»Per Erik saß mitten auf der Treppe. Er war blutüberströmt.

Ich weiß nicht, ob es sein Blut war oder das von Anne, denn er hatte sich ziemlich übel die Hand verletzt.«

Moen unterbrach: »Wie hat er sich benommen?«

»Er wiegte sich hin und her und war völlig in seinen eigenen Gedanken versunken.« Reidar Olsby zuckte leicht mit den Schultern.

»Er hat ja große Probleme. Das Einzige, was er mir gesagt hat, war, dass er es getan hat.«

Das war erst mal eine Erleichterung, dachte Moen und sah zu Gihle, der mit Olsby beschäftigt war.

»Was haben Sie dann gemacht?«, fragte der Lensmann. »Sie hatten alleine Wachdienst, nicht wahr?«

»Per Erik saß ruhig auf der Treppe, während ich einen Rettungswagen rief. Danach telefonierte ich mit der Dienststelle des Lensmanns und wurde zu Sørli durchgestellt. Er sagte, Sie seien auf Jagd und Ihr Telefon sei abgestellt. Er meinte, dass man Sie holen müsse, und er fragte mich, ob ich solange die Stellung halten könne. Er werde so schnell wie möglich eine andere Kollegin herschicken, sagte er, und die kam dann gleichzeitig mit dem Arzt.«

»Hatten Sie keine Angst, dass der Junge eine Waffe bei sich haben könnte?«

»Ich hab’s überprüft und alles durchsucht. Nichts gefunden.«

»Aber war das nicht riskant? Ihre Kollegin wurde umgebracht.«

»So hab ich’s immer gemacht. Wenn Sie Zeit haben, können Sie ja mal unsere Messersammlung begutachten.«

Moen überhörte die Einladung.

»Hatten Sie denn bemerkt, dass in den Keller eingebrochen wurde?«

Reidar Olsby sah Moen erstaunt an. »Wir sind gleich nach oben in die Abteilung gegangen.«

Während Moen die Auskünfte auf sich wirken ließ, fragte Gihle: »Wo sind die anderen Jugendlichen?«

»Die sind auf einem Ausflug in Schweden, zusammen mit dem restlichen Personal. Per Erik durfte nicht mitfahren. Ich kümmere mich in einer Doppelschicht um ihn, und Anne hat die Nachtwachen übernommen.«

»Weshalb durfte er nicht mitfahren?«

»Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie sie jetzt hören?«

»Wie lautet die Kurzfassung?«, warf Moen ein.

Reidar Olsby überlegte einen Moment.

»Er hat eine Praktikantin angegriffen.« Er zuckte mit den Schultern. »Das klingt nicht besonders toll, ich weiß, aber die Geschichte ist nicht so einfach. Soll ich was darüber erzählen?« Moen schüttelte den Kopf.

»Das kann warten. Alle werden ihre Aussage machen können, aber verraten Sie mir eins: Wie alt ist der Junge?«

»Er ist fünfzehn.«

»Was ist mit den Erziehungsberechtigten? Wir würden ihn gerne vernehmen.«

»Die Mutter ist mit dem Stiefvater und zwei neuen Kindern irgendwo im Süden im Urlaub. Der Vater wohnt in Nordnorwegen, und ich weiß auch nicht, ob er uns überhaupt helfen kann.«

»Ist es möglich, den Vater zu kontaktieren, sodass er jemandem eine Vollmacht erteilen kann?«

»Das müssen Sie mit der Leitung klären. Da habe ich nicht genügend Einblick.« Reidar Olsby blickte verstohlen zu Asbjørn Gihle. »Aber das ist vielleicht leichter gesagt als getan, mehr will ich dazu nicht sagen.«

Ohne eine Miene zu verziehen, sagte Asbjørn Gihle: »Sagen Sie, was Sie auf dem Herzen haben, Olsby. Sie werden mich sowieso nicht schockieren können.«

»In einer solchen Situation sollte die Leiterin der Einrichtung hier sein und nicht zu Hause liegen. Das ist kein Zufall, um es so auszudrücken.«

Moen sah auf die Uhr.

