Heiliger Bimbam - Edmund Crispin - E-Book
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Heiliger Bimbam E-Book

Edmund Crispin

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Beschreibung

England in den 40er Jahren.

Englischprofessor und Teilzeitdetektiv Gervase Fen verbringt gerade seine Ferien in dem kleinen Städtchen Tolnbridge, als es mit der Erholung schlagartig ein Ende hat. Auf den örtlichen Organisten wurde ein Mordanschlag verübt. Der Mann hat weder Feinde, noch kann seine völlig harmlose Musik der Auslöser gewesen sein. Als Ersatz für den Organisten beordert Fen einen befreundeten Musiker in die Provinz, den prompt ein Drohbrief erreicht. Eins ist klar, hinter der kleinstädtischen Idylle verbirgt Tolnbridge ein Geheimnis. Bald machen Gerüchte die Runde. Von Spionage und sogar einem seit dem 17. Jahrhundert in der Stadt aktiven Hexenzirkel ist die Rede. Es scheint, als könnte nur Gervase Fen die Stücke dieses faszinierenden Puzzles zusammenfügen ...

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Seitenzahl: 393

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Über Edmund Crispin

Edmund Crispin (eigentlich Bruce Montgomery) wurde 1921 geboren. Er studierte an der Merchant Taylors School und am St. Johns College Oxford moderne Sprachen und war dort zwei Jahre als Organist und Chorleiter tätig. Nach kurzer Lehrtätigkeit widmete sich Crispin ganz dem Komponieren - hauptsächlich von Filmmusik - und dem Schreiben. Einige Jahre war er Krimi-Kritiker bei der Sunday Times in London. Bis zu seinem Tod im Jahre 1978 lebte Crispin in Devon.

Informationen zum Buch

Das Provinzstädtchen Tolnbridge schreckt hoch, als Gervase Fen sich auf der Spur eines Todesfalls in der Kathedrale begibt. Unter der Oberfläche kleinstädtischen Anstands verbirgt Tolnbridge ein Geheimnis. Nur der arrogante Gervase Fen ist in der Lage, die Stücke eines faszinierenden Puzzles zusammenzufügen.

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Edmund Crispin

Heiliger Bimbam

Roman

Aus dem Englischenvon Ulrike Wasel undKlaus Timmermann

Inhaltsübersicht

Über Edmund Crispin

Informationen zum Buch

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Kapitel 1Einladung und Warnung

Kapitel 2Reise nicht zum Vergnügen

Kapitel 3Faselnder Leichnam

Kapitel 4Fangzähne

Kapitel 5Mutmaßungen

Kapitel 6Mord in der Kathedrale

Kapitel 7Motiv

Kapitel 8Zwei Kanoniker

Kapitel 9Drei Verdächtige und eine Hexe

Kapitel 10Nachtgedanken

Kapitel 11Whale and Coffin

Kapitel 12Eine Liebeslaute

Kapitel 13Noch ein Toter

Kapitel 14Letzten Endes

Kapitel 15Beruhigung und Abschied

Impressum

Für meine Eltern

Zuerst sah ich in finsterer Belebung

Den Hochverrat und alle die Umgebung:

Den wilden Zorn, wie glühnde Kohlen rot,

Den Diebstahl und die Angst, bleich wie der Tod,

Den Schmeichler mit dem Dolch in dem Gewand,

Und schwarz vor Rauch umwogt der Schuppen Brand;

Heimtücke, die im Bett den Schläfer tötet,

Den offnen Krieg, vom Wundenblut gerötet ...

Als durch den Schöpf ihm drang des Nagels Wunde;

der kalte Tod mit offen starrendem Munde.

GEOFFREY CHAUCER

Kapitel 1Einladung und Warnung

Continually at my bed’s head

A hearse doth hang, which doth me tell

That I ere morning may be dead …

Robert Southwell

Am Kopfe meines Bettes droht

Zur Mahnung mir ein Leichentuch

Dass morgen ich vielleicht schon tot …

Während sein Taxi sich durch den Verkehr vor der Waterloo Station arbeitete, wie eine übereifrige Biene, die an die Spitze eines Schwarmes drängt, der ihr zu langsam ist, las Geoffrey Vintner noch einmal den Brief und das Telegramm, die heute morgen auf seinem Frühstückstisch gelegen hatten.

Er fühlte sich so unglücklich, wie es wohl jeder wäre, der nicht gerade von Abenteuergeist beseelt ist, aber einen Drohbrief sowie ausreichend Hinweise dafür erhalten hat, dass die darin enthaltenen Drohungen vermutlich in die Tat umgesetzt werden. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag bedauerte er, dass er sich überhaupt dazu durchgerungen hatte, den unangenehmen Auftrag anzunehmen und sein Cottage in Surrey zu verlassen, und damit seine Katzen, seinen Garten (dessen Zustand er fast täglich, irgendeiner neuen und meist unpraktischen Idee folgend, veränderte) und seine geschätzte und geduldig leidende Haushälterin Mrs. Body. Er war, so überlegte er (und der Gedanke sollte ihn mit düsterer Häufigkeit immer wieder befallen, je weiter die Serie von Abenteuern fortschritt, auf die er sich nun einließ), beileibe kein Mensch, der höchst erfolgreich auf die Anwendung körperlicher Gewalt zurückgreift. Hat man erst einmal die Vierzig überschritten, kann man sich, selbst in äußerst leidenschaftlichen Augenblicken, nicht mehr so schwungvoll in ungeahnte und tödliche Kämpfe mit skrupellosen Widersachern stürzen. Und wenn man überdies ein pingeliger Junggeselle ist, einigermaßen gutsituiert, aufgewachsen in einem abgeschiedenen Pfarrhaus auf dem Lande und ausgestattet mit einem Charakter, dem schnöde Interessen und überwältigende Leidenschaften fremd sind, so erscheint einem dergleichen nicht nur unmöglich, sondern geradezu absurd. Auch war es kein Trost, sich vor Augen zu halten, dass noch vor kurzem Männer wie er selbst mit dem Mut und der Tapferkeit von Bären den Rückzug auf Dünkirchen erkämpft hatten; sie wussten zumindest, womit sie es zu tun hatten.

Drohungen.

Er fasste in seine Jackettasche, holte einen großen, altertümlichen Revolver hervor und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Beunruhigung und Zuneigung, ein Blick, mit dem Hundeliebhaber ein besonders aggressives Tier bedenken. Der Fahrer verfolgte das Geschehen finster im Rückspiegel, während sie auf die Waterloo Bridge fuhren. Und ein neuer Gedanke kam Geoffrey Vintner in den Sinn, noch während er, den missbilligenden Blick registrierend, hastig die Waffe wegsteckte: Es war schon vorgekommen, dass Leute von Taxis entführt wurden, die vor ihren Häusern warteten und die Wehrlosen dann, sobald sie herauskamen, zu irgendeinem Ort wie Limehouse verfrachteten, wo bewaffnete Schlägerbanden sich ihrer annahmen. Argwöhnisch musterte er die kleine, untersetzte Gestalt, die unbeweglich wie ein Fels vor ihm saß und gekonnt einmal um den Kreisverkehr am nördlichen Ende der Brücke fuhr. Natürlich gab es nur einen einzigen Zug, den er am Morgen von Surrey aus hatte nehmen können, um den Anschlusszug in Paddington zu erreichen, daher hätten seine Gegner, wer auch immer sie waren, gewusst, wo sie ihn abfangen konnten; andererseits hatte er beträchtliche Schwierigkeiten gehabt, überhaupt ein Taxi zu bekommen, denn alle Taxifahrer schienen eher darauf bedacht, sich seiner Aufmerksamkeit zu entziehen, als sie auf sich zu lenken. Also war wahrscheinlich alles in Ordnung.

