Heidis Lehr- und Wanderjahre - Johanna Spyri - E-Book

Heidis Lehr- und Wanderjahre E-Book

Johanna Spyri

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Beschreibung

Der bis heute weltweit beliebte Kinderbuchklassiker über eine Kindheit in den Schweizer Bergen: Die Waise Heidi wird von ihrer Tante zum Großvater, dem Almöhi, in die Berge gebracht. Schon bald freunden sich der alte Mann und das kleine Mädchen, das die Berge über alles liebt, an. Nach drei Jahren holt die Tante sie zu sich nach Frankfurt am Main. Ob Heidi zum Almöhi zurückkehren darf?-

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Johanna Spyri

Heidis Lehr- und Wanderjahre

Neu durchgesehen von Alexander Troll Mit Bildern von Karl Mühlmeister

Saga

Heidis Lehr- und WanderjahreCoverbild / Illustration: Sutterstock Copyright © 1880, 2020 Johanna Spyri und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726539400

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Zum Alm-Öhi hinauf

Vom freundlich gelegenen alten Städtchen Mayenfeld aus führt ein Fussweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fusse der Höhen, die von dieser Seite gross und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fussweg zu steigen anfängt, beginnt bald das Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften; denn der Fussweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.

Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein grosses, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen in solcher Glut standen, dass sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammenrot durchleuchtete. Es war auch kein Wunder: das Kind war trotz der heissen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; welches aber seine natürliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen; denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein grosses rotes Baumwollentuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiss und mühsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und „im Dörfli“ heisst. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von der Haustür und einmal vom Wege her; denn das Mädchen war in seinem Heimatsort angelangt. Es machte aber nirgends halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Grüsse und Fragen im Vorbeigehen, ohne stillezustehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief eine Stimme aus einer Tür: „Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst!“

Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.

„Bist du müde, Heidi?“ fragte die Begleiterin.

„Nein, es ist mir heiss“, entgegnete das Kind.

„Wir sind jetzt gleich oben; du musst dich nur noch ein wenig anstrengen und grosse Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde oben“, ermunterte die Gefährtin.

Jetzt trat eine breite, gutmütig aussehende Frau aus der Tür und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch über allerlei Bewohner des Dörfli und vieler umherliegenden Behausungen gerieten.

„Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?“ fragte jetzt die neu Hinzugekommene. „Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das hinterlassene.“

„Das ist es“, erwiderte Dete, „ich will mit ihm hinauf zum. Öhi (Oheim), es muss dort bleiben.“

„Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon beimschicken mit deinem Vorhaben!“

„Das kann er nicht; er ist der Grossvater, er muss etwas tun. Ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Grossvater das Seinige tun.“

„Ja, wenn der wäre, wie andere Leute, dann schon“, bestätigte die breite Barbel eifrig; „aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch mit einem so kleinen! Das hält’s nicht aus bei ihm! Aber wohin willst du denn?“

„Nach Frankfurt a. M.“, erklärte Dete, „da bekomm ich einen besonders guten Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad; ich habe ihre Zimmer auf meinem Flur gehabt und sie besorgt, und schon damals wollten sie mich mitnehmen; aber ich konnte nicht fortkommen; und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein.“

„Ich möchte nicht das Kind sein!“ rief die Barbel mit abwehrender Gebärde aus. „Es weiss ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem Menschen will er etwas zu tun haben, jahraus, jahrein setzt er keinen Fuss in eine Kirche, und wenn er mit seinem dicken Stock im Jahr einmal herunterkommt, so weicht ihm alles aus und muss sich vor ihm fürchten. Mit seinen dicken grauen Augenbrauen und dem furchtbaren Bart sieht er auch aus wie ein alter Heide und Indianer, so dass man froh ist, wenn man ihm nicht allein begegnet.“

„Und wenn auch“, sagte Dete trotzig, „er ist der Grossvater und muss für das Kind sorgen; er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er’s zu verantworten, nicht ich.“