»Gibt es jemand anderen, der sich um diese Angelegenheit kümmern kann?«

»Das wäre dann der Abteilungsleiter hier, Kjell Mannsåker, aber der hat eine Besprechung in der Stadt.« Nach einer Pause fügte Olsby hinzu: »Also Oslo meine ich, nicht Gjøvik.«

»Haben Sie seine Telefonnummer?«

Reidar Olsby bejahte, und Moen bat ihn, Gihle die Nummer zu geben. »Schaff ihn so schnell wie möglich her.«

Gihle ging hinaus in den Aufenthaltsraum. Moen und Olsby blieben zurück und sahen einander an, bis Olsby einwarf:

»Niemand hier in der Abteilung kann Per Erik in seine Obhut nehmen, wenn Sie das glauben.«

»Warum denn nicht?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

Moen lächelte: »Okay. Gibt es jemanden in Per Eriks Nähe, der diesen Job machen kann? Jemand, der nicht hier arbeitet und nicht erst um die halbe Welt fliegen muss?«

»Wir haben hier eine Schule, und er hat ein ziemlich gutes Verhältnis zu seinen Lehrern, besonders zu einem.« Reidar Olsby sank in sich zusammen.

»Kann ich bald gehen? Ich fühle mich nicht gut.«

»Nein, Sie müssen noch bleiben und uns helfen.«

3

Sie kontaktierten die Schule. Asbjørn Gihle und Reidar Olsby gingen in den Keller hinunter, um zu überprüfen, ob etwas gestohlen worden war. Die Polizeidirektion von Vestoppland war mit einer Einsatztruppe unterwegs. Ebenso die Kripo-Zentrale. Reidar Olsbys Abteilungsleiter hatte sein Handy abgestellt, was ganz natürlich war, da er mit aller Wahrscheinlichkeit in einer Besprechung saß. Moen ging hinaus in den Gang und betrat den Wachraum. Odd Sørli, groß und finster, stand gleich an der Tür. Der Junge saß zusammengesunken auf einem Sofa, die verbundene Hand im Schoß. Er schaute nicht einmal auf, als Moen in der Türöffnung erschien. Der Arzt war dabei, seine Sachen zusammenzupacken. Moen winkte ihn mit dem Finger heraus. Sie begrüßten sich per Handschlag und Moen zog ihn außer Hörweite.

»Haben Sie Erfahrung mit Stichwunden?«

Der Arzt antwortete kurz angebunden: »Durch die Ambulanz in Oslo.«

»Irgendeinen Kommentar?«

»Ein Stich. Direkt in den Bauchbereich. Die Wunde war tief und breit. Muss ein großes Messer gewesen sein. Ein samisches oder irgend so ein verdammtes Ding.« Sein Gesicht war abgewandt, und er schaute Moen nicht an. »Gibt’s noch was? Ich muss weiter.«

Moen schüttelte den Kopf und ging hinein zu dem Festgenommenen, denn als solchen betrachtete er ihn. Ein Sonnenstrahl drang durch einen Schlitz in den Gardinen. Der Raum roch nach einer Mischung aus kaltem Rauch, Körperausdünstungen und billigem Waschmittel. Der Eindruck wurde durch die keineswegs neu erscheinenden Möbel verstärkt. Man hatte sie sicher auch nicht für sonderlich vornehm gehalten, als sie gekauft wurden. Das einzig Moderne war ein Notebook, das Moen ziemlich elegant vorkam. Dann fiel sein Blick auf eine Damenhandtasche, und ihm wurde klar, dass sich die Nachtwache hier aufgehalten hatte. Er scheuchte alle hinaus in die Küche.

»Per Erik Henriksen, nicht wahr?«

Es kam keine Antwort. Der Junge schaute auf und sah Moen unter zusammengewachsenen Augenbrauen einige Sekunden lang an. Er nickte knapp und senkte den Blick. Moen erklärte, dass sie auf seinen Lehrer warteten, und fragte, ob er ihn als stellvertretenden Vormund akzeptiere.

»Du bist nicht mündig. Wir versuchen, deinen Vater zu erreichen, damit er eine Vollmacht geben kann.«

Der Junge antwortete nicht.

»Bist du einverstanden, eine Erklärung darüber abzugeben, was du hier letzte Nacht erlebt hast?«

Der Junge wiegte sich mit dem Oberkörper hin und her und presste schließlich ein Ja hervor.