Er drehte sich um und blickte angewidert auf den nachfolgenden Verkehr, der sich so unstet bewegte wie Zecher, die hinter einem Anführer her von Kneipe zu Kneipe ziehen. Woran Leute merkten, dass sie verfolgt wurden, war ihm absolut schleierhaft. Überdies war er kein geübter Beobachter; die Außenwelt hinterließ bei ihm nur den Eindruck einer vagen und nicht einprägsamen Aufeinanderfolge von Trugbildern – ein Indianer hätte neben ihm durch ganz London spazieren können, ohne dass ihm das irgendwie ungewöhnlich vorgekommen wäre. Er überlegte kurz, ob er den Fahrer bitten sollte, einen Umweg zu fahren, um mögliche Verfolger auf eine falsche Spur zu lenken, vermutete jedoch, dass dieser Vorschlag nicht auf Gegenliebe stoßen würde. Und überhaupt, das Ganze war einfach zu lächerlich; niemand hätte etwas davon, ihm mittags an einem heißen Sommertag öffentlich durch das Londoner Gedränge zu folgen.

In dieser Hinsicht irrte er allerdings.

Sie werden es bereuen, wenn Sie Tolnbridge einen Besuch abstatten.

Das wurde natürlich nicht näher erläutert, hatte aber etwas Sachliches an sich, das alles andere als vertrauenerweckend war. Er bemerkte mit leichter Verärgerung, die sich immer dann einstellt, wenn einem eine unbedeutende Illusion zerstört wird, dass Papier und Umschlag ausgefallen und teuer waren und die Schreibmaschine, nach den zahlreichen typographischen Eigenarten zu urteilen, leicht zu identifizieren wäre – vorausgesetzt, man wusste, wo man nach ihr suchen sollte. Er gab sich dem Trübsinn hin. Kriminelle sollten sich zumindest bemühen, den Anschein von Anonymität zu bewahren, und ihren Opfern nicht unlösbare Hinweise unter die Nase halten. Auch auf dem – dank der Gewissenhaftigkeit eines Postbediensteten – gut lesbaren Poststempel stand Tolnbridge; wie nicht anders zu erwarten.

Das Telegramm, das er locker in der linken Hand hielt, flatterte zu Boden. Er hob es auf, schüttelte übertrieben den Schmutz ab und las es automatisch durch, vielleicht in der Hoffnung, den dünnen, wenig gehaltvollen Großbuchstaben des britischen Telegraphensystems ein Quentchen Bedeutung zu entlocken, das ihm bislang entgangen war. Dieser Tonfall gefühlloser Heiterkeit, so dachte er bitter, konnte von niemand anderem als dem Absender stammen. Der Text lautete:

BIN IN TOLNBRIDGE WOHNE IM GÄSTEHAUS DER DIÖZESE GEISTLICHE GEISTLICHE GEISTLICHE ES WIMMELT NUR SO VON IHNEN KOMMEN SIE UND SPIELEN SIE DIE ORGEL IN DER KATHEDRALE ALLE ORGANISTEN SIND AUSSER GEFECHT GESETZT GRÄSSLICHE SACHE SO SCHLECHT WAR DIE MUSIK AUCH WIEDER NICHT KOMMEN SIE MÖGLICHST SOFORT BRINGEN SIE EIN SCHMETTERLINGSNETZ MIT BRAUCHE EINS TELEGRAFIEREN SIE MIR KOMME KOMME NICHT STELLEN SIE SICH AUF LÄNGEREN AUFENTHALT EIN

GERVASE FEN

Mit dem Telegramm war ein bereits bezahltes Antwortformular für maximal fünfzig Worte gekommen. Mit einer gewissen Genugtuung hatte Geoffrey es ausgefüllt: KOMME VINTNER – eine Genugtuung, die jedoch durch den Verdacht geschmälert wurde, dass Fen den Sarkasmus nicht einmal bemerken würde. So war Fen nun einmal.

Und jetzt zweifelte er, ob er die Antwort überhaupt abgeschickt hätte, wenn der Telegrammbote nicht draußen vor der Tür gewartet hätte und er selbst nicht zu träge gewesen wäre, es später zur Post zu bringen. Die meisten unserer Entscheidungen, so sinnierte er, werden uns von der Faulheit aufgezwungen. Und natürlich hatte er zu dem Zeitpunkt seine sonstige Post noch nicht geöffnet … Es gab durchaus Entschädigungen. Der Tolnbridge-Chor war gut, und die Orgel, eine viermanualige Willis, eine der besten im Lande. Er erinnerte sich vage, dass sie ein Hornregister hatte, das wirklich wie ein Hörn klang, ein wunderschönes Labialregister, eine prächtige Tuba, einen 32-Fußton im Pedal, der im tiefen Register ein rhythmisch pulsierendes Vibrieren durch das ganze Gebäude sandte und an den Nerven der Gläubigen zerrte … Aber reichte das als Entschädigung aus?

Jedenfalls – seine mentale Moralpredigt ging weiter, während das Taxi um den Trafalgar Square brauste – eines stand fest: Er befand sich nun gegen seinen Willen in einem Konflikt von Recht und Un-Ordnung und dazu in erheblicher persönlicher Gefahr. Der Brief und das Telegramm zusammengenommen waren dafür Beweis genug. Worum es dabei ging, war eine andere Frage. Das Telegramm deutete an, wenn man die entsprechende Interpunktion hineinlas, dass irgendein Feind mit großer Entschlossenheit versuchte, die Kirchenmusik in Tolnbridge per Auszehrung abzuschaffen – was vermutlich der Grund dafür war, warum seine bevorstehende Ankunft soviel Unwillen auslöste. Doch das schien unwahrscheinlich, um nicht zu sagen grotesk. Die Organisten waren »außer Gefecht gesetzt« worden – was in aller Welt bedeutete das? Es deutete besorgniserregend auf Kampf und Gewalt hin – aber andererseits neigte Fen bekanntlich zur Übertreibung, und in Kathedralenstädten im Westen Englands treiben normalerweise keine Schlägerbanden ihr Unwesen. Er seufzte. Spekulationen waren sinnlos – er steckte mittendrin, und das, obwohl mindestens neun Zehntel seiner Schiffe verbrannt und der Rest offenkundig seeuntüchtig war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zurückzulehnen und auf das Schicksal und seinen klaren Verstand zu vertrauen, falls irgendwas passierte – wenngleich ihm weder das eine noch das andere in der Vergangenheit treue Dienste geleistet hatte, wie er sich ohne Genugtuung ins Gedächtnis rief. Und was sollte das mit dem Schmetterlingsnetz…?

Das Schmetterlingsnetz. Er hatte es noch nicht besorgt.

Er warf einen raschen Blick auf seine Uhr und trommelte gegen die Trennscheibe, als das Taxi gerade Cambridge Circus umfuhr, um anschließend in die Charing Cross Road einzubiegen.

»Regent Street«, sagte er. Das Taxi fuhr ganz um den Kreisverkehr und dann die Shaftesbury Avenue hinunter.

Ein nachfolgendes Taxi änderte seine Route ebenso.

Das Kaufhaus auf der Regent Street, das Geoffrey Vintner schließlich auswählte, weil ihm die Wahrscheinlichkeit, dass es Schmetterlingsnetze führte, dort am größten erschien, war erstaunlich leer, und Verkäufer ergingen sich ebenso wie Kunden in mittäglicher Lethargie. Von seiner Einrichtung her erweckte es den Eindruck, als sollte jedes offensichtliche Eingeständnis seiner Funktion bewusst vermieden werden. Bilder hingen an den Wänden, überflüssige Möbel und dicke vergoldete Putten standen herum, während irgendwelche symbolträchtigen Figuren, die sich so kerzengerade hielten wie Pommersche Grenadiere, mit dem Rücken lässig die Enden der Treppengeländer abstützten. Bevor Geoffrey hineinging, kaufte er noch rasch eine Zeitung, weil er sich dachte, die Presse müsste inzwischen davon erfahren haben, falls in Tolnbridge ein Bandenkrieg tobte. Doch die »Schlacht um England« beherrschte nach wie vor die Schlagzeilen, und nachdem er mit zwei Leuten zusammengestoßen war, während er die kleineren Meldungen überflog, verschob er weitere Nachforschungen auf später.