„Ich möchte nur wissen“, sagte die Barbel forschend, was der Alte auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und so mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken lässt. Man sägt allerhand von ihm; du weisst doch gewiss auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?“

„Freilich, aber ich rede nicht davon; wenn er’s hörte, so käme ich schön an!“

Aber die Barbel hätte schon lange gern gewusst, wie es sich mit dem Alm-Öhi verhielt, weshalb er so menschenfeindlich aussah und da oben ganz allein wohnte und die Leute immer so mit halben Worten von ihm redeten, als fürchteten sie sich, gegen ihn zu sein, und wollten doch nicht für ihn sein. Auch wusste die Barbel gar nicht, warum der Alte von allen Leuten im Dörfli der Alm-Öhi genannt wurde: er konnte doch nicht der wirkliche Oheim von sämtlichen Bewohnern sein. Da aber alle ihn so nannten, tat sie es auch und nannte den Alten nie anders als Öhi, was die Aussprache der Gegend für Oheim ist. Die Barbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli hinauf verheiratet; vorher hatte sie unten im Prättigau gewohnt, und so war sie noch nicht so ganz bekannt mit allen Erlebnissen und besonderen Persönlichkeiten aller Zeiten vom Dörfli und der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli gebürtig und hatte da mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr gelebt. Da war diese gestorben, und die Dete war nach dem Bade Ragaz hinübergezogen, wo sie im grossen Hotel als Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kinde von Ragaz hergekommen. Bis Mayenfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heimfuhr und sie und das Kind mitnahm. — Die Barbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht unbenutzt vorbeigehen lassen. Sie fasste die Dete vertraulich am Arm und sagte: „Von dir kann man doch erfahren, was wahr ist und was die Leute darüber hinaus sagen; du weisst, denk ich, die ganze Geschichte. Sag mir jetzt ein wenig, was mit dem Alten ist, und ob der immer so gefürchtet und ein solcher Menschenhasser war!“

„Ob er immer so war, kann ich, denk ich, nicht genau wissen: ich bin jetzt sechsundzwanzig und er sicher siebzig Jahr alt; ich hab ihn also nicht gesehen, als er jung war, das wirst du nicht erwarten. Wenn ich aber wüsste, dass es nachher nicht im ganzen Prättigau herumkäme, so könnte ich dir schon allerhand von ihm erzählen; meine Mutter war aus dem Domleschg und er auch.“

„A bah, Dete, was meinst du denn?“ gab die Barbel ein wenig beleidigt zurück; „es geht nicht so streng mit dem Schwatzen im Prättigau, und dann kann ich schon etwas für mich behalten, wenn es sein muss. Erzähl mir’s jetzt, es soll dich nicht gereuen.“

„Ja nu, so will ich, aber halt Wort!“ mahnte die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nahe sei und alles anhöre, was sie sagen wollte; aber das Kind war gar nicht zu sehen, es musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es aber im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt. Dete stand still und schaute sich überall um. Der Fussweg machte einige Krümmungen, doch konnte man ihn fast bis zum Dörfli hinunter übersehen; es war aber niemand darauf sichtbar.

„Jetzt seh ich’s“, erklärte die Barbel; „siehst du dort?“ und sie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad. „Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Geissenpeter und seinen Geissen. Warum der so spät hinauffährt mit seinen Tieren? Es ist aber gerade recht, er kann nun zu dem Kinde sehen, und du kannst mir um so besser erzählen.“

„Mit dem Nach-ihm-sehen braucht sich der Peter nicht anzustrengen“, bemerkte die Dete; „es ist nicht dumm für seine fünf Jahre; es tut seine Augen auf und sieht, was vorgeht, das hab ich schon an ihm bemerkt, und es wird ihm einmal zugut kommen; denn der Alte bat gar nichts mehr als seine zwei Geissen und die Almhütte.“

„Hat er denn einmal mehr gehabt?“ fragte die Barbel.