»Akzeptierst du diesen Lehrer als stellvertretenden Vormund?«, wiederholte Moen. Der Junge rieb sich mit der bandagierten Hand die Wange.

»Ja, in Ordnung.«

Das ist ja schon mal was, dachte Moen. Er bat den Polizeibeamten Sørli, sich nach dem Verbleib des Lehrers zu erkundigen, und fragte ganz unschuldig, warum der Junge nicht mit allen anderen Jugendlichen zusammen in Schweden sei. Der Junge sagte, dass sie ihn aus der Einrichtung werfen wollten und dass er deshalb nicht hatte mitfahren dürfen. Moen fragte, welchen Grund dies habe, wenngleich ihm klar war, dass er sich hier, rechtlich gesehen, auf dünnem Eis bewegte. Der Junge gab zur Antwort, er habe sich mit einer Praktikumskraft geschlagen. Er führte nicht weiter aus, welches Geschlecht die Kraft hatte, und Moen fragte nicht weiter nach.

Sørli steckte den Kopf zur Tür hinein, er glaubte, der Lehrer sei gekommen.

»Holen Sie ihn her.«

Moen sah Per Erik Henriksen unverwunden an.

»Steht das, was du mir erzählt hast, in irgendeinem Zusammenhang mit den Geschehnissen von heute Nacht?«

»Vielleicht«, gab der Junge zurück.

Sørli musste den Mann mit dem kurz geschnittenen grauen Haar und der Brille beinahe in den Raum hineinschieben. Er sah sich mit seinen betrübten grauen Augen etwas unsicher um. Seine Lippen waren angespannt und die Mundwinkel hingen herab.

»Bitte setzen Sie sich«, sagte Moen. Er deutete mit einer schnellen Geste auf einen Hocker.

Moen fragte, ob der Lehrer über die Situation informiert worden war. Ja, Lensmann Gihle habe ihm eine kurze Übersicht verschafft, und er stehe zur Verfügung, sofern Per Erik dies wünsche. Sein Name sei Stein Hovelsrud.

Moen setzte sich neben den Jungen aufs Bett, der daraufhin etwas zur Seite rutschte.

»Kannst du mir erzählen, was hier heute Nacht passiert ist?«

»Wie jetzt? Wollen Sie mir keine Fragen stellen? Ich kann mich nicht so gut erinnern.«

Moen bat ihn, mit eigenen Worten zu erzählen, woran er sich erinnerte, doch der Junge wollte wissen, wo er anfangen solle. Moen schlug die Ruhezeit vor, und der Junge überlegte eine Weile. Der Sozialtherapeut Reidar Olsby hatte ihn um elf Uhr ins Bett geschickt und die Tür abgeschlossen. Eine Weile später hatte er Anne Sørlis Stimme gehört. Es war oft so, dass das Abendpersonal der Nachtwache einen Bericht erstattete. Irgendjemand – er nahm an, dass es Reidar war – hatte die Tür später wieder aufgeschlossen, da es nicht erlaubt war, die Jugendlichen ohne Grund einzuschließen. Aber niemand hatte die Tür geöffnet, um nach ihm zu sehen. Als er glaubte, dass Reidar gegangen war und Anne schlief, denn das tat sie immer, ging er hinaus in die Abteilung. Er nahm einen Schraubenzieher mit, den er versteckt hatte, und ging durch die Eingangstür nach draußen. Dann war der Junge um das Haus herum bis zum Kellerraum gelaufen. Dort hatte er das große Fenster herausgeschraubt und den neuen Flachbildschirm und einen nicht mehr ganz so neuen DVD-Spieler herausgetragen. Die hatte er dann draußen unter ein paar Büschen versteckt. Als er zurückkam, stand Anne Sørli in der Fensteröffnung, zerrte an ihm herum und zog ihn in den Kelleraum hinein. »Da hab ich sie mit dem Messer erstochen.«

Es wurde still im Raum. Knut Moen sah zu Odd Sørli und Stein Hovelsrud herüber, die ihrerseits Per Erik anstarrten.

