Hauptwerke - Sigmund Freud - E-Book

Hauptwerke E-Book

Sigmund Freud

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Beschreibung

Folgende 14 Hauptwerke Freuds als E-Book, erfasst nach der Studienausgabe incl. der Fußnoten Freuds: Studien über Hysterie, Die Traumdeutung, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Totem und Tabu, Jenseits des Lustprinzips, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Das Ich und das Es, Die Frage der Laienanalyse, Das Unbehagen in der Kultur, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (incl. neue Folge).

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Impressum Veröffentlicht im heptagon Verlag Berlin 2012 ISBN: 978-3-934616-48-6 www.heptagon.de

Die Texte sind ursprünglich erschienen auf der CD-ROM: »Sigmund Freud: Das Werk, herausgegeben von Thomas Müller. Berlin 2010.« Die zu Grunde liegenden Texte sind ursprünglich erschienen als:

Joseph Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1974. Ursprünglich erschienen als: Joseph Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie, Wien 1895. Die zweite Auflage ist 1909 erschienen.Sigmund Freud: Die Traumdeutung, in: Studienausgabe. Bd. II, Frankfurt/Main 1982. Ursprünglich erschienen als: Die Traumdeutung, Wien 1900.Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1954. Ursprünglich erschienen in: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 10 (1901), S. 1–32 und 95–143. Das Werk ist 1904 in Berlin zuerst als Buch erschienen.Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: Studienausgabe. Bd. V, S. 47–145, Frankfurt/Main 1982. Ursprünglich erschienen als: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Wien 1905.Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: Studienausgabe. Bd. X, S. 91–159, Frankfurt/Main 1982. Das Buch ist ursprünglich erschienen als: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Wien 1910.Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: Studienausgabe. Bd. IX, S. 291–444, Frankfurt/Main 1982. Erste Buchausgabe: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Heller, Leipzig und Wien 1913. Die zweite Auflage erschien als Buch 1920 beim Internationalen Psychoanalytischen Verlag, die dritte ebenda 1922.Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe. Bd. I, S. 37–445, Frankfurt/Main 1982. Ursprünglich erschienen als: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Wien 1916–17.Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: Studienausgabe. Bd. III, S. 217–272, Frankfurt/Main 1982. Ursprünglich erschienen als: Jenseits des Lustprinzips, Leipzig, Wien, Zürich 1920.Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Studienausgabe. Bd. IX, S. 65–134, Frankfurt/Main 1982. Ursprüngliche Ausgabe: Massenpsychologie und Ich-Analyse, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig, Wien und Zürich 1921.Sigmund Freud: Das Ich und das Es, in: Studienausgabe. Bd. III, S. 282–325, Frankfurt/Main 1982. Ursprünglich erschienen als: Das Ich und das Es, Wien 1923.Sigmund Freud: Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen, in: Studienausgabe. Ergänzungsband, S. 275–341, Frankfurt/Main 1982. Ursprünglich erschienen als: Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen, Wien 1926.Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe. Bd. IX, S. 197–270, Frankfurt/Main 1982. Ursprüngliche Ausgabe: Das Unbehagen in der Kultur, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1930.Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe. Bd. I, S. 449–608, Frankfurt/Main 1982. Ursprünglich erschienen als: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Wien 1933.Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion: Drei Abhandlungen, in: Studienausgabe. Bd. IX, S. 459–581, Frankfurt/Main 1982. Erste Buchausgabe: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Verlag Allert de Lange, Amsterdam 1939. Die ersten beiden Abhandlungen wurden zunächst einzeln in der Zeitschrift Imago veröffentlicht (Bd. 23 (1), S. 5–13; Bd. 23 (4), S. 387–419), die dritte Abhandlung wurde zunächst – nach der Abreise Freuds nach London – auf dem Pariser Internationalen Psychoanalytischen Kongress von Anna Freud vorgelesen und anschließende in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago veröffentlicht.Die Fußnoten Freuds wurden übernommen.

Studien über Hysterie (zusammen mit Josef Breuer), 1895

I. Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene

(Freud und Breuer)

Vorläufige Mitteilung

1

Angeregt durch eine zufällige Beobachtung forschen wir seit einer Reihe von Jahren bei den verschiedensten Formen und Symptomen der Hysterie nach der Veranlassung, dem Vorgange, welcher das betreffende Phänomen zum ersten Male, oft vor vielen Jahren, hervorgerufen hat. In der großen Mehrzahl der Fälle gelingt es nicht, durch das einfache, wenn auch noch so eingehende Krankenexamen, diesen Ausgangspunkt klarzustellen, teilweise, weil es sich oft um Erlebnisse handelt, deren Besprechung dem Kranken unangenehm ist, hauptsächlich aber, weil sie sich wirklich nicht daran erinnern, oft den ursächlichen Zusammenhang des veranlassenden Vorganges und des pathologischen Phänomens nicht ahnen. Meistens ist es nötig, die Kranken zu hypnotisieren und in der Hypnose die Erinnerungen jener Zeit, wo das Symptom zum ersten Male auftrat, wachzurufen; dann gelingt es, jenen Zusammenhang aufs deutlichste und überzeugendste darzulegen.

Diese Methode der Untersuchung hat uns in einer großen Zahl von Fällen Resultate ergeben, die in theoretischer wie in praktischer Hinsicht wertvoll erscheinen.

In theoretischer Hinsicht, weil sie uns bewiesen haben, daß das akzidentelle Moment weit über das bekannte und anerkannte Maß hinaus bestimmend ist für die Pathologie der Hysterie. Daß es bei »traumatischer« Hysterie der Unfall ist, welcher das Syndrom hervorgerufen hat, ist ja selbstverständlich, und wenn bei hysterischen Anfällen aus den Äußerungen der Kranken zu entnehmen ist, daß sie in jedem Anfall immer wieder denselben Vorgang halluzinieren, der die erste Attacke hervorgerufen hat, so liegt auch hier der ursächliche Zusammenhang klar zutage. Dunkler ist der Sachverhalt bei den anderen Phänomenen.

Unsere Erfahrungen haben uns aber gezeigt, daß die verschiedensten Symptome, welche für spontane, sozusagen idiopathische Leistungen der Hysterie gelten, in ebenso stringentem Zusammenhange mit dem veranlassenden Trauma stehen, wie die oben genannten, in dieser Beziehung durchsichtigen Phänomene. Wir haben Neuralgien wie Anästhesien der verschiedensten Art und von oft jahrelanger Dauer, Kontrakturen und Lähmungen, hysterische Anfälle und epileptoide Konvulsionen, die alle Beobachter für echte Epilepsie gehalten hatten, petit mal und ticartige Affektionen, dauerndes Erbrechen und Anorexie bis zur Nahrungsverweigerung, die verschiedensten Sehstörungen, immer wiederkehrende Gesichtshalluzinationen u. dgl. m. auf solche veranlassende Momente zurückführen können. Das Mißverhältnis zwischen dem jahrelang dauernden hysterischen Symptom und der einmaligen Veranlassung ist dasselbe, wie wir es bei der traumatischen Neurose regelmäßig zu sehen gewohnt sind; ganz häufig sind es Ereignisse aus der Kinderzeit, die für alle folgenden Jahre ein mehr oder minder schweres Krankheitsphänomen hergestellt haben.

Oft ist der Zusammenhang so klar, daß es vollständig ersichtlich ist, wieso der veranlassende Vorfall eben dieses und kein anderes Phänomen erzeugt hat. Dieses ist dann durch die Veranlassung in völlig klarer Weise determiniert. So, um das banalste Beispiel zu nehmen, wenn ein schmerzlicher Affekt, der während des Essens entsteht, aber unterdrückt wird, dann Übelkeit und Erbrechen erzeugt und dieses als hysterisches Erbrechen monatelang andauert. Ein Mädchen, das in qualvoller Angst an einem Krankenbette wacht, verfällt in einen Dämmerzustand und hat eine schreckhafte Halluzination, während ihr der rechte Arm, über der Sessellehne hängend, einschläft: es entwickelt sich daraus eine Parese dieses Armes mit Kontraktur und Anästhesie. Sie will beten und findet keine Worte; endlich gelingt es ihr, ein englisches Kindergebet zu sprechen. Als sich später eine schwere höchst komplizierte Hysterie entwickelt, spricht, schreibt und versteht sie nur Englisch, während ihr die Muttersprache durch 1½ Jahre unverständlich ist. – Ein schwerkrankes Kind ist endlich eingeschlafen, die Mutter spannt alle Willenskraft an, um sich ruhig zu verhalten und es nicht zu wecken; gerade infolge dieses Vorsatzes macht sie (»hysterischer Gegenwille«!) ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. Dieses wiederholt sich später bei einer anderen Gelegenheit, wobei sie sich gleichfalls absolut ruhig verhalten will, und es entwickelt sich daraus ein Tic, der als Zungenschnalzen durch viele Jahre jede Aufregung begleitet. – Ein hochintelligenter Mann assistiert, während seinem Bruder das ankylosierte Hüftgelenk in der Narkose gestreckt wird. Im Augenblicke, wo das Gelenk krachend nachgibt, empfindet er heftigen Schmerz im eigenen Hüftgelenke, der fast ein Jahr andauert u. dgl. m.

In anderen Fällen ist der Zusammenhang nicht so einfach; es besteht nur eine sozusagen symbolische Beziehung zwischen der Veranlassung und dem pathologischen Phänomen, wie der Gesunde sie wohl auch im Traume bildet, wenn etwa zu seelischem Schmerze sich eine Neuralgie gesellt oder Erbrechen zu dem Affekte moralischen Ekels. Wir haben Kranke studiert, welche von einer solchen Symbolisierung den ausgiebigsten Gebrauch zu machen pflegten. – In noch anderen Fällen ist eine derartige Determination zunächst nicht dem Verständnis offen; hieher gehören gerade die typischen hysterischen Symptome, wie Hemianästhesie und Gesichtsfeldeinengung, epileptiforme Konvulsionen u. dgl. m. Die Darlegung unserer Anschauungen über diese Gruppe müssen wir der ausführlicheren Besprechung des Gegenstandes vorbehalten.

