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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Hell loderten die von den Brandpfeilen der Indianer getroffenen Holzhütten außerhalb des Forts auf. Dominik von Wellentin-Schoenecker, in der kleidsamen dunkelblauen Offiziersuniform der Nordamerikanischen Kavallerie, schwang sich auf sein Pferd und gab mit erhobenem Säbel seinen Leuten das Zeichen zum Beginn der Attacke. Der Fähnrich sprengte mit wehender Standarte heran, und der Trompeter blies in erregendem Stakkato das Signal zum Angriff. Dominik erhob sich im Sattel und setzte sich in gestrecktem Galopp an die Spitze seines Zuges. Das Kriegsgeheul der Rothäute brach ab. Sie wendeten ihre Pferde und stoben in wilder Flucht davon. Doch gerade in diesem Augenblick, als die Sache am spannendsten war, endete Dominiks Traum. Nick, wie der Junge allgemein genannt wurde, brauchte einige Sekunden, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Dann wusste er, der aufregende Traum war nur das Ergebnis eines Western, den er am Abend zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Er selbst war kein Offizier der Nordarmee, sondern ein fünfzehnjähriger Junge des zwanzigsten Jahrhunderts. Und nicht militärischer Lorbeer wartete dereinst auf ihn, sondern die Verantwortung für das Kinderheim Sophienlust. Denn seine Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, hatte ihn zum Alleinerben eingesetzt, um damit begangenes Unrecht wiedergutzumachen. Doch bis zu seiner Volljährigkeit würde das »Haus der glücklichen Kinder«, wie man Sophienlust allgemein nannte, von seiner Mutter, Denise von Schoenecker, weiterhin in vorbildlicher Weise verwaltet werden. Nick warf sich auf die andere Seite, um vielleicht doch wieder Anschluß an seinen Traum zu finden. Plötzlich aber wurde er hellwach. Die Töne des Trompetensignals aus seinem Halbschlaf hatten sich in das gellende Auf und Ab der Feuersirene verwandelt. Nick schoss bolzengerade in die Höhe. Ohne Zeit damit zu verschwenden, Hausschuhe und Bademantel anzuziehen, rannte er über den Korridor zum Zimmer seiner Eltern. Dort klopfte er an und rief: »Vati – es brennt!«
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Veröffentlichungsjahr: 2021
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Hell loderten die von den Brandpfeilen der Indianer getroffenen Holzhütten außerhalb des Forts auf. Dominik von Wellentin-Schoenecker, in der kleidsamen dunkelblauen Offiziersuniform der Nordamerikanischen Kavallerie, schwang sich auf sein Pferd und gab mit erhobenem Säbel seinen Leuten das Zeichen zum Beginn der Attacke. Der Fähnrich sprengte mit wehender Standarte heran, und der Trompeter blies in erregendem Stakkato das Signal zum Angriff. Dominik erhob sich im Sattel und setzte sich in gestrecktem Galopp an die Spitze seines Zuges. Das Kriegsgeheul der Rothäute brach ab. Sie wendeten ihre Pferde und stoben in wilder Flucht davon.
Doch gerade in diesem Augenblick, als die Sache am spannendsten war, endete Dominiks Traum. Nick, wie der Junge allgemein genannt wurde, brauchte einige Sekunden, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Dann wusste er, der aufregende Traum war nur das Ergebnis eines Western, den er am Abend zuvor im Fernsehen gesehen hatte. Er selbst war kein Offizier der Nordarmee, sondern ein fünfzehnjähriger Junge des zwanzigsten Jahrhunderts. Und nicht militärischer Lorbeer wartete dereinst auf ihn, sondern die Verantwortung für das Kinderheim Sophienlust. Denn seine Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, hatte ihn zum Alleinerben eingesetzt, um damit begangenes Unrecht wiedergutzumachen. Doch bis zu seiner Volljährigkeit würde das »Haus der glücklichen Kinder«, wie man Sophienlust allgemein nannte, von seiner Mutter, Denise von Schoenecker, weiterhin in vorbildlicher Weise verwaltet werden.