Moen fragte, welches Motiv er für die Plünderung der Einrichtung hatte. War es wegen des Geldes? Er bekam zu hören, dass es aus Rache geschehen sei, da sie ihn aus der Einrichtung werfen wollten. Moen nickte mitfühlend angesichts der verbrecherischen Logik der Aussage.

»Können wir noch mal zu dem Punkt zurückgehen, wo die Nachtwache im Fenster steht und du auf sie zugehst? Habt ihr miteinander gesprochen?«

»Sie sagte, dass sie endlich Gelegenheit hätte, mir die Hammelbeine langzuziehen, nach dem, was mit Cathrine passiert war.«

»Wer ist Cathrine?«

»Die Praktikantin, von der ich erzählt habe. Anne sagte, wenn sie mir jetzt kein Benehmen beibringen könnte, würden sie mich rauswerfen.« Er blickte die Männer im Raum hilfesuchend an, bekam aber keine Unterstützung. Er blickte wieder zu Boden, und Moen fragte, ob noch mehr Worte gefallen waren.

»Ich fragte sie, ob sie in Cathrine verliebt sei, wo sie sich doch so schrecklich um sie kümmerte. Da ist Anne völlig ausgeflippt und hat mich angegriffen.«

Moen sah den Jungen ganz ruhig an. »Was hast du dann gemacht?«

Der Junge sprang vom Bett auf. Die Augen leuchteten, als er die Hände über den Kopf hob und aus vollem Halse schrie:

»Come on, bitch!«

Odd Sørli trat einen Schritt vor und hob die Arme, doch Moen winkte ihn zurück. Der Junge blieb auf einem Bein stehen wie ein hilfloses Vögelchen, mit einem idiotischen, steifen Grinsen im Gesicht.

Nun äußerte sich Stein Hovelsrud zum ersten Mal.

»Hör mit diesem Unsinn auf, Per Erik. Das hier ist eine ernste Sache.«

Der Junge setzte sich, doch seine Grimasse saß wie angenagelt. Sie verschwand nicht, und plötzlich verstand Moen auch, dass der Junge ernstlich gestört war.

Hovelsrud fuhr fort: »Ich habe Informationen, die Licht auf das werfen, was er sagt, wenn Sie erlauben?«

Moen wollte ihn am liebsten bitten, die Klappe zu halten, war aber nach dem Ausbruch des Jungen nicht ganz auf Draht.

»Diese Konfrontation, die Per Erik hier beschreibt, geschah in Wirklichkeit in der Nacht zu Freitag letzter Woche. Er hat sich im Dunkeln im Keller herumgetrieben, und Anne, die Nachtwache, hat ihn erwischt. Über diesen Vorfall wurden wir Freitagmorgen in der Schule informiert, er wurde vermerkt, abgesehen von den persönlichen Beleidigungen, aber so hat Per Erik es mir an jenem Freitag erzählt.«

»Ich möchte gerne Per Erik zu Ende anhören, dann können Sie Ihre Einwände später Vorbringen.«

Stein Hovelsrud bekam starke rote Flecken an den Wangenknochen.

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich das verantworten kann. Ich kann hier nicht sitzen und zuhören, wie er sich selbst einen Mord andichtet. Die Nachtwache war eine resolute Dame, die Motorrad fuhr und Kampfsport betrieb, auf hohem Niveau. Unter normalen Umständen hätte sie Per Erik mit einer Hand zusammengefaltet.«

Moen unterließ es, die Bemerkung unter normalen Umständen zu kommentieren, und versuchte es erneut: »Das hier ist kein Prozess. Hier fällt kein Urteil. Falls Per Eriks Aussage falsch ist, so ist es die Aufgabe der Polizei, auch das herauszufinden. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir das Ganze hier so durchführen, dass es die Rechte des Jungen nicht verletzt. Tut es das etwa?«

Stein Hovelsrud schluckte zweimal und zuckte mit den Schultern. Seine Mundwinkel fielen herab. Moen wandte sich wieder dem Jungen zu. Es wirkte so, als ob er nach seinem Ausbruch in ein Koma gefallen wäre.