„Der? Ja, das denk ich, dass er einmal mehr gehabt hat“, entgegnete eifrig die Dete, „eins der schönsten Bauerngüter im Domleschg bat er gehabt. Er war der ältere Sohn und hatte nur noch einen Bruder, der war still und ordentlich. Aber der Ältere wollte nichts tun, als den Herren spielen und im Lande herumfahren und mit bösem Volk zu tun haben, das niemand kannte. Den ganzen Hof hat er verspielt und verzecht, und wie es herauskam, da sind sein Vater und seine Mutter hintereinander gestorben vor lauter Gram, und der Bruder, der dadurch auch an den Bettelstab kam, ist vor Verdruss in die Welt hinausgegangen, es weiss kein Mensch wohin, und der Öhi selber, als er nichts mehr hatte als einen bösen. Namen, war auch verschwunden. Erst wusste niemand wohin; dann vernahm man, er sei unter das Militär nach Neapel gegangen, und dann hörte man nichts mehr von ihm zwölf und fünfzehn Jahre lang. Dann auf einmal erschien er wieder im Domleschg mit einem halberwachsenen Buben und wollte diesen in der Verwandtschaft unterzubringen suchen. Aber es schlossen sich alle Türen vor ihm, und keiner wollte mehr etwas von ihm wissen. Das erbitterte ihn sehr; er sagte: ins Domleschg setze er keinen Fuss mehr, und dann kam er hierher ins Dörfli und lebte da mit dem Buben. Die Frau muss eine Bündnerin gewesen sein, die er dort unten getroffen und dann bald wieder verloren hatte. Er musste noch etwas Geld haben; denn er liess den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen, Zimmermann, und der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Aber dem Alten traute keiner; man sagte auch, er sei von Neapel geflüchtet, es wäre ihm sonst schlimm gegangen; denn er habe einen erschlagen, natürlich nicht im Krieg, verstehst du, sondern beim Raufhandel. Wir anerkannten aber die Verwandtschaft, da meiner Mutter Grossmutter mit seiner Grossmutter Geschwisterkind gewesen war 1 . So nannten wir ihn Öhi, und da wir fast mit allen Leuten im Dörfli wieder verwandt sind vom Vater her, so nannten ihn diese alle auch Öhi, und seit er dann auf die Alm hinaufgezogen war, hiess er eben nur noch der ,Alm-Öhi‘.“

„Aber wie ist es dann mit dem Tobias gegangen?“ fragte gespannt die Barbel.

„Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht alles auf einmal sagen“, erklärte Dete. „Also der Tobias war in der Lehre draussen in Mels, und sowie er fertig war, kam er heim ins Dörfli und nahm meine Schwester zur Frau, die Adelheid; denn sie hatten sich schon immer gern gehabt, und auch wie sie nun verheiratet waren, lebten sie sehr gut zusammen. Aber es ging nicht lange. Schon zwei Jahre nachher, als der Tobias an einem Hausbau mithalf, fiel ein Balken auf ihn herunter und schlug ihn tot. Und als man den Mann so entstellt nach Hause brachte, da fiel die Adelheid vor Schrecken und Leid in ein heftiges Fieber und konnte sich nicht mehr erholen. Sie war sonst nicht sehr kräftig und hatte manchmal so eigene Zustände gehabt, dass man nicht recht wusste, schlief sie, oder war sie wach. Nur ein paar Wochen, nachdem der Tobias tot war, begrub man auch die Adelheid. Da sprachen alle Leute weit und breit von dem traurigen Schicksal der beiden, und leise und laut sagten sie, das sei die Strafe, die der Öhi für sein gottloses Leben verdient habe, und ihm selbst wurde es gesagt, und auch der Herr Pfarrer redete ihm ins Gewissen, er sollte doch jetzt Busse tun, aber er wurde immer grimmiger und verstockter und redete mit niemand mehr; es ging ihm auch jeder aus dem Wege. Auf einmal hiess es, der Öhi sei auf die Alm hinaufgezogen und komme gar nicht mehr herunter, und seither ist er dort und lebt mit Gott und Menschen im Unfrieden. Das kleine Kind der Adelheid nahmen wir zu uns, die Mutter und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im letzten Sommer die Mutter starb und ich im Bad drunten etwas verdienen wollte, nahm ich es mit und gab es der alten Ursel oben im Pfäfferserdorf in Kost. Ich konnte auch im Winter im Bad bleiben; es gab allerhand Arbeit, weil ich zu nähen und flicken verstehe, und früh im Frühling kam die Herrschaft aus Frankfurt a. M. wieder, die ich voriges Jahr bedient hatte, und die mich mitnehmen will. Übermorgen reisen wir ab, und der Dienst ist gut, das kann ich dir sagen.“

