Hearts & Horses – Reiten, Rockstar und das große Glück - Sabrina Qunaj - E-Book

Hearts & Horses – Reiten, Rockstar und das große Glück E-Book

Sabrina Qunaj

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Beschreibung

Ein Pferdesommer zum Verlieben

Herzklopfen im Pferdestall? Das hätte Mia nie für möglich gehalten. Aber als sie Arvid begegnet, liegt das Glück der Erde plötzlich nicht mehr nur auf dem Rücken der Pferde ...

Mia liebt Pferde über alles, besonders den Lusitano ihrer Mutter. Als er verkauft wird, schwört Mia, ihn eines Tages zurückzuholen. Aber als sie den Wallach tatsächlich wiedertrifft, ist er völlig verändert und lässt niemanden mehr an sich heran – mit Ausnahme eines Jungen namens Arvid.
Auch Mia fühlt sich zunehmend zu Arvid hingezogen und kann die Schmetterlinge in ihrem Bauch bald nicht mehr verleugnen. Doch dann erfährt sie, dass Arvid kein gewöhnlicher Junge ist! Diese Erkenntnis verändert alles, und die märchenhafte Zeit auf dem Pferdehof droht jäh zu enden ...

Start einer emotionalen Pferdereihe, die Mädchenherzen höher schlagen lässt.

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sabrina Qunaj

Reiten, Rockstar und das große Glück

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2025 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Alle Rechte vorbehalten

Text: © 2025 by Sabrina Qunaj

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Umschlaggestaltung: © Carolin Liepins, München unter Verwendung von Bildmaterial von © Shutterstock.com (tuliart24, Khalid Mahamood, MagicPics, Graphic_Expert, Flame of life, designfourmonths, albatros-design, KDdesign_photo_video)

ah · Herstellung: AW

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33137-5V002

www.cbj-verlag.de

Für meine entzückende Nichte Juno

Prolog

Die beiden fremden Männer schlossen die Ladeklappe des Pferdetransporters und versperrten Mia damit den letzten Blick auf das schönste Andenken an ihre Mutter. Sie verriegelten die Sicherungen und wandten sich dann ihrem Vater zu. Letzte Worte wurden ausgetauscht, Hände geschüttelt, aber Mia sah all das verschwommen wie das Bild in einer Schneekugel.

Wortlos sah sie die Männer mit den simplen T-Shirts, knielangen Hosen und festen Arbeitsschuhen an. Sie waren jetzt Tiagos neue Besitzer. Ganz normale Kerle von irgendeinem Pferdehof bei Dortmund. Er lag über 500 Kilometer südlich von hier, sie hatte es gegoogelt. Eine Ewigkeit weit weg.

Mia konnte nicht sagen, ob die beiden gut für das Pferd ihrer Mutter sorgen würden oder ob sie grausam waren, sie wusste nichts über sie! Anhand ihrer Namen war sie im Internet nicht weit gekommen und der Hof hatte keine Webpräsenz. Tiago drohte einfach zu verschwinden.

»Es wird ihm gut gehen«, erklang die Stimme ihrer Großmutter wie aus weiter Ferne. Omile, wie Mia sie immer nannte, war nach dem Tod von Mias Mutter vor drei Wochen bei ihnen eingezogen. Sie war selbst Witwe und vor Kurzem in Rente gegangen. Sie wollte ihrem Sohn und ihrer Enkelin in dieser schweren Zeit zur Seite stehen.

Mia spürte Omiles festen Griff an ihrer Schulter, aber auch der kam ihr unecht vor. »Das wissen wir nicht«, sagte sie leise.

Schweigen antwortete ihr und Mia war froh darüber. Sie wollte nicht getröstet werden und keine hoffnungsvollen Worte mehr hören. Sie konnte noch nicht einmal mehr weinen. Tränen hatte sie in den letzten Tagen zu viele vergossen, jetzt fühlte sie sich leer.

Die beiden Männer stiegen ins Fahrerhaus des Transporters und starteten den Motor. Ihr blieb nichts, als Tiago hinterherzublicken.

Ich hole dich zurück, dachte sie und das Festhalten an diesem Plan war das Einzige, das ihr die Kraft gab, stehen zu bleiben und ihm nicht schreiend und flehend nachzulaufen. Ich hole dich zurück nach Hause, irgendwie schaffe ich das.

»Es ist besser so«, sagte Mias Vater und trat zu ihr und Omile. Er war kräftig und groß, mit dichten, dunklen Haaren und einem gepflegten, kurzen Bart. Und er war wie immer schick angezogen mit schwarzer Hose und Hemd, weil es ihm als Immobilienmakler wichtig war, einen guten Eindruck zu machen. Selbst wenn er gerade nicht arbeitete, sondern im Hof eines Reitstalls stand. »Irgendwann wirst du das erkennen, Mia. Später würde der Abschied noch schwerer fallen. Und wir haben einen guten Platz für ihn gefunden.«

Einen guten Platz? Nach zwei Wochen Suche? Das alles ging zu schnell! Ihre Mutter war gestorben, ein paar Tage später hatte schon die Beerdigung stattgefunden und dann hatte ihr Vater beschlossen, Tiago zu verkaufen. Mia hatte den Eindruck, dass er ihn einfach nur loswerden wollte und ihn weit unter seinem Wert angeboten hatte. Tiago war mit ihrer Mutter erfolgreich Dressurturniere gegangen, obwohl er als Lusitano in diesem Sport eher die Ausnahme war. Barockpferde sah man mehr in Shows, in klassischer höfischer Reitweise, und kaum in der englischen Dressur, wo meist Warmblüter wie Trakehner, Hannoveraner und Oldenburger punkteten. Aber Tiagos gute Ausbildung und seine schönen Gänge hatten die Richter immer beeindruckt. Außerdem kannte er ganz viele Zirkustricks und liebte die Freiarbeit, die Mia und ihre Mutter mit ihm gemacht hatten. Mit seinen dreizehn Jahren war er auch noch im besten Alter, er war unerschrocken und geduldig. Doch ihrem Vater war es nur darum gegangen, einen Schlussstrich zu ziehen.