Solche Beobachtungen scheinen uns die pathogene Analogie der gewöhnlichen Hysterie mit der traumatischen Neurose nachzuweisen und eine Ausdehnung des Begriffes der »traumatischen Hysterie« zu rechtfertigen. Bei der traumatischen Neurose ist ja nicht die geringfügige körperliche Verletzung die wirksame Krankheitsursache, sondern der Schreckaffekt, das psychische Trauma. In analoger Weise ergeben sich aus unseren Nachforschungen für viele, wenn nicht für die meisten hysterischen Symptome Anlässe, die man als psychische Traumen bezeichnen muß. Als solches kann jedes Erlebnis wirken, welches die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft, und es hängt begreiflicherweise von der Empfindlichkeit des betroffenen Menschen (sowie von einer später zu erwähnenden Bedingung) ab, ob das Erlebnis als Trauma zur Geltung kommt. Nicht selten finden sich anstatt des einen großen Traumas bei der gewöhnlichen Hysterie mehrere Partialtraumen, gruppierte Anlässe, die erst in ihrer Summierung traumatische Wirkung äußern konnten und die insofern zusammengehören, als sie zum Teil Stücke einer Leidensgeschichte bilden. In noch anderen Fällen sind es an sich scheinbar gleichgültige Umstände, die durch ihr Zusammentreffen mit dem eigentlich wirksamen Ereignis oder mit einem Zeitpunkt besonderer Reizbarkeit eine Dignität als Traumen gewonnen haben, die ihnen sonst nicht zuzumuten wäre, die sie aber von da an behalten.

Aber der kausale Zusammenhang des veranlassenden psychischen Traumas mit dem hysterischen Phänomen ist nicht etwa von der Art, daß das Trauma als agent provocateur das Symptom auslösen würde, welches dann, selbständig geworden, weiter bestände. Wir müssen vielmehr behaupten, daß das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muß, und wir sehen den Beweis hiefür in einem höchst merkwürdigen Phänomen, welches zugleich unseren Befunden ein bedeutendes praktisches Interesse verschafft.

Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Überraschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; der psychische Prozeß, der ursprünglich abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wiederholt, in statum nascendi gebracht und dann »ausgesprochen« werden. Dabei treten, wenn es sich um Reizerscheinungen handelt, diese: Krämpfe, Neuralgien, Halluzinationen – noch einmal in voller Intensität auf und schwinden dann für immer. Funktionsausfälle, Lähmungen und Anästhesien schwinden ebenso, natürlich ohne daß ihre momentane Steigerung deutlich wäre.1

Der Verdacht liegt nahe, es handle sich dabei um eine unbeabsichtigte Suggestion; der Kranke erwarte, durch die Prozedur von seinem Leiden befreit zu werden, und diese Erwartung, nicht das Aussprechen selbst, sei der wirkende Faktor. Allein dem ist nicht so: die erste Beobachtung dieser Art, bei welcher ein höchst verwickelter Fall von Hysterie auf solche Weise analysiert und die gesondert verursachten Symptome auch gesondert behoben wurden, stammt aus dem Jahre 1881, also aus »vorsuggestiver« Zeit, wurde durch spontane Autohypnosen der Kranken ermöglicht und bereitete dem Beobachter die größte Überraschung.

In Umkehrung des Satzes: cessante causa cessat effectus dürfen wir wohl aus diesen Beobachtungen schließen, der veranlassende Vorgang wirke in irgend einer Weise noch nach Jahren fort, nicht indirekt durch Vermittlung einer Kette von kausalen Zwischengliedern, sondern unmittelbar als auslösende Ursache, wie etwa ein im wachen Bewußtsein erinnerter psychischer Schmerz noch in später Zeit die Tränensekretion hervorruft: der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen.2

1

Die Möglichkeit einer solchen Therapie haben

Delboeuf

und

Binet

klar erkannt, wie die beifolgenden Zitate zeigen:

Delboeuf

, Le magnétisme animal. Paris 1889: »

On s'expliquerait des-lors comment le magnétiseur aide à la guérison. Il remet le sujet dans l'état où le mal s'est manifesté et combat par la parole le même mal, mais renaissant.«

Binet

, Les altérations de la personnalité, 1892, p. 243:

»... peut-être verra-t-on qu'en reportant le malade par un artifice mental, au moment même où le symptôme a apparu pour la première fois, on rend ce malade plus docile à une suggestion curative.«

– In dem interessanten Buche von P.

Janet

: L'automatisme psychologique, Paris 1889, findet sich die Beschreibung einer Heilung, welche bei einem hysterischen Mädchen durch Anwendung eines dem unsrigen analogen Verfahrens erzielt wurde.

2

Wir können im Texte dieser vorläufigen Mitteilung nicht sondern, was am Inhalte derselben neu ist und was sich bei anderen Autoren wie

Möbius

und

Strümpell

findet, die ähnliche Anschauungen für die Hysterie vertreten haben. Die größte Annäherung an unsere theoretischen und therapeutischen Ausführungen fanden wir in einigen gelegentlich publizierten Bemerkungen

Benedikts

, mit denen wir uns an anderer Stelle beschäftigen werden.

2

Es erscheint zunächst wunderlich, daß längst vergangene Erlebnisse so intensiv wirken sollen; daß die Erinnerungen an sie nicht der Usur unterliegen sollen, der wir doch alle unsere Erinnerungen verfallen sehen. Vielleicht gewinnen wir durch folgende Erwägungen einiges Verständnis für diese Tatsachen.

Das Verblassen oder Affektloswerden einer Erinnerung hängt von mehreren Faktoren ab. Vor allem ist dafür von Wichtigkeit, ob auf das affizierende Ereignis energisch reagiert wurde oder nicht. Wir verstehen hier unter Reaktion die ganze Reihe willkürlicher und unwillkürlicher Reflexe, in denen sich erfahrungsgemäß die Affekte entladen: vom Weinen bis zum Racheakt. Erfolgt diese Reaktion in genügendem Ausmaße, so schwindet dadurch ein großer Teil des Affektes; unsere Sprache bezeugt diese Tatsache der täglichen Beobachtung durch die Ausdrücke »sich austoben, ausweinen« u. dgl. Wird die Reaktion unterdrückt, so bleibt der Affekt mit der Erinnerung verbunden. Eine Beleidigung, die vergolten ist, wenn auch nur durch Worte, wird anders erinnert, als eine, die hingenommen werden mußte. Die Sprache anerkennt auch diesen Unterschied in den psychischen und körperlichen Folgen und bezeichnet höchst charakteristischerweise eben das schweigend erduldete Leiden als »Kränkung«. – Die Reaktion des Geschädigten auf das Trauma hat eigentlich nur dann eine völlig »kathartische« Wirkung, wenn sie eine adäquate Reaktion ist, wie die Rache. Aber in der Sprache findet der Mensch ein Surrogat für die Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso »abreagiert« werden kann. In anderen Fällen ist das Reden eben selbst der adäquate Reflex, als Klage und als Aussprache für die Pein eines Geheimnisses (Beichte!). Wenn solche Reaktion durch Tat, Worte, in leichtesten Fällen durch Weinen nicht erfolgt, so behält die Erinnerung an den Vorfall zunächst die affektive Betonung.

Das »Abreagieren« ist indes nicht die einzige Art der Erledigung, welche dem normalen psychischen Mechanismus des Gesunden zur Verfügung steht, wenn er ein psychisches Trauma erfahren hat. Die Erinnerung daran tritt, auch wenn sie nicht abreagiert wurde, in den großen Komplex der Assoziation ein, sie rangiert dann neben anderen, vielleicht ihr widersprechenden Erlebnissen, erleidet eine Korrektur durch andere Vorstellungen. Nach einem Unfalle z.B. gesellt sich zu der Erinnerung an die Gefahr und zu der (abgeschwächten) Wiederholung des Schrekkens die Erinnerung des weiteren Verlaufes, der Rettung, das Bewußtsein der jetzigen Sicherheit. Die Erinnerung an eine Kränkung wird korrigiert durch Richtigstellung der Tatsachen, durch Erwägungen der eigenen Würde u. dgl., und so gelingt es dem normalen Menschen, durch Leistungen der Assoziation den begleitenden Affekt zum Verschwinden zu bringen.

Dazu tritt dann jenes allgemeine Verwischen der Eindrücke, jenes Abblassen der Erinnerungen, welches wir »vergessen« nennen, und das vor allem die affektiv nicht mehr wirksamen Vorstellungen usuriert.

Aus unseren Beobachtungen geht nun hervor, daß jene Erinnerungen, welche zu Veranlassungen hysterischer Phänomene geworden sind, sich in wunderbarer Frische und mit ihrer vollen Affektbetonung durch lange Zeit erhalten haben. Wir müssen aber als eine weitere auffällige und späterhin verwertbare Tatsache erwähnen, daß die Kranken nicht etwa über diese Erinnerungen wie über andere ihres Lebens verfügen. Im Gegenteil, diese Erlebnisse fehlen dem Gedächtnisse der Kranken in ihrem gewöhnlichen psychischen Zustande völlig oder sind nur höchst summarisch darin vorhanden. Erst wenn man die Kranken in der Hypnose befragt, stellen sich diese Erinnerungen mit der unverminderten Lebhaftigkeit frischer Geschehnisse ein.

