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Im hohen Alter verfasst ein Senior für seine Urenkel ein Expose' über sein Leben, sein Weltbild und seine inneren Einstellungen. Zwischen die an die Urenkel gerichteten Texte werden Alltagsgedanken und Gedanken zum Entstehungsprozess eingestreut.
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Seitenzahl: 70
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die gesamte Familie war beim Abschied meiner Urenkel, den beiden Zwillingen, im Flughafen versammelt. Nur meine geliebte Frau hatte einen sehr schlechten Tag und konnte beim Abschied nicht dabei sein. Sie hatte die Zwillinge besonders in ihr Herz geschlossen und wäre sehr gerne dabei gewesen. Noch sind es schlaksige Jungen. Wenn sie nach ihrem einjährigen Schulaufenthalt in den USA zurückkommen, werden es wohl schon junge Männer sein. Es war beglückend, sie heranwachsen zu sehen. Für meine Fau und mich ist es eine Gnade, sie erleben zu dürfen, wir werden sie vermissen. Ein Jahr ist für unser Alter eine lange Zeit, obwohl die Zeit dahinzurasen scheint. Auf dem Flugplatz in Frankfurt wartete noch eine Nervenprobe auf mich. Alle Familienangehörigen wollten sich noch Frankfurt ansehen und dort zu Mittag essen. Ich hatte dazu keine Lust und wollte allein zurückfahren. Mein Sohn sagte mir: „In deinem Alter kannst du nicht allein zurückfahren,“ So ein Unsinn! Nun wollte er mich fahren und seine Frau würde in seinem Wagen zurückfahren. Als ob das Schicksal ihm recht gab, konnte ich dann in der weitläufigen Parkzone meinen PKW nicht finden. Nach einiger Aufregung bemerkte ich, dass wir auf dem falschen Parkdeck waren. Zurückgekehrt berichtete ich meiner Frau vom Abschied und zog mich dann in mein Refugium zurück. Wir werden die Kinder sehr vermissen, obwohl wir die beiden auch vorher nur ein- bis zweimal in der Woche gesehen haben. Aber wir können nicht klagen. Was ist das für eine Gnade, dass wir uns immer noch selbst versorgen können und nur selten auf die Hilfe der Familie angewiesen sind.
Die erste Nachricht haben wir schon nach einer Woche erhalten, sie sind anscheinend gut untergebracht. In der zweiten E-Mail schrieben sie, dass ihre Gastfamilie Anglikaner wären und sehr fromm. Auf diese Möglichkeit hatten wir sie vorher schon gut vorbereitet und ich hoffe, dass die Buben damit gut fertig werden. Die letzte Mail endete mit: „Seid gesegnet, Amen.“
Nun sind schon fast drei Monate vergangen, seit die Buben abgereist sind. Eine etliche Anzahl von E-Mails, aus denen hervorgeht, dass sie sich gut eingelebt haben, ist schon bei uns eingegangen. Besonders meine Frau, die nach meiner Meinung eine kleine Smartphonesucht entwickelt hat, kommuniziert häufig mit ihnen.
Nun haben die beiden sich etwas ausgeheckt. Sie äußerten die dringende Bitte, ich solle ihnen alles aus meinem Leben, mein Weltbild, Politik, Religion, auch meine moralischen Ansichten, sogar meine Vorurteile, soweit ich welche hätte, aufzeichnen. Sie selbst würden nun auch ihre Gedanken in ein Tagebuch eintragen, dann könnte das späteren Generationen ein Andenken sein.
Das ist wirklich nicht so einfach, was sich die Rangen da ausgedacht haben. Warum ausgerechnet ich und kein anderer aus unserer Familie? Sie wollen mich wohl beschäftigen. Andererseits bin ich über diesen Vorschlag sehr gerührt, es zeigt ja die Anhänglichkeit und ihre Zuneigung, die sie für mich empfinden.
Ich werde mich diesem Wunsch fügen, obwohl es mir nicht so leicht fällt. Schon immer hatte ich einen Widerwillen, im Mittelpunkt zu stehen, doch bei diesem Ansinnen wird es sich nicht vermeiden lassen. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich mich genügend gut mit mir auskenne. Über mich selbst mache ich mir wenig Gedanken. Ich akzeptiere mich, was bleibt mir auch anderes übrig, denn sonst wäre es fatal. Ich erlebe mich nun schon über 90 Jahre, dennoch frage ich mich manchmal: „Habe ich mich jemals richtig gekannt, so dass ich meiner gänzlich sicher gewesen wäre?“ Wahrscheinlich ist das nicht nur mein Problem und dieses Gefühl ist weiter verbreitet, als ich ahne. Genau gesehen ist das nicht einmal verwunderlich, denn man verändert sich laufend mit der Zeit. Vorgegebenes passt sich den Umwelteinflüssen an, das ist ein wichtiger Vorgang, ein Bestandteil des Lebendigen.
Ebenfalls den Änderungen unterworfen ist das Bild, das ich mir von dieser Welt mache, doch dieses Bild hat auch Bereiche, die nicht so flüchtig sind und meinem Denken Konstanz verleihen.