Nichts davon sprach Mia aus, denn sie hatte längst alles gesagt. Im Moment wollte sie ihren Vater nicht einmal anschauen. Nicht nur, weil sie wegen Tiagos Verkauf so viel Wut in sich verschlossen hielt, sondern auch, weil er nur noch ein Schatten seiner selbst war, seit seine Frau mit ihrer Freundin ausgeritten und nie mehr zurückgekehrt war.

Den Schmerz in seinem Gesicht zu sehen, tat Mia weh. Dann wusste sie gar nicht mehr, was sie fühlen sollte, alles geriet durcheinander. Sie war ihm so böse, weil er über Tiago einfach entschieden hatte, als wäre er nur ein Ding und nicht Teil der Familie – als wäre Mia nicht auf seinem Rücken großgeworden! Aber andererseits tat ihr Vater ihr auch leid, weil sie genau wusste, wie traurig er war. Sie fühlte sich ja selbst so.

Das Leben muss weitergehen, sagte er immer wieder, aber wie sollte es denn? Tiago zu verkaufen, brachte ihre Mutter auch nicht zurück.

»Ach Mia, sieh mich nicht so an.« Ihr Vater legte ihr die Hand an die Wange, eine jetzt schmucklose Hand ohne Ehering, und lehnte sich zu ihr hinunter. »Pferde sind gefährlich, das habe ich schon immer gesagt und leider sollte ich recht behalten. Das musst du doch jetzt endlich einsehen. Ich werde nicht riskieren, dass du auch noch verunglückst.«

»Es war doch nicht Tiagos Schuld! Mama ist ja nicht einmal auf ihm geritten! Sie war auf Peppino unterwegs, und der ist gestürzt. Auch er konnte nichts dafür.«

Ihr Vater schloss kurz die Augen, atmete tief ein und aus. »Ja, das Pferd hatte keine böse Absicht. Aber so wie Peppino gestürzt ist, so kann es auch Tiago und jedem anderen Pferd passieren. Diese Tiere sind groß und schwer und man sitzt ohne Schutz bei viel zu hohen Geschwindigkeiten auf ihnen. Fakt ist nun einmal: Wäre deine Mutter nicht auf einem Pferd geritten, würde sie noch leben.«

»Lukas …«, mahnte Omile und legte Mia beschützend den Arm um die Schultern.

Mia wandte den Blick ab und schluckte alle Widerworte hinunter. Sie hatten dieses Gespräch schon zu oft geführt. Sie wusste, es war sinnlos, die Meinung ihres Vaters ändern zu wollen. Sie musste selbst handeln, auch wenn sie noch keinen Plan hatte, wie sie Tiago je zurückbekommen sollte. Sie hatte kein Geld und keine Möglichkeiten, ihn zu transportieren und einzustellen. Sie war machtlos. Aber ihn loslassen konnte sie einfach nicht. Sie durfte nichts unversucht lassen.

Ihr Vater richtete sich wieder auf, strich sich mit beiden Händen durch die Haare und seufzte dann laut, als er die Stallbesitzer Lisa und Emil vom Wohnhaus in ihre Richtung kommen sah. Das Ehepaar sah betroffen drein, Lisa schimmerten sogar Tränen in den Augen. Die beiden betrieben den Reitstall zusammen, der schon seit vielen Generationen im Familienbesitz war. Ihre Tochter Karo war mit Mia befreundet, unter der Woche aber im Internat und deshalb heute nicht da.

»Ist Tiago schon weg?«, wollte Lisa wissen und blickte mit gerunzelter Stirn die von Weiden gesäumte Auffahrt hinunter. Dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr. »Ich dachte, sie wollten erst in einer Stunde kommen.«

»Wenig Verkehr«, erwiderte Mias Vater mit rauer Stimme. Ihm war anzuhören, dass er nicht mehr reden und nur noch von hier wegwollte.

Lisa wischte sich verstohlen über die Wange. Auch sie hatte in letzter Zeit viel geweint. Sie und Mias Mutter waren enge Freundinnen gewesen und Lisa hatte den Unfall miterlebt. Für den gemeinsamen Ausritt hatte sie eines von ihren Pferden – Peppino – an Mias Mutter verliehen, weil Tiago frisch geimpft worden war. Und dann war Peppino im Galopp in einer Kurve ausgerutscht und gefallen. Auf Mias Mutter.

»Ihr wisst, ihr seid hier immer willkommen. Wenn Mia reiten möchte, kann sie jederzeit eines der Schulpferde nehmen und mit Karo zusammen …«

»Danke.« Mias Vater reichte Lisa die Hand und sein Blick machte klar, dass er kein Wort mehr hören wollte. Nichts erinnerte mehr an den gut gelaunten Mann, der auf den Hof gekommen war, um mit Emil ein Bier zu trinken, während die Frauen Wendy spielten und mit den Pferden herumtütelten, wie er oft scherzhaft gesagt hatte. Er war nie ein Freund des Reitsports gewesen, aber er hatte das Hobby seiner Frau und seiner Tochter akzeptiert und sogar manchmal unterstützt.

