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Der zehnjährige Helmo lebt auf Burg Felsenstein. Als Säugling am Burgtor ausgesetzt, von den Burgbewohnern aufgenommen und großgezogen, möchte er nun unbedingt wissen, wer seine Eltern sind und woher er kommt. Ein rätselhaftes Medaillon, das in seinem Körbchen lag, soll ihm nun helfen, seine Herkunft herauszufinden. Hildegundis, die Tochter des Ritters Enzo von Felsenstein, ein Jahr älter als Helmo, hilft dem kleinen Knecht ihres Vaters, das Geheimnis seiner Herkunft zu lösen. Doch was soll aus ihm werden? Seine erste Entscheidung führt ihn weit weg vom Felsenstein. Einige Abenteuer und Einblicke in das Geschehen der großen Politik lassen sein Leben spannend erscheinen. Ist das aber ein Leben, das er sich wünscht? Auch seine neue Entscheidung bringt ihn in gefährliche Situationen. Beruflich aber findet er seinen Weg. Seine Freundschaft zu einer Kaufmannstochter gibt ihm den Mut, die Zukunft gelassen zusehen.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für meine Enkelin EMILIA
Kapitel 1: Ein neuer Tag
Kapitel 2: Geheimnisse
Kapitel 3: Probleme
Kapitel 4: Wiedergefunden
Kapitel 5: Versöhnung
Kapitel 6: Aussprache
Kapitel 7: Lob und Auftrag
Kapitel 8: Die Kräuterfrau
Kapitel 9: Geständnis
Kapitel 10: Lösung
Kapitel 11: Eine neue Situation
Kapitel 12: Überlegungen
Kapitel 13: Überraschung
Kapitel 14: Absprachen
Kapitel 15: Aufbruch
Kapitel 16: Unerwartete Begegnung
Kapitel 17: Unterwegs
Kapitel 18: Der Überfall
Kapitel 19: Der Sarkophag
Kapitel 20: Immer weiter
Kapitel 21: Der falsche Kaiser
Kapitel 22: Hagenau – zwei Jahre später
Kapitel 23: Wieder zu Hause?
Kapitel 24: Ullstadt
Kapitel 25: Hochzeit (Rückblick)
Kapitel 26: Gegenwart (1292)
Kapitel 27: Ein überraschender Gast
Kapitel 28: Besuch auf Burg Rabenstein
Kapitel 29: Entführt
Kapitel 30: Unverhofftes Wiedersehen
Kapitel 31: Zurück in Ullstadt
Kapitel 32: Überraschender Besuch
Kapitel 33: Ritter Ortwin: Aufgabe erfüllt
Kapitel 34: Hoffnungen
„Helmo!“, ein Schrei schallte am frühen Morgen durch die Scheune. Die Tiere im angrenzenden Stall, Pferde, Kühe, Schweine, wurden unruhig, wieherten, muhten, grunzten.
„Helmo!“, noch einmal hallte die schrille Stimme der Magd Berta durch die Scheune. Die kräftigen Arme in die Seite gestützt, stand Berta am Fußende der Leiter, die von der Scheune hinauf auf den Heuboden führte.
„Was denkt sich der Bursche dabei, die Arbeit zu verschlafen? Na, warte, Bürschchen, das gibt eine deftige Tracht Prügel - wenn ich dich erwische!“
Verärgert stapfte Berta davon, nicht ohne vor sich hinzubrummeln: „Hat sich bestimmt wieder die halbe Nacht herumgetrieben. Wenn das mal gutgeht!“
Schließlich hatte Helmo die Aufgabe, ihr bei der Versorgung der vielen Tiere auf Burg Felsenstein zur Hand zu gehen.
Berta war in gewisser Weise für Helmo verantwortlich geworden, als Ursel, die den kleinen Helmo aufgezogen hatte, vor vier Jahren verstorben war. Ursel hatte sich ihm gegenüber wie eine Mutter verhalten. So empfand es Helmo in seiner Erinnerung. Mit Berta war es da schon anders.
Eigentlich mochte er die dicke Berta, wie alle anderen Bediensteten der Burg sie nannten. Sie war hilfsbereit, gutmütig und steckte ihm auch immer wieder mal einen kleinen Leckerbissen zu. Ihm, der ständig hungrig war und nie satt wurde von dem, was ihm am Ende der Tafel im großen Saal der Burg Felsenstein zufiel.
Ihm, dem Niemand, von dem keiner wusste, woher er kam und wer seine Eltern waren.
Aufgetaucht aus dem Nichts, aus Mitleid aufgenommen, geduldet, aber mittlerweile auch zu einem brauchbaren Mitglied der Burggemeinschaft geworden.
Meistens jedenfalls, außer an einem Tag wie heute, wo er nun wirklich keine Lust verspürte, am Alltagsleben der Burgbewohner teilzunehmen.
Helmo räkelte sich auf seinem stacheligen Heulager unter dem Dach der Scheune. Hier oben war nicht nur sein Schlafplatz, hierher konnte er sich auch zurückziehen, wenn er nachdenken und alleine sein wollte.
Berta würde es nie wagen, die wacklige Leiter hochzuklettern.
Natürlich wusste Helmo, dass es für ihn sehr unangenehm werden konnte, wenn er seine ihm übertragenen Aufgaben nicht erledigte. Die vielen Prügel, die der nun Zehnjährige bisher einstecken musste, hielten ihn nicht davon ab, seinen eigenen Dickkopf durchzusetzen.
Was er heute Nacht bei einem seiner Streifzüge durch die Burg entdeckt hatte, war ihm eine Tracht Prügel wert. Natürlich war er jetzt unausgeschlafen und müde und hatte keine Lust, seinen täglichen Aufgaben nachzukommen.
Aber, um die ganze Sache nicht noch schlimmer zu machen, musste er in den sauren Apfel beißen und hinab in das Unausweichliche klettern.