Eine riesige Tafel, die anzeigte, wo sich die verschiedenen Abteilungen befanden, erwies sich im Hinblick auf Schmetterlingsnetze als nutzlos, daher begab er sich zur Information. Wozu Fen so etwas wie ein Schmetterlingsnetz brauchte, überstieg Geoffreys Vorstellungsvermögen. Einen Augenblick lang hatte er die verrückte Vision vor Augen, wie sie beide in den Sümpfen von Devon nach Insekten jagten, und er warf erneut einen diesmal noch skeptischeren Blick auf das Telegramm. Aber nein; es war beim besten Willen kein Irrtum; und Fen war durchaus zuzutrauen, dass er seine plötzliche Vorliebe für Schmetterlingskunde entdeckt hatte.

Schmetterlingsnetze, so erfuhr er, gab es entweder in der Kinder- oder in der Sportabteilung, die zum Glück beide auf derselben Etage lagen. Er musterte die junge Fahrstuhlführerin mit professionell misstrauischer Miene, als sie die Gittertür hinter ihm schloss, und handelte sich dafür einen betont ungehaltenen Blick ein (»dem hab ich’s gegeben«, vertraute sie später einer Freundin an). Daraufhin vertiefte er sich rasch wieder in seine Zeitung, und während er durch das Gebäude nach oben getragen wurde, entdeckte und las er folgendes:

MUSIKER ÜBERFALLEN

Die Polizei hat bislang noch keine Hinweise auf die Identität des Täters, der Dr. Denis Brook, Organist in der Kathedrale von Tolnbridge, vorgestern Abend auf dem Heimweg überfallen und bewusstlos geschlagen hat.

Geoffrey verfluchte die Zeitung wegen fehlender Einzelheiten, Fen wegen seiner Übertreibung und sich selbst, weil er sich überhaupt in die Sache hatte hineinziehen lassen. Nachdem er sein stilles Ritual von Racheschwüren beendet hatte, kratzte er sich missmutig die Nase; irgend etwas war jedenfalls im Gange. Aber was war mit dem zweiten Organisten? Vermutlich hatte der auch einen Schlag auf den Kopf bekommen.

Der Fahrstuhl kam scheppernd zum Stehen, und Geoffrey wurde unversehens mitten in ein kunterbuntes Sammelsurium von Sportartikeln befördert, in dem nur ein einziger dicklicher, rotgesichtiger, junger Verkäufer residierte, der so niedergeschlagen und trostlos vor sich hin starrte wie Priamos inmitten der Ruinen von Troja.

»Ist Ihnen schon mal aufgefallen«, sagte er bedrückt, als Geoffrey näher kam, »dass Sportgeräte nie eine anständige, symmetrische Form haben? Man kann sie einfach nicht ordentlich stapeln wie Kisten oder Bücher – irgendwelche kleinen Teile ragen immer an allen Seiten heraus. Rollschuhe sind am schlimmsten.« Sein Tonfall wurde tiefer, was seine besondere Abscheu vor diesen unpraktischen Objekten andeutete. »Und Fußbälle rollen vom Regal, sobald man sie drauflegt, und über Skier stolpert man unweigerlich, und kaum hat man einen Kricketschläger an die Wand gelehnt, kippt er auch schon wieder um.« Er blickte Geoffrey unglücklich an. »Wünschen Sie was Bestimmtes? Die meisten Leute«, fuhr er fort, bevor Geoffrey etwas erwidern konnte, »treiben jetzt im Krieg keinen Sport. Ich denke, es kommt ihnen am Ende zugute. Muskelbildung liefert nur Angriffsfläche für Fettansatz.« Er seufzte.

»Ich möchte eigentlich ein Schmetterlingsnetz«, sagte Geoffrey geistesabwesend, in Gedanken noch immer mit den Organisten beschäftigt.

»Ein Schmetterlingsnetz«, wiederholte der junge Mann traurig; anscheinend fand er die Information besonders entmutigend. »Bei denen ist es das gleiche, wissen Sie«, sagte er, auf eine Reihe Schmetterlingsnetze deutend, die an einer Wand lehnten. »Wenn man sie sozusagen auf den Kopf stellt, ragt das Netz vor, und man stolpert drüber; und wenn man sie so hinstellt wie jetzt, wirken sie kopflastig und stören das Auge.« Er ging hin und wählte eins aus.

»Ist das nicht ziemlich lang?« sagte Geoffrey, während er ohne jede Begeisterung den ein Meter achtzig langen Bambusstab beäugte, der vor ihm aufragte.

»Die müssen so lang sein«, sagte der junge Mann, ohne dass sich seine Stimmung spürbar hob, »sonst kommt man gar nicht richtig an die Schmetterlinge heran. Was einem ohnehin selten gelingt«, fügte er hinzu. »Meist wedelt man nur mit dem Ding herum. Möchten Sie auch eine Sammeldose?«

»Ich glaube nicht.«

»Auch gut. Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Die Dinger sind unpraktisch, sehr schwer zu tragen.« Er nahm das Netz wieder in Augenschein. »Das hier kostet siebzehneinhalb Schilling. Lächerliche Geldverschwendung im Grunde. Ich mach nur noch eben den Preis ab.«

Der Preis war mit einer Kordel am Stiel befestigt, die sich einfach nicht abreißen ließ.

»Kann man das nicht abstreifen?« sagte Geoffrey hilfsbereit; und dann, als sich der Vorschlag als nicht durchführbar erwies: »Na ja, ist eigentlich auch egal.«

»Es macht überhaupt keine Umstände. Ich habe eine Schere.« Der rotgesichtige junge Mann kramte hilflos in seinen Taschen. »Ich muss sie im Büro liegengelassen haben. Das passiert mir andauernd; und wenn ich mal dran denke, sie einzustecken, reißt sie mir Löcher in die Taschen. Bin gleich wieder da.« Er war verschwunden, bevor Geoffrey ihn aufhalten konnte.

Der Mann mit dem schwarzen Schlapphut erhob sich aus seiner recht beengten Position hinter einem Ladentisch voller Boxhandschuhe unweit der Treppe und näherte sich Geoffrey mit beachtlicher Geschwindigkeit und Verstohlenheit von hinten. Er hatte einen Totschläger in der Hand und die entschlossene Miene eines Menschen, der eine Mücke erschlagen will. Der rotgesichtige junge Verkäufer blieb jedoch nicht so lange fort, wie er gehofft hatte. Er kam aus dem Büro, erfasste die Situation ohne erkennbare Verblüffung, und mit löblicher Geistesgegenwart stülpte er dem Angreifer das Schmetterlingsnetz über den Kopf und zog. Im hohen Bogen flog der Totschläger durch die Luft und brachte mit ohrenbetäubendem Krach einen Stapel Rollschuhe zum Einsturz. Geoffrey wirbelte herum und sah gerade noch, wie sein potenzieller Angreifer das Gleichgewicht verlor und rückwärts in einen großen Berg von Sportgeräten in der Mitte der Abteilung fiel. Der Berg offenbarte seinen unsymmetrischen Charakter durch allgemeine Auflösung. Etliche Fußbälle wurden zur Treppe katapultiert und sausten mit zunehmendem Schwung in die Abteilung darunter. Der Feind befreite sich laut fluchend von dem Schmetterlingsnetz, kam wieder auf die Beine und rannte Richtung Treppe. Der rotgesichtige junge Mann verpasste ihm mit dem Ende eines Skis einen laut hörbaren Schlag auf den Hinterkopf, und der Flüchtige kam wieder zu Fall. Geoffrey mühte sich mit seinem Revolver ab, der sich jedoch unentwirrbar im Innenfutter seiner Tasche verfangen hatte.