Lisa schlug mit zusammengepressten Lippen ein. Sie schien zu verstehen, dass das sein letztes Wort war. Auch sie hatte in den letzten Wochen versucht, ihn von einer übereilten Entscheidung abzubringen. Aber wenn es nach ihm ging, war dies ein Abschied für immer.

Mia und er würden nie wieder einen Fuß in einen Reitstall setzen.

1  Mia

Knapp 2 Jahre später

Mia verteilte die bunten Muffinförmchen in die Mulden des dafür vorgesehenen Backblechs und sortierte sie dabei nach Farben. Andächtig betrachtete sie den von ihr geschaffenen Regenbogen. Dabei drifteten ihre Gedanken zum bevorstehenden Sommer ab. Sie war so froh, dass die Schule endlich vorbei war, und hatte sich fest vorgenommen, die Ferien zu genießen. Das letzte Jahr war irgendwie nur an ihr vorübergezogen. Es war der erste Sommer ohne ihre Mutter gewesen, ohne Pferde, ohne Tiago, und sie hatte gar nichts mit sich anzufangen gewusst. Aber nun hatte sie jede Jahreszeit und jeden Feiertag mindestens einmal ohne ihre Mutter verbracht. Diesen Sommer wollte sie endlich wieder richtig leben und freute sich aufs Freibad, die Eisdiele, den Strand und viele, viele Stunden des Lesens draußen im Garten.

»Mia, träumst du schon wieder?« Omile kam mit der Rührschüssel in der Hand heran und reichte ihr den von Teig triefenden Kochlöffel. »Ablecken?«

Mia nahm den Holzlöffel lächelnd entgegen und ließ sich damit auf dem Hocker an der Frühstückstheke nieder. »Oh wow, so lecker!«, sagte sie, als sie den Teig probierte.

Omile nickte zufrieden und goss die Masse in die Förmchen. »Dein Vater wird sich freuen, wenn er von der Arbeit kommt.«

»Ja, total.«

Mias Vater arbeitete fast immer und sie war es gewohnt, dass er nicht zu Hause war. Seit dem Tod ihrer Mutter arbeitete er sogar noch mehr als früher, weil er jetzt alleine für die Familie aufkommen musste, wie er sagte. Aber Mia glaubte, dass er auch die Ablenkung suchte. Dass dieses Haus ohne seine Frau zu leer für ihn war. Immer noch. Mia verstand ihn. Sie vermisste ihre Mutter auch, aber die Zeit hatte es etwas leichter für sie gemacht. Inzwischen dachte sie nicht mehr nur mit Schmerz an sie zurück, sondern auch mit Dankbarkeit für die schönen Erinnerungen.

»Wollen wir noch eine Schokoladenglasur machen?«, fragte Mia und legte den Löffel ins Spülbecken, bevor sie sich wieder hinsetzte.

»Aber natürlich.« Omile schob die Tür des Backofens zu und lächelte. Sie trug ihre blond gefärbten Haare in einer schicken Kurzhaarfrisur, hatte ihre Lippen fein säuberlich rot geschminkt und war genauso wie Mias Vater immer gut angezogen. Selbst hier in der Küche beim Backen von Muffins trug sie einen Rock und eine Bluse, über die sie nur eine Schürze gebunden hatte. Mia hingegen saß im Pyjama an der Küchentheke. Dabei war es schon fast Mittag. Aber so sollte es in den Ferien auch sein, wie sie fand.

»Was willst du heute Nachmittag bei diesem schönen Wetter machen?«, fragte Omile schließlich.

Mia zuckte mit den Schultern und zupfte verwelkte Blüten von der Orchidee auf der Theke. »Ich habe mir ein paar Bücher aus der Bibliothek geliehen und wollte heute mit dem Thriller anfangen.« Laut ihrem Vater war sie noch zu jung für solche Geschichten, aber Mia mochte den Nervenkitzel, der sie komplett aus der Wirklichkeit herausholte.

»Lesen?« Omile deutete zum Fenster, durch das die Sonne hereinschien. »Lesen kannst du an Regentagen immer noch. Willst du dich nicht lieber abkühlen? Wir könnten an den Strand fahren oder du triffst dich mit deinen Freunden im Freibad.«

»Dafür habe ich doch den ganzen Sommer Zeit.« Ja, sie wollte die Ferien genießen, aber das volle Programm musste sie nicht gleich am ersten schulfreien Tag starten. Vor allem, weil der Zeugnistag gestern so peinlich geendet war, dass sie lieber etwas warten wollte, bevor sie sich wieder zu ihren Freunden wagte.

»Ich weiß gar nicht, ob überhaupt jemand Lust hat.« Mia nahm ihr Handy in die Hand, um es auf Nachrichten zu prüfen. In der letzten halben Stunde war das Display ein paar Mal angegangen, was eingehende Snaps bedeutete. Aber es waren nur Massensnaps von Mitschülern gewesen, die den Ferienbeginn feierten. Einzig ihre Freundin Hanna hatte ihr persönlich geschrieben:

Hat er dich schon zurückgeaddet?