Insgeheim hatte er gehofft, dass Berta seine nächtlichen Ausflüge nicht mitbekam. Sie hatte ihr Schlaflager in einer Ecke der Scheune. Weil sie dort manchmal nicht alleine war, sondern Besuch von ihrem Freund Bruno, dem Schmied, bekam, konnte sich Helmo nicht sicher sein, ob sie etwas merkte oder nicht.
Helmos erste Aufgabe am Tag bestand darin, die Eier der großen Hühnerschar einzusammeln und in die Küche zu bringen. In einem kleinen Anbau an die Scheune, der als Hühnerstall diente, waren die Nester vorbereitet, in denen die Hühner ihre Eier legten.
Natürlich kannte Helmo auch die Stellen, an denen ein Huhn mal außer der Reihe ein Ei hinlegte. Und natürlich wusste Helmo, was er mit einem solchen Ei zu machen hatte: auszuschlürfen.
Denn das bedeutete für den immer Hungrigen eine kleine Entschädigung für das armselige Essen am Ende der ritterlichen Tafel.
Mit einem tiefen Seufzer wälzte sich Helmo durch das Heu Richtung Luke und Leiter. Ein kurzer Blick nach unten genügte ihm, um zu wissen, dass Berta nicht auf ihn wartete. Also kletterte er rasch die Leiter hinunter und schnappte sich den Korb, den er für seine erste Tätigkeit neben der Leiter abgestellt hatte.
Weil er ja spät war, nahm er nur die Eier aus den Nestern im Hühnerstall und verzichtete darauf, in den Verstecken nachzuschauen. Mit gut drei Dutzend Eiern im Korb beeilte er sich in die Küche zu kommen, immer darauf bedacht, mit seinen nackten Füßen nicht im Dreck des Burghofes auszurutschen und hinzufallen.
Zwar besaß er ein Paar Holzschuhe, die aber waren ihm mehr hinderlich, als dass sie etwas nützten. Jetzt zu Beginn des Frühjahrs und den ganzen Sommer über lief er lieber barfuß. Dann war er auch schneller.
Und schnell musste er manchmal sein!
So früh am Morgen, als es allmählich hell wurde, war es noch ruhig auf dem Burghof. Nur wenige der Bediensteten begegneten ihm und erwiderten seinen Gruß nur mürrisch und unausgeschlafen. Sie führte ihr Weg in den Stall oder dahinter, um ihre morgendliche Notdurft zu verrichten.
Nach der „Morgentoilette“ begann jeder mit der ihm zugedachten Aufgabe. Eine erste Mahlzeit gab es erst später, wenn die Köchin alles vorbereitet hatte.
Helmo erreichte die Küche, als die ersten Sonnenstrahlen den Bergfried in ein glänzendes Licht verwandelten. Aber dieses Schauspiel zu bewundern, hatte er nun wirklich keine Zeit.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, ertönte die schrille Stimme der Köchin Agnes: „Beehrt mich der Herr endlich, schön, Euer Gnaden. Wie soll ich pünktlich Essen auf den Tisch bringen, wenn mir die Eier fehlen? Mach voran, Bursche, oder ich zieh dir die Ohren lang!“
Vorsichtig näherte sich Helmo der mageren Bohnenstange, immer darauf bedacht, nicht in ihre Reichweite zu gelangen.
Wie konnte eine Köchin nur so hager und mager sein, bekam ihr das selbst gekochte Essen etwa nicht? Oder misstraute sie ihren eigenen Fähigkeiten?
Helmo war es eigentlich gleichgültig, bestand sein Essen doch größtenteils aus Brei in allen Variationen, dünnen Suppen und harten Kanten vom tagealten Brot. Fleisch kannte er so gut wie gar nicht. Wenn er Glück hatte, fiel an Sonn- oder Feiertagen mal ein Knochen für ihn ab. Und wenn er viel Glück hatte, hing noch ein Zipfel Fleisch daran.
„Stell den Korb auf die Anrichte und sieh zu, dass du genug Feuerholz heranschleppst!“, wies ihn Agnes an.
„Das ist nicht meine Aufgabe, ich muss bei den Tieren helfen“, versuchte Helmo sich vor der Aufgabe zu drücken.
„Nichts da, du machst das, was ich dir sage. Kuno ist gestern Abend gestürzt und kann nicht laufen, also wirst du seine Aufgaben übernehmen. Verschwinde!“
Der alte Kuno lebte schon immer als Knecht auf Burg Felsenstein. Mit zunehmendem Alter nahm seine Kraft ab und er konnte nur noch leichte Arbeiten verrichten. Auch wurde er immer anfälliger für Krankheiten.
Man munkelte, es sei sowieso ein Wunder, dass er den strengen Winter überlebt habe. Manchmal hatte man ihn tagelang sein Lager in einer Ecke hinter der Herdstelle in der Küche nicht verlassen sehen.
Helmo tat der alte Mann leid, war er doch einer der wenigen Menschen auf der Burg, die immer ein freundliches Wort für ihn hatten. Und spannende Geschichten über wilde Tiere, Geister, Turniere und Schlachten der Ritter konnte er stundenlang erzählen.
Also beschloss Helmo, dem alten Kuno zuliebe das Feuerholz heranzuschaffen.
Kaum näherte er sich den Stallungen, kam auch schon Berta aus der Stalltür, in jeder Hand einen Eimer mit Milch.
„Es ist höchste Zeit, Bürschchen, dass du kommst. Hier, nimm die Eimer und trag sie zur Agnes, die wartet bestimmt! Und sieh zu, dass du die Schweine herauslässt! Du weißt, dass du heute die Schweine hüten musst“, ereiferte sie sich.
Helmo ersparte sich jede Bemerkung, nahm die vollen Eimer entgegen und marschierte erneut über den Burghof Richtung Küche.
Als er gerade überlegte, wie er denn die Tür öffnen sollte, flog sie auf und mit einem heftigen Wumms gegen einen der Eimer. Dadurch schwappte natürlich Milch aus dem Eimer auf den Boden.