Der Kampf ging weiter. Der Feind, der eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit an den Tag legte, ging zum Sturmangriff auf Geoffrey über. Der rotgesichtige junge Mann warf einen Kricketball nach ihm, verfehlte sein Ziel und traf stattdessen Geoffrey. Geoffrey fiel hin und riss dabei einen Haufen Schlittschuhe mit sich, über die wiederum der Angreifer stürzte. Der rotgesichtige junge Mann wollte ihm erneut das Netz über den Kopf stülpen, traf ihn aber nicht und verlor das Gleichgewicht. Der Feind kam wieder auf die Beine und schleuderte einen Schlittschuh, der Geoffrey mit heftiger Wucht in den Bauch traf, während er sich noch immer abmühte, den Revolver hervorzuholen. Der rotgesichtige junge Mann fand das Gleichgewicht wieder und briet dem Feind eins mit einem Kricketschläger über. Der Feind sackte zusammen, und der rotgesichtige junge Mann schlug ihm unbeholfen mit einem Hockeyschläger auf den Kopf, bis er keinen Widerstand mehr leistete. Geoffrey gelang es endlich, seinen Revolver aus der Tasche zu ziehen, begleitet von einem unheilvollen Reißen von Stoff, und fuchtelte wild damit herum.

»Seien Sie vorsichtig mit dem Ding«, sagte der rotgesichtige junge Mann.

»Was war denn das eben?«

»Heimtückische Absicht«, sagte der andere. Er hob den Totschläger auf, wirbelte ihn durch die Luft und nickte weise. »Ich fürchte, das Schmetterlingsnetz ist nicht mehr zu gebrauchen«, fügte er hinzu und verfiel wieder in seine vormalige Melancholie. »Völlig zerfetzt. Sie nehmen besser ein anderes.« Er ging und holte eins. »Siebzehneinhalb hatten wir gesagt, glaube ich.« Automatisch holte Geoffrey das Geld hervor.

Ein von unten heraufschallendes Gebrüll aus Wut und Verblüffung zugleich ließ darauf schließen, dass die Fußbälle ihr Ziel erreicht hatten. »Fielding!« donnerte eine Stimme zu ihnen hoch. »Was zum Teufel treiben Sie da oben?«

»Ich denke«, sagte der junge Mann ernst, »es ist besser, wir gehen – sofort.«

»Aber Ihr Job!« Geoffrey starrte ihn fassungslos an.

»Den bin ich wahrscheinlich sowieso los, wegen der Sache hier. Mir passiert einfach ständig so was in der Art. Bei meiner letzten Stelle ist eine Verkäuferin durchgedreht und hat sich nackt ausgezogen. Ob ich wieder was liegengelassen habe?« Er klopfte seine Taschen ab, wie jemand, der nach Streichhölzern sucht. »Ist meistens so. Mindestens drei Paar Handschuhe im Jahr – in Zügen.«

»Kommen Sie«, drängte Geoffrey. Er fühlte sich unnatürlich beschwingt und war von dem primitiven Wunsch beseelt, dem Schauplatz des Zwischenfalls zu entfliehen. Eilige Schritte kamen die Treppe heraufgetrappelt. Die Fahrstuhlführerin stieß apokalyptisch die Gittertüren des Lifts auf, rief, als würde sie den Tag des Jüngsten Gerichts ankündigen: »Sportartikel, Kinderbekleidung, Bücher, Damenbekleidung –«, kreischte los, als sie des Chaos ansichtig wurde, und schloss das Gitter rasch wieder, durch das sie und ihre Passagiere hindurchspähten wie ängstliche Kaninchen, die auf ihr Grünzeug warten. Die zufällige Berührung eines Knopfes ließ den Aufzug wieder abwärts sausen, und einen Moment lang drangen noch die rasch leiser werdenden Geräusche eines heftigen Wortwechsels zu ihnen herauf.

Geoffrey und der rotgesichtige junge Mann rannten Richtung Treppe.

Auf dem Weg nach unten begegneten ihnen ein Abteilungsleiter und zwei Verkäufer, die erbost nach oben polterten.

»Da oben ist ein Verrückter, der alles kurz und klein schlägt«, sagte der junge Mann mit plötzlicher, erschreckender Heftigkeit, die gemessen an seinem normalen Tonfall furchtbar überzeugend klang. »Seien Sie vorsichtig – ich hole die Polizei.«

Der Abteilungsleiter schnappte sich Geoffreys Revolver, den er noch immer in der Hand hielt, und hetzte weiter die Treppe hoch. Geoffrey protestierte schwach.

»Los, kommen Sie«, sagte der junge Mann und zog ihn am Ärmel.

Sie hasteten weiter nach unten auf die Straße.

»So, worum ging’s denn nun eigentlich?« fragte der junge Mann, als er sich schließlich im Taxi zurücklehnte und die Beine ausstreckte.

Geoffrey antwortete nicht sofort. Zuerst musterte er ausgiebig den Fahrer, obwohl er sich dunkel der Tatsache bewusst war, dass er eigentlich nicht wusste, was er sich davon versprach. Aber er durfte kein Risiko mehr eingehen; das hatte der Vorfall im Kaufhaus deutlich gemacht. Er verlagerte sein Misstrauen auf den jungen Mann und wollte schon durch behutsame Fragen seine Vertrauenswürdigkeit erkunden. Doch dann kam ihm der Gedanke, dass das undankbar wirken könnte, was sicherlich der Fall gewesen wäre.

»Das weiß ich eigentlich selbst nicht«, sagte er lahm.

Der junge Mann wirkte erfreut. »Dann müssen wir die Sache von Anfang an aufrollen«, verkündete er. »Er hätte Sie fast erwischt, wissen Sie, So was kann ich nicht durchgehen lassen.« Seine Entschlossenheit, für Recht und Ordnung zu sorgen, klang eine Spur albern. »Wo wollen Sie hin?«

»Paddington«, sagte Geoffrey und fügte hastig hinzu: »Das heißt – na ja – nach Möglichkeit.« Das Gespräch ließ sich nicht gut an, und seine Beschwingtheit war verschwunden.

»Ich weiß, was los ist«, sagte der junge Mann. »Sie trauen mir nicht. Und das mit Recht. Ein Mann in Ihrer Lage sollte niemandem trauen. Aber ich bin in Ordnung, wissen Sie; habe schließlich verhindert, dass Sie sich eine Beule so groß wie ein Osterei eingefangen haben.« Er wischte sich über die Stirn und lockerte seinen Hemdkragen. »Mein Name ist Fielding – Henry Fielding.«

Geoffrey ließ sich ohne Begeisterung zu einem zweitklassigen Kalauer hinreißen. »Doch nicht etwa der Autor von Tom Jones?« Er bedauerte ihn, sobald er ihm über die Lippen gekommen war.

»Tom Jones? Nie gehört. Ein Buch, nicht? Komme kaum zum Lesen. Und Sie?«

»Wie bitte?«

»Ich meine, ich habe mich vorgestellt, daher dachte ich, Sie –«

»Oh ja, natürlich, Geoffrey Vintner. Und ich muss Ihnen danken, dass Sie vorhin so geistesgegenwärtig reagiert haben; der Himmel weiß, was mit mir passiert wäre, wenn Sie nicht eingegriffen hätten.«

»Ich auch.«

»Was meinen Sie – Oh, verstehe. Aber jetzt denke ich, na ja, dass wir eigentlich hätten bleiben und mit der Polizei sprechen sollen. Dass wir wie zwei Schuljungen getürmt sind, die Äpfel aus Nachbars Garten geklaut haben, ist ja gut und schön, aber man sollte doch gewisse Anstandsregeln einhalten.« Plötzlich fand Geoffrey diesen Gedankengang irgendwie müßig. »Andererseits muss ich schließlich meinen Zug kriegen.«

»Und unser Freund«, sagte Fielding, »hat vermutlich versucht, Sie davon abzuhalten. Womit wir wieder bei der Frage wären, worum es denn nun eigentlich ging.« Er wischte sich wieder die Stirn.