„Und dem Alten da droben willst du nun das Kind übergeben? Es nimmt mich nur wunder, was du denkst, Dete“, sagte die Barbel vorwurfsvoll.

„Was meinst du denn?“ gab Dete zurück. „Ich habe das Meinige an dem Kinde getan, und was sollte ich denn mit ihm machen? Ich denke, ich kann eines, das erst fünf Jahre alt wird, nicht mit nach Frankfurt nehmen. Aber wohin gehst du eigentlich, Barbel, wir sind ja schon halbwegs auf der Alm?“

„Ich bin auch gleich da, wo ich hin muss“, entgegnete die Barbel; „ich habe mit der Geissenpeterin (Frau des verstorbenen Geissenpeter) zu reden, sie spinnt mir im Winter. So leb wohl, Dete, mit Glück!“

Dete reichte der Begleiterin die Hand und blieb stehen, während diese der kleinen dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut; denn sie sah so baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die Hütte an solchen sagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden.

Hier wohnte der Geissenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen unten im Dörfli die Geissen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, damit sie da bis zum Abend die kurzen, kräftigen Kräuter abfressen konnten. Dann sprang der Peter mit den leichtfüssigen Tierchen wieder herunter, tat, im Dörfli angekommen, einen schrillen Pfiff durch die Finger, und jeder Besitzer holte seine Geiss von dem Platze. Meistens kamen kleine Buben und Mädchen; denn die friedlichen Geissen waren nicht zu fürchten, und das war den ganzen Sommer durch die einzige Zeit am Tage, wo der Peter mit seinesgleichen verkehrte; sonst lebte er nur mit den Geissen. Er hatte zwar daheim seine Mutter und die blinde Grossmutter; aber da er immer am Morgen sehr früh fort musste und am Abend vom Dörfli spät heimkam, weil er sich da noch solange wie möglich mit den Kindern unterhalten musste, so vollbrachte er daheim nur gerade soviel Zeit, um am Morgen seine Milch und sein Brot und am Abend ebendasselbe hinunterzuschlucken und sich dann aufs Ohr zu legen und zu schlafen. Sein Vater, der auch schon der Geissenpeter genannt worden war, weil er in früheren Jahren in demselben Berufe gestanden hatte, war vor einigen Jahren beim Holzfällen verunglückt. Seine Mutter, die zwar Brigitta hiess, wurde von jedermann um des Zusammenhangs willen die Geisseripeterin genannt, und die blinde Grossmutter kannten weit und breit alt und jung nur unter dem Namen Grossmutter.