„Das gibt ja schon wieder Ärger“, dachte Helmo.
Vor ihm stand strahlend Georg, einer der beiden Knappen des Ritters Enzo von Felsenstein.
„Heute ist ein herrlicher Tag zum Kämpfen! Also sieh zu, dass du nach dem Frühmahl im Zwinger bist!“, befahl er in herrischem Tonfall dem armen Helmo.
Das hatte ihm zu seinem Glück heute noch gefehlt, sich von dem größeren Georg an einem der ersten warmen Frühlingstage verprügeln zu lassen.
Ritter Enzo bildete zwei Knappen aus. Georg hatte mit seinen zwölf Jahren bereits einige Jahre der Ausbildung hinter sich, der neunjährige Johann lebte dagegen erst seit einem Jahr auf dem Felsenstein. Bei einem Sturz vom Pferd hatte er sich vor wenigen Tagen die Schulter ausgekugelt und konnte so an den täglichen Kampfübungen nicht teilnehmen.
Also musste Helmo einspringen, was bedeutete, dass er Prügel bezog, denn er kam ja nicht in den Genuss einer ritterlichen Ausbildung. Immerhin besaß Georg die Freundlichkeit, ihm die Tür aufzuhalten. Agnes, die mit dem Rücken zur Tür vor dem Herd stand, fing sofort an zu keifen.
„Wird auch Zeit, dass du das Holz bringst. Wie soll ich sonst den Brei kochen?“
Als sie sich drohend umdrehte, fiel ihr die Kinnklappe nach unten. „Das ist doch …! Das ist doch …!“
Weiter kam sie nicht, denn plötzlich stand Ritter Enzo in der Tür. Seine mächtige Gestalt füllte den ganzen Türrahmen aus.
„Agnes, gib mir ein Stück Brot, und du, Helmo, lauf zum Stallmeister, er soll meinen Hengst Adalwin und drei weitere Pferde satteln lassen. Los verschwinde!“
Fast hätte Helmo die Eimer fallen lassen.
„Oh, nein, keinen neuen Ärger“, durchzuckte ihn ein schrecklicher Gedanke.
Er stellte die Eimer mitten in der Küche ab und machte sich schleunigst auf den Weg, ohne nur ein Wort hervorgebracht zu haben.
Quer über den Burghof, am Brunnen vorbei, rannte er Richtung Torhaus. Das kleine Fachwerkhaus wurde vom Burgvogt, der auch gleichzeitig Stallmeister war, mit seiner Familie bewohnt.
Schon weit vor der Eingangstür brüllte Helmo los: „Stallmeister! Stallmeister Richard!“
Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür öffnete und Richard heraustrat.
„Was schreist du so, brennt es? Oder sind Feinde im Anmarsch?“
„Ihr sollt ganz schnell Adalwin und noch drei Pferde satteln!“
„Befiehlt wer?“, entgegnete der Stallmeister in seiner ruhigen Art.
„Der Herr natürlich, er will gleich losreiten.“
„Gestern hieß es, nach dem Frühmahl. Warum jetzt die Eile?“
„Das willst du von mir nicht wissen, mir sagt doch keiner was.“
„Sei nicht so vorlaut, Junge. Du weißt, wozu das führen kann!“
Richard eilte davon und schrie nach den beiden Stallburschen.
Helmo wandte sich dem Schuppen hinter den Stallungen zu, um von dem dort gelagerten Feuerholz in die Küche zu schleppen. Einen großen Weidenkorb füllte er so voll, dass er ihn sich kaum auf die Schulter wuchten konnte.
Für sein Alter war Helmo zwar kein Schwächling, aber die kärgliche Kost und der harte Winter hatten ihm zugesetzt. Mit Georg konnte er nie und nimmer mithalten.
Nachdem er zwei weitere schwere Körbe in die Küche geschleppt und dort neben der offenen Herdstelle aufgestapelt hatte, fand er dann endlich die Zeit, die Schweine aus ihrem Stall zu lassen. Sollten sie sich die nächste Stunde auf dem Burghof tummeln, genug zu fressen würden sie in dem angesammelten Unrat allemal finden.
Dann war es endlich soweit, dass Agnes die Glocke neben dem Eingang zur Küche läutete, ein Zeichen, sich zum Essen in der großen Halle einzufinden. Aus allen Richtungen strömten Mägde und Knechte herbei und stiegen die wenigen Stufen der breiten Treppe hinauf, die zur Halle führte.
Die Halle lag genau wie die Küche im Erdgeschoss des größten Gebäudes der Burg. Nur durch einen Flur und das Treppenhaus, das in das erste Obergeschoss führte, waren Saal und Küche getrennt. Das erleichterte das Auftragen des Essens gewaltig.
Gab es ein Fest zu feiern oder waren adlige Gäste auf der Burg, benutzte man den Rittersaal im ersten Obergeschoss. Dann hieß es für alle Bediensteten, das Essen die steile Treppe nach oben zu schleppen.
Helmo hatte seinen Platz zwar auf der Seite zur Küche, aber was bedeutete das schon?
Die Köstlichkeiten wurden stets auf der anderen Seite der Halle, vor dem großen offenen Kamin abgestellt, dort wo die Herrschaften saßen.
Heute waren dort nur die Kinder des Ritters und Pater Konrad zu sehen. Burgherrin Hildegard und Ritter Enzo fehlten, was nur sehr selten vorkam. Auch Burgvogt und Stallmeister Richard fehlte genau wie einige der Gefolgsleute des Ritters. Das war der Grund, warum heute die Mahlzeit nicht schweigend eingenommen, sondern eifrig und lautstark durcheinander gesprochen wurde.
Nach einem kurzen Gebet von Pater Konrad, das mit der Bitte an den Herrn für einen segensreichen Tag endete, setzte nämlich allgemeines Geplapper ein.