Geoffrey jedoch war mit den Gedanken schon woanders und sinnierte träge über eine Passacaglia und Fuge nach, die er für Neujahr komponieren sollte. Er kam nicht gut voran, und die Unterbrechung, die seine gegenwärtige Mission bedeutete, war wahrscheinlich auch nicht gerade förderlich. Aber nicht einmal die Aussicht, in Vergessenheit zu geraten, hindert einen Komponisten daran, verzweifelt und obsessiv über seine Werke nachzugrübeln. Im Geist spielte Geoffrey die Melodie: Ta-ta; ta-ta-ta-ti-ta-ti…

»Ich frage mich«, sprach Fielding weiter, »ob sie das Scheitern des ersten Angriff vorausgesehen und eine zweite Verteidigungslinie aufgebaut haben.«

Dieses überraschende Durcheinander militärischer Metaphern rüttelte Geoffrey auf. Das unwirkliche Gesumm erstarb abrupt. »Ich glaube, Sie haben das gesagt, um mir Angst zu machen«, sagte er.

»Verraten Sie mir, was los ist. Wenn ich ein Feind bin, weiß ich es ohnehin schon –«

»Ich habe nicht gesagt –«

»Und wenn nicht, kann ich Ihnen vielleicht helfen.«

Also erzählte Geoffrey es ihm schließlich. Allerdings hatte er nur sehr wenige genaue Informationen zu bieten.

»Das ist aber auch nicht sonderlich hilfreich«, wandte Fielding ein, als Geoffrey fertig war. Er las das Telegramm und den Brief. »Wer ist dieser Fen überhaupt?«

»Englischprofessor in Oxford. Wir haben zusammen studiert. Ich habe ihn seitdem kaum gesehen, obwohl ich zufällig gehört habe, dass er die Semesterferien über in Tolnbridge sein würde. Warum er möchte, dass ich komme –« Geoffrey machte eine amüsiert resignierte Geste, wobei er gegen das Schmetterlingsnetz stieß, das in einer bedenklichen Position quer im Taxi lag. Mit einiger Erbitterung zogen sie es wieder gerade.

»Mir ist schleierhaft«, sagte Geoffrey, nachdem er kurz überlegt hatte, seinen vorherigen Satz zu Ende zu führen, sich aber dann dagegen entschieden hatte, »warum Fen unbedingt will, dass ich das Ding da mitbringe.«

»Ziemlich merkwürdig, nicht? Ist er Sammler?«

»Bei Fen kann man nie wissen. Bei jedem anderen – ja, da wäre es sicherlich merkwürdig.«

»Er scheint irgendwas über diese Brooks-Sache zu wissen.«

»Na, er ist ja schließlich vor Ort. Und außerdem«, fügte Geoffrey hinzu, als wäre ihm der Gedanke erst nach reiflicher Überlegung gekommen, »ist er Detektiv, in gewisser Weise.«

Fielding blickte beunruhigt; offenbar hatte er sich selbst schon in dieser Rolle gesehen, und der Gedanke, Konkurrenz zu haben, behagte ihm nicht. Ein wenig gereizt fragte er:

»Aber doch wohl kein richtiger Detektiv, oder?«

»Nein, nein, ein Amateur. Aber er ist sehr erfolgreich.«

»Gervase Fen – ich glaube nicht, dass ich schon mal von ihm gehört habe«, sagte Fielding. Dann, nach kurzer Überlegung: »Was für ein alberner Name. Steht er auf gutem Fuß mit der Polizei?« Seinem Tonfall nach hätte man meinen können, er würde Fen der Komplizenschaft mit einer zügellosen und schändlichen Organisation bezichtigen.

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann nur sagen, was ich gehört habe.«

»Hätten Sie vielleicht etwas dagegen, wenn ich mit Ihnen nach Tolnbridge komme? Ich bin das Kaufhaus satt. Und jetzt, wo wir Krieg haben, kommt es mir so weit weg von allem vor –«

»Könnten Sie nicht in die Armee gehen?«

»Nein, die wollen mich nicht. Letzten November habe ich mich freiwillig gemeldet, aber sie haben mir Tauglichkeitsgrad vier gegeben, ich bin natürlich zum Luftschutz gegangen, und ich überlege, ob ich mich zur Bürgerwehr melde, aber verflixt noch mal –«

»Sie sehen aber doch ganz gesund aus«, sagte Geoffrey.

»Bin ich auch. Mir fehlt nichts, nur meine Augen sind nicht die besten. Aber deshalb kriegt man doch nicht gleich Tauglichkeitsgrad vier, oder?«

»Nein. Vielleicht«, schlug Geoffrey ermutigend vor, »haben Sie ja eine verborgene tödliche Krankheit, von der Sie nichts wissen.«

Fielding ging nicht darauf ein. »Ich will aktiv etwas für mein Vaterland tun – irgendwas Romantisches.« Er tupfte sich wieder die Stirn ab und sah dabei alles andere als romantisch aus. »Ich habe versucht, zum Secret Service zu gehen, aber ohne Erfolg. In diesem Land kann man nicht zum Secret Service gehen. Nicht einfach so.« Und er klatschte in die Hände, um gleichsam eine platonische Idee der Leichtigkeit anzudeuten.

Geoffrey überlegte. Angesichts der jüngsten Geschehnisse wäre es wahrscheinlich äußerst nützlich, Fielding auf der Reise bei sich zu haben, und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass der junge Mann tiefere Beweggründe hatte.

»… Schließlich ist der Krieg noch nicht so mechanisiert, dass Tapferkeit des einzelnen keine Rolle mehr spielt«, sagte Fielding gerade; er wirkte wie entrückt in irgendein Walhalla von Secret-Service-Agenten. »Sie lachen mich bestimmt aus« – Geoffrey verneinte rasch mit einem wenig überzeugenden Lächeln – »aber auf lange Sicht sind es gerade die Leute, die davon träumen, die Dinge in die Hand zu nehmen, die dann auch tatsächlich die Dinge in die Hand nehmen. Zugegeben, Don Quichote hat sich zum Narren gemacht mit diesen Windmühlen, aber wenn man mal richtig drüber nachdenkt, waren da wahrscheinlich wirklich irgendwo Riesen.« Er seufzte leise, als das Taxi in die Marylebone Road einbog.

»Ich würde Sie wirklich sehr gerne mitnehmen«, sagte Geoffrey. »Aber – was ist mit Ihrer Arbeit? Ohne Geld können Sie doch nicht leben.«

»Das ist kein Problem. Ich habe von Haus aus etwas Geld.« Fielding gelang es, seinem Gesicht den Ausdruck flüchtiger Überraschung zu geben. »Oh, das hätte ich vielleicht erwähnen sollen. Debrett, Who’s Who und ähnliche Publikationen bezeichnen mich als Earl.«

Geoffrey wollte schon amüsiert losprusten, aber Fielding wirkte derart selbstsicher, dass er es sich verkniff.

»Natürlich nur ein ganz kleiner«, schob der andere rasch nach. »Und ich habe mir den Titel weiß Gott mit nichts verdient, ich habe ihn geerbt.«

»Wieso in aller Welt«, sagte Geoffrey, »haben Sie denn in dem Laden gearbeitet?«

»Kaufhaus«, korrigierte Fielding ihn ernst. »Nun, mir war zu Ohren gekommen, dass das Personal in Geschäften knapp war, wegen der Mobilisierung und so weiter, also dachte ich mir, dass das eine Möglichkeit für mich wäre zu helfen. Natürlich nur vorübergehend«, fügte er vorsichtig hinzu. »Bloß als Scherz«, schloss er kleinlaut.