Nick warf sich auf die andere Seite, um vielleicht doch wieder Anschluß an seinen Traum zu finden. Plötzlich aber wurde er hellwach. Die Töne des Trompetensignals aus seinem Halbschlaf hatten sich in das gellende Auf und Ab der Feuersirene verwandelt. Nick schoss bolzengerade in die Höhe. Ohne Zeit damit zu verschwenden, Hausschuhe und Bademantel anzuziehen, rannte er über den Korridor zum Zimmer seiner Eltern. Dort klopfte er an und rief: »Vati – es brennt!«
Alexander von Schoenecker öffnete, schon fix und fertig angekleidet, die Tür. »Ich hab’s gehört, mein Sohn.«
»Gott sei Dank, Vati«, entgegnete Nick erleichtert. »Ich dachte schon, ich müsste dich wecken. Wir müssen etwas tun!«
Über das männliche Gesicht Alexander von Schoeneckers huschte der Anflug eines Lächelns. Das war wieder einmal typisch für Nick. Was auch immer geschah, er war sofort bereits, etwas zu unternehmen.
Jetzt kam Denise aus dem angrenzenden Badezimmer. Sie trug einen langen Morgenrock aus schilfgrünem Samt und sah trotz der frühen Morgenstunde frisch und gepflegt aus. Niemand hätte ihr einen so großen Sohn zugetraut.
»Ich mache dir schnell einen Kaffee, Alexander. Hallo, Nick! Auch aufgewacht?«
»Na, hör mal, Mutti«, erwiderte Nick gekränkt. »Bei diesem Lärm kann doch niemand schlafen. Ausgenommen Henrik natürlich. Ich glaube, den könnte man mitsamt seinem Bett forttragen, und er würde es nicht merken.«
Henrik war Nicks jüngerer Bruder und stammte aus der Ehe von Denise und Alexander. Beide waren verwitwet gewesen, als sie geheiratet hatten. Denise hatte Nick in die zweite Ehe mitgebracht, Alexander dagegen seinen Sohn Sascha, der bereits studierte, sowie Andrea, die den Tierarzt Hans-Joachim von Lehn geheiratet hatte. Alle zusammen bildeten seit langem eine glückliche Familie.
Alexander schlüpfte in die lange Lodenjacke. »Vielen Dank, mein Schatz«, sagte er zu Denise, »ich will mich nicht länger aufhalten. Es scheint ein ziemlich großer Brand zu sein. Da wird jede Hand gebraucht.«
»Och, Vati, ich darf doch mit?«, drängte Nick.
Alexander zögerte nur einen Augenblick, dann nickte er. »Aber zieh dich schnell an, Nick. Ich möchte nicht warten. Inzwischen werde ich sehen, wie viele unserer Leute ich zusammentrommeln kann.«
»Geht in Ordnung, Vati!«
Denise folgte ihrem Mann über die Treppe hinunter in die Halle.
»Ist es wirklich richtig, dass Nick dich begleitet?«, fragte sie leise.
Alexander strich ihr lächelnd über das dunkle Haar. »Mach dir keine Sorgen, Denise. Nick ist kein Kind mehr. Außerdem passe ich auf ihn auf.« Er legte den Arm um sie und küsste sie auf die Stirn. »Zufrieden?«
Denise war im Grunde ihres Herzens ein tapferer Mensch, was sie schon in vielen Lebenslagen bewiesen hatte. Vor ungezügeltem Feuer aber fürchtete sie sich. Sie schmiegte sich an ihren Mann, und etwas von seiner Zuversicht strömte dabei auf sie über.
»Vermutlich wäre Nick auch nicht zu bremsen«, meinte sie und strich sich eine Locke aus der Stirn.
»Stimmt.« Alexander deutete nach oben, wo gerade eine Tür unsanft ins Schloss fiel. »Unser Sohn ist im Kommen!«
Er verabschiedete sich von Denise, die versprach, einen kräftigen Imbiss für die Leute bereitzustellen. »Ihr werdet ihn nötig haben«, fügte sie hinzu.
