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Rosa hat Enzo verraten. Wegen ihr saß er im Knast. Wegen ihr läuft der Mörder seiner Eltern noch immer frei herum. Als die Helldogs den Krieg mit den Spanish Horses beenden wollen, glaubt Enzo, endlich Rache nehmen zu können. Er entführt Rosa ins Clubhaus der Helldogs. Sie soll als Druckmittel gegen die Spanish Horses eingesetzt werden. Doch bis es soweit ist, wird sie Enzos Gefangene sein. Genug Zeit, um ihr das Leben so richtig schwer zu machen und herauszufinden, wieso sie ihn verraten hat. Enzo erfährt, dass Rosa mit dem Mörder seiner Eltern zusammen ist, mit Alejo sogar ein Kind hat. Für Enzo werden die Tage mit ihr als seine Gefangene zur Zerreißprobe. Er sollte sie hassen, schließlich verdankt er ihr zwei Jahre Haft, in denen er unzählige Male angegriffen wurde und nur gerade so überlebt hat. Aber er fühlt sich auch zu ihr hingezogen. Trotz seiner Gefühle für Rosa, will er Alejo endlich zur Strecke bringen, aber wird sie ihm das jemals verzeihen? Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
HELLDOGS MC
Über dieses Buch
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog
Literaturverzeichnis
Bücher von Elena MacKenzie
1. Auflage 2025
Copyright: Elena MacKenzie
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Elena MacKenzie
unter Verwendung von
Bildmaterial von Canva:
Kontakt: Elena MacKenzie
Dr.-Karl-Gelbke-Str. 16
08529 Plauen
Rosa hat Enzo verraten. Wegen ihr saß er im Knast. Wegen ihr läuft der Mörder seiner Eltern noch immer frei herum. Als die Helldogs den Krieg mit den Spanish Horses beenden wollen, glaubt Enzo, endlich Rache nehmen zu können. Er entführt Rosa ins Clubhaus der Helldogs. Sie soll als Druckmittel gegen die Spanish Horses eingesetzt werden. Doch bis es soweit ist, wird sie Enzos Gefangene sein. Genug Zeit, um ihr das Leben so richtig schwer zu machen und herauszufinden, wieso sie ihn verraten hat. Enzo erfährt, dass Rosa mit dem Mörder seiner Eltern zusammen ist, mit Alejo sogar ein Kind hat. Für Enzo werden die Tage mit ihr als seine Gefangene zur Zerreißprobe. Er sollte sie hassen, schließlich verdankt er ihr zwei Jahre Haft, in denen er unzählige Male angegriffen wurde und nur gerade so überlebt hat. Aber er fühlt sich auch zu ihr hingezogen. Trotz seiner Gefühle für Rosa, will er Alejo endlich zur Strecke bringen, aber wird sie ihm das jemals verzeihen?
Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.
Für Dich
Enzo
Vier Jahre zuvor
Alles, was ihm geblieben war, war der Rucksack, der über seiner Schulter hing, und die Kleidung an seinem Körper, die nach Rauch stank. Der Geruch befand sich überall an seinem Körper, als bräuchte er eine Erinnerung an das, was heute Nacht geschehen war. Er hatte seine Eltern bei einem Brandanschlag auf ihr Haus verloren. Das Feuer war im Schlafzimmer ausgebrochen. Demonio, sein Patenonkel und Vizepräsident der Spanish Horses – dem Motorradclub, dem auch sein Vater angehört hatte – war sich sicher, dass jemand einen Molotowcocktail durch das offene Fenster direkt auf das Bett seiner Eltern geworfen hatte. Sie hatten keine Chance.
Nur Enzo war rausgekommen. Er hatte nicht einmal eine Schramme, nur ein leichtes Brennen in seiner Lunge, weil er den dicken Rauch eingeatmet hatte und hustend aufgewacht war.
»Tut mir leid, dass wir nicht mehr retten konnten«, sagte Demonio. Sie standen beide vor dem, was von seinem Zuhause übrig geblieben war. Mehrere Feuerwehrleute und Polizisten durchsuchten die Ruine nach Hinweisen. Enzos Zimmer befand sich auf der rechten Seite des kleinen Hauses und war damit am besten weggekommen, links existierte nichts mehr außer Schutt und Asche. Sie hatten die Körper seiner Eltern unter einer Menge Müll hervorgezogen, während Enzo im Krankenhaus untersucht worden war.
»Ich habe deinem Alten versprochen, wenn jemals etwas in der Art passieren würde, würde ich mich um dich kümmern. Umgekehrt hätte er sich um meine Kleine gekümmert. Wir beide haben einander jetzt also am Hals, ob es dir gefällt oder nicht.«
Es gefiel Enzo nicht, aber mit Demonio zu gehen, war immer noch besser, als in einem Waisenhaus, einer Pflegefamilie oder betreutem Wohnen zu landen, nur weil er noch nicht ganz volljährig war. »Schon klar«, murmelte Enzo und schluckte gegen die Tränen an. Er wollte jetzt nicht heulen. Er durfte jetzt nicht heulen. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, Männer heulen nicht. Das Heulen hatte sein Vater ihm im Ring hinten im Garten ausgetrieben, wo Enzo schon trainiert wurde, bevor er in die Schule kam. In diesem Augenblick war Enzo so sehr danach, seine Fäuste in den Sandsack in der Garage zu trümmern, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Seine Fäuste zu benutzen, half ihm dabei, seine Gefühle zu kontrollieren. So würde er wenigstens nicht anfangen zu heulen.
»Ich gehe nicht ohne sein Bike«, stieß Enzo mit zitternder Stimme aus. Er war sich nicht sicher, ob seine Stimme wegen des Schmerzes in seiner Brust oder wegen des Zorns zitterte. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem.
»Wir können es morgen holen. Ich kann nur ein Bike gleichzeitig fahren«, erklärte Demonio ernst.
»Dann fahre ich es. Jedenfalls lasse ich es nicht hier.«
»Die Reifen sind zerstochen, Junge.« Demonio seufzte, zog sein Handy aus der Tasche und starrte Enzo an. »Ich lasse es abholen und zu mir nach Hause bringen. Ist das okay für dich, Vincenzo?« Demonio musterte Enzo mit schmerzerfülltem Gesicht. Ihn berührte der Verlust genauso sehr wie Enzo. Demonio und sein Vater kannten sich schon ihr ganzes Leben lang. Sie hatten die Spanish Horses – damals noch Caballos españoles – gemeinsam gegründet, das hatten beide Enzo immer wieder erzählt. Und dass es wichtig war, dass Enzo eines Tages bereit wäre, die Führung im Club zu übernehmen, so wie sein Vater es getan hatte.
Enzo nickte bedrückt. »Danke.« Er ging auf einen der Feuerwehrleute zu, die auf dem Rasen vor dem Haus standen und die Ruine betrachteten. Hier und da stiegen noch immer kleine Rauchschwaden auf. Enzo kämpfte seit Stunden gegen seine Emotionen an. Sein Vater würde es hassen, ihn heulen zu sehen. Und eigentlich war die Wut, die er empfand, viel gewaltiger als der Druck der Tränen auf seinen Augen. Er wollte viel lieber losstürmen und diesen Arschlöchern ein paar Zähne ausschlagen, sie langsam und genüsslich in Streifen schneiden und an Demonios Rottweiler verfüttern. »Kann ich … kann ich kurz rein? Nur ein paar Sachen aus dem Wohnzimmer und meinem Schlafzimmer«, richtete er sich an den ersten Feuerwehrmann, auf den er stieß.
Der Mann, den Enzo angesprochen hatte, musterte ihn mit fest aufeinander gepressten Lippen. In seinem Gesicht konnte Enzo ablesen, was ihm durch den Kopf ging. Es tat ihm leid, dass sie Enzos Eltern nicht hatten retten können. Er hatte Mitleid mit Enzo, aber Enzo wollte sein Mitleid nicht. Alles, was er wollte, war, dort reinzugehen und ein paar Sachen zu holen, die ihm wichtig waren. »Okay, aber nur in die Räume auf dieser Seite«, sagte er und deutete auf die Haushälfte, die noch intakt war. »Mein Beileid«, fügte er noch an.
Enzo schaffte es nicht einmal, zu nicken. Er ließ den Mann einfach stehen, weil er ihm nicht zeigen wollte, dass diese zwei Worte ihm den Atem geraubt hatten. Nur der Gedanke daran, dass er sie in den nächsten Wochen wahrscheinlich ständig hören würde, sorgte dafür, dass Enzo würgen musste. Er hatte das vor vier Jahren schon einmal erlebt, als seine kleine Schwester im Pool hinter dem Haus ertrunken war. Jeder hatte ihn und seine Eltern über Monate hinweg mit diesem Blick bedacht, sie wie rohe Eier behandelt. Wochenlang hatte jeder, dem er begegnet war, immer wieder diese zwei Worte wiederholt, bis Enzo sie einfach nicht mehr ertragen konnte. Weil sie ihn daran erinnerten, dass er zehn Minuten nicht aufgepasst hatte. Zehn Minuten, in denen er in der Küche war, um sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen.