Mia spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Der peinliche gestrige Tag kehrte viel zu lebhaft in ihre Gedanken zurück. Durch die Ermutigung ihrer Freundinnen hatte sie sich wirklich getraut und Mark aus der Nebenklasse auf Snapchat geaddet. In der letzten Schulwoche hatten sie ein klassenübergreifendes Projekt gehabt und sie war in seinem Team zum Thema Klimaerwärmung gelandet. Sie hatten ein wenig über ihre Ferienpläne geredet, er fuhr bald in ein Fußballcamp und ja … Es wäre cool gewesen, mit ihm zu schreiben oder sich vielleicht sogar mal zu treffen. Alle ihre Freundinnen hatten jetzt einen Freund, und Hanna, Lena und Sophie hatten beschlossen, dass Mia auch einen brauchte. Und so hatten sie gestern nach der Schule schließlich zusammen an der Straßenecke bei der Bushaltestelle gestanden und beobachtet, wie Mark nach Mias Anfrage sein Handy aus der Hosentasche gezogen und aufs Display geblickt hatte. Aber dann hatte er es einfach wieder eingesteckt und sie nicht zurückgeaddet.

Die Abweisung war ihr vor ihren Freundinnen unglaublich peinlich gewesen. Das Mitleid der drei hatte es irgendwie noch schlimmer gemacht. Und jetzt hatte sie Angst, dass Mark auch im Freibad oder am Strand auftauchte und dass er und seine Freunde sie auslachten.

Im Moment wollte sie ohnehin lieber backen und so nahm sie die Schokoladenpackung für die Glasur und machte sie auf. »Vielleicht können wir heute Abend zusammen einen Film anschauen?«, schlug sie vor, um ihre Großmutter vom Thema Freibad abzubringen. »Wenn Papa zurück ist?«

Omile setzte sich zu ihr an die Theke und strich ihren Rock glatt. »In Ordnung, aber wehe, du verkriechst dich den ganzen Sommer hier drin.«

»Nein, nein, versprochen.« Mia brach die Schokolade in eine Schale, als das Display ihres Handys erneut anging. War das schon wieder Hanna? Oder vielleicht doch Mark?

Sie sah nach und zog verwundert die Augenbrauen hoch. Es war eine Nachricht von Karo, ihrer früheren besten Freundin vom Reiterhof. Karo war ein Jahr älter als Mia, sie waren oft zusammen ausgeritten. Nur seit Mia nicht mehr auf den Hof durfte, wo Tiago eingestellt gewesen war, war die Freundschaft irgendwie im Sande verlaufen. Mia hatte schon ewig nichts mehr von Karo gehört. Jetzt aber hatte sie ihr geschrieben und der Text poppte direkt oben auf dem Bildschirm auf.

Ist er das?, stand da nur. Kein: Hi Mia, wie geht’s dir so …

Was meinte Karo damit? Mia öffnete die Nachricht und dann fiel ihr beinahe das Handy aus der Hand. Tief vergrabene Gefühle, die sie längst für überwunden gehalten hatte, strömten auf sie ein. Tiago blickte ihr entgegen. Tiago, den sie vor zwei Jahren zurückzuholen geschworen hatte. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich ganz auf die Aufgabe gestürzt, ihn zu finden, und Karo hatte ihr dabei geholfen.

Sie hatten einen Google Alert für seinen Namen eingerichtet, hatten die sozialen Medien nach Reitställen bei Dortmund durchsucht, in Pferdeforen gestöbert, die Nennlisten von Turnieren gelesen … Aber sie hatten keine Spur von ihm gefunden. Und mit jedem Tag, jeder Woche, jedem Monat ohne einen Treffer war die Suche weiter in den Hintergrund geraten. Mit etwas Abstand hatte Mia verstanden, dass sie kindisch und naiv gewesen war. Sie würde Tiago nicht finden, und selbst wenn, wäre sie nicht in der Lage, ihn zu sich zu holen. Es war der Wunsch einer Elfjährigen gewesen, die trauerte. Die Realität sah anders aus.

Doch jetzt war er da auf diesem Bild. Er stand in einer lichtdurchfluteten Reithalle, hatte ein braunes Lederhalfter um, das zu seinem hellen goldenen Fell und der schwarzen Mähne total gut aussah.

»Mia, was ist los?«

Omile lehnte sich zu ihr vor und Mia legte das Handy schnell weg. Sie wollte Karos Fund geheim halten. Sie wusste gar nicht genau, wieso, es war eine Art Instinkt. Ihr Vater reagierte auf das Thema Pferde immer noch allergisch. Und jetzt, da sie Tiago gesehen hatte, wollte sie mehr herausfinden, was er nicht gutheißen würde.

»Karo hat geschrieben«, sagte sie also und rutschte vom Hocker. Es war zumindest ein Teil der Wahrheit.

»Karo? Die Tochter von Lisa und Emil?«

»Genau.«

»Von ihr hast du schon lange nichts mehr gehört, oder?«

»Ja, deshalb schaue ich mal schnell, was sie will. Ich gehe hoch und rufe sie an, wenn das okay ist.«

»Natürlich.«

Mia eilte aus der Küche in den Flur und von dort die Holztreppe hinauf in ihr Zimmer. Sie war so aufgeregt, dass sie die Tür mit zu viel Schwung zuwarf. Hoffentlich wurde Omile von dem Knall nicht misstrauisch! Dann warf sie sich auf ihr Bett mit den vielen Kissen und aktivierte das Display.