Vom Gutshof drangen jetzt lebhafte Geräusche herüber. Die Tore der Remise knarrten, Stimmen wurden laut, und man hörte das Anspringen von Motoren.
Alexander von Schoenecker brauchte nichts zu sagen. Jeder seiner Leute hatte einen ebenso hohen Begriff von Nachbarschaftshilfe wie er selbst.
»Gebt auf euch acht, ihr zwei«, sagte Denise noch. Dann ging sie zum Fenster, zog die Vorhänge zurück und sah hinaus, bis das letzte Fahrzeug ihren Blicken entschwunden war.
*
Auch in Sophienlust hatte der Feueralarm die meisten Bewohner aus dem Schlaf gescheucht. Die Schwestern Angelika und Vicky Langenbach waren als erste aufgewacht und zu Pünktchen ins Nebenzimmer geschlüpft. In ihren bunt gemusterten Schlafanzügen kauerten die Mädchen nun am Fenster und starrten in die Morgendämmerung hinaus. Weit hinter dem Wäldchen färbte ein glühendroter Schein den Himmel.
»Habt ihr eine Ahnung, wo es brennt?«, fragte Pünktchen, deren richtiger Name Angelina schon fast in Vergessenheit geraten war.
Vicky zuckte bloß die Achseln, Angelika aber antwortete nach einigem Nachdenken: »Sicher in Wildmoos.«
»Die armen Leute«, sagte Pünktchen voller Mitleid.
»Vielleicht ist es nur eine Scheune«, meinte Vicky hoffnungsvoll. Denn für alle drei barg der Gedanke an ein brennendes Haus mit Menschen und Tieren darin ungeheure Schrecken.
Auch in einem der Bubenzimmer wurden lebhafte Mutmaßungen über den Brandort angestellt.
»Wenn’s nur die Schule wäre«, seufzte Fabian Schöller. Er hatte im Augenblick Differenzen mit seinem Klassenlehrer, weil er lieber Fußball spielte, statt Hausaufgaben zu machen.
»Sei nicht so egoistisch«, verwies ihn sein Zimmergefährte Klaus. »Im übrigen merkt doch jedes Kind, dass die Feuerwehrautos in Richtung Wildmoos fahren. Und über die Volksschule dort bist du ja hinaus, Fabian.«
»Leider«, sagte dieser und dachte voller Unbehagen an die lateinischen Vokabeln, die absolut nicht in seinen Kopf hineingehen wollten.
»Wildmoos«, überlegte Klaus, »was kann dort wohl brennen?« Der Junge weilte nur vorübergehend in Sophienlust und kannte sich deshalb in der Gegend noch nicht so gut aus.
Aber auch Fabian hatte keine Vorstellung von dem Brandort. »Jedenfalls muss es scheußlich sein, mitten in der Nacht aufzuwachen und dann womöglich noch in den Flammen umzukommen«, stellte er tiefsinnig fest.
Klaus versetzte ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß. Er fand, Fabian war ein netter Kerl, aber manchmal ging die Fantasie mit ihm durch. »Die kommen schon noch raus«, sagte er. »Außerdem muss die Feuerwehr längst an Ort und Stelle sein.«
Feuerwehr – das war wirklich ein interessantes Thema. Es lenkte die beiden Jungen etwas von dem Brand ab.
In der hübsch eingerichteten Wohnung der jungen Familie Rennert, in einem Anbau des Herrenhauses von Sophienlust, ging währenddessen Carola Rennert auf Zehenspitzen durch das Zimmer, um ihre schlafenden Zwillinge Andreas und Alexandra nicht zu wecken. Sie waren beide ein bisschen verschnupft und nach einer unruhigen Nacht endlich in einen tiefen Schlummer gefallen. Der Vater der beiden, Wolfgang Rennert, stand gerade im Begriff, ebenfalls an die Brandstelle zu eilen. Er war Hauslehrer in Sophienlust und überdies der einzige Sohn der Heimleiterin. Da er die Umgebung von Sophienlust wie seine Westentasche kannte, war er ziemlich sicher, dass nur der Angerhof brennen konnte.