»Nun, Karate Kid. Was ist passiert?«

»Anne hat mir den Daumen verdreht, bis ich auf den Knien lag«, erwiderte der Junge tonlos. »Ich dachte, sie wollte ihn mir brechen, da hab ich zugestochen.«

»Womit denn? Mit dem Schraubenzieher?«, fragte Moen mit unschuldigster Miene.

»Mit dem Messer.« Die Augen leuchteten wieder.

»Messer? Welches Messer?«

Der Junge grinste höhnisch und schwieg. Moen sah ihn eine Weile an.

»Kannst du was über das Messer erzählen?«

»Ich hatte ein Messer, das ich in der Küche gestohlen habe. Es war in meinem Zimmer.«

»Kannst du das Messer beschreiben?«

»Ein kleines Küchenmesser mit schwarzem Griff.«

»Wo ist es jetzt?«

»In den Büschen, unten am Gartenzaun.«

4

Knut Moen saß am Esstisch im Aufenthaltsraum des Internats. Der Lehrer bestand darauf, mit ihm allein zu sprechen. Moen konnte ihn schlecht abweisen, denn wenn Stein Hovelsrud nicht einbezogen würde, dürften sie den Jungen nicht vernehmen. Moen stand auf.

»Ich werde noch auf Ihre Aussage zurückkommen. Alle werden vor Abschluss der Untersuchung angehört werden.«

Asbjørn Gihle kam zusammen mit dem Sozialtherapeuten Olsby herein.

»Hovelsrud kommt mit mir und dem Jungen am besten kurz nach draußen. Ich bin mit Reidar Olsby ein bisschen herumgeschlichen. Wir brauchen Antworten auf ein paar einfache Fragen bezüglich des Einbruchs. Wenn er sie nicht beantworten kann, gerät sein Geständnis womöglich ins Wanken. Sind Sie interessiert?«

Ohne zu zögern stand Stein Hovelsrud auf, und Asbjørn Gihle ging los, um den Verdächtigen sowie Odd Sørli zu holen.

Eine gute halbe Stunde später war Moens Hoffnung auf eine schnelle Klärung etwas dahingeschmolzen. Er saß auf einem Stein am Gartenzaun und beobachtete Stein Hovelsrud und seinen Schüler, die mit Reidar Olsby den Weg durch den Garten hinauf den Schulgebäuden entgegengingen. Moen meinte den Lehrer lächeln zu sehen, wenngleich er ihm den Rücken zugewandt hatte. Mit beiden Händen massierte er kräftig sein Gesicht.

»Na, was meinst du?«, fragte Lensmann Gihle vorsichtig.

Moen antwortete nicht, denn er hatte nichts zu sagen. Vom ersten Moment an hatte der Junge Antworten gegeben, die darauf hindeuteten, dass der Einbruch in seiner Fantasie stattgefunden hatte.

Gihle fasste Moens Schweigen als Widerstand auf. Er macht eine ausladende Geste mit den Armen. »Als wir ihm unten auf der Treppe die Handkurbel der Wanduhr zeigten, wusste er nicht einmal, was das war. Er wusste nicht, dass die Uhr gestohlen war. Er hat uns gesagt, wo er den Fernseher versteckt und wo er das Messer hingeworfen hat, aber wir finden nichts. Seine Erklärungen waren von Anfang an falsch. Er sagte, dass er durch die Eingangstür hinausging. Als ich mit Reidar Olsby darüber gesprochen habe, sagte der, dass die Tür verschlossen war, als er zum Tatort kam. Er war sich bombensicher.«

Moen antwortete auch diesmal nicht. Er dachte an die ersten beiden Fragen, die er dem Jungen gestellt hatte. Wo ist der Schraubenzieher, mit dem du das Fenster losgeschraubt hast? Wo sind die Schrauben? Dem Jungen hatte es die Sprache verschlagen. Fragte man einen Mörder nach so etwas?