Enzo schluckte die Erinnerungen runter und stieg durch das offene Fenster in das Wohnzimmer. Hier drin war der Geruch nach Verbranntem unendlich viel stärker. Auch wenn das Feuer nicht bis in diesen Raum vorgedrungen war, hatte es zumindest den Türrahmen verkokelt, einen Teil der Wand daneben und die Decke darüber. Der nasse Teppich schmatzte unter Enzos Schuhen, als er weiter in den Raum lief. Enzo schnappte sich die Decke vom Sofa, mit der seine Mutter sich immer zugedeckt hatte, wenn sie sich nachmittags etwas ausgeruht hatte, breitete sie auf dem Tisch aus und legte zwei Bilderrahmen mit Bildern seiner Eltern und seiner Schwester darauf. Dann öffnete er die Schränke, legte ein Fotoalbum dazu, zwei Ordner mit allen Unterlagen, die seine Mutter immer als wichtig bezeichnet hatte – Geburtsurkunden und solchen Kram –, ein paar der Romane, die sie so geliebt hatte, und die Kassette, in der das Bargeld für den Notfall versteckt war. Unter den Bodendielen zog er die Glock heraus, die sein Vater dort versteckt hatte, um immer eine Waffe im Haus zu haben – für den Notfall. Sie hatte ihn nicht gerettet.
Danach ging er mit seinem Bündel weiter in sein eigenes Zimmer und packte die Dinge ein, die ihm am wichtigsten erschienen, darunter ein weißes Einhorn mit bunter Mähne, das seiner Schwester gehört hatte. Als er fertig war, stieg er wieder zum Fenster raus. Draußen luden zwei Clubmitglieder die Maschine seines Vaters gerade in einen Transporter. Als sie Enzo kommen sahen, zogen sie ihn in eine knappe Umarmung, klopften ihm auf den Rücken, vermieden es aber, ihm in die Augen zu sehen. Enzo war dankbar dafür. Er warf sein Bündel wortlos hinten auf die Ladefläche und stieg hinter Demonio auf sein Bike. Sobald Enzo saß, fuhr Demonio eine Schleife, um das Bike auf der schmalen Straße zu wenden und dann Richtung Stadtgrenze, wo er in einem recht großen Haus wohnte.
Die Fahrt war nicht lange, nicht einmal zehn Minuten, aber Enzo kam sie wie eine Ewigkeit vor, weil er jede Sekunde gegen das Brennen in seinen Augen ankämpfen musste. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er irgendetwas hätte, womit er sich ablenken könnte. Aber er hatte nichts zu tun. Nur hinter Demonio zu sitzen, wo er hilflos den Bildern der vergangenen Stunden ausgesetzt war. Enzo hatte noch versucht, in das Schlafzimmer zu kommen. Aber es war unmöglich gewesen, weil jemand von innen die schwere Kommode vor die Tür geschoben hatte.
Demonio fuhr die Auffahrt hoch und stoppte die Harley vor der Garage, in der sich noch ein aufgemotzter tiefschwarzer Challenger mit weißen Streifen befand, für den Enzo heute keinen zweiten Blick erübrigen konnte. Enzo stieg von dem Bike und wartete auf den Transporter, der direkt hinter ihnen die Auffahrt hochkam. Die Männer öffneten wortlos den Laderaum, brachten die Rampe am Ende an und holten das Bike seines Vaters raus.
»Wir hätten es auch in der Werkstatt des Clubs reparieren können«, wandte Ronaldo ein, den alle so nannten, weil er vor sehr langer Zeit mal Profifußballer war. Eine Karriere, die nicht lange angedauert hatte, weil Ronaldo in einen Skandal mit einem viel zu jungen Mädchen verwickelt war. Die Mädchen, die Ronaldo heute in sein Bett holte, waren noch immer viel zu jung für den fast sechzigjährigen Mann, aber immerhin volljährig.
»Nein«, stieß Enzo hart aus. »Ich kümmere mich darum. Gleich morgen. Bringt mir einfach, was ich brauche.« Ronaldo warf Demonio einen fragenden Blick zu, dieser nickte flüchtig und deutete auf die offen stehende Garage.
»Der Junge bekommt das schon hin. Das Bike gehört jetzt ihm.« Demonio musterte Enzo nachdenklich. »Rosa und die Haushälterin warten im Haus auf dich. Der Club und ich haben jetzt noch einiges zu klären. Ich denke, du kommst ohne mich klar.«
Enzos Blick glitt über das weiße Haus, dessen Anstrich schon eine Weile abblätterte und das vor hundert Jahren wahrscheinlich beeindruckend ausgesehen hatte. Es hatte weiße Säulen vor dem Eingang und mehrere Balkone vor den Fenstern in der oberen Etage. Es war nicht riesig, aber immerhin größer als ein durchschnittliches Familiendomizil. Demonio war nicht reich oder so, das wusste Enzo, schließlich kannte er ihn schon sein Leben lang. Dieses Haus gehörte Rosa, die es von ihrer Mutter geerbt hatte, die es von ihren Eltern geerbt hatte und so weiter. Enzo hätte sich nie träumen lassen, dass er hier einmal leben würde. Um ehrlich zu sein, hatte er nie darüber nachgedacht. Er kannte es nur von seinen Besuchen mit seiner Familie hier, die nicht häufig waren, da die Clubmitglieder und ihre Familien sich meistens im Clubhaus trafen. Der Club gehörte seit seinem zehnten Lebensjahr zu Enzo, auch wenn er noch kein Mitglied war. Aber er war auf dem Weg dorthin, er war jetzt seit zwei Jahren Prospecto. Was ihn zu so etwas wie einem Auszubildenden machte. Mit der einzigen Ausnahme, dass Enzos Vollmitgliedschaft keine Option war. Sie war längst beschlossene Sache. Und irgendwann hätte er seinen Vater ablösen sollen und wäre Presidente geworden. Diese Ehre würde jetzt wahrscheinlich Demonio zuteilwerden, weil Enzo noch zu jung war.
»Ich schaff das schon«, murmelte Enzo, nahm das Bündel, das er gepackt hatte, und seinen Rucksack und hielt auf die Tür zu. Die Tür wurde von einer Frau mittleren Alters geöffnet, noch bevor Enzo die Stufen erklommen hatte.
Die Haushälterin verzog keine Miene, als Enzo an ihr vorbeiging. »Mein Name ist Irina. Ich habe dir das Gästezimmer vorbereitet. Du bist wahrscheinlich erschöpft, aber wenn du noch etwas essen willst …«, sagte sie mit schwerem osteuropäischem Akzent. Enzo warf einen flüchtigen Blick über die Schulter zurück und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Er wollte nicht unhöflich rüberkommen, wenn er ablehnte. Irinas wirrer Frisur sah man an, dass sie das Bett erst kürzlich verlassen und keine Zeit für eine Bürste gefunden hatte. Ihr aschblondes, von silbernen Strähnen durchzogenes Haar stand in sämtliche Richtungen ab, aber sie war vorbildlich mit weißer Seidenbluse und schwarzem Rock gekleidet.
»Nein, schon gut. Ich will nichts«, fiel er ihr ins Wort und hielt direkt auf die breite Treppe in die obere Etage zu, die von dem offenen Wohnbereich nach oben führte. Dieses Haus hatte nicht wirklich einen Eingangsbereich, das Wohnzimmer war der Eingangsbereich. Von hier aus kam man in die Küche, ein Büro, das Zimmer der Haushälterin und in den Garten. Oben gab es ein weiteres Büro und drei Schlafzimmer, soweit Enzo sich noch erinnern konnte.
Die Haushälterin versuchte, mit ihm Schritt zu halten, aber Enzo hatte es so eilig, endlich allein zu sein, dass er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Bis ihm auffiel, dass er keine Ahnung hatte, welches Zimmer für ihn vorgesehen war. Er blieb oben stehen und ließ seinen Blick den Korridor entlanggleiten. Eine der Türen öffnete sich in der Sekunde, in der sein Blick auf dem dunklen Holz lag. Enzo hatte Rosa zuletzt gesehen, als sie etwa fünfzehn war, seitdem war sie auf keinem der Familienfeste im Club mehr gewesen. Aber er erkannte Demonios Stieftochter sofort.
Rosa Alvarez hatte Rundungen bekommen, ihre Lippen waren voller geworden, ihre Augen größer und ihr Blick trotziger. Ihre tiefschwarzen Haare lagen in zwei geflochtenen Zöpfen über ihren Schultern und reichten bis zu ihren Hüften. Enzos Blick glitt weiter nach unten, wo zwei schlanke Beine aus ihren kurzen Schlafshorts ragten. Sie war eben erst aufgestanden, während er die gesamte Nacht im Krankenhaus und vor der Ruine seiner Familie verbracht hatte.