»Glaubst du wirklich?«, fragte Carola.
»Zweifellos. Wenn das Feuer im Dorf ausgebrochen wäre, müsste der Schein direkt von Süden kommen. Hinter dem Wäldchen liegt aber nur ein Gehöft. Eben der Angerhof.«
»Wie schrecklich!« Carola kannte die Bewohner des Angerhofes recht gut. Sie liebte den Weg durch den Wald und fuhr oft mit dem Kinderwagen hin. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte sie auch Heidemarie Anger kennengelernt, für die sie große Sympathie empfand.
»Beeil dich, Wolfgang«, drängte Carola nun. »Vielleicht kannst du irgendwie helfen.«
»Bin schon fort, Carola«, rief er und nahm zwei Treppenstufen auf einmal.
Plötzlich fiel Carola etwas ein. Sie raffte ein paar Wolldecken zusammen und rannte ihrem Mann nach.
»Hier«, sagte sie atemlos und warf die Decken auf den Rücksitz des Wagens. »So etwas kann man immer brauchen.«
»Du bist ein Schatz, Carola«, meinte Wolfgang Rennert zärtlich und startete.
*
Der Angerhof war ein mittleres Anwesen, das von Anton Anger, seinem Sohn Detlev und seiner Tochter Heidemarie bewirtschaftet wurde. Außer ihnen gab es noch einen Knecht, eine Magd und den Sonnenschein des Angerhofs, den Nachkömmling Cilly, deren Geburt die Bäuerin das Leben gekostet hatte.
In diesen Tagen stand man auf dem Angerhof mitten in der Heuernte. Alle hatten über ihre Kräfte hinaus gearbeitet und waren dementsprechend todmüde in die Betten gesunken. Nur der Wachsamkeit des Polizeimeisters Kirsch von Wildmoos war es zu verdanken, dass ein noch größeres Unglück verhütet worden war. Er war vom Nachtdienst gekommen und auf dem Weg zu seinem Haus gewesen, das in unmittelbarer Nähe des Angerhofs lag. Schon von weitem hatte er die ersten züngelnden Flammen entdeckt und zunächst die Feuerwehr alarmiert. Dann war er eilig zum Angerhof gefahren.
Die Scheune brannte jetzt lichterloh, und die Flammen hatten schon auf den Stall und das Dach des Wohnhauses übergegriffen. Dicke Rauchschwaden durchzogen alle Räume. Hustend und mit tränenden Augen bahnten sich Heidemarie und Detlev einen Weg ins Freie.
Karl, der Knecht, und Stasi, die junge Magd, hatten sich bereits aus dem gefährdeten Anbau retten können.
»Kümmere dich um die Tiere, Karl«, schrie Detlev.
Heidemarie klammerte sich verstört an den Arm des Bruders. »Hast du Vater nicht gesehen?«
»Doch – natürlich. Er kam aus seinem Zimmer, als ich die Treppe hinunterlief. Er müsste längst draußen sein.«
»Aber er ist nicht da, Detlev!«
»Unsinn, Schwesterchen. Wie ich Vater kenne, versucht er den Tieren zu helfen.«
Die Luft war so von Qualm durchzogen, dass man nur wenige Meter weit sehen konnte. Es war eine gespenstische Szenerie – das lodernde Feuer, der Rauch, das Prasseln, das klirrende Geräusch zerspringender Fensterscheiben und die krachenden Laute von einstürzendem Mauerwerk. Dazwischen das geängstigte Muhen, Wiehern und Meckern der größeren Tiere, das aufgeregte Gackern aus dem Hühnerstall und das Gurren der Tauben, die in Panik ihren Schlag verließen.
Inzwischen fuhr das erste Feuerwehrauto auf den Hof. Fast gleichzeitig damit traf Alexander von Schoenecker mit seinen Leuten ein.