Da war es wieder. Tiagos Foto. Es war der Screenshot eines Instagram-Beitrags von Showpferde Hansen.

Mia schnappte nach Luft. Sie kannte diesen Pferdehof! Der lag ganz in der Nähe, vielleicht eine halbe Stunde mit dem Bus von hier, direkt an der Küste. Mia war einmal mit ihrer Mutter, Karo und deren Eltern dort gewesen – beim Tag der offenen Tür. Ihre Mutter hatte damals mit Tiago einen Kurs in Zirkuslektionen gemacht.

Hansens war ein Ausbildungsstall für Showpferde, hatte aber auch normalen Schulbetrieb für Reiter. Außerdem war er das Zuhause der tierischen Stars von Ad Astra, einer der größten Pferdeshows Deutschlands. Karo und Mia hatten immer davon geträumt, bei dieser Show mitzureiten, vor ein paar Jahren hatten sie auch zusammen eine Vorstellung in Hamburg besucht.

Und jetzt war Tiago in diesem Stall? Was war mit seinen vorherigen Besitzern? Mit den beiden Männern, die ihn abgeholt hatten? Was war geschehen?

Unser wunderschöner Neuzugang, stand unter Tiagos Bild auf Instagram. Felicidade Tiago ist ein fünfzehnjähriger Lusitano-Wallach, der uns schon jetzt große Freude bereitet.

Felicidade Tiago. Seinen vollständigen Namen hatte Mia lange nicht mehr gehört. Ihre Mutter und sie hatten ihn immer nur Tiago genannt. Das »Felicidade« kam daher, dass der Name eines Lusitanos immer mit dem Buchstaben beginnen musste, der im Geburtsjahr gerade dran war. Bei Tiago war es ein F gewesen. Sein voller Name machte noch einmal deutlich, dass er es wirklich war, auch wenn Mia schon beim Foto keine Zweifel gehabt hatte.

Bin durch Zufall in meinem Feed darüber gestolpert, hatte Karo in einer weiteren Nachricht geschrieben. Ich dachte, ich spinne.

Mia konnte es kaum glauben. Tiago war wirklich ganz in der Nähe. Sie konnte ihn wiedersehen! Sie musste ihn wiedersehen! Zu wissen, dass sie nur in einen Bus steigen müsste, um noch einmal ihre Hand durch sein Fell streichen zu lassen, um noch einmal zurückzukehren in ihr altes Leben … Mia hatte gar nicht gewusst, dass dieser Wunsch, dieses Sehnen noch in ihr schlummerte. Es war so tief begraben gewesen. Aber den schönen Wallach jetzt zu betrachten, brachte alles wieder hoch. Ihre Mutter war tot und für immer fort. Aber Tiago musste nicht für immer weg sein. Er war noch da und das konnte sie nicht ignorieren. Sie musste ihn besuchen. Nur ein Mal. Sie musste sichergehen, dass es ihm gut ging, das war sie ihrer Mutter und sich selbst schuldig.

Danke!, tippte sie schnell als Antwort für Karo, dann öffnete sie die App des Busunternehmens und kramte nebenbei ihre Geldbörse aus der Schublade im Nachttisch. Dabei fiel ihr Blick auf ein altes Armband. Es war silbern und hatte einen Hufeisenanhänger. Mia hatte es zu ihrem achten Geburtstag von ihrer Mutter geschenkt bekommen. Nach deren Tod und Tiagos Verkauf hatte Mia es in die Schublade geworfen und nicht mehr angesehen. Sie hatte durch nichts an ihren Verlust erinnert werden wollen. Eigentlich sollte das Armband unter Magazinen begraben liegen, aber die waren zur Seite gerutscht.

Kurzerhand nahm Mia es heraus, ließ es durch ihre Finger gleiten und spürte ein komisches Flattern im Bauch beim vertrauten Gefühl des Metalls. So hatte sie sich früher oft gefühlt, bevor sie in den Stall gefahren war. Voller Vorfreude auf die Pferde und die ausgelassene Zeit. Mia band sich das Armband um, suchte nach der richtigen Busverbindung an die Küste und ging zur Tür.

»Omile, ich gehe doch ins Freibad!«, rief sie und spürte ihr Herz schneller schlagen. »Karo hat mich eingeladen.« Sie wusste, was sie zu tun hatte.

2  Arvid

Arvid versuchte so zu tun, als würde er nicht bemerken, wie das Mädchen im Bus ihn die ganze Zeit über anstarrte. Er wünschte nur, er wäre mittlerweile besser darin, die Menschen um sich herum auszublenden und die ständige Aufmerksamkeit zu ignorieren. Immerhin fing sie nicht an zu kreischen und fragte ihn auch nicht nach einem Selfie. Nicht, dass ihn das immer stören würde. Bei seinen Konzerten und Meet and Greets hatte er nichts dagegen. Aber irgendwann brauchte er mal eine Pause. Und er hatte erwartet, sich hier auf dem Land ein wenig anonymer bewegen zu können. Da hatte er sich wohl zu große Hoffnungen gemacht und so zog er sich sein Baseballcap tiefer ins Gesicht und schaute weiter Videos auf Youtube über allen möglichen Unsinn, nur nicht über Musik.

Früher war die Musik das Wichtigste in seinem Leben gewesen. In letzter Zeit aber ertappte er sich dabei, fast schon eine Abneigung dagegen zu entwickeln. Was mit einer großen Leidenschaft für diese Kunst und einem Hobby begonnen hatte, war jetzt meistens nur noch mit Druck verbunden.