Der Lensmann unterbrach seine Gedanken. »Warum sollte er irgendwas verstecken, wenn er zusammen mit dem Opfer auf der Treppe sitzen bleibt?«

»Ab einem gewissen Punkt werden die Menschen von Schuldgefühlen überwältigt. Ich erlebe so etwas zum ersten Mal.«

Gihle war in Fahrt gekommen und unterstrich jeden Punkt mit einer kräftigen Handbewegung. »Ist es so merkwürdig, dass er sitzen blieb? Ein menschenleeres Haus und draußen dunkle Nacht. Das Telefon ist im Wachraum eingeschlossen. Sein Handy war auch da drin, eingeschlossen. Die Jugendlichen bekommen es nur, wenn sie sich außerhalb der Einrichtung befinden. Vielleicht hat er genau deswegen versucht, das Verbundglas zum Wachraum einzuschlagen? Um zu telefonieren?«

Moen stand auf und fasste seinen Freund am Arm. »Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Du vergisst, dass die Nachtwache ihre Schlüssel am Gürtel hängen hatte. Der Junge hätte aufschließen können.«

Gihle schüttelte den Kopf. »Bei so einer Sache bin ich ein ziemlicher Amateur, aber ich kann nicht glauben, dass er es getan hat. Ich verstehe nicht, wieso du so sicher sein kannst.«

»Vielleicht ist es Wunschdenken, aber wir haben ein Geständnis. Erinnerst du dich nicht an die Zeit auf der Polizeihochschule? Andenæs: ›Das Geständnis ist die Königin der Beweise.‹« Moen ließ seinen Arm los.

»Die Nachtwache wurde umgebracht. Das ist nicht irgendwas, das der Junge erfunden hat. Jetzt müssen wir vielleicht auch da draußen suchen.« Moen zeigte auf die Ortschaft, die in der Herbstsonne badete.

»Das kann eine schwierige Arbeit werden. Wenn du einverstanden bist, nehme ich deine Polizisten mit und schnüffle etwas herum. Du übernimmst die Mannschaft aus Gjøvik. Ihr müsst Haus und Hof auf den Kopf stellen.«

5

Moen lief hinter Odd Sørli und der Polizeibeamtin Jenny Kammerstuen her. Er blieb stehen, die Sonne im Rücken, saugte die Wärme in sich ein und ließ den Blick auf der Kirche von Kolbu ruhen, die auf dem nächsten Hügel thronte. Im Augenwinkel sah er, dass Sørli sich hinunterbeugte und auf etwas zeigte. Jenny beugte sich ebenfalls hinunter. Moen steckte die Hände in die Taschen der Feldjacke und schlenderte zum Steinzaun hinüber, der den Garten des Internats vom Besitz dahinter trennte. Die Polizeibeamtin wies auf eine Vertiefung im Boden unterhalb des Zauns. Es war der Abdruck eines Cowboystiefels. Jenny hatte gleich in der Nähe das Untergestell eines Fernsehgeräts gefunden. Moen kletterte über den Zaun und blickte auf den Acker hinaus, atmete die raue Oktoberluft ein und machte ein paar Grimassen, um die Gesichtsmuskeln zu entspannen.

Die Strohrollen warfen lange Schatten in der Morgensonne. Der Boden war nach einem warmen, regenarmen September hart und trocken, und Moen konnte in keiner Richtung Spuren entdecken.

Sørli räusperte sich: »Die Hauptstraße geht da vorne entlang, am Pächterschuppen. Vielleicht haben sie sich in diese Richtung bewegt.«

Moen nahm sich Zeit, den ganzen Horizont abzusuchen, bevor er schließlich nickte.

»Ist das Haus bewohnt?«

»Aus dem Kamin kommt Rauch«, hörte er Jenny sagen.

Moen wandte sich um und belohnte Jenny mit einem keineswegs sparsamen Lächeln.

»Das muss zu Store Lundby gehören. Vielleicht haben die Bewohner ja etwas gehört oder gesehen?«

Sørli blickte fragend zu Moen, der nur einfach losging. Sie liefen eine Weile weiter, mit ein paar Metern Abstand zwischen sich, den Blick auf den Boden geheftet, bis Sørli stehen blieb. Sie waren ungefähr hundert Meter vom Haus entfernt. Die rote Bemalung an den Wänden war fast verblichen, das Blechdach rostig. Der einzige Schmuck bestand aus einer alten Hagebuttenhecke. Sørli schnupperte prüfend in die Luft.