Dem auf der langen Tafel in Schüsseln verteilten Haferbrei wurde fleißig zugesprochen.
Tafel war nicht unbedingt die richtige Bezeichnung. Auf Holzböcke hatte man längs durch den großen Raum Holzplatten gelegt, das war es. Allein am Ende, da wo die Familie des Ritters speiste, war ein leinenes Tischtuch ausgelegt.
Nach jeder der beiden Mahlzeiten am Tag wurden Böcke und Holztafeln entfernt.
Nachts wurde der Platz benötigt, weil ein Teil der Mägde und Knechte hier auf dem Fußboden schlief. Waren Gäste auf der Burg, mussten deren Bedienstete ebenfalls in der Halle schlafen.
Helmo hatte an diesem Tag zum ersten Mal ein Gefühl von Glück. Die beiden Stallburschen, die ihren Platz in seiner direkten Nachbarschaft hatten, waren noch nicht erschienen. Auch der verletzte Knappe Johann fehlte, sodass weniger Löffel als sonst in die Schüssel mit dem Haferbrei eintauchten.
So schnell es eben ging, schaufelte Helmo den Brei in sich hinein. Vom harten Brot hatte er sich ein großes Stück abgerissen und unter seinem schmutzigen Hemd verschwinden lassen. Für alle Fälle eine kleine Notration.
Helmo konnte nur erahnen, dass Pater Konrad am anderen Ende der Tafel ein angeregtes Gespräch mit den adligen Kindern führte. Gespräch war vielleicht nicht ganz richtig, denn eigentlich redete nur der Pater auf die Kinder ein. Helmo hatte das Gefühl, als würde Hildegundis manchmal die Augen rollen, wenn sie in seine Richtung blickte. Er kam zu dem Entschluss, heute unbedingt Kontakt zur Tochter des Ritters aufzunehmen.
Durfte er sie in das hineinziehen, was er in der Nacht herausgefunden hatte?
War es sinnvoll, sie um Hilfe zu bitten?
Helmo wusste, dass Hildegundis sich heimlich Lesen und ein bisschen Schreiben beigebracht hatte. Für ein Mädchen, selbst der Tochter eines Ritters, undenkbar.
Hildegundis aber hatte ihm anvertraut, dass sie sich oft mit ihren Stickarbeiten in dem Raum aufhielt, in dem Pater Konrad vor allem im langen Winter ihre Brüder und die Knappen unterrichtete. Alles sog sie in sich auf und übte heimlich.
Helmo hatte im letzten Jahr Hildegundis´ Vertrauen gewonnen, als er ihr in einer unerfreulichen Lage geholfen hatte.
Hildegundis ritt für ihr Leben gern, aber nicht im Damensattel. Ob Sommer oder Winter, sie nutzte jede Gelegenheit, sich ihren Stickund Näharbeiten zu entziehen. Sie konnte von Glück reden, dass sie der Liebling ihres Vaters war und sich einige Freiheiten herausnehmen konnte, ohne dass sie gleich seinen Zorn auf sich zog.
Also hatte sie sich an einem heißen Sommertag, als alle in der Mittagszeit vor sich hindösten, heimlich ein Pferd aus der Koppel unterhalb des Burgberges geholt und einen ausgiebigen Ausritt unternommen.
Einem der Stallknechte war das durchschwitzte und nur notdürftig abgeriebene Pferd dann aufgefallen. Auch glaubte er gesehen zu haben, dass sich die Tochter des Ritters von der Koppel entfernt hatte. Nach seiner Meldung beim Stallmeister wurde das Geschehen Ritter Enzo vorgetragen.
Mitten auf dem Burghof stellte Enzo seine Tochter zur Rede. Helmo, der zufällig in der Nähe war, konnte alles mitansehen und zuhören, was Hildegundis vorgeworfen wurde.
Im letzten Augenblick, als sie ansetzte, sich trotzig zu den Vorwürfen zu äußern, sprang Helmo auf. Er warf sich vor die Füße des Ritters und bekannte sich schuldig, das Pferd entwendet zu haben.
Ungläubig zog Ritter Enzo seine Augenbrauen hoch, schien einen Augenblick nachzudenken und meinte dann: „Eine Tracht Prügel wird wohl genug sein für deinen Tatendrang. Burgvogt, walte deines Amtes!“
Damit wandte er sich um, würdigte seine Tochter keines Blickes und eilte mit langen Schritten davon.
Obwohl Burgvogt Richard einige Zweifel an der Schilderung des Tatvorgangs hatte, bestellte er sich Helmo sofort in den Pferdestall. Kein Zeuge, weder Mensch noch Pferd, war anwesend, als Richard den Auftrag erledigte.
Die nur halbherzig auf das Hinterteil des Delinquenten verteilten Stockhiebe ließen sogar Helmo grinsen, der schon viel Schlimmeres erlebt hatte.
„Junge, Junge, was soll aus dir bloß werden?“, war alles, was ihm Richard mit auf den Weg gab.
Mit Hildegundis hatte er seit dieser Zeit einen Menschen gefunden, dem er vertrauen konnte und der ihm ebenfalls helfen würde.
Einige Tage nach dem Vorfall hatte sie ihn, der sich gerade Wasser aus dem Brunnen schöpfte, gefragt, ob er ihr helfen könnte, einige Sachen aus dem Kräutergarten zu holen.
Erstaunt folgte er ihr durch das obere Tor zur steilen Treppe, die in den Zwinger führte. Hier, zwischen erster und zweiter Verteidigungsmauer, nutzte man den Platz für die täglichen Übungen der Knappen und der Wachmänner. Einen Teil hatte man als Kräutergarten angelegt.
Mit ihrem Weidekorb für die Kräuter am Arm stieg Hildegundis vor Helmo die Treppe hinab. Zielstrebig ging sie auf eine Bank zu, die am Ende des Gartens unter der inneren Mauer stand und von oben nicht zu sehen war. Sie stellte den Korb ab und nahm Platz.