So reproduzierte eine unserer Kranken in der Hypnose ein halbes Jahr hindurch mit halluzinatorischer Lebhaftigkeit alles, was sie an denselben Tagen des vorhergegangenen Jahres (während einer akuten Hysterie) erregt hatte; ein ihr unbekanntes Tagebuch der Mutter bezeugte die tadellose Richtigkeit der Reproduktion. Eine andere Kranke durchlebte teils in der Hypnose, teils in spontanen Anfällen mit halluzinatorischer Deutlichkeit alle Ereignisse einer vor zehn Jahren durchgemachten hysterischen Psychose, für welche sie bis zum Momente des Wiederauftauchens größtenteils amnestisch gewesen war. Auch einzelne ätiologisch wichtige Erinnerungen von fünfzehn- bis fünfundzwanzigjährigem Bestand erwiesen sich bei ihr von erstaunlicher Intaktheit und sinnlicher Stärke und wirkten bei ihrer Wiederkehr mit der vollen Affektkraft neuer Erlebnisse. Den Grund hiefür können wir nur darin suchen, daß diese Erinnerungen in allen oben erörterten Beziehungen zur Usur eine Ausnahmsstellung einnehmen. Es zeigt sich nämlich, daß diese Erinnerungen Traumen entsprechen, welche nicht genügend »abreagiert« worden sind, und bei näherem Eingehen auf die Gründe, welche dieses verhindert haben, können wir mindestens zwei Reihen von Bedingungen auffinden, unter denen die Reaktion auf das Trauma unterblieben ist.

Zur ersten Gruppe rechnen wir jene Fälle, in denen die Kranken auf psychische Traumen nicht reagiert haben, weil die Natur des Traumas eine Reaktion ausschloß, wie beim unersetzlich erscheinenden Verlust einer geliebten Person, oder weil die sozialen Verhältnisse eine Reaktion unmöglich machten, oder weil es sich um Dinge handelte, die der Kranke vergessen wollte, die er darum absichtlich aus seinem bewußten Denken verdrängte, hemmte und unterdrückte. Gerade solche peinliche Dinge findet man dann in der Hypnose als Grundlage hysterischer Phänomene (hysterische Delirien der Heiligen und Nonnen, der enthaltsamen Frauen, der wohlerzogenen Kinder).

Die zweite Reihe von Bedingungen wird nicht durch den Inhalt der Erinnerungen, sondern durch die psychischen Zustände bestimmt, mit welchen die entsprechenden Erlebnisse beim Kranken zusammengetroffen haben. Als Veranlassung hysterischer Symptome findet man nämlich in der Hypnose auch Vorstellungen, welche, an sich nicht bedeutungsvoll, ihre Erhaltung dem Umstande danken, daß sie in schweren lähmenden Affekten, wie z.B. Schreck, entstanden sind, oder direkt in abnormen psychischen Zuständen, wie im halbhypnotischen Dämmerzustande des Wachträumens, in Autohypnosen u. dgl. Hier ist es die Natur dieser Zustände, welche eine Reaktion auf das Geschehnis unmöglich machte.

Beiderlei Bedingungen können natürlich auch zusammentreffen und treffen in der Tat oftmals zusammen. Dies ist der Fall, wenn ein an sich wirksames Trauma in einen Zustand von schwerem, lähmendem Affekt oder von verändertem Bewußtsein fällt, es scheint aber auch so zuzugehen, daß durch das psychische Trauma bei vielen Personen einer jener abnormen Zustände hervorgerufen wird, welcher dann seinerseits die Reaktion unmöglich macht.

Beiden Gruppen von Bedingungen ist aber gemeinsam, daß die nicht durch Reaktion erledigten psychischen Traumen auch der Erledigung durch assoziative Verarbeitung entbehren müssen. In der ersten Gruppe ist es der Vorsatz des Kranken, welcher die peinlichen Erlebnisse vergessen will und dieselben somit möglichst von der Assoziation ausschließt, in der zweiten Gruppe gelingt diese assoziative Verarbeitung darum nicht, weil zwischen dem normalen Bewußtseinszustand und den pathologischen, in denen diese Vorstellungen entstanden sind, eine ausgiebige assoziative Verknüpfung nicht besteht. Wir werden sofort Anlaß haben, auf diese Verhältnisse weiter einzugehen.

Man darf also sagen, daß die pathogen gewordenen Vorstellungen sich darum so frisch und affektkräftig erhalten, weil ihnen die normale Usur durch Abreagieren und durch Reproduktion in Zuständen ungehemmter Assoziation versagt ist.

3

Als wir die Bedingungen mitteilten, welche nach unseren Erfahrungen dafür maßgebend sind, daß sich aus psychischen Traumen hysterische Phänomene entwickeln, mußten wir bereits von abnormen Zuständen des Bewußtseins sprechen, in denen solche pathogene Vorstellungen entstehen, und mußten die Tatsache hervorheben, daß die Erinnerung an das wirksame psychische Trauma nicht im normalen Gedächtnisse des Kranken, sondern im Gedächtnisse des Hypnotisierten zu finden ist. Je mehr wir uns nun mit diesen Phänomenen beschäftigten, desto sicherer wurde unsere Überzeugung, jene Spaltung des Bewußtseins, die bei den bekannten klassischen Fällen als double conscience so auffällig ist, bestehe in rudimentärer Weise bei jeder Hysterie, die Neigung zu dieser Dissoziation und damit zum Auftreten abnormer Bewußtseinszustände, die wir als »hypnoide« zusammenfassen wollen, sei das Grundphänomen dieser Neurose. Wir treffen in dieser Anschauung mit Binet und den beiden Janet zusammen, über deren höchst merkwürdige Befunde bei Anästhetischen uns übrigens die Erfahrung mangelt.

Wir möchten also dem oft ausgesprochenen Satze: »Die Hypnose ist artefizielle Hysterie« einen andern an die Seite stellen: Grundlage und Bedingung der Hysterie ist die Existenz von hypnoiden Zuständen. Diese hypnoiden Zustände stimmen, bei aller Verschiedenheit, untereinander und mit der Hypnose in dem einen Punkte überein, daß die in ihnen auftauchenden Vorstellungen sehr intensiv, aber von dem Assoziativverkehr mit dem übrigen Bewußtseinsinhalt abgesperrt sind. Untereinander sind diese hypnoiden Zustände assoziierbar, und deren Vorstellungsinhalt mag auf diesem Wege verschieden hohe Grade von psychischer Organisation erreichen. Im übrigen dürfte ja die Natur dieser Zustände und der Grad ihrer Abschließung von den übrigen Bewußtseinsvorgängen in ähnlicher Weise variieren, wie wir es bei der Hypnose sehen, die sich von leichter Somnolenz bis zum Somnambulismus, von der vollen Erinnerung bis zur absoluten Amnesie erstreckt.

Bestehen solche hypnoiden Zustände schon vor der manifesten Erkrankung, so geben sie den Boden ab, auf welchem der Affekt die pathogene Erinnerung mit ihren somatischen Folgeerscheinungen ansiedelt. Dies Verhalten entspricht der disponierten Hysterie. Es ergibt sich aber aus unseren Beobachtungen, daß ein schweres Trauma (wie das der traumatischen Neurose), eine mühevolle Unterdrückung (etwa des Sexualaffektes) auch bei dem sonst freien Menschen eine Abspaltung von Vorstellungsgruppen bewerkstelligen kann, und dies wäre der Mechanismus der psychisch akquirierten Hysterie. Zwischen den Extremen dieser beiden Formen muß man eine Reihe gelten lassen, innerhalb welcher die Leichtigkeit der Dissoziation bei dem betreffenden Individuum und die Affektgröße des Traumas in entgegengesetztem Sinne variieren.

Wir wissen nichts Neues darüber zu sagen, worin die disponierenden hypnoiden Zustände begründet sind. Sie entwickeln sich oft, sollten wir meinen, aus dem auch bei Gesunden so häufigen »Tagträumen«, zu dem z.B. die weiblichen Handarbeiten so viel Anlaß bieten. Die Frage, weshalb die »pathologischen Assoziationen«, die sich in solchen Zuständen bilden, so feste sind und die somatischen Vorgänge so viel stärker beeinflussen, als wir es sonst von Vorstellungen gewohnt sind, fällt zusammen mit dem Probleme der Wirksamkeit hypnotischer Suggestionen überhaupt. Unsere Erfahrungen bringen hierüber nichts Neues; sie beleuchten dagegen den Widerspruch zwischen dem Satze: »Hysterie ist eine Psychose«, und der Tatsache, daß man unter den Hysterischen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischsten Menschen finden kann. In diesen Fällen ist solche Charakteristik richtig für das wache Denken des Menschen; in seinen hypnoiden Zuständen ist er alieniert, wie wir es alle im Traume sind. Aber während unsere Traumpsychosen unseren Wachzustand nicht beeinflussen, ragen die Produkte der hypnoiden Zustände als hysterische Phänomene ins wache Leben hinein.

4

Fast die nämlichen Behauptungen, die wir für die hysterischen Dauersymptome aufgestellt haben, können wir auch für die hysterischen Anfälle wiederholen. Wir besitzen, wie bekannt, eine von Charcot gegebene schematische Beschreibung des »großen« hysterischen Anfalles, welcher zufolge ein vollständiger Anfall vier Phasen erkennen läßt: 1) die epileptoide, 2) die der großen Bewegungen, 3) die der attitudes passionnelles (die halluzinatorische Phase), 4) die des abschließenden Deliriums. Aus der Verkürzung und Verlängerung, dem Ausfall und der Isolierung der einzelnen Phasen läßt Charcot alle jene Formen des hysterischen Anfalles hervorgehen, die man tatsächlich häufiger als die vollständige grande attaque beobachtet.