Sie kniff die Lider zusammen und runzelte die Stirn, sobald sie Enzo entdeckte. Mit einem wütenden Seufzen trat sie zurück in ihr Zimmer und warf die Tür lauter zu, als es nötig gewesen wäre. Obwohl Enzo noch immer danach war zu heulen, entlockte ihm diese Reaktion ein freudiges Lächeln. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich ihre Abneigung verdient hatte, indem er absichtlich einen Fußball auf sie geschossen hatte, der das Schokoladeneis in ihren Händen getroffen und ihr niedliches Blümchenkleid von oben bis unten eingesaut hatte. »Was läufst du hier auch rum, wo wir Fußball spielen?«, hatte er ihr zugerufen, und Enzo und Ronaldo hatten gelacht, als sie wutentbrannt ins Clubhaus gerannt war, um sich bei ihrem Vater zu beschweren. Vielleicht war er ja daran schuld, dass sie auf kein Familienfest mehr kam, denn das war nicht alles, womit er sie geärgert hatte. Rosa hatte schon seit jeher etwas in ihm ausgelöst, das ihn dazu brachte, sie zu verärgern. Er liebte es einfach, wenn sie wütend auf ihn war.
Rosa
Rosa warf die Tür zu und lehnte sich heftig atmend dagegen. Sie hatte gewusst, dass er kommen würde. Ihr Vater hatte sie aus dem Krankenhaus angerufen und ihr erzählt, was geschehen war. Und vielleicht sollte sie mitfühlender mit Enzo sein. Aber sie hasste ihn schon so lange, der Verlust seiner Eltern konnte daran auch nichts ändern. Es gab keinen Schalter, den sie einfach umlegen konnte, um anders zu fühlen. Dieser Junge hatte sie gequält, seit sie ihm das erste Mal begegnet war. Er hatte sie im Keller des Clubs eingesperrt, nachdem er sie runtergelockt hatte, weil sich angeblich ein Kätzchen dort hineinverirrt hatte. Er hatte ihr Spinnweben in die Haare geschmiert, ihr neues Kleid versaut, sich über ihr Lispeln lustig gemacht, als sie eine Zahnspange tragen musste, und ihr den unschönen Spitznamen Dornröschen verpasst. Weil sie angeblich unschuldig wirkte, aber stachelig war. Irgendwann hatte sie keine Lust mehr auf Familienfeiern auf dem Clubgelände, obwohl sie immer gerne dort gewesen war. Jetzt sollte Enzo im Zimmer neben ihrem wohnen. Wie sollte sie ertragen, wenn er sie in ihrem eigenen Haus mobbte und es gar keinen Ausweg mehr für sie gab?
Ihr Herz hämmerte wie ein Presslufthammer in ihrer Brust. So war es immer gewesen, wenn sie ihm begegnet war. Ihr Magen krampfte, ihr Puls raste, ihre Hände schwitzten. Und sie konnte kaum atmen. Weil er sie so wütend machte. Und schon immer war sie unfähig gewesen, sich der Anziehung seiner Augen zu entziehen. Sie wirkten auf sie wie zwei schwarze Magneten. Glänzend, wütend, hart und traurig zugleich. Verletzt. Sie war einfach unfähig, nicht hinzusehen, wenn sie ihm begegnete, weil sein Blick sie unerklärlicherweise faszinierte. Etwas musste mit ihr ganz und gar nicht in Ordnung sein, wenn sie sich trotz allem, was er ihr angetan hatte, so zu ihm hingezogen fühlte. Dass sie so empfand, machte sie nur noch wütender. Sie wollte nichts an ihm mögen. Auch nicht seine Augen. Angst hatte sie keine vor ihm, die Wut auf ihn überlagerte alles, was sie je für ihn empfinden könnte. Rosa atmete tief und bewusst ein und aus, um sich zu beruhigen. Sie würde sich nicht davon unterkriegen lassen, dass Enzo jetzt im Zimmer nebenan lebte. Sie würde ihm so gut es ging aus dem Weg gehen. Das konnte sie schaffen.
Ein dumpfer Schlag gegen die Wand, die sein Zimmer von ihrem trennte, schreckte sie aus den Gedanken. Sie hob den Blick und starrte auf die bunte Lichterkette, die sie über ihrem Bett angebracht hatte. Ein weiterer Schlag brachte die Kette dazu, zu erzittern. Auf einen dritten Schlag folgte eine ganze Abfolge, die sogar den Bilderrahmen darunter wackeln ließ, in dem Rosa eine Sammlung von Fotos hatte, die sie und ihre beste Freundin Amira in verschiedenen Situationen ihres Lebens zeigten.
Rosa hörte einen schmerzerfüllten Schrei, der durch die Wand drang und ihren Puls wieder beschleunigte. Hatte der Idiot sich bei seinem Wutausbruch etwa die Hand gebrochen?
Sie sprang auf, riss die Tür zu ihrem und dann zu seinem Zimmer auf und kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Enzo wieder und wieder eine Faust gegen die Wand schmetterte und dabei rote Flecken auf der weißen Farbe hinterließ.
»Hör auf!«, forderte sie und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme panisch klang. Sie befürchtete, dass Enzo sich ernsthaft verletzen könnte. Eigentlich sollte es ihr egal sein. Als Enzo nicht reagierte, brüllte sie noch lauter. »Hör endlich damit auf!« Sie konnte es nicht ertragen, jemanden leiden zu sehen. Nicht einmal, wenn es jemand war, der sie hatte so oft leiden lassen. Sie versuchte immer, jeden zu retten. Sie wusste, dass ihr Stiefvater und die Leute in seinem Club Dinge taten, die Menschen schadeten. Umso mehr versuchte sie, alles wiedergutzumachen, indem sie anderen Menschen half. Und Tieren.
Enzo erstarrte, wandte den wilden Blick in ihre Richtung und sah sie wutschnaubend an. Er senkte die Fäuste an seine Seiten und trat zitternd und mit Tränen in den Augen einen Schritt auf sie zu. Er sah aus, als wäre er völlig verrückt geworden. Sein Gesicht war zu einer hochroten Grimasse verzehrt, seine Lippen fest aufeinander gepresst und seine Stirn tief gerunzelt. »Was willst du hier?«, knurrte er sie an. In seinen Augen brannte ein Feuer, das alles und jeden verzehren sollte, das er anblickte. Und im Moment blickte er Rosa an.
Rosa versteifte sich, trat aber keinen Schritt zurück. Sie würde sich von ihm nicht verängstigen lassen. Sie war hier, um ihm zu helfen. »Ich will dich davon abhalten, dich zu verletzen«, sagte sie und war stolz auf ihre feste Stimme. Sie senkte den Blick auf seine Fäuste, von denen Blut auf den dunklen Holzboden tropfte. »Aber ich bin wohl zu spät. Ich kann dich also nur noch davon abhalten, dich noch schlimmer zu verletzen.«
Enzo trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Er musste seinen Kopf senken, um auf sie herunterzuschauen, so viel größer war er als sie. Wenn er ein Drachen wäre, würden wahrscheinlich Rauchwolken aus seinen Nasenlöchern dringen, so viel Zorn schien in ihm zu brodeln. Rosa biss sich auf die Unterlippe, rührte sich aber keinen Zentimeter. Stattdessen erwiderte sie mit stoischer Ruhe seinen Blick. »Ich dachte, das hier wäre mein Zimmer.«
»Das ist es. Zumindest im Moment noch. So wie ich Demonio kenne, wird er dich in die Garage oder den Keller sperren, wenn du weiter Löcher in die Wände schlägst«, erklärte sie und ließ sich von seinen Drohgebärden noch immer nicht beeindrucken. Das hier war ihr Zuhause und sie würde sich von ihm nicht bedrohen lassen. Er war hier nur Gast. Dieses Haus gehörte ihr. Als ihre Mutter vor zwei Jahren gestorben war, hatte nur Rosas Name im Testament gestanden. Nicht der ihres Stiefvaters, nicht der von Alejo. Und Rosa hatte vor, ihr Leben in diesem Haus zu verbringen, weil sie es liebte. Und weil alles darin sie an ihre Mutter und ihre Großeltern erinnerte. »Das mit deinen Eltern …«
»Sag es nicht!«, brüllte er sie an, ging auf sie zu und drängte sie mit wutverzerrtem Gesicht rückwärts aus der Tür. Seine Brust presste sich gegen ihre. Er war wie ein wildgewordener Stier. Sie konnte seinen rasenden Herzschlag spüren, so nah war er ihr. Sie spürte die Hitze seines Körpers und das angestrengte nervöse Zucken seiner Muskeln. »Sag nicht, dass es dir leidtut. Denn das tut es nicht. Erspar mir einfach deine Phrasen und verschwinde aus meinem Zimmer.«
Rosa trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist keine Phrase. Ich wollte dir nur sagen, dass ich weiß, wie sich das anfühlt. Das ist alles.« Sie holte tief Luft und straffte die Schultern. »Ich weiß es sogar sehr genau.« Rosa hatte ihre Großeltern verloren, als sie acht Jahre alt war. Bis dahin hatten sie, ihre Mutter und Rosa zusammen in diesem Haus gelebt. Sie hatte also ein sehr enges Verhältnis zu ihnen gehabt. Es war schlimm, sie beide kurz nacheinander an Krankheiten zu verlieren. Sechs Jahre später hatte sie dann ihre Mutter verloren. Rosa und sie waren im Nationalpark wandern, so wie sie es oft getan hatten. Ihre Mutter war einen Hang hinuntergestürzt und Rosa hatte nichts tun können, als zuzusehen, wie sie auf ihrem Weg nach unten gegen Bäume und Felsen prallte. Sie war ihr nachgerannt, hatte versucht, ihr zu helfen, aber das hatte sie nicht gekonnt. Weil sie nicht wusste, wie. Sie war völlig hilflos gewesen. Hatte nichts tun können, als ihr beim Sterben zuzusehen. So hilflos wollte sie sich nie wieder fühlen. Sie wollte wissen, wie sie Menschen helfen konnte, wenn sie jemals wieder in so eine Situation geraten würde. Deswegen hatte sie beschlossen, eine medizinische Ausbildung zu absolvieren.