„Warum hast du das für mich getan? Ich habe mich nicht einmal bei dir bedankt. Ich mag mir gar nicht ausdenken, was mein Vater mit mir gemacht hätte. Ich wollte …“, plapperte sie los, aber Helmo fiel ihr ins Wort.
„Ich weiß nicht. Einfach so. Vielleicht hast du mir leidgetan.“
„Einfach eine Tracht Prügel einstecken? Das glaube ich nicht. Es hätte ja noch schlimmer kommen können. Was wäre gewesen, wenn mein Vater dich von der Burg gejagt hätte?“, fragte Hildegundis mit Sorgenfalten auf der Stirn.
„Pah, es gibt Schlimmeres. Hier bin ich doch sowieso nur ein Niemand, der von allen herumgeschubst und nur geduldet wird. Ich hätte mich durchgeschlagen und mich auf die Suche nach meinen Eltern gemacht. Ich will endlich wissen, wer ich bin und woher ich komme.“
„Das kannst du vergessen. Alle auf der Burg wissen, dass du ein Findelkind bist. Du musst froh sein, dass du hier leben kannst. Bei uns bekommst du zumindest zu essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf! Das ist auch etwas. Was willst du mehr? Hätte man dich weggejagt, wärst du verhungert!“
„Ich weiß, was ich suchen muss“, machte Helmo eine Andeutung. Verblüfft schaute Hildegundis ihn an: „Was soll das denn heißen?“
„Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann, ich könnte dir etwas zeigen!“
„Na, hör auf, wer für mich eine Tracht Prügel einsteckt, der kann sicher sein, dass ich ihm helfe. So wahr wie das Amen, das Pater Konrad am Ende seiner Predigten spricht!“
Helmo saß einen Augenblick ganz still, in Gedanken versunken, schließlich meinte er nach einem langen Seufzer: „Na gut, ich zeig dir was. Sammel du mal deine Kräuter, ich bin gleich zurück!“
Er sprang auf, flitzte quer durch den Zwinger, stürmte die Treppe hinauf und war verschwunden.
Es dauerte nicht lange, Hildegundis hatte gerade erst etwas Schnittlauch und Melisse in ihrem Korb untergebracht, da tauchte Helmo wieder auf.
„Jetzt bin ich gespannt, was du mir zu zeigen hast!“
Helmo streckte zögerlich seine rechte Hand vor, öffnete sie langsam und ließ ein kleines Medaillon sehen.
„Woher hast du das denn?“, konnte Hildegundis ihre Verwunderung nicht verbergen. „So etwas Feines besitze nicht einmal ich!“
„Das hatte ich wohl dabei, als man mich vor dem unteren Burgtor gefunden hat. Jahrelang habe ich es um den Hals getragen, aber als ich größer wurde, haben mich die anderen Kinder auf der Burg damit immer gehänselt. Irgendwann habe ich es abgenommen und an meinem Schlafplatz versteckt. Jetzt weiß kaum noch jemand von diesem Medaillon.“
„Ich wusste auch nichts davon. Was ist das Besondere daran?“
„Schau es dir doch an!“
Hildegundis nahm das Medaillon in die Hand. Die Rückseite war glatt, auf der Vorderseite waren Blumenranken zu erkennen. Mit einem leichten Druck auf die rechte Seite ließ es sich aufklappen.
Ein Marienbild erschien. Maria mit traurigem Blick, die Augen gesenkt, auf ihrem Arm das Jesuskind. Auf dem anderen Teil des aufgeklappten Medaillons waren ebenfalls nur Blumenranken zu sehen.
„Na ja, es ist halt ein Marienbild. Das tragen viele Menschen bei sich, um sich gegen Krankheiten oder lebensgefährliche Situationen zu schützen“, meinte Hildegundis.
„Wenn du meinst. Hier, nimm mein Messer, dann kannst du das Marienbild herauslösen“, brummelte Helmo, fast schon beleidigt, und reichte Hildegundis das Messer.
Hildegundis löste vorsichtig mit der Spitze des Messers das Marienbild heraus.
„Dreh es um! Was siehst du?“, fragte Helmo jetzt mit einem gewissen Stolz in der Stimme.
„Tatsächlich, da stehen Buchstaben drauf!“
„Na so was, kaum zu glauben, die kenne ich ja, ich, ein Niemand!“
„O, R, E, G, R, A“, buchstabierte Hildegundis. „Was soll das denn heißen? Ist das ein Name?“
„Wenn ich das nur wüsste! Ich kann ja nicht einmal richtig lesen, die Buchstaben kenne ich, aber Lesen und Schreiben hat mir, dem armen Findelkind, keiner beigebracht. Kannst du denn lesen?“
„Eigentlich darf es niemand wissen. Ich habe immer versucht, wenn meine Brüder und die Knappen Unterricht hatten, in der Nähe zu sein. Dadurch habe ich viel mitbekommen. War das ein Spaß, wenn die Holzköpfe nicht kapierten, was ihnen Pater Konrad beibringen wollte. Wie oft hat er den Stock tanzen lassen!“
„Und du? Wieso kannst du es?“
„Ich habe immer gelauscht und mir alles eingeprägt. Und dann bin ich heimlich in die Bibliothek, wie mein Vater stolz seine zwei Dutzend Bücher nennt, und habe die Buchstaben gesucht und zusammengesetzt. Na ja, mehr musst du nicht wissen. Ein bisschen lesen kann ich also.“
„Was dieses Wort bedeutet, weißt du auch nicht, oder? Dann dreh mal die andere Seite um, da steht noch was!“
Hildegundis steckte das kleine Stück Pergament zurück, nahm das Messerchen und löste auf der anderen Seite des Medaillons das Bildchen mit den Blumenranken heraus. Auf der Rückseite waren ebenfalls Buchstaben notiert.
„A, D, M, C, C, L, X, X, V“, buchstabierte sie.