Unser Erklärungsversuch knüpft an die dritte Phase, die der attitudes passionnelles an. Wo dieselbe ausgeprägt ist, liegt in ihr die halluzinatorische Reproduktion einer Erinnerung bloß, welche für den Ausbruch der Hysterie bedeutsam war, die Erinnerung an das eine große Trauma der κατ' εξοχην sogenannten traumatischen Hysterie oder an eine Reihe von zusammengehörigen Partialtraumen, wie sie der gemeinen Hysterie zugrunde liegen. Oder endlich der Anfall bringt jene Geschehnisse wieder, welche durch ihr Zusammentreffen mit einem Momente besonderer Disposition zu Traumen erhoben worden sind.

Es gibt aber auch Anfälle, die anscheinend nur aus motorischen Phänomenen bestehen, denen eine phase passionnelle fehlt. Gelingt es bei einem solchen Anfalle von allgemeinen Zuckungen, kataleptischer Starre oder bei einer attaque de sommeil, sich während desselben in Rapport mit dem Kranken zu setzen, oder noch besser, gelingt es, den Anfall in der Hypnose hervorzurufen, so findet man, daß auch hier die Erinnerung an das psychische Trauma oder an eine Reihe von Traumen zugrunde liegt, die sich sonst in einer halluzinatorischen Phase auffällig macht. Ein kleines Mädchen leidet seit Jahren an Anfällen von allgemeinen Krämpfen, die man für epileptische halten könnte und auch gehalten hat. Sie wird zum Zwecke der Differentialdiagnose hypnotisiert und verfällt sofort in ihren Anfall. Befragt: Was siehst du denn jetzt? antwortet sie aber: Der Hund, der Hund kommt, und wirklich ergibt sich, daß der erste Anfall dieser Art nach einer Verfolgung durch einen wilden Hund aufgetreten war. Der Erfolg der Therapie vervollständigt dann die diagnostische Entscheidung.

Ein Angestellter, der infolge einer Mißhandlung von seiten seines Chefs hysterisch geworden ist, leidet an Anfällen, in denen er zusammenstürzt, tobt und wütet, ohne ein Wort zu sprechen oder eine Halluzination zu verraten. Der Anfall läßt sich in der Hypnose provozieren, und der Kranke gibt nun an, daß er die Szene wieder durchlebt, wie der Herr ihn auf der Straße beschimpft und mit einem Stocke schlägt. Wenige Tage später kommt er mit der Klage wieder, er habe denselben Anfall von neuem gehabt, und diesmal ergibt sich in der Hypnose, daß er die Szene durchlebt hat, an die sich eigentlich der Ausbruch der Krankheit knüpfte; die Szene im Gerichtssaale, als es ihm nicht gelang, Satisfaktion für die Mißhandlung zu erreichen usw.

Die Erinnerungen, welche in den hysterischen Anfällen hervortreten oder in ihnen geweckt werden können, entsprechen auch in allen anderen Stücken den Anlässen, welche sich uns als Gründe hysterischer Dauersymptome ergeben haben. Wie diese, betreffen sie psychische Traumen, die sich der Erledigung durch Abreagieren oder durch assoziative Denkarbeit entzogen haben; wie diese, fehlen sie gänzlich oder mit ihren wesentlichen Bestandteilen dem Erinnerungsvermögen des normalen Bewußtseins und zeigen sich als zugehörig zu dem Vorstellungsinhalte hypnoider Bewußtseinszustände mit eingeschränkter Assoziation. Endlich gestatten sie auch die therapeutische Probe. Unsere Beobachtungen haben uns oftmals gelehrt, daß eine solche Erinnerung, die bis dahin Anfälle provoziert hatte, dazu unfähig wird, wenn man sie in der Hypnose zur Reaktion und assoziativen Korrektur bringt.

Die motorischen Phänomene des hysterischen Anfalles lassen sich zum Teil als allgemeine Reaktionsformen des die Erinnerung begleitenden Affektes (wie das Zappeln mit allen Gliedern, dessen sich bereits der Säugling bedient), zum Teil als direkte Ausdrucksbewegungen dieser Erinnerung deuten, zum andern Teil entziehen sie sich ebenso wie die hysterischen Stigmata bei den Dauersymptomen dieser Erklärung.

Eine besondere Würdigung des hysterischen Anfalles ergibt sich noch, wenn man auf die vorhin angedeutete Theorie Rücksicht nimmt, daß bei der Hysterie in hypnoiden Zuständen entstandene Vorstellungsgruppen vorhanden sind, die vom assoziativen Verkehre mit den übrigen ausgeschlossen, aber untereinander assoziierbar, ein mehr oder minder hoch organisiertes Rudiment eines zweiten Bewußtseins, einer condition seconde darstellen. Dann entspricht ein hysterisches Dauersymptom einem Hineinragen dieses zweiten Zustandes in die sonst vom normalen Bewußtsein beherrschte Körperinnervation, ein hysterischer Anfall zeugt aber von einer höheren Organisation dieses zweiten Zustandes und bedeutet, wenn er frisch entstanden ist, einen Moment, in dem sich dieses Hypnoidbewußtsein der gesamten Existenz bemächtigt hat, also einer akuten Hysterie; wenn es aber ein wiederkehrender Anfall ist, der eine Erinnerung enthält, einer Wiederkehr eines solchen. Charcot hat bereits den Gedanken ausgesprochen, daß der hysterische Anfall das Rudiment einer condition seconde sein dürfte. Während des Anfalles ist die Herrschaft über die gesamte Körperinnervation auf das hypnoide Bewußtsein übergegangen. Das normale Bewußtsein ist, wie bekannte Erfahrungen zeigen, dabei nicht immer völlig verdrängt; es kann selbst die motorischen Phänomene des Anfalles wahrnehmen, während die psychischen Vorgänge desselben seiner Kenntnisnahme entgehen.

Der typische Verlauf einer schweren Hysterie ist bekanntlich der, daß zunächst in hypnoiden Zuständen ein Vorstellungsinhalt gebildet wird, der dann, genügend angewachsen, sich während einer Zeit von »akuter Hysterie« der Körperinnervation und der Existenz des Kranken bemächtigt, Dauersymptome und Anfälle schafft und dann bis auf Reste abheilt. Kann die normale Person die Herrschaft wieder übernehmen, so kehrt das, was von jenem hypnoiden Vorstellungsinhalt überlebt hat, in hysterischen Anfällen wieder und bringt die Person zeitweise wieder in ähnliche Zustände, die selbst wieder beeinflußbar und für Traumen aufnahmsfähig sind. Es stellt sich dann häufig eine Art von Gleichgewicht zwischen den psychischen Gruppen her, die in derselben Person vereinigt sind; Anfall und normales Leben gehen nebeneinander her, ohne einander zu beeinflussen. Der Anfall kommt dann spontan, wie auch bei uns die Erinnerungen zu kommen pflegen, er kann aber auch provoziert werden, wie jede Erinnerung nach den Gesetzen der Assoziation zu erwecken ist. Die Provokation des Anfalles erfolgt entweder durch die Reizung einer hysterogenen Zone oder durch ein neues Erlebnis, welches durch Ähnlichkeit an das pathogene Erlebnis anklingt. Wir hoffen, zeigen zu können, daß zwischen beiden anscheinend so verschiedenen Bedingungen ein wesentlicher Unterschied nicht besteht, daß in beiden Fällen an eine hyperästhetische Erinnerung gerührt wird. In anderen Fällen ist dieses Gleichgewicht ein sehr labiles, der Anfall erscheint als Äußerung des hypnoiden Bewußtseinsrestes, so oft die normale Person erschöpft und leistungsunfähig wird. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß in solchen Fällen auch der Anfall, seiner ursprünglichen Bedeutung entkleidet, als inhaltslose motorische Reaktion wiederkehren mag.

Es bleibt eine Aufgabe weiterer Untersuchung, welche Bedingungen dafür maßgebend sind, ob eine hysterische Individualität sich in Anfällen, in Dauersymptomen oder in einem Gemenge von beiden äußert.

5

Es ist nun verständlich, wieso die hier von uns dargelegte Methode der Psychotherapie heilend wirkt. Sie hebt die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten Affekte derselben den Ablauf durch die Rede gestattet, und bringt sie zur assoziativen Korrektur, indem sie dieselbe ins normale Bewußtsein zieht (in leichterer Hypnose) oder durch ärztliche Suggestion aufhebt, wie es im Somnambulismus mit Amnesie geschieht. Wir halten den therapeutischen Gewinn bei Anwendung dieses Verfahrens für einen bedeutenden. Natürlich heilen wir nicht die Hysterie, soweit sie Disposition ist, wir leisten ja nichts gegen die Wiederkehr hypnoider Zustände. Auch während des produktiven Stadiums einer akuten Hysterie kann unser Verfahren nicht verhüten, daß die mühsam beseitigten Phänomene alsbald durch neue ersetzt werden. Ist aber dieses akute Stadium abgelaufen und erübrigen noch die Reste desselben als hysterische Dauersymptome und Anfälle, so beseitigt unsere Methode dieselben häufig und für immer, weil radikal, und scheint uns hierin die Wirksamkeit der direkten suggestiven Aufhebung, wie sie jetzt von den Psychotherapeuten geübt wird, weit zu übertreffen.