Rosa konnte sehen, wie Enzo sich für eine Sekunde anspannte, sein Blick weniger wild wirkte, als er über ihre Worte nachdachte. Aber schon in der nächsten Sekunde stand er wieder vor ihr wie ein rasender Dämon direkt aus der Hölle. »Ich brauche dein Mitleid nicht, und jetzt verpiss dich aus meinem Zimmer. Übrigens: Schön für dich, dass du deine Spange endlich los bist, Dornröschen.«
Rosa zuckte zusammen, als Enzo ihr die Tür vor der Nase zuschlug. Sie starrte mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut auf die geschlossene Tür, bevor sie ihre Füße dazu bringen konnte, sich vom Boden zu lösen und zurück in ihr Zimmer zu gehen. Sie warf ihre eigene Tür zu, hob den Blick und sah sich im Spiegelbild an. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit ihren kurzen Pyjama anhatte. Nachdem ihr Vater an ihre Tür geklopft, sie aus dem Bett geholt und darüber informiert hatte, dass Enzo ab sofort bei ihnen wohnen würde und sie Irina helfen sollte, das Gästezimmer vorzubereiten, hatte sie ganz vergessen, dass sie noch immer ihren Schlafanzug anhatte.
Rosa atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch und warf einen Blick auf ihr Handy. Es war kurz nach fünf Uhr am Morgen. Auf ihrem Display wurde sie darüber informiert, dass sie neue Likes auf ihr letztes Foto auf Instagram erhalten hatte. Die meisten, die ihr folgten, waren Mitschüler. Sie verstanden sich alle ziemlich gut in ihrer Klasse und hatten auch nach dem Unterricht Spaß, indem sie sich gegenseitig auf Instagram auch über ihr Leben außerhalb der Schule informierten. Rosa machte ein Selfie von sich, auf dem auch das Oberteil ihres Pyjamas zu sehen war, und veröffentlichte es mit dem Kommentar: Nachts wach sein, weil plötzlich der Teufel persönlich im Zimmer nebenan wohnt. Wahrscheinlich war dieser Post geradezu eine Einladung an alle, sie in der Schule mit Fragen zu löchern. Aber irgendwie fühlte er sich auch befreiend an, als hätte er das Ventil aus ihrer Brust gezogen und die Luft, die sich dort in den letzten Minuten gestaut hatte, entlassen.
Sie warf ihrem Bett einen frustrierten Blick zu und beschloss, dass es sich nicht mehr lohnte, sich noch einmal hinzulegen. Stattdessen wollte sie tun, was sie oft tat, um ihre Gedanken zu sortieren: Sie würde laufen gehen. Um diese Uhrzeit war es noch nicht zu heiß dafür.
* * *
Ihre feuchten Haare bändigte Rosa in einem geflochtenen Zopf, den sie über ihren Rücken fallen ließ. Da der Sommer dieses Jahr extrem heiß war, entschied Rosa sich für ein leichtes Sommerkleid, das aber lang genug war, damit ihre Oberschenkel nicht wie gestern auf dem Stuhl in der Schule kleben blieben. Frisch geduscht, mit noch immer leicht geröteten Wangen von ihrem Lauf entlang des Flusses Oria, der sich durch Villabona schlängelte, ging sie in die Küche. Jeden Morgen bereitete Irina Frühstück für Rosa, damit sie nicht mit hungrigem Magen in die Schule ging. Rosa selbst vergaß gerne einmal zu essen.
Sie betrat die Küche, nur um in der Bewegung zu erstarren, als ihr Blick auf Enzo fiel. Er saß auf ihrem Stuhl, einen Berg Pancakes vor sich auf dem Teller, und ließ es sich sichtlich gut schmecken. Rosa straffte die Schultern und zog den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches zurück. Sie nahm sich einen der sauberen Teller, die Irina bereitgestellt hatte. Stöhnend schob sie ihn wieder von sich. »Dir ist nicht aufgefallen, dass Irina für zwei Personen gedeckt hat?«, giftete sie Enzo an, der eine Augenbraue hochzog, sie verwundert musterte und den Kopf schüttelte.
»Keine Ahnung, wovon du redest, Dornröschen.« Er schob sich einen Bissen Pancake in den Mund. Die Fingerknöchel der Hand, die die Gabel hielt, waren rot, geschwollen und stellenweise aufgerissen.
Rosa riss ihren Blick von Enzos Verletzungen und deutete auf den großen Teller in der Mitte, auf dem die Pancakes gelegen hatten, die Enzo gerade aß. »Ich denke, der Stapel war für uns beide gedacht«, erklärte sie mit steigendem Zorn. Gerade eben noch hatte sie sich entspannt gefühlt. Sie war eine extra lange Strecke gelaufen, um die Ereignisse der vergangenen Nacht abzuschütteln. Die Wut war verflogen und Rosa hatte sich darauf gefreut, in die Schule zu gehen und am Nachmittag mit ihren Freundinnen vielleicht dem Einkaufszentrum einen Besuch abzustatten. Jetzt war ihre gute Laune verflogen und Zorn fraß sich erneut durch ihren Magen. Enzo zuckte mit den Schultern und widmete sich seinem Frühstück. Rosa holte tief Luft, nahm sich eine Schüssel und ging zum Kühlschrank. Sie nahm sich einen Becher Skyr, gab ein paar Löffel in ihre Schüssel und ging zum Tisch zurück, wo sie Honig zum Skyr hinzufügte. Sie würde sich von Enzo nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Alejo, ihr Stiefbruder, Demonios Sohn aus erster Ehe, hatte auch immer versucht, sie zu provozieren. Alejo wohnte seit vier Jahren in seiner eigenen Wohnung, wofür Rosa dankbar war, denn ihr Stiefbruder war … Sie konnte es nicht beschreiben, aber er machte ihr Angst. Nicht immer, aber die meiste Zeit.
Schweigend aß sie und versuchte ihr Bestes, Enzo einfach zu ignorieren. Leider fiel ihr Blick immer wieder auf seine geröteten Augen und seine geschundenen Fingerknöchel. Und jedes Mal, wenn ihr Blick darauf hängenblieb, wuchs der Knoten in ihrer Brust ein Stück und erschwerte ihr das Atmen. Sie fühlte sich schlecht, weil sie ihn so angefahren hatte, wegen der Pancakes. Eigentlich hatte sie ohnehin nicht wirklich Lust darauf gehabt.
»Tut mir leid, ich hätte dich nicht so anschreien dürfen«, murmelte sie. Sie schob die Schüssel mit dem Skyr zur Seite, nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Schrank und lehnte sich an einen der Küchenschränke hinter Enzo. Er hatte wohl keine Lust, ihr zu antworten. Was ihr auch recht war.
Sie trank die Flasche aus und war gerade im Begriff, nach der Tüte mit dem Frühstück für die Schule zu greifen, als ihr Handy vibrierte. Rosa zog es aus der kleinen Umhängetasche, die sie immer bei sich trug, und rief die Benachrichtigungen auf. Ein paar ihrer Mitschüler hatten das Foto kommentiert, das Rosa hochgeladen hatte. Niemand erwähnte auch nur die Tatsache, dass Rosa einen Schlafanzug trug. Alle wollten wissen, wer der Teufel war, der jetzt bei ihr wohnte. Rosa würde ihre Neugier erst in der Schule stillen. Ihre Mitschüler waren auf eine merkwürdige Weise fasziniert davon, dass Rosas Stiefvater und ihr Stiefbruder Mitglieder eines Motorradclubs waren. Obwohl Rosa nicht viel darüber reden durfte, sprach sie gerne über das, was sie weitertragen konnte, ohne dass sie sich Ärger mit Demonio oder Alejo einhandelte: Die Regeln im Club, die wilden Partys, die Bikes, die Frauen. Da sie schon eine Weile nicht mehr im Clubhaus war, hatte sie schon lange nichts mehr zu berichten. Das war die traurige Seite daran, dass sie sich so weit wie möglich aus dem Clubleben zurückgezogen hatte. Sie hatte es nicht mehr ertragen können, zu sehen, wie Frauen zu Dingen gezwungen wurden, die sie nicht tun wollten, oder Männer gefoltert wurden, oder Alejo sich einen Spaß daraus machte, Tiere zu quälen. Seit sie kein Kind mehr war, machten die Mitglieder des Clubs sich nicht mehr die Mühe, das vor ihr zu verbergen, was den Club wirklich ausmachte. Als sie noch klein war, war es anders, auf dem Clubgelände zu sein. Da hatte es ihr noch Spaß gemacht. Das war die Seite, die sie ihren Freunden offenbarte. Aber diese Seite war nicht die Wahrheit, sie nutzte Rosa nur, um sich ein wenig besser zu fühlen, als es in der Realität war. Rosa wusch damit ihr Gewissen rein, indem sie allen erzählte, wie harmlos der Club doch war. Alle wären eben nur ein wenig verrückter und härter als normale Menschen. Sie steckte das Handy zurück.