»Merken Sie das? Es riecht nach verbrannter Wolle.«

Moen ging weiter auf das Haus zu und stoppte an der Treppe. Er wandte sich zu Sørli um. »Sie wissen also nicht, wer hier wohnt? Es sieht nicht nach einem Personalgebäude aus.«

»Hab nicht die leiseste Ahnung.« Sørli antwortete zögernd.

»Manchmal vermietet die Kommune ja schlecht verkäufliche Häuser an irgendwelches Gesindel, aber ich weiß nicht.«

Jenny unterbrach ihn. »Vielleicht wohnen ja die Praktikanten hier oder so etwas.«

Moen überließ Sørli den Vortritt. Von seinem Standort aus hatte er einen Ausblick auf den Garten der Einrichtung. Der Polizeibeamte klopfte ein paarmal an die Tür und die Fensterscheibe nebenan, dann drückte er vorsichtig die Türklinke herunter, und die Tür öffnete sich nach innen. Sørli rief ein paarmal Hallo, ohne eine Antwort zu bekommen, dann kam er wieder heraus. Er schüttelte den Kopf. »Verdammter Dreck, da drinnen riecht’s wie im Schweinestall.«

Moen setzte sich auf die Steintreppe und zündete sich eine Zigarette an. Sørli fragte, was sie jetzt tun sollten. Moen wollte gerade sagen: Nichts, doch bat stattdessen um Bedenkzeit. Eine Zeit lang hatte er sich solch einen Ort gewünscht, und er verschwand in einem kleinen Tagtraum, während Sørli vor dem kleinen roten Häuschen hin und her stolzierte und Tatendrang verkörperte. Dieser führte Sørli schließlich zu einer angelehnten Kellertür. Sørli konnte gerade noch mitteilen, dass ein geschlachtetes Reh da drinnen hing, als ein Toyota Pick-up von der Hauptstraße einbog und so scharf bremste, dass sich das Heck des Wagens anhob und die Vorderräder eine tiefe Spur in den Kies gruben. Moen sprang auf und sah flüchtig, wie Sørli sich umdrehte und sich zwei Schritte nach vorn bewegte.

Aus dem Auto stieg ein Mann mit roten Haaren und Pferdeschwanz. Sein Bart war bis zu den Augen hinaufgewachsen. Er blieb einen Moment stehen, wie um das Gleichgewicht zu finden, und als er hinter dem Auto hervorkam, sah Moen sofort, dass er unter Drogen stand. Moen nahm Blickkontakt zu Sørli auf. Der Polizeibeamte nahm sein Funkgerät und rief Gihle. Er gab durch, dass sich eine Situation ergeben habe, und bat um Unterstützung. Jetzt stolperte der Mann in seinen abgetragenen Cowboystiefeln auf sie zu. Er trug einen orangefarbenen Overall, der mit Firmenabzeichen eines amerikanischen Motorradherstellers dekoriert war.

Dann zeigte sich, dass der Mann auch sprechen konnte. Es klang wie ein Erdrutsch in einer Kiesgrube. Ein merkwürdig grobes Gebrumm, das Moen nicht einordnen konnte. Sørli ging einen Schritt auf die Erscheinung zu und bat ihn, stehen zu bleiben. Moen war überrascht, dass der Mann gehorchte, doch sein derbes Gedröhne verwandelte sich in Gewaltandrohungen für den Fall, dass sie nicht schnurstracks von seinem Eigentum verschwinden würden. Moen warf einen Blick auf das schwere Messerfutteral, das mit einem Lederriemen am Schenkel befestigt war. Es war leer. Moen zeigte seinen Dienstausweis und blickte dem Mann direkt in die Augen. Diese Augen waren schmale, runzelige Öffnungen, und Moen sah einen Funken Überraschung darin. Der Mann hatte geglaubt, sie seien Jäger. Nur Jenny war in Uniform, doch die hatte er noch nicht zur Kenntnis genommen. Er versuchte, in einem Bogen um Moen herumzugehen, der zwischen ihm und der Kellertür stand.