Heidemarie kam alles wie ein wüster Traum vor. Trotz der beruhigenden Auskunft ihres Bruders, vermochte sie nirgends die vertraute Gestalt ihres Vaters zu entdecken. Und Cilly – wo war überhaupt Cilly? Das Herz stand Heidemarie fast still vor lauter Schreck. Aber dort drüben war Detlev. Sie flog auf ihn zu. »Detlev, das Kind … Cilly …«
Er drehte sich kurz um, machte eine Handbewegung und nickte. Heidemarie atmete auf. Seine Geste konnte nur bedeuten, dass Cilly außerhalb der Gefahrenzone war. Warum aber sah und hörte sie die Kleine nicht? Sie war doch erst fünf und musste sich entsetzlich fürchten!
Während die Feuerwehrmänner den Schlauch anschlossen, bemühten sich Alexander von Schoenecker und seine Männer um die Tiere. Es gelang ihnen, eins nach dem anderen aus der Reichweite herabfallender Balken zu bringen.
Nick versuchte indessen, sich anderweitig nützlich zu machen. Am liebsten hätte er natürlich der Feuerwehr geholfen, doch das war eine eingespielte Mannschaft, die für Außenseiter im Augenblick keinen Bedarf hatte.
Nick gesellte sich daher zu Stasi, die aus einem Seitenfenster des Wohnhauses nützliche und weniger nützliche Dinge warf. Plötzlich bemerkte er ein schattenhaftes Wesen, das wie ein Pfeil an ihm vorbeischoss. »Nanu, was war denn das?«, fragte er.
»Bestimmt die Anka«, antwortete Stasi. »Hier, fang mal auf!« Sie warf ihm einen Packen Kleidungsstücke zu. Dann starrte sie mit schreckgeweiteten Augen hinüber zu den Feuerwehrleuten, die eben auf der Bahre jemanden aus dem Haus trugen. »Heilige Muttergottes«, ächzte sie, »der Bauer!«
Anton Anger war kurz vor der Haustür von einem schweren Holzbalken getroffen worden. Sein Rückgrat schien verletzt zu sein. Er war ohne Bewusstsein. Nur ab und zu entrang sich seiner Kehle ein leises Stöhnen. Detlev kniete fassungslos neben der Bahre, die die Leute etwas abseits abgestellt hatten. »Vater, so sprich doch! Vater …«, stammelte er und fühlte kaum, dass ihn jemand an den Schultern rüttelte.
Heidemarie, fast wahnsinnig in ihrer Angst, brachte nur noch ein heiseres Krächzen über die Lippen. »Wohin hast du Cilly gebracht, Detlev?«
Er sah sie an mit einem Blick, der aus weiter Ferne zu kommen schien. »Cilly?«, wiederholte er. »Ja, ist sie denn nicht bei dir?«
»Um Himmels willen, Detlev, besinne dich! Du hast mir doch zu verstehen gegeben, dass Cilly in Sicherheit sei!«
»Ich … aber ich dachte, du … oder ja, natürlich, ich wollte … aber dann entdeckten wir Vater …«
Die Geschwister sahen sich stumm an. Heidemarie begann zu taumeln. Detlev sprang auf und hielt sie einen Augenblick an sich gepresst. »Ich werde sie suchen, Heidi. Bleib du bei Vater!«
Er stürzte zum Haus, wo Nick ihm über den Weg lief. »Hast du ein kleines Mädchen gesehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er weiter.
»Ich denke, wir haben das Feuer bald unter Kontrolle, Detlev«, rief ihm der Feuerwehrhauptmann zu. Er hatte zusammen mit dem jungen Bauern die Schulbank gedrückt und war mit ihm befreundet.