Nach einiger Zeit, die Helmo wie zwei Ewigkeiten vorkamen, murmelte Hildegundis: „Das kenne ich! Das kenne ich! Wieso komme ich nicht sofort darauf? Es könnte eine Zahl bedeuten, aber „A“ und „D“ passen überhaupt nicht dazu!“, meinte sie, fast verzweifelnd. „Wir können Pater Konrad befragen, der kennt sich doch mit allem aus.“
„Nein, um Gottes willen, nein, das will ich nicht. Lass es gut sein für heute. Vielleicht fällt dir ja in nächster Zeit etwas ein. Ich muss auch längst wieder an meine Arbeit. Noch eine Tracht Prügel muss nicht sein!“
Fast schon gewaltsam entriss er Hildegundis das Medaillon, umfasste es fest in seiner rechten Hand und wollte davonstürzen.
„Warte, Helmo, du darfst das Medaillon nicht irgendwo in einem Versteck aufbewahren. Du musst es um den Hals hängen und auf deinem Herzen tragen, nur dann hat es eine Wirkung und schützt dich!“, belehrte sie den beleidigten Helmo.
„Werd´s mir überlegen“, war die kurze Antwort.
Etwas ratlos ging Hildegundis zu den Kräuterbeeten, um endlich ihren Auftrag zu Ende zu bringen.
Helmo war in den Wochen und Monaten nach ihrer Begegnung nicht untätig geblieben. Immer wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, war er in die Bibliothek des Ritters geschlichen.
Alle Türen der Burg bis auf die zur Vorratskammer hinter der Küche, deren Schlüssel die strenge Köchin Agnes verwahrte, waren stets unverschlossen.
Nicht nur Bücher, auch Dokumente aller Art, Schriftrollen, wurden hier aufbewahrt. In diesem Raum fand Pater Konrads Unterricht statt. Die Schiefertafeln, auf denen seine Schüler mit mehr oder weniger Erfolg ihre Schreibkünste zeigten, halfen Helmo sehr, sich mühsam die einzelnen Buchstaben einzuprägen.
Was er aber am liebsten machte, war vorsichtig in der großen Familienbibel, die einen besonderen Platz auf einer Art Pult in der Ecke des Raumes hatte, zu blättern und sich staunend die Zeichnungen anzusehen.
Am Anfang jedes einzelnen Kapitels war eine Illustration zu sehen, die eine Szene aus dem Kapitel zeigte. Dabei konnte Helmo seine Fantasie schweifen lassen und so für einen Moment den Alltag vergessen.
Er musste sich vorsehen, nicht zu sehr in seine Träume zu verfallen, denn jeden Augenblick konnte ihn jemand bei diesem unerlaubten Verhalten erwischen. Und das wollte Helmo auf keinen Fall.
Nach dem Frühmahl half Helmo, die Tischplatten und Böcke auf die Seite zu räumen. Gerade als er die Halle verlassen hatte, wurde er von Georg aufgehalten.
„Wir treffen uns gleich im Zwinger, denk dran!“, meinte der mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.
Helmo lief zur Scheune, versteckte seine Notration und machte sich mit seinem Eichenknüppel, der ihm als Schwert dienen musste, auf den Weg zum Zwinger.
Wenig später tauchte Georg auf, mit Übungsschwert und Schild bewaffnet. Ehe sich beide gegenüber aufgestellt hatten, schrie er:
„Los, greif an!“
Helmo schwang seinen Knüppel und ließ ihn auf Georg niedersausen. Der Zweck dieses „Kampfes“ bestand für Georg allein darin, mit seinen Waffen einen Angreifer abzuwehren.
Deswegen musste Helmo seine Schläge variieren. Er versuchte alles, deutete einen Schlag an, um im nächsten Moment die Richtung zu ändern.
Georg war auf alles vorbereitet und so kam es, dass er nichts einstecken musste. Natürlich war er so fair zu seinem Trainingspartner, mit seinen Waffen nicht zu kontern, zumindest nicht mit dem Schwert.
Mit seinem Schild stieß er allerdings manchmal zu, sodass Helmo den einen oder anderen Schlag einstecken musste.
War Georg der Meinung, ausreichend geübt zu haben, warf er ohne Vorankündigung Schild und Schwert zur Seite und es entbrannte ein Ringkampf, bei dem sich beide bald auf dem Boden des Zwingers wälzten.
Hierbei hatte Helmo keine Chance, den kräftigeren Georg zu besiegen.
Allerdings hatte er sich im Laufe der Zeit einige Tricks seines Gegners angeeignet, sodass er ihm nicht ganz hilflos ausgesetzt war. Eine Niederlage aber war damit nicht zu vermeiden.
Hatte Georg Helmo schließlich auf dem Rücken liegen, war der ungleiche Kampf beendet, mit dem Ergebnis, dass Helmo wieder einige blaue Flecken davontrug.
Als Helmo seinen Eichenknüppel zur Scheune zurückbringen wollte, sah er Hildegundis am Brunnen stehen. Weil sich sonst niemand in ihrer Nähe befand, wagte er es, auf sie zuzugehen.
„Na, Helmo, hast du endlich einmal Georg besiegt?“, war ihre nicht so ernst gemeinte Frage.
„Warte nur ab, irgendwann passiert es!“, entgegnete er ihr mehr aus Trotz als aus Überzeugung. „Schön, dass ich dich treffe, ich muss dir etwas erzählen – und, ich brauche deine Hilfe!“
Hildegundis zog die Augenbrauen hoch. „Da bin ich aber gespannt!“
„Nicht jetzt und hier. Ich muss die Schweine auf das Brachland vor dem Eichenwäldchen treiben. Kannst du im Laufe des Tages dorthin kommen?“, fragte Helmo etwas verzagt.
Er war sich überhaupt nicht sicher, ob Hildegundis auf seinen Vorschlag eingehen würde. Dabei musste er sie unbedingt in seine nächtliche Entdeckung einweihen.