Wenn wir in der Aufdeckung des psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene einen Schritt weiter auf der Bahn gemacht haben, die zuerst Charcot so erfolgreich mit der Erklärung und experimentellen Nachahmung hysterotraumatischer Lähmungen betreten hat, so verhehlen wir uns doch nicht, daß damit eben nur der Mechanismus hysterischer Symptome und nicht die inneren Ursachen der Hysterie unserer Kenntnis näher gerückt worden sind. Wir haben die Ätiologie der Hysterie nur gestreift und eigentlich nur die Ursachen der akquirierten Formen, die Bedeutung des akzidentellen Momentes für die Neurose beleuchten können.

Wien, Dezember 1892.

II. Krankengeschichten

1. Frl. Anna O...

(Breuer)

Frl. Anna O..., zur Zeit der Erkrankung (1880) 21 Jahre alt, erscheint als neuropathisch mäßig stark belastet durch einige in der großen Familie vorgekommene Psychosen; die Eltern sind nervös gesund. Sie selbst früher stets gesund, ohne irgendein Nervosum während der Entwicklungsperiode; von bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger Kombination und scharfsichtiger Intuition; ein kräftiger Intellekt, der auch solide geistige Nahrung verdaut hätte und sie brauchte, nach Verlassen der Schule aber nicht erhielt. Reiche poetische und phantastische Begabung, kontrolliert durch sehr scharfen und kritischen Verstand. Dieser letztere machte sie auch völlig unsuggestibel; nur Argumente, nie Behauptungen hatten Einfluß auf sie. Ihr Wille war energisch, zäh und ausdauernd; manchmal zum Eigensinn gesteigert, der sein Ziel nur aus Güte, um anderer willen, aufgab.

Zu den wesentlichsten Zügen des Charakters gehörte mitleidige Güte; die Pflege und Besorgung einiger Armen und Kranken leistete ihr selbst in ihrer Krankheit ausgezeichnete Dienste, da sie dadurch einen starken Trieb befriedigen konnte. – Ihre Stimmungen hatten immer eine leichte Tendenz zum Übermaße, der Lustigkeit und der Trauer; daher auch einige Launenhaftigkeit. Das sexuale Element war erstaunlich unentwickelt; die Kranke, deren Leben mir durchsichtig wurde, wie selten das eines Menschen einem andern, hatte nie eine Liebe gehabt, und in all den massenhaften Halluzinationen ihrer Krankheit tauchte niemals dieses Element des Seelenlebens empor.

Dieses Mädchen von überfließender geistiger Vitalität führte in der puritanisch gesinnten Familie ein höchst monotones Leben, das sie sich in einer für ihre Krankheit wahrscheinlich maßgebenden Weise verschönerte. Sie pflegte systematisch das Wachträumen, das sie ihr »Privattheater« nannte. Während alle sie anwesend glaubten, lebte sie im Geiste Märchen durch, war aber, angerufen, immer präsent, so daß niemand davon wußte. Neben den Beschäftigungen der Häuslichkeit, die sie tadellos versorgte, ging diese geistige Tätigkeit fast fortlaufend einher. Ich werde dann zu berichten haben, wie unmittelbar diese gewohnheitsmäßige Träumerei der Gesunden in Krankheit überging.

Der Krankheitsverlauf zerfällt in mehrere gut getrennte Phasen; es sind:

A)

Die latente Inkubation. Mitte Juli 1880 bis etwa 10. Dezember. In dieser Phase, die sich in den meisten Fällen unserer Kenntnis entzieht, gewährte die Eigenart dieses Falles so vollständigen Einblick, daß ich schon deshalb sein pathologisches Interesse nicht gering anschlage. Ich werde diesen Teil der Geschichte später darlegen.

B)

Die manifeste Erkrankung; eine eigentümliche Psychose, Paraphasie, Strabismus convergens, schwere Sehstörungen, Kontrakturlähmungen, vollständig in der rechten oberen, beiden unteren Extremitäten, unvollständig in der linken oberen Extremität, Parese der Nackenmuskulatur. Allmähliche Reduktion der Kontraktur auf die rechtsseitigen Extremitäten. Einige Besserung, unterbrochen durch ein schweres psychisches Trauma (Tod des Vaters) im April, auf welches

C)

eine Periode andauernden Somnambulismus folgt, der dann mit normaleren Zuständen alterniert; Fortbestand einer Reihe von Dauersymptomen bis Dezember 1881.

D)

Allmähliche Abwicklung der Zustände und Phänomene bis Juni 1882.

Im Juli 1880 erkrankte der Vater der Patientin, den sie leidenschaftlich liebte, an einem peripleuritischen Abszesse, der nicht ausheilte und dem er im April 1881 erlag. Während der ersten Monate dieser Erkrankung widmete sich Anna der Krankenpflege mit der ganzen Energie ihres Wesens, und es nahm niemand sehr wunder, daß sie dabei allmählich stark herabkam. Niemand, vielleicht auch die Kranke selbst nicht, wußte, was in ihr vorging; allmählich aber wurde ihr Zustand von Schwäche, Anämie, Ekel vor Nahrung so schlimm, daß sie zu ihrem größten Schmerze von der Pflege des Kranken entfernt wurde. Den unmittelbaren Anlaß bot ein höchst intensiver Husten, wegen dessen ich sie zum ersten Male untersuchte. Es war eine typische Tussis nervosa. Bald wurde ein auffallendes Ruhebedürfnis in den Nachmittagsstunden deutlich, an welches sich abends ein schlafähnlicher Zustand und dann starke Aufregung anschloß.

Anfangs Dezember entstand Strabismus convergens. Ein Augenarzt erklärte diesen (irrigerweise) durch Parese des einen Abduzens. Am 11. Dezember wurde Patientin bettlägerig und blieb es bis 1. April.

In rascher Folge entwickelte sich, anscheinend ganz frisch, eine Reihe schwerer Störungen.

Linksseitiger Hinterkopfschmerz; Strabismus convergens (Diplopie) durch Aufregung bedeutend gesteigert; Klage über Herüberstürzen der Wand (Obliquusaffektion). Schwer analysierbare Sehstörungen; Parese der vorderen Halsmuskeln, so daß der Kopf schließlich nur dadurch bewegt wurde, daß Patientin ihn nach rückwärts zwischen die gehobenen Schultern preßte und sich mit dem ganzen Rücken bewegte. Kontraktur und Anästhesie der rechten oberen, nach einiger Zeit der rechten unteren Extremität; auch diese völlig gestreckt, adduziert und nach innen rotiert; später tritt dieselbe Affektion an der linken unteren Extremität und zuletzt am linken Arme auf, an welchem aber die Finger einigermaßen beweglich blieben. Auch die Schultergelenke beiderseits waren nicht völlig rigide. Das Maximum der Kontraktur betrifft die Muskeln des Oberarmes, wie auch später, als die Anästhesie genauer geprüft werden konnte, die Gegend des Ellbogens sich als am stärksten unempfindlich erwies. Im Beginne der Krankheit blieb die Anästhesieprüfung ungenügend, wegen des aus Angstgefühlen entspringenden Widerstandes der Patientin.

In diesem Zustande übernahm ich die Kranke in meine Behandlung und konnte mich alsbald von der schweren psychischen Alteration überzeugen, die da vorlag. Es bestanden zwei ganz getrennte Bewußtseinszustände, die sehr oft und unvermittelt abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden. In dem einen kannte sie ihre Umgebung, war traurig und ängstlich, aber relativ normal; im andern halluzinierte sie, war »ungezogen«, d.h. schimpfte, warf die Kissen nach den Leuten, soweit und wenn die Kontraktur dergleichen erlaubte, riß mit den beweglichen Fingern die Knöpfe von Decken und Wäsche u. dgl. mehr. War während dieser Phase etwas im Zimmer verändert worden, jemand gekommen oder hinausgegangen, so klagte sie dann, ihr fehle Zeit, und bemerkte die Lücke im Ablaufe ihrer bewußten Vorstellungen. Da man ihr das, wenn möglich, ableugnete, auf ihre Klage, sie werde verrückt, sie zu beruhigen suchte, folgten auf jedes Polsterschleudern u. dgl. dann noch die Klagen, was man ihr antue, in welcher Unordnung man sie lasse usw.

Diese Absenzen waren schon beobachtet worden, als sie noch außer Bett war; sie blieb dann mitten im Sprechen stecken, wiederholte die letzten Worte, um nach kurzer Zeit weiter fortzufahren. Nach und nach nahm dies die geschilderten Dimensionen an, und während der Akme der Krankheit, als die Kontraktur auch die linke Seite ergriffen hatte, war sie am Tage nur für ganz kurze Zeiten halbwegs normal. Aber auch in die Momente relativ klaren Bewußtseins griffen die Störungen über; rapidester Stimmungswechsel in Extremen, ganz vorübergehende Heiterkeit, sonst schwere Angstgefühle, hartnäckige Opposition gegen alle therapeutischen Maßnahmen, ängstliche Halluzinationen von schwarzen Schlangen, als welche ihre Haare, Schnüre u. dgl. erscheinen. Dabei sprach sie sich immer zu, nicht so dumm zu sein, es seien ja ihre Haare usw. In ganz klaren Momenten beklagte sie die tiefe Finsternis ihres Kopfes, wie sie nicht denken könne, blind und taub werde, zwei Ichs habe, ihr wirkliches und ein schlechtes, das sie zu Schlimmem zwinge usw.

Nachmittags lag sie in einer Somnolenz, die bis etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang dauerte, und dann erwacht, klagte sie, es quäle sie etwas, oder vielmehr sie wiederholte immer den Infinitiv: Quälen, quälen.