Die Dete hatte wohl zehn Minuten gewartet und sich nach allen Seiten umgesehen, ob die Kinder mit den Geissen noch nirgends zu erblicken seien; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein wenig höher, wo sie besser die ganze Alm bis hinunter übersehen konnte, und guckte nun von hier aus bald dahin, bald dorthin mit Zeichen grosser Ungeduld auf dem Gesicht und in den Bewegungen. Unterdessen rückten die Kinder auf einem grossen Umwege heran; denn der Peter wusste viele Stellen, wo allerhand Gutes an Sträuchern und Gebüschen für seine Geissen zu naschen war; darum machte er mit seiner Herde vielerlei Umwege. Erst war das Kind mühsam nachgeklettert, in seiner schweren Rüstung vor Hitze und Unbequemlichkeit keuchend und alle Kräfte anstrengend. Es sagte kein Wort, blickte aber unverwandt bald auf den Peter, der mit seinen nackten Füssen und leichten Höschen ohne alle Mühe hin- und hersprang, bald auf die Geissen, die mit den dünnen, schlanken Beinchen noch leichter über Busch und Stein und steile Abhänge hinaufkletterten. Auf einmal setzte sich das Kind auf den Boden nieder, zog mit grosser Schnelligkeit Schuhe und Strümpfe aus, stand wieder auf, zog sein totes, dickes Halstuch weg, machte sein Röckchen auf, zog es schnell aus und hatte gleich noch eins auszuhäkeln; denn die Base Dete 2 hatte ihm das Sonntagskleidchen über das Alltagszeug angezogen, um der Kürze willen, damit es niemand tragen müsse. Blitzschnell war auch das Alltagsröcklein weg, und nun stand das Kind im leichten Unterröckchen, die blossen Arme aus den kurzen Hemdärmelchen vergnüglich in die Luft hinausstreckend. Dann legte es schön alles auf ein Häufchen, und nun sprang und kletterte es hinter den Geissen und neben dem Peter her, so leicht als mur eines aus der ganzen Gesellschaft. Der Peter hatte nicht achtgegeben, was das Kind mache, als es zurückgeblieben war. Wie es nun in der neuen Bekleidung nachgesprungen kam, zog er lustig grinsend das ganze Gesicht auseinander und schaute zurück, und wie er unten das Häuflein Kleider liegen sah, ging sein Gesicht noch ein wenig mehr auseinander, und sein Mund kam fast von einem Ohr bis zum anderen; er sagte aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühlte, fing es ein Gespräch mit dem Peter an, und er fing auch an zu reden und musste auf vielerlei Fragen antworten; denn das Kind wollte wissen, wieviele Geissen er habe und wohin er mit ihnen gebe und was er dort tue, wo er hinkomme. So langten endlich die Kinder samt den Geissen oben bei der Hütte an und kamen der Base Dete zu Gesicht. Kaum aber hatte diese die herankletternde Gesellschaft erblickt, als sie laut aufschrie: „Heidi, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du deinen Rock und den zweiten und das Halstuch? Und ganz neue Schuhe habe ich dir für den Berg gekauft und neue Strümpfe gemacht, und alles fort! Alles fort! Heidi, was machst du, wo hast du alles?“

Das Kind zeigte ruhig den Berg hinunter und sagte: „Dort!“ Die Base folgte seinem Finger. Richtig, dort lag etwas, und obenauf war ein roter Punkt, das musste das Halstuch sein.

„Du Unglückstropf!“ rief die Base in grosser Aufregung; „was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du alles ausgezogen? Was soll das sein?“

„Ich brauch es nicht“, sagte das Kind und sah gar nicht reuevoll aus über seine Tat.

„Ach du unglückseliges, vernunftloses Heidi, hast du denn auch noch gar keine Begriffe?“ jammerte und schalt die Base weiter; „wer sollte nun noch einmal da hinunter; es ist ja eine halbe Stunde! Komm, Peter, lauf du mir schnell zurück und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glotze mich an, als wärst du am Boden festgenagelt!“

„Ich komme schon zu spät“, sagte Peter langsam und blieb, ohne sich zu rühren, auf demselben Flecke stehen, von dem aus er, beide Hände in die Tasche gesteckt, dem Schreckensausbruch der Base zugehört hatte.