»Ihr habt schon gegessen«, stellte Irina fest, als sie die Küche betrat.
»Die Pancakes waren sehr gut«, sagte Enzo kauend. Er warf einen Blick über die Schulter zurück. »Rosa haben sie auch geschmeckt.« Um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln.
Rosa ignorierte es. »Alles war perfekt, wie immer«, sagte Rosa zu Irina. »Ich werde heute wahrscheinlich später kommen. Wir wollen noch einkaufen gehen«, setzte sie Irina in Kenntnis, die seit dem Tod ihrer Mutter Rosas einzige wirkliche Bezugsperson war.
»Dein Vater wird auch nicht vor heute Abend zurück sein. Er hat vorhin angerufen.« Sie sah Enzo an und ihr Gesicht nahm sanftere Züge an. »Er lässt dir ausrichten, dass es okay wäre, wenn du heute nicht in die Schule gehen möchtest. Ich kann anrufen und dich entschuldigen.«
Enzo nahm seinen Teller und trug ihn zur Spüle. »Die Abschlussprüfungen sind durch. Muss mir nur noch den Zirkus antun, wenn sie die Zeugnisse übergeben.« Seine Stimme zitterte, als er das sagte. Konzentriert spülte er seinen Teller ab, wahrscheinlich hatte er gerade nicht die Kraft, Irina oder Rosa anzusehen. Wahrscheinlich war ihm gerade klar geworden, dass seine Eltern nicht bei diesem Zirkus dabei sein würden.
Rosa zog ihr Handy wieder hervor und tat so, als müsse sie unbedingt ihre Nachrichten lesen. Sie wollte beschäftigt aussehen, weil sie glaubte, dass es Enzo so leichter fallen würde, sich mit Irina zu unterhalten. Wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Wahrscheinlich würde es noch Monate dauern, bis Enzo über den Tod seiner Eltern reden konnte, ohne dass seine Stimme wegbrach, ihm Tränen in die Augen stiegen oder seine Finger nervös zu zucken begannen. Das waren eine Menge Wahrscheinlich, die Rosa in den letzten Minuten durch den Kopf gegangen waren.
»Señor Alvarez wird sich darum kümmern. Er ist jetzt dein Vormund. Und soweit ich weiß, kümmert sich der Motorradclub um solche Angelegenheiten wie die Bestattung seiner Mitglieder.« Irina legte eine Hand auf Enzos Schulter, zog sie aber sofort wieder zurück, als Enzo sich versteifte. »Ruh dich einfach ein paar Tage aus.«
»Ich werde in ein paar Wochen 18, ich brauche keinen Vormund«, erwiderte Enzo trotzig. Er schüttelte den Kopf und schenkte Irina ein entschuldigendes Lächeln. »Ich bin in der Garage, wenn Sie mich suchen«, sagte Enzo ernst. Er wandte sich um und ignorierte Rosa vollkommen, als er die Küche mit großen Schritten verließ.
Irina verzog unglücklich das Gesicht. »Er wird schon wieder«, murmelte sie mehr zu sich als zu Rosa. Sie musterte Rosa. »Wie geht es dir? Kommst du zurecht? Du und der Junge, ihr versteht euch nicht gut, oder?«
Rosa winkte lässig ab. »Das haben wir noch nie, aber dieses Haus ist groß genug, wir können uns aus dem Weg gehen.« Rosa griff nach ihrer Frühstückstüte. »Ich geh dann jetzt mal los. Letzter Schultag und so.« Rosas Stimme klang beschwingter, als sie sich fühlte. Aber sie wollte nicht, dass Irina sich auch noch um sie sorgte. Sie liebte Irina und wollte ihr so wenig wie möglich zur Last fallen. Irina hatte ihren Mann und ihre Tochter verloren. Das war einige Zeit, bevor sie als Haushälterin hier im Haus angefangen hatte und zum Teil dieser Familie geworden war.
Enzo
An einem Bike zu schrauben half Enzo, den Schmerz tief in sich zu vergraben. Er zog die letzte Schraube fest, klappte den Ständer nach hinten und schwang sich auf die Harley. Der Motor sprang mit einem kraftvollen Röhren an, die Maschine vibrierte unter ihm. Einige Sekunden genoss er den Sound der Maschine mit geschlossenen Augen und erinnerte sich an die vielen Male, als er seinen Vater auf dem Bike sitzen sehen hatte. Trotz seines Alters von über 50 Jahren war er ein Mann mit breiten Schultern, großgewachsen und stark. Enzo hatte seine Streitigkeiten mit ihm, aber er hatte auch immer zu ihm aufgesehen.
Noch ein paar Feineinstellungen, aber sonst war die Harley von seinem Vater schon immer hervorragend behandelt worden. Vielleicht wäre es trotzdem besser, wenn er eine kleine Runde durch das Viertel drehte, um die neuen Reifen zu testen. Enzo setzte den Helm seines Vaters auf und fuhr die kurze Auffahrt vor der Garage runter, bog auf die Straße ein und fuhr los. Noch dürfte er diese Maschine nicht fahren. Sein Führerschein galt nur für kleine Motorräder. Aber wen interessierte das schon? Die Polizei in Villabona hatte so etwas wie eine stille Übereinkunft mit den Spanish Horses und ignorierte die Mitglieder des Clubs die meiste Zeit. Seine Kutte zierte bisher zwar nur ein Prospecto-Patch, aber das reichte für gewöhnlich auch schon aus, um die Guardia Civil davon abzuhalten, ihn zu kontrollieren.
Enzo fuhr ein paar Minuten langsam, dann schneller und danach viel zu schnell durch die Straßen, konzentrierte sich auf die Maschine, wie sie sich unter ihm anfühlte, wie sie reagierte und in die Kurven ging. Er gab sich alle Mühe, seine Gedanken nur auf das Bike und die Straße zu richten. Aber irgendwann drängten sich die Bilder von letzter Nacht wieder in seine Gedanken und er verlor den Kampf gegen seine Emotionen. Blinzelnd lenkte er das Bike wieder in die Garage und stellte die Harley neben Demonios Auto ab. Er öffnete den Kühlschrank, der in der Garage stand, und nahm sich eine Cerveza. Damit setzte er sich auf die untere Stufe der Veranda und griff nach dem Liebesroman, der aus seinem Rucksack lugte. Das Buch war abgegriffen, hatte ein buntes Cover, das einen muskelbepackten Mann zeigte, der eine viel zu klein wirkende Frau in seinen Armen hielt.
Enzo schmunzelte, als er das Bild betrachtete. Seine Mutter hatte diese Bücher geliebt. Sie hatte ihm mal erzählt, sie würden ihr die perfekte Version ihres Mannes zeigen. So wie er war, als sie sich kennengelernt hatten. Bevor das Leben mit ihm und dem Club immer gefährlicher geworden war. Sie sagte, diese Bücher würden sie in bessere Zeiten zurückversetzen. Wahrscheinlich stand nur Müll darin, der mit der Realität nichts zu tun hatte. Aber Enzo schlug das Buch trotzdem auf und begann zu lesen, während er nebenbei sein Bier trank. Noch gestern Nachmittag hätte ihn nichts dazu bringen können, die Bücher seiner Mamá zu lesen. Aber jetzt wollte er es, als könnte ihn das näher zu ihr bringen. Ihm war bewusst, dass diese Vorstellung Bullshit war. Nichts könnte ihm seine Mutter je wieder zurückbringen. Aber dieses Buch zu lesen, wäre, als würde er die gleichen Gedanken teilen, die auch sie hatte. Nämlich jedes Wort, das auf diesen Seiten gedruckt war.