„Versprechen kann ich es nicht, meine Mutter hat mir schon einige Arbeiten aufgetragen. Ich versuche, mich nach Mittag davonzuschleichen“, machte Hildegundis ihm Mut.
Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Helmo, trug seine „Waffe“ in die Scheune, steckte sich das stibitzte Brotstück ein und trieb die Schweine zusammen, die über den gesamten Burghof verteilt Nahrung suchten.
Die den Sommer über gemästeten Schweine waren zu Beginn des Winters, kurz vor Weihnachten, geschlachtet worden. Nur wenige, für die Zucht bestimmte Sauen wurden den Winter über gehalten. Der einzige Eber der Herde musste im Stall bleiben.
Helmos Herde bestand aus einigen Sauen und vielen Jungtieren. Um zu wissen, ob er alle Tiere beisammen hatte, war er, der immer nur aushilfsweise auf die Schweine aufpassen musste, auf die Idee mit den kleinen Kieselsteinen gekommen. Für jedes Tier hatte er ein Steinchen in der Tasche seiner Hose.
Mittlerweile aber konnte er soweit zählen, dass er meist auf diese Hilfsmittel verzichten konnte.
Nach einigem Hin und Her hatte Helmo seine Herde beisammen und trieb sie durch die beiden Burgtore den steilen Weg hinab Richtung Eichenwald. Hier lag ein großes Stück Brachland, auf dem er heute die Schweine hüten sollte.
Helmo musste höllisch aufpassen, dass sich kein Tier auf das angrenzende Stück Land mit dem ausgesäten Wintergetreide verirrte. Das hätte schlimme Folgen für ihn gehabt.
Er hatte sich ausgedacht, die Schweine in das Eichenwäldchen zu treiben, sollte Hildegundis tatsächlich kommen können. Dort fanden die Schweine bestimmt noch genug Eicheln. Er aber musste weniger aufpassen.
So verging allmählich der späte Vormittag. Das Hüten der Schweine war nicht sehr schwierig, nur ein wenig langweilig. Und so freute er sich, dass plötzlich Elmar vor ihm auftauchte, als er gedankenverloren neben seiner Schweineherde stand.
Elmar wohnte im Dorf Tiefenweiler, war der Sohn des Dorfältesten und oft als Laufbursche für seinen Vater oder auch den Burgherrn unterwegs. Elmar war etwa zwei Jahre älter als Helmo, größer und kräftiger. Er behandelte Helmo wie seinesgleichen. Nie hatte er von ihm ein böses Wort gehört.
„Helmo! Sind alle Schweine da? Pass auf, dass du keinen Ärger bekommst, wenn du träumst und dir deine Viecher entwischen!“, rief er Helmo zu.
„Ich und träumen – wie soll das gehen? Wovon soll ich träumen?“, meinte Helmo beleidigt. „Vielleicht von der Prinzessin, die ich einmal heiraten werde?“
„Warum nicht! Wieso soll einer von uns nicht mal Glück haben. Aber du hast recht, bis das eintrifft, geht die Sonne im Westen auf und im Osten unter!“
„Dann sag mir doch, bevor es so weit ist, warum du unterwegs bist.“
„Das darf ich dir eigentlich nicht sagen, aber, du bist ja mein Freund. Ich kann mich auf dich verlassen, dass du mich nicht verrätst? Ich muss ein ganz wichtiges Dokument von der Burg holen. Ritter Enzo kam heute Morgen mit seinen Rittern in unser Dorf gestürmt, hat meinem Vater und mir befohlen mitzukommen. Als wir uns Burg Rabenstein näherten, fiel ihm plötzlich etwas ein und er befahl mir, auf schnellstem Weg zur Burg Felsenstein zu laufen und ein Dokument zu holen, das mir Pater Konrad aushändigen sollte. Deswegen darf ich eigentlich mit dir gar nicht sprechen, ich muss unbedingt zur Burg.“
„Dann will ich dich nicht aufhalten, ich kann dir dabei ohnehin nicht helfen. Um welches Dokument handelt es sich denn eigentlich?“
„Das darf ich dir wirklich nicht verraten, nur so viel, es geht um irgendwelche Grenzstreitigkeiten mit Ritter Otto vom Rabenstein. Pater Konrad wüsste Bescheid.“
Elmar eilte den Weg zum Felsenstein hinauf.
Helmo aber wurde es plötzlich schummrig, er sah alles nur vernebelt, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er griff sich an die Stirn. Was war los mit ihm?
Er war sich keiner Schuld bewusst – und doch, da war etwas, was sich in sein Unterbewusstsein einschlich.
Es war noch keine halbe Stunde vergangen, da kam Elmar im Laufschritt den Burgberg heruntergerannt.
„Ist der Satan hinter dir her?“, schrie Helmo lachend dem Freund zu, der etwa hundert Meter entfernt an ihm vorbeiraste.
Elmar blieb kurz stehen, schnaufte tief durch und rief Helmo zu: „Das gibt Ärger. Pater Konrad konnte die Urkunde nicht finden. Hoffentlich lässt Ritter Enzo seine Wut nicht an mir aus. Ich muss weiter!“
Und schon lief Elmar auf dem ausgefahrenen Weg weiter Richtung Burg Rabenstein. Helmo verharrte bewegungslos. Sein ungutes Gefühl verstärkte sich.
Er wollte es sich nicht eingestehen. Hatte er nachts …?
Diesen Gedanken durfte er gar nicht weiterspinnen. Dennoch: Musste er etwas unternehmen? Aber was?
Helmo kam aus dem Grübeln nicht heraus.
Doch dann, die Sonne hatte ihren frühlingshaften Höchststand bereits um einiges überschritten, tauchte unvermittelt Hildegundis auf.
Helmo hatte sie nicht kommen sehen, weil er gerade eins von den jungen Schweinen einfangen musste, das sich zu weit von der Herde entfernt hatte.