Geoffrey konnte seine Erheiterung nur mit Mühe unterdrücken.

Plötzlich lachte Fielding auf.

»Es ist wohl wirklich ziemlich lachhaft, wenn man es recht bedenkt. Übrigens« – ihm kam plötzlich ein Gedanke – »sind Sie Geoffrey Vintner, der Komponist?«

»Natürlich nur ein ganz kleiner.«

Zum ersten Mal nahmen sie einander richtig in Augenschein und fanden das Ergebnis angenehm. Das Taxi fuhr holpernd in die Dunkelheit von Paddington hinein. Ein plötzliches Geräusch schreckte sie auf.

»Verdammt noch eins«, sagte Fielding. »Das Mistnetz ist schon wieder runtergefallen.«

Kapitel 2Reise nicht zum Vergnügen

A crowd is not company, and faces are but a

gallery of pictures, und talk but a tinkling

cymbal where there is no love.

Francis Bacon

Denn eine Menge ist noch keine Gesellschaft,

und Gesichter sind nur eine Bildergalerie, wie

Gespräche nur eine klingende Schelle, wo die Liebe fehlt.

Nach der halbdunklen, weitläufigen Halle von Waterloo wirkte Paddington wie eine Höllengrube. Hier herrschte nicht die Ordnung, die strenge Einteilung und Trennung von Maschinen und Menschen wie in dem größeren Bahnhof. Lokomotiven und Passagiere bildeten ein unentwirrbares Gewühl, und die Barrieren, die für deren Trennung gedacht waren, wirkten nur noch wie die störenden Hürden eines Hindernislaufes. Die Menschenmengen, gewaltig, unruhig und dicht gedrängt, schienen eher auf die Rücken der Züge zu klettern, wie Kinder, die sich auf der Strandpromenade auf einen Esel drängeln, als auf die normale Weise einzusteigen. Die Lokomotiven schnauften und ächzten wie Igel, die vorzeitig ihr Leben aushauchen, weil sie von Horden räuberischer Ameisen überrannt werden; jeder Versuch abzufahren, so meinte man, musste unweigerlich Tausende dieser Insekten zerquetschen und zermalmen – sie hätten keine Chance, sich rechtzeitig von den Puffern und Kurbelstangen zu befreien.

Inmitten des Menschengewühls war die Hitze unerträglich, sodass man meinte, sich ziellos immerzu weiter bewegen zu müssen, auch wenn das kaum möglich schien. Vielleicht ließen sich gewisse Hauptströme ausmachen, zwischen den Bars, dem Bahnsteig, den Fahrkartenschaltern, den Toiletten und den Haupteingängen; aber auch die hatten nur die schablonenhaften Grenzen von Wasserläufen auf einer Landkarte – bei den lediglich Teilnahmslosen, die in melancholischer oder hoffnungsloser Haltung an den Kreuzungen ihrer Zusammenflüsse standen, traten sie über die Ufer. Auf ebener Erde wies diese Menschenmasse in ihrem Bemühen, sich hierhin und dorthin zu bewegen, erstaunliche Abweichungen von der Horizontalen auf; Menschen drängten ihren Zielen entgegen und neigten sich dabei im gefährlichen Winkel nach vorne, oder wenn sie um die Körper derjenigen herumspähten, die vor ihnen waren, sahen sie aus wie halb enthauptete Kriminelle. Scharen von Soldaten, die schwere, weiße, offenbar mit Blei gefüllte Zylinder trugen, drängelten sich entschuldigend durch das Gewühl oder saßen auf Seesäcken und ließen sich von allen Seiten anrempeln. Eisenbahnbedienstete kontrollierten die Szene mit der nervösen Autorität von Lehrern, die ihren Schülern kurz vor den Ferien noch höfliche Aufmerksamkeit abzuringen versuchen.

»Großer Gott«, sagte Geoffrey, während er sich vorwärtskämpfte und mit seinem Koffer immer wieder unfreiwillig die Knie anderer Leute malträtierte, »ob wir es wohl jemals schaffen, in den Zug zu gelangen?«

Fielding, der noch immer unpassenderweise die Berufskleidung seiner letzten Arbeitsstelle trug, schnaubte nur; die Hitze schien zuviel für ihn zu sein. Nachdem sie zerrend und schubsend zwei Meter weiter gelangt waren, sagte er:

»Um wie viel Uhr soll er abfahren?«

»Erst in einer Dreiviertelstunde.« Doch der entscheidende Teil des Satzes ging in einem plötzlichen dämonischen Heulen und Pfeifen unter. Er wiederholte es aus vollem Halse. »In einer Dreiviertelstunde«, brüllte er.

Fielding nickte und verschwand dann überraschend, rief noch eine Erklärung, von der nur das Wort »Kleidung« hörbar war. Ein wenig verwirrt, wühlte Geoffrey sich zum Fahrkartenschalter durch. Der Fahrkartenkauf nahm gut zwanzig Minuten ja Anspruch, doch der Zug würde anscheinend ohnehin mit Verspätung abfahren. Er schwenkte seinen Koffer optimistisch fragend in Richtung eines Kofferträgers, der in Erfüllung irgendeines unbekannten Auftrages gemächlich vorbeitrottete, und wurde ignoriert.

Dann entschloss er sich, ein wenig traurig über die Qualen sinnierend, die unsere Nachsicht uns aufnötigt, etwas trinken zu gehen.

Das Restaurant war mit Vergoldungen und Marmor verziert, eine unangemessene Pracht, die das Geschehen in eine eigentümliche Tristesse tauchte. In weiser Voraussicht hatten diejenigen, deren Verantwortung es war, dass die Leute rechtzeitig im Zug saßen, die Uhr zehn Minuten vorgestellt, ein Trick, der häufig zu panikartigen Aufbrüchen bei denjenigen führte, die der Annahme waren, dass sie die richtige Zeit zeigte. Sie wurden augenblicklich von anderen beruhigt, deren Uhren nachgingen. Sobald die genaue Uhrzeit festgestellt wurde, kam es erneut zu einer noch größeren Panik. Durch die gesetzlich geregelten Restriktionen in Kriegszeiten wie beispielsweise strenge Sperrstunden war die Bevölkerung darauf konditioniert, bis zur allerletzten Minute in Bars und Pubs zu verweilen.

Geoffrey stellte seinen Koffer an einer Säule ab (sogleich stolperte jemand darüber) und kämpfte sich zur Theke durch, an die er sich mit der Entschlossenheit eines schiffbrüchigen Matrosen klammerte, der das rettende Ufer erreicht hat. Die dahinter lauernden Sirenen erfreuten sich relativer Bewegungsfreiheit und führten gerade eine freundliche Unterhaltung mit Stammgästen. Aufmerksamkeit heischende, bohrende Blicke und verzweifelte Rufe blieben meistenteils erfolglos. Manche spielten auffällig mit Münzen, in der Hoffnung, dass die Zurschaustellung von Wohlstand und Zuversicht diese Gestalten in Bewegung setzen würde. Geoffrey stand neben einem zwerg-wüchsigen Handelsvertreter, der eines der Barmädchen in den Genuss einer weitschweifigen Geschichte über die Nachteile früher Vermählung kommen ließ, wobei er offenherzig sich selbst und viele Freunde und Verwandte als Beispiel anführte. Indem Geoffrey ihn rüde beiseite schob, gelang es ihm schließlich, etwas zu trinken zu ergattern.

Fielding tauchte so unvermittelt wieder auf, wie er verschwunden war, in Sportsakko und Flanellhose gekleidet und mit einem Koffer in der Hand. Er erklärte ganz außer Atem, dass er rasch in seine Wohnung gefahren war, und verlangte ein Bier. Erneut wurde das Ritual des inbrünstigen Flehens inszeniert. »Reisen«, sagte Fielding nachdrücklich.