Enzo hatte sein Bier fast leer und die ersten fünf Kapitel gelesen, als Rosa aus einem Auto stieg, das mit laufendem Motor am Straßenrand parkte. Ein blondes Mädchen saß hinter dem Steuer, das ihn neugierig musterte. Ihre Lippen bewegten sich, als sie Rosa etwas zuflüsterte, die sich noch einmal in den kleinen Fiat beugte. Die beiden redeten und Enzo widmete sich wieder dem Buch in seinen Händen, in dem der muskelbepackte Biker gerade die Heldin des Buches aus einer misslichen Lage mit ihrem Ex-Mann rettete. Er schüttelte innerlich den Kopf, weil sich schon in den ersten Kapiteln herauskristallisierte, dass der Biker ein Ritter auf einem weißen Pferd war. Mit der Realität hat das nichts zu tun, dachte Enzo wieder und fühlte seine erste Vermutung bestätigt. Niemand im Club hatte das Bedürfnis, Frauen zu retten.
Die Spanish Horses zerstörten sie. Rissen sie auseinander und ließen nichts mehr von ihnen übrig. Sein Vater war nicht glücklich mit der Entwicklung, die der Club in den letzten Jahren genommen hatte. Aber die Geschäfte waren hart geworden, die Konkurrenz und der Druck. Wenn sie nicht zertrampelt werden wollten, mussten sie eine Wahl treffen. Besonders mit dem neuen Club in der Nachbarschaft – den Helldogs – hatte sich die Situation noch einmal verschärft. Niemand konnte sich so richtig erklären, wieso die Schotten sich ausgerechnet hier niedergelassen hatten und was ihre Pläne waren. Aber dass sie hier waren, beunruhigte die Russen und auch Enzos Club.
»Du liest Liebesromane«, bemerkte Rosa, als sie an ihm vorbei die Treppen zum Haus nahm.
»Und?«, fragte Enzo abweisend, legte das Buch zur Seite, trank sein Bier aus und stand auf. Jetzt befanden sie beide sich fast Nase an Nase, Enzo eine Stufe unter der, auf der Rosa stand, die sich zu ihm umgewandt hatte.
»Ich bin nur überrascht, dass du überhaupt lesen kannst. Ich hatte erwartet, dass du all deine Energie in Bikes und Muskeln steckst und für mehr einfach keine Zeit mehr bleibt.« Ihre Augen blitzten ihn herausfordernd an.
Enzo zog eine Augenbraue hoch, legte den Kopf schief und ließ seinen Blick gemächlich über Rosa gleiten. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Wie immer, wenn er es mit ihr zu tun bekam, wollte er sie provozieren und jedes Quäntchen Ärger, das er bekommen konnte, aus ihr herauszerren. »Dir sind meine Muskeln also aufgefallen«, stellte er lächelnd fest. Rosa wollte einen Kampf, dann würde sie ihn bekommen. Und Enzo würde es genießen, denn im Moment brauchte er jede Abwechslung, die ihm geboten wurde, um aus seinem Kopf zu kommen.
Ihr Blick glitt von seinen Oberarmen zu seinen Händen und dann seinen nackten Oberkörper wieder nach oben. Enzo spannte jeden Muskel an, während sie ihn musterte. Er kämpfte gegen jede Reaktion seines Körpers an, die ihr verraten könnte, wie sehr es ihm gefiel, dass sie ihn ansah und sich dabei über die Lippen leckte. Seine Haut schien unter ihren Blicken zu brennen.
»Du lässt mir kaum eine andere Wahl. Mein Vater kann dir bestimmt ein Shirt leihen, wenn deine alle …« Sie stockte, ihre Augen weiteten sich, bevor ihre Wangen sich rot färbten und sie ihr Gesicht abwandte. »Tut mir leid. Ich werde jetzt einfach reingehen.«
»Ja, mach das. Und entschuldige dich nie wieder bei mir, ich würde mich auch nicht bei dir entschuldigen.« Er kniff die Augen zusammen und beugte sich etwas näher zu ihr hin. Nah genug, dass der fruchtige Duft ihres Shampoos ihm in die Nase stieg – Pfirsiche oder etwas in der Art. »Für nichts. Nur für den Fall, dass du darauf gewartet hast, dass ich mich für etwas entschuldige, was ich getan habe, als wir noch Kinder waren.«
Sie schnaubte. »Habe ich nicht. Denn selbst, wenn du so etwas wie Reue empfinden könntest, würde das meine Meinung über dich nicht ändern.«
»Na dann ist ja gut«, bestätigte er mit einem breiten Grinsen. Er setzte genau dieses Grinsen auf, das aus irgendeinem Grund bei den meisten Mädchen, sogar bei älteren Frauen, funktionierte. Und an der Art, wie Rosa nach Luft schnappte und in ihren Gesichtsausdruck Verwirrung trat, erkannte er, dass es auch bei ihr funktionierte.
Rosa wandte sich blinzelnd ab und betrat hastig das Haus. Enzo gefiel das Kleid, das sie trug. Es war am Rücken weit ausgeschnitten und wurde dort von dünnen Schnüren zusammengehalten, die ihn regelrecht dazu aufforderten, seine Finger an ihnen entlang über ihre Haut streichen zu lassen und herauszufinden, wie weich sie sich anfühlte. Der Gedanke, dass sie so in der Schule war und der Kerl, der hinter ihr saß, wahrscheinlich die gleiche Fantasie über Stunden durchlebt hatte, sorgte dafür, dass in seinem Magen etwas zuckte. Und darüber war er mehr als verärgert, aber er hatte sich schon vor einer Weile eingestanden, dass Rosa etwas in ihm triggerte. Er fühlte sich von ihr angezogen, ihren langen dunklen Haaren, den waldgrünen Augen und ihrem Schmollmund. Besonders ihrem Schmollmund, der immer ein wenig trotzig wirkte. Diese Anziehung, die er eigentlich nicht wollte, war der Grund, weswegen er sie ständig auf Abstand zu halten versuchte. Enzo wollte so nicht für ein Mädchen empfinden. Jetzt noch weniger als früher. Weil das Leben ihm immer alles nahm, was ihm etwas bedeutete. Und wenn das Leben herausfand, dass Rosa ihm etwas bedeuten könnte, dann würde es ihm auch sie nehmen.
»Ich bin dann weg«, sagte er, bevor sie die Tür schloss.
»Wo willst du hin? Irina hasst es, wenn wir nicht pünktlich zum Essen auftauchen«, erklärte Rosa und trat noch einmal vor die Tür. Sie wischte sich eine Strähne ihres Ponys aus dem verschwitzten Gesicht. Ihr Pony war deutlich kürzer als der Rest ihrer Haare und fiel ihr immer wieder in die Augen.
»Ich brauche Klamotten, also fahre ich nochmal zum Haus. Ich denke, die Bullen müssten jetzt fertig sein mit ihrem Kram.« Enzo schluckte schwer, als seine Kehle drückte. Er wandte den Blick ab, damit Rosa nicht sah, wie kurz davor er stand, schon wieder in Tränen auszubrechen. Er hatte den halben Tag damit verbracht, zu heulen. Heulen war überhaupt nicht sein Ding. Er wollte nicht so schwach und verletzlich wirken. Sein Vater hatte nie geheult. Nicht einmal, als Enzos Schwester gestorben war. Und vor Rosa zu heulen, kam überhaupt nicht infrage. Sie sollte glauben, dass er stark war, eiskalt und unverletzlich, so wie sein Vater es gewesen war. So wie Demonio es noch immer war. Einen Spanish Horse zwang nichts in die Knie, nicht einmal der Tod seiner Eltern. »Sag Irina einfach, ich hätte keinen Hunger.«
»Ich bin dann nach dem Essen auch wieder weg. Amira holt mich später ab. Nur, falls es dich interessiert«, fügte sie bissig an. »Du wirst heute Abend bestimmt gern auf meine Gesellschaft verzichten.«
»Du solltest besser Zuhause bleiben«, murmelte er und starrte nachdenklich die Straße runter.
»Heute ist Freitag und der letzte Schultag, ich werde ganz sicher nicht zu Hause bleiben. Ich habe Ferien.« Ihre Stimme troff vor Zorn. »Es geht dich nichts an, was ich tue.«
Er winkte ab, ging die Stufen nach unten und zurück in die Garage, wo er sein Bike – das Bike seines Vaters – startete und losfuhr, ohne sich noch einmal nach Rosa umzusehen. Es sollte ihm egal sein, was sie tat und wo sie sich herumtrieb. Aber irgendwie war es ihm nicht egal. Es ließ ihn komischerweise nicht völlig kalt, dass auch ihr etwas zustoßen könnte. Er verdrängte die Gedanken, denn sie machten ihn nur noch zorniger.
Er hielt sich nicht lange in den Resten des Hauses auf. Gerade lange genug, um seine Kleidung aus der Kommode in seinem Zimmer zu zerren und in einen Müllsack zu stecken. In einen weiteren Sack warf er alles, von dem er sonst noch glaubte, dass er es vielleicht brauchen oder irgendwann vermissen könnte. Dabei liefen ihm immer wieder Tränen über die Wangen. Er strengte sich an, sie zurückzudrängen, aber ihm fehlte die Kraft. Was ihn so entsetzte, dass er aus Frustration darüber noch mehr heulte. Nur das stetige Pochen in seiner Hand hielt ihn davon ab, wieder gegen Wände zu schlagen.