Der Name seiner Mutter poppte auf dem Display auf und unterbrach das Video. Arvid zog verwundert die Augenbrauen zusammen. Er hatte sich doch erst vor ein paar Stunden von ihr verabschiedet und normalerweise war sie niemand, der ihm hinterhertelefonierte. Sie war es gewohnt, dass er allein oder zusammen mit seinem Manager Harri unterwegs war.

Ein wenig beunruhigt nahm er das Gespräch an und führte sein Handy ans Ohr. Dabei fiel sein Blick noch einmal zu dem Mädchen, das ihn schon wieder ansah, sich aber jetzt ertappt abwandte und aus dem Fenster schaute.

Arvid verdrehte die Augen, konzentrierte sich dann jedoch auf den Anruf. »Hi, Mum, ist was passiert?«

»Nein, nein, ich wollte nur fragen, ob du schon da bist.« Die Aufregung war ihr deutlich anzuhören, was ihn lächeln ließ. So kannte er sie gar nicht, doch er wusste, was ihr sein Reiseziel bedeutete.

»Noch nicht, aber es dauert bestimmt nicht mehr lang.«

»Du musst mir dann unbedingt erzählen, wie es dir gefällt, wie dein erster Eindruck ist.«

Arvid lachte leise und ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Er verbrachte nicht viel Zeit mit seinen Eltern, weil sie ihn wegen ihrer Arbeit kaum auf Tour begleiten konnten, aber trotzdem fühlte er sich ihnen nah. »Sicher, das hatte ich dir versprochen.«

»Und richte Tante Maren liebe Grüße von mir aus. Oh, du wirst so eine aufregende Zeit bei ihr haben. Ich habe die schönsten Erinnerungen an meine Urlaube bei ihr auf dem Hof. Wenn ich nur nicht arbeiten müsste! Aber die Vernissage lässt sich nicht verschieben und bis dahin ist noch so viel zu tun …«

Ja, seine Mutter war ein Workaholic. Sie arbeitete als selbstständige Kulturvermittlerin und Arvid konnte sich nicht erinnern, dass sie in den letzten Jahren einmal eine längere Pause gemacht hätte. Dabei würde eine Auszeit auf dem Pferdehof bestimmt auch ihr guttun. Sie schwärmte immer so von diesem Ort.

Arvid jedenfalls freute sich auf den Sommer fern seines Alltags. In seiner Heimat wusste fast jeder, wer er war, er konnte kaum aus dem Haus gehen, ohne angesprochen zu werden. Aber auch außerhalb gab es immer wieder Momente, in denen er erkannt wurde. Auf Tour war es am schlimmsten, da hielten sich besonders viele Fans in der Stadt auf, in der er gerade ein Konzert gab. Deshalb hatten seine Eltern entschieden, ihn für den Sommer auf den abgelegenen Pferdehof seiner Großtante zu schicken, wo er nach einem stressigen Jahr zwischen Konzerten in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz ein wenig zur Ruhe finden und sich für ein paar Wochen ausruhen sollte. Es war genau das, was er brauchte.

»Bis später, Mum.«

»Bis später, ich hab dich lieb.«

Arvid legte auf und atmete tief durch. Nur noch ein paar Minuten, dann hatte er die Fahrt in den äußersten Norden Deutschlands geschafft. Wenn nur dieses Mädchen nicht wäre. Er schätzte, dass sie im selben Alter war wie er, nämlich ungefähr vierzehn. Sie trug Jeansshorts, aus denen blasse, schlanke Beine in feste Wanderschuhe führten, ein blaues Tanktop, eine rote Jacke und ein Baseballcap. Darunter ragten ein paar hellbraune Haare hervor, die ihr ins Gesicht hingen. Den Rest trug sie zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden, der auf der Rückseite des Caps herausstand. Ein silbernes Armband funkelte an ihrem Handgelenk, wenn Sonnenstrahlen darauffielen.

Jetzt, da Arvid in ihre Richtung sah, hielt sie den Blick fest auf die draußen vorbeiziehende Landschaft gerichtet. Ein weißer Fleck Creme, vermutlich Sonnencreme, prangte auf ihrer Wange, fast beim Ohr hinten. Den hatte sie wohl schlecht verwischt und übersehen.

Wie lange würde es wohl dauern, bis sie den Mut fand, ihn anzusprechen? Sollte er sich einen Spaß daraus machen und einfach sie anreden? Nein, darauf hatte er echt keine Lust.

Weitere Überlegungen blieben ihm erspart, denn der Bus hielt an seiner Haltestelle. Arvid schwang sich seinen Gitarrenrucksack auf den Rücken, griff nach der Reisetasche und stieg aus. Er konnte es gar nicht erwarten, auf dem Pferdehof seiner Großtante abzutauchen, unsichtbar zu werden. Vielleicht sollte er sich auch von seinen Social-Media-Kanälen für eine Weile zurückziehen.

Er ging los, den Gehsteig neben der Straße entlang. Seine Mutter hatte ihm den Weg genau beschrieben und er hatte ihn sich auch auf Google Maps angeschaut. Er war zwar schon ein paar Mal auf dem Hof gewesen, aber daran hatte er keine genauen Erinnerungen mehr, da war er noch in den Kindergarten gegangen. Doch es kam ihm so vor, als würde er irgendwo tief in seinem Inneren den frischen Geruch hier erkennen. Diese salzige Brise, als befände sich gleich hinter der nächsten Biegung das Meer. Nun, der Hof lag tatsächlich ganz nah an der Küste. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass es nur ein kurzer Spaziergang über die Dünen war.