„Du stehst ja doch mur und reissest deine Augen auf und kommst, denk ich, nicht weit auf die Art“, rief ihm die Base Dete zu; „komm her, du sollst etwas Schönes haben, siehst du?“ Sie hielt ihm ein neues Fünferchen hin, das glänzte ihm in die Augen. Plötzlich sprang er auf und davon auf dem geradesten Weg die Alm hinunter und kam in ungeheuren Sätzen in kurzer Zeit bei dem Häuflein Kleider an, packte sie auf und erschien damit so schnell, dass ihn die Base rühmen musste und ihm sogleich sein Fünfrappenstück (etwa 4 Pfennig) überreichte. Peter steckte es schnell tief in seine Tasche, und sein Gesicht glänzte und lachte in voller Breite; denn ein solcher Schatz wurde ihm nicht oft zuteil.

„Du kannst mir das Zeug noch bis zum Öhi hinauftragen, du gehst ja auch den Weg“, sagte die Base Dete jetzt, indem sie sich anschickte, den steilen Abhang zu erklimmen, der gleich hinter der Hütte des Geissenpeter emporragte. Willig übernahm dieser den Auftrag und folgte der Voranschreitenden auf dem Fusse nach, den linken Arm um sein Bündel geschlungen, in der rechten die Geissenrute schwingend. Das Heidi und die Geissen hüpften und sprangen fröhlich neben ihm her. So gelangte der Zug nach drei Viertelstunden auf die Almhöhe, wo frei auf dem Vorsprung des Berges die Hütte des alten Öhi stand, allen Winden ausgesetzt, aber auch jedem Sonnenblick zugänglich und mit der vollen Aussicht weit ins Tal hinab. Hinter der Hütte standen drei alte Tannen mit dichten, langen, unbeschnittenen Ästen. Weiter hinten ging es nochmals bergan bis hoch hinauf in die alten grauen Felsen, erst noch über schöne, kräuterreiche Höhen, dann in steiniges Gestrüpp und endlich zu den kahlen steilen Felsen hinan.

An die Hütte festgemacht, der Talseite zu, hatte sich der Öhi eine Bank gezimmert. Hier sass er, eine Pfeife im Mund, beide Hände auf seine Knie gelegt und schaute ruhig zu, wie die Kinder, die Geissen und die Base Dete herankletterten; denn die letztere war nach und nach von den anderen überholt worden. Heidi war zuerst oben; es ging geradeaus auf den Alten zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: „Guten Abend, Grossvater!“

„So, so, wie ist das gemeint?“ fragte der Alte barsch, gab dem Kinde kurz die Hand und schaute es mit einem langen, durchdringenden Blick an unter seinen buschigen Augenbrauen hervor. Heidi gab den langen Blick ausdauernd zurück, ohne nur einmal mit den Augen zu zwinkern; denn der Grossvater mit dem langen Bart und den dichten grauen Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und aussahen wie eine Art Gesträuch, war so verwunderlich anzusehen, dass Heidi ihn recht betrachten musste. Unterdessen war auch die Base samt dem Peter herangekommen, der eine Weile stillestand und zusah, was sich da ereigne.

„Ich wünsche Euch guten Tag, Öhi“, sagte die Dete hinzutretend, „und hier bring ich Euch das Kind vom Tobias und der Adelheid. Ihr werdet es wohl nicht mehr kennen; denn seit es jährig war, habt Ihr es nie mehr gesehen.“

„So, was soll das Kind bei mir?“ fragte der Alte kurz. „Und du dort“, rief er dem Peter zu, „du kannst geben mit deinen Geissen, du bist nicht zu früh gekommen; nimm meine mit!“

Der Peter gehorchte sofort und verschwand; denn der Öhi hatte ihn angeschaut, dass er schon genug davon hatte.