Er fuhr mit seinem Bike auf den Parkplatz des Clubhauses. Von außen sah es aus wie eine Bar, weil es früher mal eine war. Der Club hatte einen Zaun um den Parkplatz herum gebaut und außen hing ein Schild, auf dem stand, dass das Areal Privateigentum sei und jeder mit Konsequenzen zu rechnen hätte, wenn er uneingeladen das Gelände betreten würde. Enzo hatte für den Prospecto, der ihm das Tor geöffnet hatte, kaum einen Blick übrig, obwohl die beiden sich eigentlich gut verstanden. Aber heute war Enzo nicht nach Freundschaft oder Gesprächen. Er war aus einem bestimmten Grund hier.
»Wo ist Demonio?«, wandte er sich an einen anderen Prospecto, der eben dabei war, das Bike eines Vollmitglieds von Straßenstaub zu befreien. Er nahm den Helm ab, legte ihn vor sich auf den Sitz der Harley und stieg ab.
»In der Iglesia, sie halten eine Misa ab. Wegen des Presidente.« Enzo bemerkte am dunkler werdenden Blick genau den Moment, in dem es Zeit wurde, sich zu entfernen, bevor dieses Gespräch in Beileidsbekundungen endete. Er wandte sich ab und hielt direkt auf den Eingang zum Clubhaus zu. Eigentlich ist es Anwärtern wie ihm nicht gestattet, Teil einer Misa zu sein. Aber es ging um seinen Vater. Er würde sich nicht aussperren lassen, nur weil ein fehlender Patch auf seinem Rücken das von ihm verlangte. Gerade hatte Enzo die Hand auf den Türgriff gelegt, als sie von innen aufgerissen wurde und er fast mit einer Mauer kollidierte. Enzo trat einen Schritt zurück und sah Demonio an, ohne seine schlechte Laune vor ihm zu verbergen.
»Ich hatte gehofft, ich wäre Teil von dem, was auch immer ihr plant, um herauszufinden, wer meine Eltern umgebracht hat.«
Demonio legte ihm eine Hand auf die Schulter und dirigierte ihn Richtung Bar. Er sagte dem Clubmädchen hinter der Theke, dass sie ihm und Enzo jeweils eine Cerveza aus der Zapfanlage lassen soll, und setzte sich auf einen der Barhocker. Enzo setzte sich neben ihn. Er war noch immer wütend, weil er nicht Teil der Misa gewesen war. Weil man ihn nicht in die Entscheidungen, die getroffen wurden, eingebunden hatte. Ihn behandelte wie den Prospecto, der er war. Obwohl es um seinen Vater ging. Und obwohl längst feststand, dass auch er in ein paar Wochen den Patch tragen würde. Sobald er 18 wurde. Weil dieser Patch sein Erbe war und er nicht wie Anwärter von außerhalb des Clubs nur darauf hoffen konnte, eines Tages wirklich dazuzugehören. Er würde dazugehören.
»Bailarín war mein Padre«, erklärte Enzo geknickt.
»Ich verspreche dir, wir werden alles tun, was nötig ist, um die Mörder zu finden. Und wenn es so weit ist, dann wirst du an meiner Seite stehen, um Rache zu üben. Aber bis dahin solltest du dir die Zeit nehmen, um klar im Kopf zu werden. Wenn du dich jetzt von deinen Gefühlen leiten lässt, dann wird uns das nur in die Quere kommen.«
»Du willst, dass ich mich zurücklehne und abwarte?«, stieß Enzo zornig aus.
»Ja. Zuerst werden wir unsere Toten beerdigen und trauern, und danach führen wir Krieg. Die Beerdigung findet Freitag statt. Wir werden deiner Mamá und deinem Padre den Abschied bereiten, den sie verdient haben.«
Enzo griff nach seinem Glas und trank in großen Zügen. Die eiskalte Flüssigkeit spülte den Druck in seiner Kehle runter und betäubte den Schmerz in seiner Brust auf ihrem Weg die Speiseröhre hinunter. »Wieso gibt es keine Abriegelung? Mein Vater hätte den Club abgeriegelt, bis die Sache geklärt wäre. Wir können nicht sicher sein, dass sie es nicht auf noch mehr Mitglieder und deren Angehörige abgesehen haben. Den Russen ist egal, wen sie töten. Wir erfüllen ihre Quote nicht, das wollten sie uns damit sagen.«
»Wir wissen nicht, ob es die Russen waren. Wir vermuten es, aber es könnte auch der neue Club dahinterstecken. Und ich denke nicht, dass es nötig ist, alle hier einzusperren. Wir sollten uns genau überlegen, ob es nötig ist, alle Frauen und Kinder herzuholen und ihnen Angst zu machen. Wir werden einfach besser aufpassen. Männer vor den Häusern postieren, Alarmanlagen installieren, wo noch keine sind.«
Enzo schüttelte abfällig den Kopf. Er war anderer Meinung, aber er hatte nichts zu sagen. Sein Blick fiel auf die dunkle Stelle auf Demonios Brust. Auf die Stelle, auf der bis gestern noch ein Patch angebracht war, der ihn zum Vizepräsidenten erklärte. »Du hast deinen Patch verloren«, sagte er bissig. Enzo war klar, dass Demonio ihn nicht verloren hatte. Jedes Clubmitglied musste zu jeder Zeit sicherstellen, dass seine Kutte in einem perfekten Zustand war. Das bedeutete auch, zu kontrollieren, ob alle Nähte, die die Patches festhielten, in einem einwandfreien Zustand waren.
»Die Brüder haben beschlossen, dass ich als Presidente nachrücke.«
Enzo stieß ein höhnisches Lachen aus. »Mein Padre ist noch nicht einmal unter der Erde und du greifst schon nach der Krone.«
»Du bist noch zu jung. Du hattest noch nicht einmal deine Weihe. Und gerade jetzt brauchen wir jemanden mit Erfahrung«, erklärte Demonio.
Enzo wusste, dass er recht hatte. Aber es fühlte sich so falsch an, dass jemand den Platz seines Vaters einnahm. Keine 24 Stunden nach dem Mord an ihm. Und sein Leben lang war Enzo darauf vorbereitet worden, diesen Platz einmal direkt von seinem Vater übergeben zu bekommen. Doch jetzt war alles anders. Enzo befürchtete nicht, dass er nie Presidente werden würde. Eigentlich war ihm das gar nicht so wichtig. Aber diese Veränderung im Club ging ihm zu schnell. Er war dazu noch nicht bereit. Er wusste aber auch, dass sie jemanden brauchten, der sie anführte, wenn sie sich wirklich gerade in einem Krieg befanden.
»Deine Tochter will heute Abend ausgehen, wusstest du das?«, sagte er kalt und zog fragend – geradezu provozierend – eine Augenbraue hoch. Er musste das Thema wechseln, bevor es ihn verschlang. Jetzt gerade konnte er nicht länger darüber nachdenken. »Ich finde es falsch, keine Abriegelung zu machen. Es ist ein Fehler, der meinem Vater nie unterlaufen wäre.«
»Ich habe dir erklärt, wieso wir eben gemeinsam entschieden haben, wie wir entschieden haben. Wir wollen die Familien nicht unnötig traumatisieren. Du kannst im Moment nicht klar danken, das ist okay. Aber ich bin jetzt der Presidente, willst du wirklich meine Entscheidungen anzweifeln?« Demonios Blick verdunkelte sich. Zorn spiegelte sich in seinen fast schwarzen Augen wider. Die wulstige Narbe, die sich über seine rechte Wange zog, zuckte unter der Anspannung seiner Kiefermuskulatur. Und die Falten um seine Mundwinkel und seine Augen gruben sich noch tiefer in seine Haut. Eine deutliche Warnung an Enzo, nicht zu weit zu gehen. Dem Presidente nicht zu widersprechen, weil ihm das nicht zustand.
Enzo schüttelte den Kopf. Er vergrub seinen Zorn in den Tiefen seiner zerbrochenen Seele. Wahrscheinlich war er im Moment wirklich zu stark involviert und deswegen zu hysterisch. Demonio hatte die gleiche Erfahrung wie sein Vater, was das Geschäft betraf. Bestimmt wusste er besser, was jetzt zu tun war und was sie zu befürchten hatten. »Tut mir leid. Ich fühle mich nur so nutzlos. Sperr mich nicht aus. Lass mich mit auf die Suche gehen. Ich will mithelfen, diese Arschlöcher zu finden.«
»Das wirst du, aber nachdem du dir die Zeit genommen hast, den Scheiß zu verarbeiten. Du tust dir keinen Gefallen, wenn du dir diese Zeit nicht nimmst. Du tust uns allen keinen Gefallen. Wir brauchen dich voll funktionstüchtig und klar im Kopf. Aber wenn du unbedingt eine Aufgabe brauchst, während du dich unter meinem Dach einlebst und ich mich um den Dreck kümmere, hast du die Verantwortung für meine Tochter.« Demonio griff hinter sich und zog seine Glock aus dem Bund der Hose.