»Laß das Feuer, Hans«, gab Detlev zurück, »meine kleine Schwester ist noch im Haus!«
»Detlev«, antwortete Hans mit belegter Stimme, »es ist lebensgefährlich!«
»Egal – ich muss!«
Der Freund hielt ihn fest. »Ich kann es nicht zulassen. Genügt es nicht, dass dein Vater …«
Detlev riss sich los. »Er, und jetzt auch noch Cilly? Nein! Ich muss es wenigstens versuchen!«
»Herr Anger«, Nick packte den jungen Mann am Rockärmel, »die Anka ist doch Ihr Hund, nicht wahr? Sie ist zum Seiteneingang hineingelaufen.«
Hans begriff schneller als Detlev, was Nick damit sagen wollte. »Wo schläft die Kleine, Detlev?«
»In der Kammer.« Er deutete nach oben.
»Leiter ausfahren«, kommandierte Hans. »Du bleibst bei mir, Detlev«, befahl er. »Von innen hat es keinen Zweck. Man weiß nicht, ob die Treppe hält.« Er musterte kritisch die Vorderfront. Die Lage war übel, sehr übel. Zwar war das Feuer eingedämmt, aber ausgerechnet dieser Teil des Hauses war am schwersten betroffen.
Nick horchte auf. Er vernahm einen Laut, der bis jetzt in dem ganzen grässlichen Getöse gefehlt hatte. Ein Jaulen, ein Winseln war es. Das konnte nur Anka sein. Weiter weg war es, aber doch deutlich zu hören.
Nick hastete um die Ecke des Hauses. Es war die dem Feuer abgewandte Seite, an der auch die Wasserfluten noch verhältnismäßig wenig Schaden angerichtet hatten. Im ersten Stock stand ein Fenster offen. Vielleicht war die Scheibe auch gesplittert. Das war nicht so genau auszumachen. Unübersehbar jedoch war der Kopf einer Boxerhündin. Sie hatte die Vorderpfoten auf die Brüstung gestemmt und gab nun ein heiseres Bellen von sich.
Sofort eilte Nick zurück. »Herr Anger, ich habe Anka gefunden. Schnell, kommen Sie!«
Alle folgten ihm. Als Anka die Menschen gewahrte, verschwand ihr Kopf, um jedoch gleich darauf wieder aufzutauchen. Sie bellte nicht mehr, sondern keuchte vor Anstrengung. Zwischen den Zähnen hielt sie etwas Weißes.
Was nun kam, war das Werk von wenigen Minuten. Detlev ließ es sich nicht nehmen, als erster über die ausgefahrene Leiter hinaufzusteigen. »Brave Anka«, sagte er. Die Hündin war am Ende ihrer Kräfte. »Halt noch ein Weilchen aus, ich hole euch!«
Er erreichte das Fenster und schwang die Beine durch die Öffnung. Anka hielt immer noch das weiße Nachthemdchen der kleinen Cilly fest. An diesem Stoffzipfel musste sie das Kind aus dem Bett gezerrt und zu diesem Fenster geschleppt haben. Doch jetzt ließ sie sich Cilly ruhig von Detlev abnehmen. Ihre Flanken bebten vor Erschöpfung.
Detlev schoss es heiß in die Augen, als er das bleiche Kind hochhob. Cillys Atem ging unregelmäßig und rasselnd. Aber sie atmete.
»Gib mir das Kind, Detlev«, sagte Hans, der hinter ihm die Leiter emporgeklettert war.
Detlev gehorchte widerspruchslos. »Und Anka?«
»Die holen wir gleich«, antwortete Hans.
Detlev schüttelte den Kopf. »Ich nehme sie selbst. Wenn Cilly lebt, dann haben wir es nur ihr zu verdanken.« Er griff nach Ankas Halsband und redete ihr unablässig gut zu, während er mit ihr den Abstieg begann.
Nick verfolgte die Aktion voller Bewunderung. Was für ein kluges Tier Anka doch war, und wie geschickt sie die Pfoten auf die Sprossen setzte!
Auch wenn Nick es niemals zugegeben hätte, ein klein wenig stolz war er doch darauf, dass er Anka hatte ins Haus wischen sehen und dass er sie dann auch am Fenster entdeckt hatte.