»Ich hoffe, wir müssen nicht in ein Abteil, wo kleine Kinder sind«, sagte Geoffrey düster. »Wenn sie nicht gerade kreischen und auf mir herumklettern, müssen sie sich garantiert übergeben.«

Es waren kleine Kinder da – zumindest eines –, aber das Erste-Klasse-Abteil, in dem es sich befand, war das einzige mit zwei freien Plätzen – einer davon in der äußersten Ecke, auf den Geoffrey sogleich zum Zeichen, dass er besetzt war, sein Gepäck warf. Dann machte er sich daran, mit Hilfe von Fielding und unter den interessierten Blicken der anderen Leute im Abteil, Fens Schmetterlingsnetz auf das Gepäcknetz zu befördern. Es war einfach zu lang. Geoffrey beäugte es mit Abscheu: Es wuchs in seinen Augen zu einem monströsen Symbol für die Lästigkeit, Schande und Absurdität dieses grotesken Unternehmens.

»Lehnen Sie’s doch aufrecht ans Fenster«, sagte der Mann, der Geoffrey in der Ecke gegenübersaß. Er war noch dicklicher und rotgesichtiger als Fielding. Als Geoffrey ihn betrachtete, kam er sich vor wie ein Mann, der stolz mit seiner Amati angibt und plötzlich eine Stradivari vor die Nase gehalten bekommt.

Sie befolgten seinen Rat; jedes Mal, wenn einer die Füße bewegte, fiel das Netz um.

»Wie kann man nur so ein Ding mit in den Zug bringen«, sagte die Frau mit dem Kind sotto voce.

Schließlich wurde beschlossen, dass Netz quer durchs Abteil zu legen, von einem Gepäcknetz zum anderen. Alle standen auf – nicht gerade mit Begeisterung, da es so heiß war –, um diese Idee in die Tat umzusetzen. Eine Frau, die in einer anderen Ecke saß, mit einem Gesicht so weiß und pockennarbig wie eine gerupfte Hühnerbrust, schob nörgelnd ihr Gepäck beiseite, um Platz zu machen. Dann nahm sie wieder Platz und schirmte sich unnötigerweise gegen die Menschen um sich herum mit einer wollenen Reisedecke ab, sodass Geoffrey allein schon vom Hinsehen ins Schwitzen geriet. Mit einer gehörigen Portion teils unverständlichen gegenseitigen Aufmunterungen und Ermahnungen wie »Rauf damit« und »Jetzt ganz vorsichtig« hievten Geoffrey, Fielding, der dicke Mann und ein junger Geistlicher, der den letzten Eckplatz in Beschlag genommen hatte, das Netz an Ort und Stelle. Das Kind, das bis dahin ruhig gewesen war, wachte auf und begann, einen laufenden Kommentar aus Schnaufern und Gekreische von sich zu geben; es grunzte wie das Ferkel-Baby in Alice im Wunderland, bis sie schon damit rechneten, dass es vor ihren Augen seine Gestalt ändern würde. Die Mutter rüttelte es unbarmherzig durch und funkelte die Unruhestifter böse an. Leute auf der Suche nach einem Platz spähten in das Abteil und versuchten die Zahl derjenigen abzuschätzen, die an dem Durcheinander beteiligt waren. Einer öffnete sogar die Tür und fragte, ob noch ein Platz frei sei, ging aber weiter, als er mit Missachtung gestraft wurde.

»Unmöglich!« sagte die Frau mit dem Kind. Sie schaukelte es noch heftiger auf und ab und verstärkte dessen Geräusche noch, indem sie beruhigende Gurrlaute machte.

Das Netz lag inzwischen an beiden Enden sicher auf und war mehr oder weniger praktisch verstaut, nur dass jeder, der unvorsichtigerweise aufstand oder das Abteil betrat, sich wahrscheinlich den Kopf stoßen würde. Geoffrey dankte seinen Helfern überschwänglich, die wieder Platz nahmen, erhitzt, aber zufrieden dreinblickend. Er wandte sich wieder seinen übrigen Habseligkeiten zu, um sie vom Sitz auf das Gepäcknetz zu verfrachten. Obenauf lag jetzt ein Brief, der nicht ihm gehörte, aber eindeutig an ihn adressiert war. Das Papier und die Schreibmaschinenschrift kamen ihm unangenehm vertraut vor. Er öffnete ihn und las:

Sie haben noch Zeit auszusteigen. Wir haben Rückschläge erlitten, aber wir werden bestimmt nicht immer scheitern.

Ohne auf Fieldings neugierigen Blick zu achten, steckte er den Brief nachdenklich in die Tasche und räumte seine restlichen Sachen aus dem Weg. Während des vorausgegangenen Durcheinanders hätte jeder im Abteil den Brief dahin legen können, und genaugenommen – da das Fenster weit offen war – hätte jeder ihn von draußen hereinwerfen können. Er versuchte, sich zu erinnern, an welcher Stelle die einzelnen Personen im Abteil gewesen waren, aber es gelang ihm nicht. Er setzte sich einigermaßen beunruhigt hin.

»Wieder einer?« sagte Fielding; er hob deutlich fragend die rechte Augenbraue.

Geoffrey nickte benommen und reichte ihm den Brief.

Fielding pfiff laut vor Erstaunen, als er ihn las. »Aber wer –?«

Geoffrey schüttelte den Kopf, weigerte sich noch immer, einen Laut von sich zu geben. Er hoffte, auf diese Weise kundzutun, dass er einen der Reisenden im Abteil verdächtigte. Eine offene Erörterung der Sachlage könnte, so fürchtete er irgendwie, dem Feind wertvolle Informationen übermitteln. Die anderen beäugten lustlos die gnomische Kommunikation.

Doch Fielding entgingen derartige Feinheiten erst einmal.

»Schnelle Arbeit«, sagte er. »Die müssen eine zweite Verteidigungslinie parat gehabt haben, für den Fall, dass die Sache im Kaufhaus schief läuft. Die brauchten bloß jemanden hier anzurufen, während wir unterwegs waren. Sie gehen weiß Gott kein Risiko ein.«

»Bitte vergessen Sie nicht«, sagte Geoffrey eine winzige Spur gereizt, »dass ich das Ziel in dieser Angelegenheit bin. Es ist nicht gerade angenehm für mich, mir anzuhören, wie Sie sieh begeistert über deren exzellente Planung auslassen.«

Der Einwand wurde überhört. »Und das bedeutet«, fuhr Fielding ungerührt fort, »dass die Schreibmaschine, die sie benutzt haben, irgendwo hier in der Nähe ist – verdammt, nein, das heißt es nicht unbedingt. Der zweite Brief ist so vage formuliert, dass er ohne weiteres im vorhinein hätte geschrieben werden können.« Seine falsche Schlussfolgerung stürzte ihn in tiefe Ratlosigkeit; er starrte niedergeschlagen nach unten auf seine Füße.

Geoffrey musterte derweil die anderen Personen im Abteil. Der Mann gegenüber, der ihm so hilfreich bei Fens Schmetterlingsnetz zur Hand gegangen war, wirkte wohlhabend und gebildet. Geoffrey war geneigt, ihn als Arzt oder erfolgreichen Börsenmakler einzustufen. Er hatte ein freundliches Gesicht, aus dem ein Anflug von Schüchternheit und Melancholie sprach, wie sie bei korpulenten Männern häufig unter der Oberfläche zu schlummern scheinen, blassgraue Augen mit schweren Lidern wie dicke Rollos aus Haut, und sehr lange Wimpern, wie bei einer Frau. Sein Anzug war aus teurem Stoff und maßgeschneidert. Er hatte ein dickes, schwarzes Buch in der Hand, einen der vier Bände, wie Geoffrey überrascht bemerkte, von Paretos Monumentalwerk Die allgemeine Soziologie. Lasen Ärzte oder Börsenmakler so etwas in der Bahn? Verstohlen betrachtete er sein Gegenüber mit neuem Interesse.