Denn zugleich mit der Ausbildung der Kontrakturen war eine tiefe, funktionelle Desorganisation der Sprache eingetreten. Zuerst beobachtete man, daß ihr Worte fehlten, allmählich nahm das zu. Dann verlor ihr Sprechen alle Grammatik, jede Syntax, die ganze Konjugation des Verbums, sie gebrauchte schließlich nur falsch, meist aus einem schwachen Particip-preateriti gebildete Infinitive, keinen Artikel. In weiterer Entwicklung fehlten ihr auch die Worte fast ganz, sie suchte dieselben mühsam aus 4 oder 5 Sprachen zusammen und war dabei kaum mehr verständlich. Bei Versuchen zu schreiben schrieb sie (anfangs, bis die Kontraktur das völlig verhinderte) denselben Jargon. Zwei Wochen lang bestand völliger Mutismus, bei fortwährenden angestrengten Versuchen zu sprechen wurde kein Laut vorgebracht. Hier wurde nun zuerst der psychische Mechanismus der Störung klar. Sie hatte sich, wie ich wußte, über etwas sehr gekränkt und beschlossen, nichts davon zu sagen. Als ich das erriet und sie zwang, davon zu reden, fiel die Hemmung weg, die vorher auch jede andere Äußerung unmöglich gemacht hatte.

Dies fiel zeitlich zusammen mit der wiederkehrenden Beweglichkeit der linksseitigen Extremitäten, März 1881; die Paraphasie wich, aber sie sprach jetzt nur Englisch, doch anscheinend, ohne es zu wissen; zankte mit der Wärterin, die sie natürlich nicht verstand; erst mehrere Monate später gelang mir, sie davon zu überzeugen, daß sie Englisch rede. Doch verstand sie selbst noch ihre Deutsch sprechende Umgebung. Nur in Momenten großer Angst versagte die Sprache vollständig oder sie mischte die verschiedensten Idiome durcheinander. In den allerbesten, freiesten Stunden sprach sie Französisch oder Italienisch. Zwischen diesen Zeiten und denen, in welchen sie Englisch sprach, bestand völlige Amnesie. Nun nahm auch der Strabismus ab und erschien schließlich nur mehr bei heftiger Aufregung, der Kopf wurde wieder getragen. Am 1. April verließ sie zum ersten Male das Bett.

Da starb am 5. April der von ihr vergötterte Vater, den sie während ihrer Krankheit nur sehr selten für kurze Zeit gesehen hatte. Es war das schwerste psychische Trauma, das sie treffen konnte. Gewaltiger Aufregung folgte ein tiefer Stupor etwa zwei Tage lang, aus dem sie sich in sehr verändertem Zustand erhob. Zunächst war sie viel ruhiger und das Angstgefühl wesentlich vermindert. Die Kontraktur des rechten Armes und Beines dauerte fort, ebenso die, nicht tiefe, Anästhesie dieser Glieder. Es bestand hochgradige Gesichtsfeldeinengung. Von einem Blumenstrauße, der sie sehr erfreute, sah sie immer nur eine Blume zugleich. Sie klagte, daß sie die Menschen nicht erkenne. Sonst habe sie die Gesichter erkannt, ohne willkürlich dabei arbeiten zu müssen; jetzt müsse sie bei solchem, sehr mühsamen »recognising work« sich sagen, die Nase sei so, die Haare so, folglich werde das der und der sein. Alle Menschen wurden ihr wie Wachsfiguren, ohne Beziehung auf sie. Sehr peinlich war ihr die Gegenwart einiger nahen Verwandten, und dieser »negative Instinkt« wuchs fortwährend. Trat jemand ins Zimmer, den sie sonst gern gesehen hatte, so erkannte sie ihn, war kurze Zeit präsent, dann versank sie wieder in ihr Brüten, und der Mensch war ihr entschwunden. Nur mich kannte sie immer, wenn ich eintrat, blieb auch immer präsent und munter, solange ich mit ihr sprach, bis auf die immer ganz plötzlich dazwischen fahrenden halluzinatorischen Absenzen.

Sie sprach nun nur Englisch und verstand nicht, was man ihr deutsch sagte. Ihre Umgebung mußte Englisch mit ihr sprechen; selbst die Wärterin lernte sich einigermaßen so verständigen. Sie las aber Französisch und Italienisch; sollte sie es vorlesen, so las sie mit staunenerregender Geläufigkeit, fließend, eine vortreffliche englische Übersetzung des Gelesenen vom Blatte.

Sie begann wieder zu schreiben, aber in eigentümlicher Weise; sie schrieb mit der gelenken, linken Hand, aber Antiqua-Druckbuchstaben, die sie sich aus ihrem Shakespeare zum Alphabet zusammengesucht hatte.

Hatte sie früher schon minimal Nahrung genommen, so verweigerte sie jetzt das Essen vollständig, ließ sich aber von mir füttern, so daß ihre Ernährung rasch zunahm. Nur Brot zu essen verweigerte sie immer. Nach der Fütterung aber unterließ sie nie den Mund zu waschen, und tat dies auch, wenn sie aus irgend einem Grunde nichts gegessen hatte; ein Zeichen, wie abwesend sie dabei war.

Die Somnolenz am Nachmittag und der tiefe Sopor um Sonnenuntergang dauerten an. Hatte sie sich dann ausgesprochen (ich werde später genauer hierauf eingehen müssen), so war sie klar, ruhig, heiter.

Dieser relativ erträgliche Zustand dauerte nicht lange. Etwa 10 Tage nach ihres Vaters Tode wurde ein Consiliarius beigezogen, den sie wie alle Fremden absolut ignorierte, als ich ihm alle ihre Sonderbarkeiten demonstrierte. »That's like an examination«, sagte sie lachend, als ich sie einen französischen Text auf englisch vorlesen ließ. Der fremde Arzt sprach drein, versuchte sich ihr bemerklich zu machen; vergebens. Es war die richtige »negative Halluzination«, die seitdem so oft experimentell hergestellt worden ist. Endlich gelang es ihm, diese zu durchbrechen, indem er ihr Rauch ins Gesicht blies. Plötzlich sah sie einen Fremden, stürzte zur Türe, den Schlüssel abzuziehen, fiel bewußtlos zu Boden; dann folgte ein kurzer Zorn- und dann ein arger Angstanfall, den ich mit großer Mühe beruhigte. Unglücklicherweise mußte ich denselben Abend abreisen, und als ich nach mehreren Tagen zurückkam, fand ich die Kranke sehr verschlimmert. Sie hatte die ganze Zeit vollständig abstiniert, war voll Angstgefühlen, ihre halluzinatorischen Absenzen erfüllt von Schreckgestalten, Totenköpfen und Gerippen. Da sie, diese Dinge durchlebend, sie teilweise sprechend tragierte, kannte die Umgebung meist den Inhalt dieser Halluzinationen. Nachmittags Somnolenz, um Sonnenuntergang die tiefe Hypnose, für die sie den technischen Namen »clouds« (Wolken) gefunden hatte. Konnte sie dann die Halluzinationen des Tages erzählen, so erwachte sie klar, ruhig, heiter, setzte sich zur Arbeit, zeichnete oder schrieb die Nacht durch, völlig vernünftig; ging gegen 4 Uhr zu Bett, und am Morgen begann dieselbe Szene wieder, wie tags zuvor. Der Gegensatz zwischen der unzurechnungsfähigen, von Halluzinationen gehetzten Kranken am Tage und dem geistig völlig klaren Mädchen bei Nacht war höchst merkwürdig.

Trotz dieser nächtlichen Euphorie verschlechterte sich der psychische Zustand doch immer mehr; es traten intensive Selbstmordimpulse auf, die den Aufenthalt in einem 3. Stockwerke untunlich erscheinen ließen. Die Kranke wurde darum gegen ihren Willen in ein Landhaus in der Nähe von Wien gebracht (7. Juni 1881). Diese Entfernung vom Hause, die sie perhorreszierte, hatte ich nie angedroht, sie selbst aber im stillen erwartet und gefürchtet. Es wurde nun auch bei diesem Anlasse wieder klar, wie dominierend der Angstaffekt die psychische Störung beherrschte. Wie nach des Vaters Tod ein Ruhezustand eingetreten war, so beruhigte sie sich auch jetzt, als das Gefürchtete geschehen war. Allerdings nicht, ohne daß die Transferierung unmittelbar von drei Tagen und Nächten gefolgt gewesen wäre, absolut ohne Schlaf und Nahrung, voll von (im Garten allerdings ungefährlichen) Selbstmordversuchen, Fensterzerschlagen u. dgl., Halluzinationen ohne Absenz, die sie von den anderen ganz wohl unterschied. Dann beruhigte sie sich, nahm Nahrung von der Wärterin und sogar abends Chloral.

Bevor ich den weiteren Verlauf schildere, muß ich noch einmal zurückgreifen und eine Eigentümlichkeit des Falles darstellen, die ich bisher nur flüchtig gestreift habe.