Moen wich zurück und sagte: »Bleiben Sie stehen. Wir haben ein paar Fragen an Sie.«

Der Mann murmelte, dass sie das auch drinnen besprechen könnten, und setzte seine Kreisbewegung in Richtung Kellertür fort. Moen schnitt ihm den Weg ab: »Haben Sie eine Waffe da drinnen?«

In der nächsten Sekunde wusste Moen, dass der Angriff kommen würde. Der Mann beugte sich vor, hob das rechte Bein an und schlug mit der linken Hand zu. Reflexartig sprang Moen zur Seite, und aus dem Augenwinkel sah er, wie Odd Sørli sich nach vorne warf. Der Angreifer hatte kaum den rechten Fuß wieder auf den Boden gesetzt, als der Polizeibeamte ihm von hinten in die Kniekehle trat, sodass er auf den Boden fiel. Als er sich aufzurichten versuchte, packte Sørli ihn mit dem Polizeigriff und hielt ihn am Hals umklammert fest. Plötzlich erschienen zwei uniformierte Polizisten auf dem Acker. Als Sørli sah, dass Handschellen zum Einsatz kommen sollten, verlor er für einen Augenblick die Konzentration. Sein Griff löste sich und der Festgenommene stand in einem Kreis von Polizeibeamten. Er stolperte herum, und in seiner scheinbar nicht zu bremsenden Aggression drehte er sich zu Jenny hin, die Hüften vorgeschoben, und machte mit der Hand eine lang gezogene, obszöne Geste.

»Bist du ’ne Lesbe, oder fickst du mit Ausländern?«

Im nächsten Moment überwältigten ihn die beiden Beamten aus Gjøvik und fesselten seine Arme auf dem Rücken.

Moen stand im Keller des kleinen Häuschens. Das geschlachtete Reh hing von der Decke herab. Die Eingeweide lagen in einem alten Zinkkübel vor der Tür, doch der Tierkörper war noch nicht gehäutet. Auf dem Rand eines Steinbeckens stand eine leere Colaflasche. Moen schnüffelte vorsichtig daran. Der Alkoholgeruch war stechend. Die Flasche war offenbar für Schwarzgebrannten wiederverwendet worden. Im Becken lag ein großes samisches Messer, das ungesäubert war, obwohl Reinigungsmittel auf dem Rand des Waschbeckens standen. Moen hielt nach einer Messerscheide Ausschau, doch die oberflächliche Suche führte zu keinem Ergebnis. In der Ecke fand er einen schmutzigen Lappen mit etwas darauf, das nach Blut aussah. Er schüttelte sich beim Anblick der Pumpgun hinter der Tür, dann trat er wieder ins Licht hinaus. Der Angreifer lag immer noch mit der Nase am Boden und spuckte Gift und Galle. Jenny fragte, ob sie ihn nicht knebeln könnten. Moen tätschelte ihren Unterarm, ging die Stufen hinauf und betrat das Haus.

Es gab zwei offene Türen in dem kleinen Vorbau. Geradeaus, in einer kleinen Kammer, stand ein ungemachtes Bett. Links war die Küche. Moen verschaffte sich einen raschen Überblick. In dem kleinen Raum roch es verbrannt, der Geruch kam von einem kleinen Ofen an der Tür. Ohne Umschweife füllte er ein schmutziges Küchenglas mit Wasser aus dem Hahn und öffnete die Ofentür. Er schaute hinein, bevor er das Wasser in den Ofen schüttete. Undeutlich hatte er erkannt, dass es dem Ärmel eines Pullovers zu gleichen schien, was da im Ofen verkohlt war. Als er das Glas zurück auf die Arbeitsplatte stellte, entdeckte er ein schweres amerikanisches Bowiemesser. Es lag blitzrein und glänzend auf einem Holzbrett, das schon lange kein Wasser und keine Seife mehr gesehen hatte.

Die Tür zum letzten Zimmer war angelehnt, und Moen schob sie mit dem Zeigefinger auf. Im Wohnzimmer war für eine Party gedeckt worden. Das dominierende Möbelstück war ein Esstisch, übersät mit leeren Bierdosen und Colaflaschen. Er schnupperte an einer Colaflasche. Sein Blick fiel auf eine Tablettenschachtel. Er schob ein paar Dinge zur Seite und las auf der Schachtel: Rohypnol. Er legte sie auf den Tisch, und als er den Kopf hob, sah er in der Ecke ein Bündel liegen. Er lief hinaus und winkte Sørli herbei.