»Ich habe meine Eltern nicht beschützen können, jetzt vertraust du mir deine Tochter an?« Enzo lachte hohl auf und schüttelte den Kopf. Das alles kam ihm so absurd vor.
»Gestern Nacht bist du zu jemand anderem geworden. Du bist um Jahre gealtert. Du bist jetzt ein Mann mit einem Bike und einer Waffe. Und einer gewaltigen Portion Wut. Ja, ich vertraue dir meine Tochter an. Du hast recht, sie sollte nicht draußen herumlaufen. Ich bin ohnehin der Meinung, dass ich ihr zu viele Freiheiten seit dem Tod ihrer Mutter eingeräumt habe. Das ist jetzt vorbei. Sie muss wieder lernen, was es bedeutet, Angehörige dieses Clubs zu sein. Eine unserer Frauen zu sein.« Demonio drückte Enzo seine Waffe in die Hand. Er legte eine Hand auf seine Schulter und drückte seine Stirn gegen die von Enzo. »Aber fass sie nicht an. Deine Hände haben nichts im Höschen meiner Tochter zu suchen. Ich hoffe, wir verstehen uns. Beschütze sie, aber fass sie nicht an.«
Enzo wollte Demonio die Glock zurückgeben, aber Demonio schüttelte den Kopf. »Ich habe die Waffe meines Padres.«
»Ich will, dass du diese hier auch hast. Ich weiß, ich kann deinen Vater nicht ersetzen, aber du bist jetzt mein Sohn und diese Waffe ist mein erstes Geschenk an meinen Sohn.«
Rosa
Mit kritischem Blick musterte Rosa das hellblaue Kleid, das sie heute Nachmittag im Stadtzentrum gekauft hatte. Ihr gefiel, wie es sich um ihre Kurven legte. Obwohl Rosa keine besonders großen Brüste hatte, schaffte es das in Falten gelegte Oberteil, ihre Brüste größer wirken zu lassen, als sie wirklich waren. Das Oberteil bestand eigentlich nur aus zwei breiten Streifen Stoff, die am Bund angenäht waren, sich über ihre Oberweite legten und in zwei gedrehten Zöpfen endeten, die sich zwischen ihren Schulterblättern vereinten und in ihrem Rücken wieder im Bund verschwanden. Der Rock war weit, reichte bis knapp über ihre Knie, und wenn sie sich drehte, stellte er sich wie ein Teller um sie herum auf. Damit niemand zu viel von ihr zu sehen bekam, wenn sie sich heute Abend auf der Tanzfläche vergnügte, trug sie darunter eine kurze Shorts. Das hatte sie schon immer so gemacht, weil sie sich so einfach sicherer fühlte vor ungebetenen Blicken und in unvorhergesehenen Situationen. Wenn eine Freundin ihr zum Beispiel im Übereifer den Rock hochriss, während sie sich nach ihrem Handy bückte, das sie fallengelassen hatte.
Ihre Haare hatte Rosa lässig noch oben gebunden, so dass unzählige gelockte Strähnen oben aus ihrem Dutt herausguckten und um ihren Kopf herum abstanden, fast als wäre jemand mit seinen Händen durch ihre Frisur gefahren und hätte sie durcheinander gebracht. Rosa tupfte noch etwas blass-roten Gloss auf ihre Lippen, dann war sie zufrieden mit ihrem Look. Sie griff nach der silbernen kleinen Clutch, steckte den Lipgloss und ihr Handy ein und verließ ihr Zimmer.
Amira würde jede Sekunde vor dem Haus parken. Und sie hasste es, wenn Rosa sie lange warten ließ. Wahrscheinlich würde sie es weniger hassen, wenn Enzo wieder vor dem Haus sitzen würde. Seit sie ihn heute gesehen hatte, sprach sie ständig von Liebe auf den ersten Blick. Rosa hatte ihr mehrmals erklärt, dass es Liebe auf den ersten Blick nicht gab. Was Amira fühlte, war sexuelle Anziehung auf den ersten Blick.
Wenn man sich auf jemanden einließ, nur wegen seines Aussehens, dann konnte das nicht gut enden. Was wusste Amira schon über Enzo? Sie hatte keine Ahnung, was im Club lief. Was die Männer manchmal taten. Alles, was sie über ihn wusste, war das, was Rosa ihr erzählen konnte, ohne sich Ärger mit ihrem Stiefvater einzuhandeln. Und das war nicht viel, nur der schreckliche Tod seiner Eltern, und dass Enzo sie früher ständig gemobbt hatte. Darauf konnte niemand eine Beziehung aufbauen. Aber um eine Beziehung ging es Amira wohl auch gar nicht. Es ging ihr um Sex.
Rosa beneidete Amira manchmal um ihre lockere Art, was Sex und Jungs betraf. Amira machte es gar nichts aus, einfach nur mit einem Kerl ins Bett zu steigen. Rosa war nicht so locker. Die Vorstellung, mit jemandem zu schlafen, den sie gar nicht kannte, machte ihr Angst. Dabei fand sie den Gedanken, so frei zu sein wie Amira, gar nicht so schlecht. Sie war nur nicht mutig genug. Vielleicht war sie in jeglicher Hinsicht nicht mutig genug, sich auf mehr einzulassen. Selbst dann nicht, wenn alles zu passen schien. Bis vor ein paar Tagen war Rosa noch in einer festen Beziehung gewesen. Sie und Emilio waren sechs Monate ein Paar. Aber jedes Mal, wenn er mehr als nur küssen wollte, hatte sie blockiert. War total erstarrt, ihre Gedanken waren herumgewirbelt und sie konnte es einfach nicht zulassen, dass er seine Hand in ihr Höschen schob. Es hatte sich nicht richtig für sie angefühlt. Sie hatte immer gedacht, dass sie mehr empfinden müsste, wenn sie berührt wurde. Aber sie empfand einfach nur eine innere Starre, wenn Emilio seine Hände auf Wanderschaft über ihren Körper schickte. Ihr Puls begann nicht zu rasen, nichts kribbelte oder wurde heiß, wie sie es in all den New Adult Romances gelesen hatte, die sie seit einiger Zeit verschlang. Entweder logen die Bücher oder Rosa war zu dieser Art Empfindungen nicht in der Lage. Aber diese Empfindungen waren es, auf die sie wartete. Sie wollte Sehnsucht, Leidenschaft, unwiderstehliche Anziehung, Verlangen. Sie wollte, dass es sich richtig anfühlte, wenn sie berührt wurde. Dass ihr Herz wummerte, ihre Atmung sich beschleunigte, ihre Handflächen schwitzten und sie vor Nervosität und Anspannung zitterte. Erst dann wäre sie bereit, mit jemandem zu schlafen. Das hatte sie für sich beschlossen, als Amira anfing, mit jedem Sex zu haben, der ihr ein flüchtiges Lächeln schenkte. Rosa wollte, dass Sex mehr war als eine unwichtige Begegnung. Aber wenn diese Empfindungen wirklich nur eine Erfindung von Autoren waren, dann würde sie wohl ewig warten. Der Gedanke gefiel Rosa auch nicht.
Rosa verließ ihr Zimmer genau in der Sekunde, in der Amira draußen ungeduldig auf die Hupe drückte. Eilig rannte sie die Stufen nach unten und registrierte den schwarzen Haarschopf, der über die Rücklehne des Sofas lugte, nur nebenbei. Sie hielt auf die Tür zu, als Amira noch einmal hupte.
»Sag deiner Freundin, dass du heute keine Zeit hast.« Enzos raue Stimme ließ sie in der Bewegung innehalten. Rosa ließ ihre Hand wieder sinken und wandte sich zu ihm um. Er war vom Sofa aufgestanden und kam langsam immer näher. Nur wenige Schritte von ihr entfernt blieb er stehen, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Er legte den Kopf leicht schräg, sein Blick glitt gemächlich und ohne die geringste Regung über ihren Körper. Seine braunen Augen waren kalt auf sie gerichtet, während er auf ihre Reaktion zu warten schien.
»Wieso sollte ich keine Zeit haben?« Rosa legte die Hand zurück auf den Türgriff. »Wer hat dich zum Herr über meine Freizeit gemacht?« Rosa drückte trotzig die Türklinke nach unten und trat nach draußen.
»Dein Vater. Und die Tatsache, dass dort draußen jemand herumläuft und unsere Leute abschlachtet.« Enzo folgte ihr nach draußen, die Auffahrt nach unten, und blieb mit ihr neben dem Fiat stehen.
»Wir sollten uns beeilen. Rita und die anderen warten schon auf uns«, rief Amira aus dem Auto. Als sie Enzo kommen sah, stieg sie mit einem verführerischen Lächeln aus, leckte sich über die Lippen und strich ihre hellblonden Haare zurück über ihre Schultern. Amira machte daraus eine regelrechte Show, auf die Enzo überhaupt nicht reagierte. Er schenkte ihr nicht einmal einen flüchtigen Blick, sondern war nur auf Rosa konzentriert.