Alexander von Schoenecker trat zu seinem Sohn. Er hatte alles beobachtet und ahnte, was in Nick vorging. »Gut gemacht, Nick«, lobte er.
Nick strahlte. Ein Lob von Vati – das zählte!
*
Heidemarie und Detlev fuhren in dem Sanitätswagen mit, der ihren schwer verletzten Vater und Cilly ins Maibacher Krankenhaus brachte. Anfangs hatte Detlev noch bei den Aufräumungsarbeiten mithelfen wollen, doch der Notarzt hatte erklärt: »Ich hielte es für besser, Sie kämen gleich mit, Herr Anger.«
Diese Bemerkung klang in Heidemaries Ohren noch immer nach. Außerdem sprach der Blick des Arztes, mit dem er den Verletzten streifte, Bände.
Die Geschwister wagten es nicht, weiter in den Arzt zu dringen. Sie fürchteten sich vor der Wahrheit.
Auch Cilly war noch nicht bei Bewusstsein. Sie atmete schwer. Vermutlich hatte sie eine ziemliche Portion Rauch geschluckt und stand dazu noch unter Schockeinwirkung.
Die Sorge für Anka hatte Alexander von Schoenecker übernommen. Das Tier hatte böse Brandwunden und gehörte schleunigst in die Behandlung eines Tierarztes. Beim Schwiegersohn Alexander von Schoeneckers, Dr. von Lehn, würde Anka am besten aufgehoben sein.
Heidemarie und Detlev hielten sich an der Hand. Keiner von beiden sprach. Sie starrten abwechselnd auf die bleichen Gesichter des Vaters und der kleinen Schwester und versuchten gewaltsam, die aufsteigende Hoffnungslosigkeit zu bekämpfen.
Der Notarzt hatte beiden Patienten eine Spritze gegeben. Nun saß er neben Anton Anger, die Hand an seinem Puls. Zwischendurch sah er mitleidig zu den Geschwistern hinüber. Was hatten sie in den letzten Stunden durchgemacht, und was lag noch vor ihnen, dachte er dabei.
In der Klinik stand das geschulte Personal schon bereit, um sofort Hilfe zu leisten.
Anton Anger wurde in den Operationssaal gefahren, während Cilly in der Intensivstation behandelt wurde.
Detlev und Heidemarie wurden in den Aufenthaltsraum gebeten. Sobald man Näheres wisse, würde man sie benachrichtigen, versprach eine freundliche Schwester.
»Ich habe Angst, Detlev«, flüsterte Heidemarie und lehnte sich an den Bruder.
Er legte den Arm um ihre Schultern. »Wir wollen nicht zu schwarz sehen, Heidi«, versuchte er sie zu trösten. »Vater hat eine eiserne Gesundheit.«
Heidemarie schwieg. Es stimmte, Anton Anger war ein kräftiger Mann. Was aber half dies alles, wenn ein schwerer Holzbalken das Rückgrat verletzt hatte?
»Ich mache mir solche Vorwürfe wegen Cilly«, fuhr Detlev nach einer Pause fort. »Wenn ich mich doch gleich um sie gekümmert hätte! Diese Kopflosigkeit werde ich mir nie verzeihen!«
Heidemarie rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Dasselbe könnte ich auch von mir behaupten«, entgegnete sie. »Wir waren der Situation einfach nicht gewachsen. Dafür müssen wir uns jetzt um so mehr zusammennehmen. Beide brauchen uns. Cilly … und der Vater.«
Heidemarie brach ab. Ihre letzten Worte blieben im Raum stehen. Der Vater, würde er sie wirklich noch brauchen? Das waren quälende Gedanken, die man besser gar nicht zu Ende dachte.
Nach verhältnismäßig kurzer Zeit erschien die Nachtschwester und winkte die beiden auf den Gang hinaus. »Sie können jetzt zu Ihrem Vater gehen«, erklärte sie.
»So schnell? Ist denn die Operation schon vorbei?«, wunderte sich Detlev.