Seit Langem hatte er wieder das Gefühl, richtig atmen zu können. Aber dann hörte Arvid hinter sich plötzlich Schritte und der Zauber war dahin. Er warf einen Blick über die Schulter und ihm glitt beinahe die Reisetasche aus der Hand. War das etwa ihr Ernst? Verfolgte das Mädchen ihn?!

Hastig kramte sie ihr Handy heraus. Wollte sie ein Foto von ihm knipsen?

Arvid sah wieder nach vorne und beschleunigte seine Schritte. Nichts wie weg von hier! Aber wohin sollte er gehen? Zum Hof, damit sie wusste, wo er wohnte, und das überall postete?

Für solche Spielchen hatte er jetzt keine Geduld und so blieb er stehen, ließ seine Reisetasche zu Boden sinken und drehte sich wieder zu dem Mädchen um.

»Wirklich?«, fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

Das Mädchen blieb ebenfalls ruckartig stehen, beide Hände ums Handy geschlungen, und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Was?«

»Also schön.« Arvid breitete die Arme aus und machte einen Schritt auf sie zu. »Ein Foto, okay? Und dann lässt du mich in Ruhe.«

»Wovon redest du?«

Er kniff die Augen zusammen, musterte sie noch einmal von oben bis unten. Sie sah verwirrt und fast ein wenig verärgert aus. Hatte er sich getäuscht? War sie gar kein Fan? Aber wieso hatte sie ihn dann ständig angestarrt? Warum war sie an seinem Halt ausgestiegen, obwohl es hier weit und breit nichts als den Pferdehof gab? Wieso verfolgte sie ihn?

»Wohin willst du?«, fragte er vorsichtig nach.

Das Mädchen deutete auf sein Baseballcap und Arvid brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, was er da überhaupt trug. Es war eine Kappe mit dem Logo von Showpferde Hansen. Er hatte sie von seiner Mutter bekommen und es passend gefunden, sie heute aufzusetzen. Dazu kam, dass er gehofft hatte, damit weniger aufzufallen.

»Du willst zu Hansens?«

Das Mädchen nickte und schob das Handy zurück in die Tasche. »Sommerjob«, sagte sie dann und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

»Du arbeitest dort?«

»Ab heute.« Und plötzlich sprudelte es wie ein Wasserfall aus ihr heraus: »Ich war nicht ganz sicher, wo der Hof liegt und wie ich dahin finde, aber dann habe ich deine Kappe gesehen und mir gedacht, du kommst sicher von da und weißt, wo es langgeht, aber ich hab mich nicht getraut, dich zu fragen, daher bin ich dir einfach hinterhergegangen, aber das kam mir dann auch seltsam vor und deshalb wollte ich gerade im Navi nachsehen, aber dann bist du plötzlich stehen geblieben …« Sie holte Luft und zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, das war blöd, ich hätte dich einfach ansprechen sollen, ich bin nur so … nervös.«

Arvid musste lachen vor Erleichterung und auch ein wenig vor Scham. Es war nicht um ihn gegangen, sondern um den Hof! Er war wohl noch kaputter als gedacht, wenn er hinter jedem Mädchen, das ihn anschaute, ein Fangirl sah.

»Na, dann komm mit, ich kenne den Weg.« Er trat mit einer einladenden Geste zur Seite und hatte das Gefühl, dass auch von dem Mädchen ein wenig Anspannung abfiel.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln, während ihr Blick aber immer noch wachsam blieb. Mit kleinen, schlurfenden Schritten kam sie auf ihn zu.

»Du willst wirklich auch zum Hof, oder?«, fragte sie.

»Ja, ich wohne da. Also ab heute. Ich verbringe den Sommer dort. Der Hof gehört meiner Großtante.«

»Cool.« Sie lächelte und dann schnappte sie sich kurzerhand seine Reisetasche vom Boden.

»Warte, die ist schwer …«, fing er an, aber das Mädchen winkte ab und deutete mit dem Kinn zu seinem Gitarrenrucksack.

»Du schleppst schon schwer genug, und wenn du mir den Weg zum Hof zeigst, ist es das Mindeste, das ich tun kann.«

Arvid sah sie sprachlos an, aber sie ging schon los, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr zu folgen, auch wenn es ihm unangenehm war, sie seine Sachen tragen zu lassen. Sie war so klein und zierlich, während er mit seinen eins fünfundsiebzig ziemlich groß für sein Alter war.

»Wie heißt du denn?«, fragte er und war plötzlich verlegen.

Es kam immer seltener vor, dass er sich mit Gleichaltrigen unterhielt. Die Jugendlichen aus seiner ehemaligen Schule ließen sich in zwei Kategorien einteilen: Es gab die einen, die ihn plötzlich ganz super fanden, ihn zu ihrem besten Freund machen wollten und ihn anhimmelten. Und dann gab es diejenigen, die überdeutlich zeigten, wie doof sie es fanden, dass er seine Songs im Internet hochgeladen hatte und plötzlich so bekannt geworden war.

»Mia«, antwortete sie und wechselte die Tasche von einer Hand in die andere. Sie bereute die Entscheidung, sie zu tragen, bestimmt längst und er überlegte, einfach danach zu greifen und sie ihr abzunehmen. »Und wie heißt du?«, fragte sie da und Arvid zögerte für einen kurzen Moment.