Es wurde schon bemerkt, daß im ganzen bisherigen Verlaufe täglich nachmittags eine Somnolenz die Kranke befiel, die um Sonnenuntergang in tieferen Schlaf überging (clouds). (Es ist wohl plausibel, diese Periodizität einfach aus den Umständen der Krankenpflege abzuleiten, die ihr durch Monate obgelegen hatte. Nachts wachte sie beim Kranken oder lag lauschend und angsterfüllt bis morgens wach in ihrem Bette; nachmittags legte sie sich für einige Zeit zur Ruhe, wie es ja meistens von der Pflegerin geschieht, und dieser Typus der Nachtwache und des Nachmittagsschlafes wurde wohl dann in ihre eigene Krankheit hinüber verschleppt und bestand fort, als an Stelle des Schlafes schon lange ein hypnotischer Zustand getreten war.) Hatte der Sopor etwa eine Stunde gedauert, so wurde sie unruhig, wälzte sich hin und her und rief immer wieder: »Quälen, quälen«, immer mit geschlossenen Augen. Anderseits war bemerkt worden, daß sie in ihren Absenzen während des Tages offenbar immer irgendeine Situation oder Geschichte ausbilde, über deren Beschaffenheit einzelne gemurmelte Worte Aufschluß gaben. Nun geschah es, zuerst zufällig, dann absichtlich, daß jemand von der Umgebung ein solches Stichwort fallenließ, während die Patientin über das »Quälen« klagte; alsbald fiel sie ein und begann eine Situation auszumalen oder eine Geschichte zu erzählen, anfangs stockend in ihrem paraphasischen Jargon, je weiter, desto fließender, bis sie zuletzt ganz korrektes Deutsch sprach. (In der ersten Zeit, bevor sie völlig ins Englischsprechen geraten war.) Die Geschichten, immer traurig, waren teilweise sehr hübsch, in der Art von Andersens »Bilderbuch ohne Bilder« und wahrscheinlich auch nach diesem Muster gebildet; meist war Ausgangs- oder Mittelpunkt die Situation eines bei einem Kranken in Angst sitzenden Mädchens; doch kamen auch ganz andere Motive zur Verarbeitung. – Einige Momente nach Vollendung der Erzählung erwachte sie, war offenbar beruhigt oder, wie sie es nannte, »gehäglich« (behaglich). Nachts wurde sie dann wieder unruhiger, und am Morgen, nach zweistündigem Schlafe, war sie offenbar wieder in einem andern Vorstellungskreise. – Konnte sie mir in der Abendhypnose einmal die Geschichte nicht erzählen, so fehlte die abendliche Beruhigung, und am andern Tage mußten zwei erzählt werden, um diese zu bewirken.

Das Wesentliche der beschriebenen Erscheinung, die Häufung und Verdichtung ihrer Absenzen zur abendlichen Autohypnose, die Wirksamkeit der phantastischen Produkte als psychischer Reiz und die Erleichterung und Behebung des Reizzustandes durch die Aussprache in der Hypnose, blieben durch die ganzen anderthalb Jahre der Beobachtung konstant.

Nach dem Tode des Vaters wurden die Geschichten natürlich noch tragischer, aber erst mit der Verschlimmerung ihres psychischen Zustandes, welche der erzählten gewaltsamen Durchbrechung ihres Somnambulismus folgte, verloren die abendlichen Referate den Charakter mehr oder minder freier poetischer Schöpfung und wandelten sich in Reihen furchtbarer, schreckhafter Halluzinationen, die man tagsüber schon aus dem Benehmen der Kranken hatte erschließen können. Ich habe aber schon geschildert, wie vollständig die Befreiung ihrer Psyche war, nachdem sie, von Angst und Grauen geschüttelt, alle diese Schreckbilder reproduziert und ausgesprochen hatte.

Auf dem Lande, wo ich die Kranke nicht täglich besuchen konnte, entwickelte sich die Sache in folgender Weise: Ich kam abends, wenn ich sie in ihrer Hypnose wußte, und nahm ihr den ganzen Vorrat von Phantasmen ab, den sie seit meinem letzten Besuch angehäuft hatte. Das mußte ganz vollständig geschehen, wenn der gute Erfolg erreicht werden sollte. Dann war sie ganz beruhigt, den nächsten Tag liebenswürdig, fügsam, fleißig, selbst heiter; den zweiten immer mehr launisch, störrig, unangenehm, was am dritten noch weiter zunahm. In dieser Stimmung, auch in der Hypnose, war sie nicht immer leicht zum Aussprechen zu bewegen, für welche Prozedur sie den guten, ernsthaften Namen »talking cure« (Redekur) und den humoristischen »chimney-sweeping« (Kaminfegen) erfunden hatte. Sie wußte, daß sie nach der Aussprache all ihre Störrigkeit und »Energie« verloren haben werde, und wenn sie nun schon (nach längerer Pause) in böser Laune war, so weigerte sie das Reden, das ich ihr mit Drängen und Bitten und einigen Kunstgriffen, wie dem Vorsprechen einer stereotypen Eingangsformel ihrer Geschichten, abzwingen mußte. Immer aber sprach sie erst, nachdem sie sich durch sorgfältige Betastung meiner Hände von meiner Identität überzeugt hatte. In den Nächten, wo die Beruhigung durch Aussprache nicht erfolgte, mußte man sich mit Chloral helfen. Ich hatte es früher einigemal versucht, mußte aber 5 Gramm geben, und dem Schlafe ging ein stundenlanger Rausch vorher, der in meiner Gegenwart heiter war, in meiner Abwesenheit aber als höchst unangenehmer ängstlicher Aufregungszustand auftrat. (Beiläufig bemerkt, änderte dieser schwere Rausch nichts an der Kontraktur.) Ich hatte die Narcotica vermeiden können, weil die Aussprache mindestens Beruhigung, wenn auch nicht Schlaf brachte. Auf dem Lande waren die Nächte zwischen den hypnotischen Erleichterungen so unerträglich, daß man doch zum Chloral seine Zuflucht nehmen mußte; allmählich brauchte sie auch weniger davon.

Der dauernde Somnambulismus blieb verschwunden; dagegen bestand der Wechsel zweier Bewußtseinszustände fort. Mitten im Gespräch halluzinierte sie, lief weg, versuchte auf einen Baum zu steigen u. dgl. Hielt man sie fest, so sprach sie nach kürzester Zeit im unterbrochenen Satze wieder fort, ohne von dem Dazwischenliegenden zu wissen. Aber in der Hypnose erschienen dann all diese Halluzinationen im Referate.

Im ganzen besserte sich der Zustand; die Ernährung war gut möglich, sie ließ sich von der Wärterin das Essen in den Mund führen, nur Brot verlangte sie, refusierte es aber, sowie es die Lippen berührte; die Kontrakturparese des Beines nahm wesentlich ab; auch gewann sie richtige Beurteilung und große Anhänglichkeit für den Arzt, der sie besuchte, meinen Freund Dr. B. Große Hilfe gewährte ein Neufundländer, den sie bekommen hatte und leidenschaftlich liebte. Dabei war es prächtig anzusehen, wie einmal, als dieser Liebling eine Katze angriff, das schwächliche Mädchen die Peitsche in die linke Hand nahm und das riesige Tier damit behandelte, um sein Opfer zu retten. Später besorgte sie einige arme Kranke, was ihr sehr nützlich war.

Den deutlichsten Beweis für die pathogene, reizende Wirkung der in den Absenzen, ihrer »condition seconde« produzierten Vorstellungskomplexe und für ihre Erledigung durch die Aussprache in Hypnose erhielt ich bei meiner Rückkehr von einer mehrwöchentlichen Ferialreise. Während dieser war keine »talking cure« vorgenommen worden, da die Kranke nicht zu bewegen war, jemand anderen als mir zu erzählen, auch nicht Dr. B., dem sie sonst herzlich zugetan geworden war. Ich fand sie in einem traurigen moralischen Zustande, träge, unfügsam, launisch, selbst boshaft. Bei den abendlichen Erzählungen stellte sich heraus, daß ihre phantastisch-poetische Ader offenbar im Versiegen begriffen war; es wurden immer mehr und mehr Referate über ihre Halluzinationen und über das, was sie etwa in den verflossenen Tagen geärgert; phantastisch eingekleidet, aber mehr nur durch feststehende phantastische Formeln ausgedrückt, als zu Poemen ausgebaut. Ein erträglicher Zustand wurde aber erst erreicht, als ich Patientin für eine Woche in die Stadt hereinkommen ließ und ihr nun Abend für Abend 3–5 Geschichten abrang. Als ich damit fertig war, war alles aufgearbeitet, was sich in den Wochen meiner Abwesenheit aufgehäuft hatte. Nun erst stellte sich jener Rhythmus ihres psychischen Befindens wieder her, daß sie am Tage nach einer Aussprache liebenswürdig und heiter, am zweiten reizbarer und unangenehmer und am dritten recht »zuwider« war. Ihr moralischer Zustand war eine Funktion der seit der letzten Aussprache verflossenen Zeit, weil jedes spontane Produkt ihrer Phantasie und jede von dem kranken Teil ihrer Psyche aufgefaßte Begebenheit als psychischer Reiz so lange fortwirkte, bis es in der Hypnose erzählt, hiermit aber auch die Wirksamkeit völlig beseitigt war.

Als Patientin im Herbste wieder in die Stadt kam (in eine andere Wohnung als die, in der sie erkrankt war), war der Zustand erträglich, sowohl körperlich als geistig, indem recht wenig, eigentlich nur eingreifendere Erlebnisse, krankhaft zu psychischen Reizen verarbeitet wurden. Ich hoffte eine fortlaufend zunehmende Besserung, wenn durch regelmäßige Aussprache die dauernde Belastung ihrer Psyche mit neuen Reizen verhindert wurde. Zunächst wurde ich enttäuscht. Im Dezember verschlimmerte sich ihr psychischer Zustand wesentlich, sie war wieder aufgeregt, traurig verstimmt, reizbar und hatte kaum mehr »ganz gute Tage«, auch wenn nichts Nachweisbares in ihr »steckte«. Ende Dezember, in der Weihnachtszeit, war sie besonders unruhig und erzählte dann durch die ganze Woche abends nichts Neues, sondern die Phantasmen, die sie unter der Herrschaft starker Angstaffekte in der Festzeit 1880 Tag für Tag ausgearbeitet hatte. Nach Beendigung der Serie große Erleichterung.