Daneben saß die Frau mit dem Kind. Wiederholtes Durchrütteln hatte es in einen Zustand verwirrter Fassungslosigkeit versetzt, und es gab nur noch schwache und vereinzelte Kreischer von sich. Dafür hatte es angefangen zu sabbern. Seine Mutter, eine kleine Frau von leicht ungepflegter Erscheinung, obwohl nicht genau zu sagen war, woher der Eindruck rührte, wischte ihm in regelmäßigen Abständen mit einem schmuddeligen Taschentuch so kräftig und entschlossen über das Gesicht, dass ihm der Kopf fast nach hinten wegkippte; wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, starrte sie die anderen im Abteil mit äußerster Abneigung an. Wahrscheinlich, so dachte Geoffrey, konnte er sie von seiner Liste der Verdächtigen streichen. Das galt allerdings nicht für den Geistlichen, der in der Ecke rechts von der Frau saß. Obwohl er rank und schlank, jung und nichtssagend aussah, waren das derart typische Eigenschaften eines Hilfspfarrers, dass es schon wieder verdächtig wirkte. Gelegentlich warf er einen nervös forschenden Blick zu der Frau mit der Reisedecke hinüber. Die war derweil mit der enervierenden Begutachtung der anderen Personen im Abteil beschäftigt, die die meisten Leute anscheinend zu Beginn einer langen Bahnfahrt als notwendig erachten. Schließlich, wohl aus dem Gefühl heraus, dass sie es so weit getrieben hatte, dass Verlegenheit in aktives Unbehagen umschlagen könnte, sagte sie zu dem Geistlichen mit einem durchdringenden Blick auf eine winzige Armbanduhr:

»Um wie viel Uhr sind wir in Tolnbridge?«

Die Frage stieß auch bei anderen auf ein gewisses Interesse. Sowohl Geoffrey als auch Fielding fuhren leicht zusammen, mit gut geübter Gleichförmigkeit, und schauten rasch zu der Sprechenden hinüber, während sich bei dem Pareto-Anhänger gegenüber von Geoffrey ebenfalls merkliche Aufmerksamkeit regte. Alles in allem war es nicht sonderlich überraschend, dass noch jemand anders im Abteil nach Tolnbridge wollte, wenngleich es verglichen mit Taunton und Exeter ein unbedeutendes Reiseziel war; doch Geoffrey war viel zu beunruhigt und nervös, um so eine simple Schlussfolgerung zu ziehen.

Der Geistliche schien um eine Antwort verlegen. Er blickte sich hilflos um und sagte:

»Das weiß ich leider nicht genau, Mrs. Garbin. Ich könnte mich ja mal erkundigen –« Er erhob sich halb von seinem Platz. Der Mann Geoffrey gegenüber beugte sich vor.

»Fünf Uhr dreiundvierzig«, sagte er entschieden. »Aber ich fürchte, wir werden uns verspäten.« Er zog eine goldene Uhr aus seiner Westentasche. »Planmäßige Abfahrt war schon vor zehn Minuten.«

Die Frau mit der Reisedecke nickte energisch. »In Kriegszeiten müssen wir uns wohl mit so was abfinden«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein stoisch resignierter Unterton mit. »Steigen Sie auch dort aus?« fragte sie gleich darauf.

Der dicke Mann neigte den Kopf. Die widerwillige und verlegene Demokratie des Zugabteils kam schleppend in Gang. »Haben Sie es weit?« erkundigte er sich bei Geoffrey.

Geoffrey zuckte zusammen. »Ich fahre auch nach Tolnbridge«, erwiderte er leicht unterkühlt. »Heutzutage haben fast alle Züge Verspätung«, fügte er hinzu, weil ihn das Gefühl beschlich, dass seine vorherige Bemerkung für sich allein einen ungenügenden Beitrag zur allgemeinen Unterhaltung darstellte.

»Zwangsläufig«, sagte der Geistliche, sein Scherflein beitragend. »Wir können von Glück sagen, dass überhaupt noch Züge fahren.« Er wandte sich an die Frau mit dem Kind. »Haben Sie eine lange Reise vor sich, Madam? Es ist bestimmt sehr anstrengend, mit einem Kind zu reisen.«

»Ich fahre weiter in den Westen als Sie alle«, sagte die Mutter. »Viel weiter nach Westen«, fügte sie hinzu. In ihrer Stimme schwang die Entschlossenheit mit, dass sie so weit westlich wie möglich auf ihrem Platz bleiben wollte, selbst wenn der Zug über Land’s End hinaus ins Meer fahren würde.

»Ein richtig lieber Junge«, sagte der Geistliche, während er das Kind mit Widerwillen ansah. Es spuckte wütend nach ihm.

»Aber, Sally, so etwas tut man doch nicht«, sagte die Mutter. Sie funkelte den Geistlichen mit unverhohlener Boshaftigkeit an. Er lächelte unglücklich. Der dicke Mann wandte sich wieder seinem Buch zu. Fielding saß verdrossen und schweigend da und überflog eine Abendzeitung.

Genau in diesem Augenblick, inmitten eines schrillen Pfeifkonzerts, das die unmittelbar bevorstehende Abfahrt ankündigte, kam es zu der Störung. Ein Mann mit einem schweren Koffer tauchte draußen auf dem Gang auf und spähte durchs Fenster, wobei er auf und ab hüpfte wie eine Marionette, um hineinschauen zu können. Dann stieß er die Tür zur Seite und trat aggressiv über die Schwelle. Er trug einen blanken schwarzen Anzug mit einer etwas mitgenommen wirkenden Nelke im Knopfloch, hellbraune Schuhe, eine Perlenkrawattennadel, einen schmutzigen grauen Filzhut und ein zitronenfarbenes Taschentuch in der Brusttasche; er hatte Nikotinflecken an den Händen und dreckige Fingernägel; sein Gesicht war rot, fast apoplektisch, und er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab, während er dem Geistlichen über die Füße trampelte und den Koffer wie einen störrischen Hund hinter sich herzog, bis der nach vorne kippte und die in die Reisedecke eingehüllte Frau mit einem lauten Schlag am Knie traf.

»Hier ist kein Platz!« sagte sie wie auf Kommando. Ein Stimmengewirr von Ermahnungen und Entmutigungen erhob sich zur Bekräftigung dieser Bemerkung. Der Mann sah sich gekränkt um.

»Was soll’n das heißen, hier is’ kein Platz?« sagte er laut. »Meinen Se etwa, ich bleib die ganze Zeit da draußen aufm Gang? Da täuschen Se sich aber gewaltig, ja?« Er kam so richtig in Fahrt. »Nur weil Se erster Klasse reisen, haben Se noch lange kein Recht, den ganzen Zug in Beschlag zu nehmen, ja? Leute wie ich bleiben nich’ die ganze Zeit aufm Gang stehen, nur damit ihr vornehmen Pinkel bequem die Beine ausstrecken könnt, ja?« Er regte sich immer mehr auf. »Ich hab genau wie Sie für ’nen Sitzplatz bezahlt, ja? Da« – er stieß mit einem Finger auf den dicken Mann zu, der vor Angst sichtlich zusammenfuhr. »Klappen Se die Scheißarmlehne hoch, und wir können alle sitzen, ja?« Der dicke Mann klappte hastig die Armlehne hoch, und der Eindringling zwängte sich mit lauten Geräuschen der Genugtuung in die entstandene Lücke zwischen dem dicken Mann und der Mutter mit Kind.

»Achten Sie auf Ihre Sprache in Gegenwart von Damen!« sagte die Mutter ungehalten. Das Kind fing wieder an zu brüllen. »Da – jetzt schreit auch noch das Kind Ihretwegen.«

Der Eindringling ignorierte sie. Er holte einen Mirror und einen Herald