„Es muss eben bei Euch bleiben, Öhi“, gab die Dete auf seine Frage zurück. „Ich habe, denk ich, das Meinige an ihm getan die vier Jahre hindurch; es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eurige auch einmal zu tun.“

„So“, sagte der Alte und warf einen blitzenden Blick auf die Dete. „Und wenn nun das Kind anfängt, dir nachzuflennen und zu winseln, wie kleine Unvernünftige tun, was muss ich dann mit ihm anfangen?“

„Das ist dann Eure Sache“, warf die Dete zurück; „ich meine fast, es habe mir auch kein Mensch gesagt, wie ich es mit dem Kleinen anzufangen habe, als es mir auf den Händen lag, ein einziges Jährchen alt, und ich schon für mich und die Mutter genug zu tun hatte. Jetzt muss ich meinem Verdienst nach, und Ihr seid der Nächste am Kind. Wenn Ihr’s nicht haben könnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr’s zu verantworten, wenn’s verdirbt, und Ihr werdet wohl nicht nötig haben, Euch noch etwas aufzuladen.“

Die Dete hatt kein recht gutes Gewissen bei der Sache; darum war sie so hitzig geworden und hatte mehr gesagt, als sie im Sinn gehabt hatte. Bei ihren letzten Worten war der Öhi aufgestanden. Er schaute sie so an, dass sie einige Schritte zurückwich, dann streckte er den Arm aus und sagte befehlend: „Mach, dass du hinunterkommst, wo du heraufgekommen bist, und zeig dich sobald nicht wieder!“ Das liess sich die Dete nicht zweimal sagen. „So lebt wohl, und du auch, Heidi“, sagte sie schnell und lief den Berg hinunter in einem Trab bis ins Dörfli hinab; denn die innere Aufregung trieb sie vorwärts wie eine wirksame Dampfkraft. Im Dörfli wurde sie diesmal noch viel mehr angerufen; denn es wunderte die Leute, wo das Kind sei. Sie kannten ja alle die Dete genau und wussten, wem das Kind gehörte, und alles, was mit ihm vorgegangen war. Als es nun aus allen Türen und Fenstern klang: „Wo ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind gelassen?“ rief sie immer unwilliger zurück: „Droben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, Ihr hört’s ja!“

Nun wurde sie aber unwillig, weil die Frauen von allen Seiten ihr zuriefen: „Wie kannst du so etwas tun!“ und „Das arme Tröpfli!“ und: „So ein kleines Hilfloses da droben lassen!“ und dann wieder und wieder: „Das arme Tröpfli!“ Die Dete lief, so schnell sie konnte, immer weiter, und war froh, als sie nichts mehr hörte; denn es war ihr nicht wohl bei der Sache; ihre Mutter hatte ihr beim Sterben das Kind noch übergeben. Aber sie sagte sich zur Beruhigung, sie könne dann ja eher wieder etwas für das Kind tun, wenn sie nun viel Geld verdiene, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von allen Leuten, die ihr dreinredeten, weg und zu einem schönen Verdienst kommen konnte.

Beim Grossvater

Nachdem die Dete verschwunden war, hatte der Öhi sich wieder auf die Bank hingesetzt und blies nun grosse Wolken aus seiner Pfeife; dabei starrte er auf den Boden und sagte kein Wort. Derweilen schaute das Heidi vergnüglich um sich, entdeckte den Geissenstall, der an die Hütte angebaut war, und guckte hinein. Es war nichts darin. Das Kind setzte seine Untersuchungen fort und kam hinter die Hütte zu den alten Tannen. Da blies der Wind so stark durch die Äste, dass es oben in den Wipfeln sauste und brauste. Heidi blieb stehen und hörte zu. Als es ein wenig stiller wurde, ging das Kind um die andere Ecke der Hütte herum und kam vorn wieder zum Grossvater zurück. Als es diesen noch in derselben Stellung erblickte, wie es ihn verlassen hatte, stellte es sich vor ihn hin, legte die Hände auf den Rücken und betrachtete ihn. Der Grossvater schaute auf. „Was willst jetzt tun?“ fragte er, als das Kind immer noch unbeweglich vor ihm stand.