Was, wenn sie von ihm gehört hatte, wenn sie über seinen Namen dann doch darauf kam, wer er war? Er wollte hier anonym bleiben, niemand sollte herausfinden, wo er den Sommer verbrachte und wie man ihn finden konnte. Aber lügen wollte er auch nicht.

»Arvid«, sagte er also und beobachtete ihre Reaktion genau.

Doch Mia nickte nur und dann erreichten sie schon die Zufahrt zum Hof. Es handelte sich um eine gepflasterte, von grünen Koppeln gesäumte Straße. Die Weide auf der linken Seite schien verlassen, aber auf der rechten Seite standen bestimmt zwei Dutzend Pferde und grasten. Dahinter zeichneten sich die roten Dächer der Stallgebäude ab.

Dieselbe Aufregung, die Arvid in der Stimme seiner Mutter gehört hatte, spürte er jetzt in sich. Sie hatte ihm so viel von diesem Ort erzählt und darüber, wie er als Kleinkind über ebenjene Weiden gelaufen war, dass er sich sofort heimisch fühlte.

»Ich stelle es mir schön vor, hier zu leben«, drang Mias Stimme in seine Gedanken.

Er schaute zu ihr und sah, wie sie andächtig die Pferde betrachtete. Sehnsucht lag in ihrem Blick, ein Gefühl, das er selbst gut kannte und über das er so manchen Song geschrieben hatte. Im Moment sehnte er sich vor allem nach Ruhe und Frieden, nach Freiheit. Vor zwei Tagen hatte er noch ein Konzert in Zürich gespielt, jetzt fühlte er sich ausgelaugt und war am Ende seiner Kräfte. Aber die Aussicht auf die Auszeit gab ihm Hoffnung, bald wieder mehr Energie zu bekommen.

»Ja, ich glaube, das wird es wirklich«, stimmte er Mia zu und ging an ihrer Seite weiter. Er sog die Umgebung in sich auf, den Geruch nach Pferden und Heu. Die Sonne brannte auf sie herunter, gleichzeitig war da aber auch ein stetig kühler Wind, der die Hitze erträglich machte. »Bestimmt ist der Hof auch ein super Arbeitsplatz«, fuhr er fort. »Ich schätze, du hast schon lange mit Pferden zu tun?«

Mia presste die Lippen aufeinander und schien kurz nachzudenken, dann nickte sie. »Mein ganzes Leben.«

»Aber du warst nie zuvor bei Hansens?« Eigentlich klar. Sonst hätte sie ja nicht nach dem Weg fragen müssen.

»Nein, ich … ich bin immer woanders geritten, weiter weg.«

Deshalb war sie mit dem Bus gekommen. »Wolltest du nicht lieber in einem Stall in deiner Nähe arbeiten? Dort, wo du reitest?«

Ihre Wangen färbten sich rot, dann setzte sie ein Lächeln auf, das etwas gezwungen wirkte. »Wer träumt denn nicht davon, bei Showpferde Hansen zu arbeiten?«, fragte sie. »Der Stall ist berühmt.«

Ihre letzten Worte riefen sofort ein ungutes Gefühl in Arvids Magen hervor. Ob die Berühmtheit des Pferdehofs für ihn von Vorteil war? Doch alles wirkte ganz ruhig, mit kreischenden Fans und einem Mangel an Privatsphäre musste er sich hier wohl nicht plagen.

Mia warf ihm einen fragenden Blick zu. Ahnte sie, dass er etwas verbarg? Aber auch sie war nicht gerade wie ein offenes Buch und antwortete ihm nur kurz angebunden und ausweichend. Na ja, sie kannten sich kaum. Und er war in den letzten Jahren vorsichtig geworden.

Sie ließen die Weiden und damit auch die Zufahrtsstraße hinter sich. Vor ihnen tat sich eine Art Kreisverkehr auf, der um ein bunt blühendes Blumenbeet mit einem Holzschild führte. Auf dem Schild prangte die Aufschrift »Showpferde Hansen«.

Seit dem 18. Jahrhundert gab es diesen Hof schon und die Show Ad Astra seit dreißig Jahren. Trotzdem hatte Arvid es bisher nie geschafft, die Vorstellung zu besuchen oder nach seinem sechsten Lebensjahr hierherzukommen. Eigentlich traurig. Er hatte neben der Musik in den letzten Jahren gerade noch genug Zeit für seinen Privatunterricht gehabt und darüber ganz vergessen, zu leben.

Arvid sah sich genauer um. Zu seiner Rechten lagen vier Stallreihen mit Paddocks und vom Plan auf der Homepage wusste er, dass sich dahinter die Reitplätze und die Halle befanden. Von dort hörte er auch das Brummen eines Traktors. Zu seiner Linken führte eine Straße zum Wohnhaus seiner Großtante. Blumen säumten den Weg, einzelne Obstbäume erhoben sich auf den dahinterliegenden Wiesen. Ein paar Möwen kreischten über ihnen und machten damit klar, dass irgendwo hinter dem Hof tatsächlich der Strand lag.

»Kommst du mit zum Haus?«, fragte Arvid Mia, die sich ebenfalls in alle Richtungen umsah.

Mia erstarrte, kurz schien sie verwirrt. »Zum Haus?«

»Meine Großtante ist vermutlich dort. Musst du nicht zu ihr? Erster Tag und so?«