Es hatte sich nun gejährt, daß sie vom Vater getrennt, bettlägerig geworden war, und von da an klärte und systemisierte sich der Zustand in sehr eigentümlicher Weise. Die beiden Bewußtseinszustände, die alternierend bestanden, immer so, daß vom Morgen an mit vorschreitendem Tage die Absenzen, d.h. das Auftreten der condition seconde immer häufiger ward und abends nur diese allein bestand – die beiden Zustände differierten nicht bloß wie früher darin, daß sie in dem einen (ersten) normal und im zweiten alieniert war, sondern sie lebte im ersten wie wir anderen im Winter 1881–82, im zweiten Zustand aber im Winter 1880–81, und alles später Vorgefallene war darin völlig vergessen. Nur das Bewußtsein davon, daß der Vater gestorben sei, schien meist doch zu bestehen. Die Rückversetzung in das vorhergegangene Jahr geschah so intensiv, daß sie in der neuen Wohnung ihr früheres Zimmer halluzinierte und, wenn sie zur Türe gehen wollte, an den Ofen anrannte, der zum Fenster so stand wie in der alten Wohnung die Zimmertür. Der Umschlag aus einem Zustand in den andern erfolgte spontan, konnte aber auch mit der größten Leichtigkeit hervorgerufen werden durch irgendeinen Sinneseindruck, der lebhaft an das frühere Jahr erinnerte. Es genügte, ihr eine Orange vorzuhalten (ihre Hauptnahrung während der ersten Zeit ihrer Erkrankung), um sie aus dem Jahre 1882 ins Jahr 1881 hinüberzuwerfen. Diese Rückversetzung in vergangene Zeit erfolgte aber nicht in allgemeiner, unbestimmter Weise, sondern sie durchlebte Tag für Tag den vorhergegangenen Winter. Ich hätte das nur vermuten können, wenn sie nicht täglich in der Abendhypnose sich das abgesprochen hätte, was 1881 an diesem Tage sie erregt hatte, und wenn nicht ein geheimes Tagebuch der Mutter aus dem Jahre 1881 die unverbrüchliche Richtigkeit der zugrunde liegenden Tatsachen bewiesen hätte. Dieses Wiederdurchleben des verflossenen Jahres dauerte fort bis zum definitiven Abschluß der Krankheit im Juni 1882.

Dabei war es sehr interessant zu sehen, wie auch diese wiederauflebenden psychischen Reize aus dem zweiten Zustande in den ersten, normaleren herüberwirkten. Es kam vor, daß die Kranke mir am Morgen lachend sagte, sie wisse nicht, was sie habe, sie sei böse auf mich; dank dem Tagebuche wußte ich, um was es sich handelte und was auch richtig in der Abendhypnose wieder durchgemacht wurde. Ich hatte Patientin im Jahre 1881 an diesem Abende sehr geärgert. Oder sie sagte, es sei was mit ihren Augen los, sie sehe die Farben falsch; sie wisse, daß ihr Kleid braun sei, und doch sehe sie es blau. Es zeigte sich alsbald, daß sie alle Farben der Prüfungspapiere richtig und scharf unterschied und daß die Störung nur an dem Stoff ihres Kleides hafte. Der Grund war, daß sie sich 1881 in diesen Tagen sehr mit einem Schlafrocke für den Vater beschäftigt hatte, an dem derselbe Stoff, aber blau, verwendet war. Auch war dabei oft ein Vorwirken dieser auftauchenden Erinnerungen deutlich, indem die Störung des normalen Zustandes schon früher eintrat, während die Erinnerung erst allmählich für die condition seconde erwachte.

War die Abendhypnose schon hiedurch reichlich belastet, da nicht bloß die Phantasmen frischer Produktion, sondern auch die Erlebnisse und die »vexations« von 1881 abgesprochen werden mußten, (die Phantasmen von 1881 hatte ich glücklicherweise schon damals abgenommen), so nahm die von Patientin und Arzt zu leistende Arbeitssumme noch enorm zu durch eine dritte Reihe von Einzelstörungen, die ebenfalls auf diese Weise erledigt werden mußten, die psychischen Ereignisse der Krankheitsinkubation von Juli bis Dezember 1880, welche die gesamten hysterischen Phänomene erzeugt hatten und mit deren Aussprache die Symptome verschwanden.

Als das erstemal durch ein zufälliges, unprovoziertes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht. Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen und Patientin hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu können, war es ihr plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber so wie es die Lippen berührte, stieß sie es weg wie ein Hydrophobischer. Dabei war sie offenbar für diese paar Sekunden in einer Absenz. Sie lebte nur von Obst, Melonen u. dgl., um den qualvollen Durst zu mildern. Als das etwa 6 Wochen gedauert hatte, räsonierte sie einmal in der Hypnose über ihre englische Gesellschafterin, die sie nicht liebte, und erzählte dann mit allen Zeichen des Abscheues, wie sie auf deren Zimmer gekommen sei, und da deren kleiner Hund, das ekelhafte Tier, aus einem Glase getrunken habe. Sie habe nichts gesagt, denn sie wolle höflich sein. Nachdem sie ihrem steckengebliebenen Ärger noch energisch Ausdruck gegeben, verlangte sie zu trinken, trank ohne Hemmung eine große Menge Wasser und erwachte aus der Hypnose mit dem Glas an den Lippen. Die Störung war damit für immer verschwunden. Ebenso schwanden sonderbare hartnäckige Marotten, nachdem das Erlebnis erzählt war, welches dazu den Anlaß gegeben hatte. Ein großer Schritt war aber geschehen, als auf dieselbe Weise als erstes der Dauersymptome die Kontraktur des rechten Beines geschwunden war, die allerdings schon vorher sehr abgenommen hatte. Aus diesen Erfahrungen, daß die hysterischen Phänomene bei dieser Kranken verschwanden, sobald in der Hypnose das Ereignis reproduziert war, welches das Symptom veranlaßt hatte – daraus entwickelte sich eine therapeutisch-technische Prozedur, die an logischer Konsequenz und systematischer Durchführung nichts zu wünschen ließ. Jedes einzelne Symptom dieses verwickelten Krankheitsbildes wurde für sich vorgenommen; die sämtlichen Anlässe, bei denen es aufgetreten war, in umgekehrter Reihenfolge erzählt, beginnend mit den Tagen, bevor Patientin bettlägerig geworden, nach rückwärts bis zu der Veranlassung des erstmaligen Auftretens. War dieses erzählt, so war das Symptom damit für immer behoben.

So wurden die Kontrakturparesen und Anästhesien, die verschiedensten Seh- und Hörstörungen, Neuralgien, Husten, Zittern u. dgl. und schließlich auch die Sprachstörungen »wegerzählt«. Als Sehstörungen wurden z.B. einzeln erledigt: der Strabismus conv. mit Doppeltsehen; Ablenkung beider Augen nach rechts, so daß die zugreifende Hand immer links neben das Objekt greift; Gesichtsfeldeinschränkung; zentrale Amblyopie; Makropsie; Sehen eines Totenkopfes an Stelle des Vaters; Unfähigkeit zu lesen. Dieser Analyse entzogen blieben nur einzelne Phänomene, die sich während des Krankenlagers entwickelt hatten, wie die Ausbreitung der Kontrakturparese auf die linke Seite, und die wahrscheinlich auch wirklich keine direkte psychische Veranlassung hatten.

Es erwies sich als ganz untunlich, die Sache abzukürzen, indem man direkt die erste Veranlassung der Symptome in ihre Erinnerung zu evozieren suchte. Sie fand sie nicht, wurde verwirrt, und es ging noch langsamer, als wenn man sie ruhig und sicher den aufgenommenen Erinnerungsfaden nach rückwärts abhaspeln ließ. Da das aber in der Abendhypnose zu langsam ging, weil die Kranke von der »Aussprache« der zwei anderen Serien angestrengt und zerstreut war, auch wohl die Erinnerungen Zeit brauchten, um in voller Lebhaftigkeit sich zu entwickeln, so bildete sich die folgende Prozedur heraus. Ich suchte sie am Morgen auf, hypnotisierte sie (es waren sehr einfache Hypnoseprozeduren empirisch gefunden worden) und fragte sie nun unter Konzentration ihrer Gedanken auf das eben behandelte Symptom um die Gelegenheiten, bei denen es aufgetreten war. Patientin bezeichnete nun in rascher Folge mit kurzen Schlagworten diese äußeren Veranlassungen, die ich notierte. In der Abendhypnose erzählte sie dann, unterstützt durch diese notierte Reihenfolge, ziemlich ausführlich die Begebenheiten. Mit welcher in jedem Sinne erschöpfenden Gründlichkeit das geschah, mag ein Beispiel zeigen. Es war immer vorgekommen, daß Patientin nicht hörte, wenn man sie ansprach. Dieses vorübergehende Nichthören differenzierte sich in folgender Weise:

a) Nicht hören, daß jemand eintrat, in Zerstreutheit. 108 einzeln detaillierte Fälle davon; Angabe der Personen und Umstände, oft des Datums; als erster, daß sie ihren Vater nicht eintreten gehört;

b) nicht verstehen, wenn mehrere Personen sprechen, 27mal, das erstemal wieder der Vater und ein Bekannter;

c) nicht hören, wenn allein, direkt angesprochen, 50mal; Ursprung, daß der Vater vergebens sie um Wein angesprochen;

d) Taubwerden durch Schütteln (im Wagen o. dgl.) 15mal; Ursprung, daß ihr junger Bruder sie im Streite geschüttelt, als er sie nachts an der Türe des Krankenzimmers lauschend ertappte;

e) Taubwerden vor Schreck über ein Geräusch, 37mal; Ursprung ein Erstickungsanfall des Vaters durch Verschlucken;

f) Taubwerden in tiefer Absenz, 12mal;

g) Taubwerden durch langes Horchen und Lauschen, so daß sie dann angesprochen nicht hörte, 54mal.