Mit dem Versuch, mein ganzes Sein in schriftlicher Form wiederzugeben, haben mir diese Schlingel vielleicht zu viel aufgebürdet. Möglich, dass ich das nicht durchhalte, es ist auch möglich, dass es teilweise albern und affektiert klingt. Auf jeden Fall will ich keinen Eindruck von egozentrischer Selbstdarstellung entstehen lassen. Ob mir das gelingt, will ich erst einmal dahingestellt sein lassen.
Wenn ich eurem Wunsch entspreche, habe ich ein zwiespältiges Gefühl. Ich habe schon ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich meiner Nachwelt eine so große Hinterlassenschaft überlasse. Zwar lebe ich in meinen vielen Bildern und Büchern, doch ich strebe nicht danach, in ihnen über den Tod hinaus zu überdauern. Nun wünscht ihr euch noch zusätzlich diese Aufzeichnungen. Bedenkt, eine Hinterlassenschaft kann nicht nur bereichern, sondern sie kann auch zu einer Belastung werden. Nun, ihr wollt es nicht besser.
In der folgenden Niederschrift werde ich versuchen, mich - so gut ich es kann - unmissverständlich auszudrücken. Ich weiß, ich denke manchmal etwas kompliziert. Vieles was im Nebel in meinem Kopf vor sich hindämmert, werde ich erst an die Oberfläche holen müssen. Unscharfen Erinnerungen werde ich versuchen Konturen zu geben, dann werden sie schärfer, aber nicht richtiger. Ich werde mich bemühen.
Schon bei diesen ersten Zeilen fühle ich mich überfordert und muss gegen Widerstände weitermachen. Einen Vorteil habe ich: Wenn ich nichts Rechtes zustande bringe, kann ich diesen Versuch beenden, die Datei löschen, den beiden Knaben mitteilen, dass ich darin versagt habe, und das was ich geschrieben habe, bleibt mein Geheimnis.
Um nicht zu kompliziert anzufangen, brauche ich einen einfachen Einstieg. Mit Erinnerungen sollte ein Fundament vorhanden sein, auf dem sich meine Überzeugungen, Erkenntnisse und auch meine Vorurteile aufbauen können. Also werde ich erst einen kleinen Rückblick auf mein Leben geben.
Einiges über mein früheres Leben, besonders über den 2. Weltkrieg, habe ich den beiden schon früher erzählt. Für wichtiger halte ich das alltägliche Leben in dieser fernen Vergangenheit und die Gefühlswelt, in der ich aufgewachsen bin. Dazu müsste ich mich auf meine frühe Kindheit besinnen, obwohl mir da vieles nicht mehr zugänglich ist.
Zu Anfang gebe ich euch einen Einblick, welche Lebensumstände mich geformt haben. Unter den wenigen deutlichen Erinnerungen aus frühsten Lebensjahren hat sich eine am besten erhalten. Neben dem Haus, in dem wir wohnten, war ein großer Sandkasten. Bei gutem Wetter spielten dort mehr als zehn kleine Kinder. Es gab oft Streit. Ich zog mich dann zurück und wich Auseinandersetzungen aus. Das war wohl ein sehr früher Charakterzug, dass ich mich damals schon von Gewalt zurückzog.
In diesen früheren Jahren war die Welt so gänzlich anders, das kann man sich in der heutigen Zeit kaum vorstellen. Es gab noch kein Fernsehen, normale Leute hatten noch nicht einmal ein Radio und eigenes Telefon gab es schon gar nicht. Menschen, denen es etwas besser ging, konnten sich Zeitungen kaufen, wir gehörten nicht dazu. Neuigkeiten wurden durch Anschläge verbreitet, daneben hingen Propagandaplakate wie: „Feind hört mit, Räder müssen rollen für den Sieg, Helden der Ostfront, Achtung Kohlenklau und deine Spende für das Winterhilfswerk“.
Meine Eltern waren sehr arm, wir wohnten zur Untermiete in zwei kleinen Zimmern, einer Küche mit Herd und einer kleinen Schlafkammer. Aber wir hatten eine eigene Toilette mit Wasserspülung, was viele Leute damals auch noch nicht hatten. Einmal in der Woche wurde gebadet. Dann wurde eine große Zinkwanne vom Boden geholt. Auf dem Küchenherd wurde ein großer Topf mit Wasser warm gemacht und nun kamen alle nacheinander in die Wanne, die Kinder zuerst, dann wurde noch einmal etwas warmes Wasser nachgeschüttet und es kamen meine Eltern dran.
Wie schon gesagt, es gab kein Radio, mein Vater baute selbst ein erstes Radio, als ich 4 Jahre alt war. Dafür wurde viel gesungen. Meine Mutter spielte Mandoline. Im Sommer bei guten Wetter saßen alle Hausbewohner hinter dem Haus, es wurde gemeinschaftlich gesungen und sich unterhalten. Die Kinder spielten gewöhnlich draußen. Es war immer eine große Schar von Kindern unterwegs, die größeren waren die Anführer und ließen sich herab, auch die kleineren mitspielen zu lassen. So wurde auf der Straße Sozialverhalten eingeübt.
Es geht besser, als ich gedacht habe. Nun muss ich erst einmal eine Pause machen, ich habe Kaffeedurst.