„Ich will sehen, was du drinnen in der Hütte hast“, sagte Heidi.

„So komm!“ Und der Grossvater stand auf und ging voran in die Hütte hinein.

„Nimm dort dein Bündel Kleider noch mit!“ befahl er im Hereintreten.

„Das brauch ich nicht mehr!“ erklärte Heidi.

Der Alte kehrte sich um und schaute. durchdringend auf das Kind, dessen schwarze Augen in Erwartung der Dinge glühten, die da drinnen sein konnten. „Es kann ihm nicht an Verstand fehlen“, sagte er halblaut. „Warum brauchst du’s nicht mehr?“ setzte er laut hinzu.

„Ich will am liebsten gehen wie die Geissen, die haben ganz leichte Beinchen.“

„So, das kannst du, aber hol das Zeug!“ befahl der Grossvater, „es kommt in den Kasten.“ Heidi gehorchte. Jetzt machte der Alte die Tür auf, und Heidi trat hinter ihm her in einen ziemlich grossen Raum ein, es war der Umfang der ganzen Hütte. Da stand ein Tisch und ein Stuhl darin. In einer Ecke war des Grossvaters Schlaflager, in einer anderen hing der grosse Kessel über dem Herd, und auf der anderen Seite war eine grosse Tür in der Wand; die machte der Grossvater auf, es war der Schrank. Da hingen seine Kleider drin, und auf einem Gestell lagen ein paar Hemden, Strümpfe und Tücher, und auf einem anderen standen einige Teller und Tassen und Gläser und auf dem obersten ein rundes Brot und geräuchertes Fleisch und Käse; denn in dem Kasten war alles enthalten, was der Alm-Öhi besass und zu seinem Lebensunterhalt gebrauchte. Wie er nun den Schrank aufgemacht hatte, kam das Heidi schnell heran und stiess sein Zeug hinein, soweit hinter des Grossvaters Kleider wie möglich, damit es nicht so leicht wiederzufinden sei. Nun sah es sich aufmerksam in dem Raum um und sagte dann: „Wo soll ich schlafen, Grossvater?“

„Wo du willst!“ gab dieser zur Antwort.

Das war dem Heidi eben recht. Nun fuhr es in alle Winkel hinein und schaute nach jedem Plätzchen aus, wo am schönsten zu schlafen wäre. In der Ecke vorüber an des Grossvaters Lagerstätte war eine kleine Leiter aufgerichtet; Heidi kletterte hinauf und langte auf dem Heuboden an. Da lag ein frischer, duftender Heuhaufen oben, und durch eine runde Luke sah man weit ins Tal hinab.

„Hier will ich schlafen“, rief Heidi hinunter, „hier ist’s schön! Komm und sieh einmal, wie schön es hier ist, Grossvater!“

„Weiss schon!“ tönte es von unten herauf.

„Ich mache jetzt das Bett!“ rief das Kind wieder, indem es oben geschäftig hin- und herfuhr; aber du musst heraufkommen und mir ein Leintuch mitbringen; denn auf ein Bett kommt auch ein Leintuch, und darauf liegt man.“

„So, so“, sagte unten der Grossvater, und nach einer Weile ging er an den Schrank und kramte ein wenig darin herum; dann zog er unter seinen Hemden ein langes, grobes Tuch hervor, das musste so etwas wie ein Leintuch sein. Er kam damit die Leiter herauf. Da war auf dem Heuboden ein ganz artiges Bettlein zugerichtet; oben, wo der Kopf liegen musste, war das Heu hoch aufgeschichtet, und das Gesicht kam so zu liegen, dass es gerade auf das offene runde Loch traf.