Das kam nur davon, dass seine Gedanken ständig abschweiften, ärgerte sich Helmo.
Da stand sie plötzlich vor ihm.
„Helmo, was gibt es so Wichtiges, das du mir zu berichten hast. Was glaubst du, welche Schwierigkeiten ich hatte, aus der Burg wegzukommen. Also, was willst du mir sagen?“
„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Heute Nacht habe ich mich wieder einmal in eure Bibliothek geschlichen.“
Als Hildegundis ihm ins Wort fallen wollte, zischte er nur: „Sei still, ich weiß, wie gefährlich das ist, weil es verboten ist, aber …“
„Helmo, was willst du denn eigentlich damit bezwecken?“
„Ich will endlich wissen, wer ich bin, woher ich komme und auch warum ich hier auf dieser Burg bin. Ist das so schwer zu begreifen? Ich weiß, hier auf der Burg muss ich die Antwort auf meine Fragen finden!“
„Na gut, was hast du denn bis jetzt herausgefunden?“
„Heute Nacht habe ich in der Bibliothek ein Schriftstück gefunden, das, du wirst es mir nicht glauben, die Buchstaben OREGRA enthalten hat.“
„Wie? Ich verstehe das nicht. Was soll das für ein Schriftstück gewesen sein?“
„Das weiß ich doch nicht. Kann ich Latein? Die Unterschrift unten auf dem Papier bestand aus den Buchstaben OREGRA, das konnte ich lesen. Sie sahen irgendwie gemalt aus.“
„Wie bist du überhaupt an das Schriftstück gekommen?“
„Es lag mit anderen zusammen auf einem Haufen von Papieren.“
„Pater Konrad ist immer sehr darauf bedacht, Ordnung in der Bibliothek zu halten. Das verstehe ich nicht. Vielleicht hat er es ja herausgelegt, weil es benötigt wird“, vermutete Hildegundis.
Aus heiterem Himmel schoss Helmo ein Blitz durch den Kopf.
„Genau. Das ist es. Was bin ich nur für ein Tölpel! Warum ist mir das nicht eingefallen?“, ärgerte sich Helmo.
„Ich versteh überhaupt nichts. Kannst du dich bitte deutlicher ausdrücken“, meinte Hildegundis verärgert.
„Hast du mitbekommen, dass Elmar vorhin bei Pater Konrad war?“, fragte Helmo.
„Ja, und ich habe gehört, wie der Pater tobend und schreiend aus der Bibliothek kam. Ich kann sie nicht finden, ich kann die Urkunde nicht finden, so hat er gebrüllt, dass es durch die ganze Burg schallte. Ich bin hingerannt und wollte wissen, was los ist, aber der Pater war nicht ansprechbar, er hat sich seine wenigen Haare gerauft und …!“
Hildegundis schwieg augenblicklich, stand ganz still wie eine Salzsäule und starrte Helmo ungläubig an.
Auch der verharrte regungslos.
„Das ist doch die Lösung!“, flüsterte Hildegundis nach einem langen gemeinsamen Schweigen.
„Er hat das Schriftstück gesucht, das du heute Nacht gefunden hast. Hast du es etwa …? Hast du es etwa mitgehen lassen? Hast du es irgendwo versteckt?“, stammelte Hildegundis aufgeregt.
„Du hast recht, so muss es sein. Ich habe die Urkunde wirklich nicht mitgenommen. Ich habe sie nur in eurer Familienbibel versteckt, ganz hinten, damit ich sie mir noch näher anschauen kann“, meinte Helmo zerknirscht.
„Und? Was machen wir jetzt. Ich will mir nicht vorstellen, was mein Vater mit Konrad macht, wenn er heimkommt und ihn zur Rede stellt. Armer Konrad!“
„Und armer Elmar. Was passiert, wenn er ohne Urkunde bei deinem Vater auftaucht? Was kann ich tun, um ihnen zu helfen?“, überlegte Helmo laut.
„Du? Du machst überhaupt nichts. Du hütest deine Schweine. Ich laufe jetzt zurück und versuche unbemerkt in die Bibliothek zu kommen. Ich hole die Urkunde aus der Bibel heraus und lege sie an einen Platz, wo Konrad bestimmt nicht gesucht hat. Vielleicht unter den großen Schrank. Da fällt mir noch etwas ein“, überlegte Hildegundis laut.
Sie drehte sich um, ließ den verdutzten Helmo stehen und eilte Richtung Burg davon.
Kaum war Hildegundis durch das zweite Burgtor gerannt, da wurde sie von Berta erwischt.
„Hildegundis, wo treibst du dich wieder herum? Deine Mutter sucht schon geraume Zeit nach dir. Sieh zu, dass du sie aufsuchst!“, meinte sie vorwurfsvoll.
Ohne etwas zu erwidern lief Hildegundis über den Hof zur Treppe, die zu den Wohnräumen der Ritterfamilie führte.
Steil und eng war die Treppe, die Treppenstufen glatt und verschieden hoch, sodass selbst ein junges Mädchen aufpassen musste, um nicht zu fallen.
Als sie im zweiten Stock an der Tür zur Bibliothek vorbeikam, hörte sie innen eine Stimme.
Neugierig wie sie nun einmal war, öffnete sie vorsichtig die Tür ein Stückchen, spähte hindurch und sah Pater Konrad mit dem Rücken zur Tür am Schreibpult stehen.
Sie hörte ihn murmeln: „Mein Gott, womit habe ich das verdient? Was habe ich Unrechtes getan, dass du mich strafst? Sag mir, wo ich diese verd…, oh Verzeihung, fast wäre mir dieses lästerliche Wort herausgerutscht, wo ich diese Urkunde finde!“
Hildegundis machte sich durch ein leichtes Hüsteln bemerkbar. Der Pater fuhr erschrocken herum.
„Ach, du bist es, Hildegundis“, brachte er gerade so hervor.
„Pater Konrad, was ist mit Euch, Ihr seht blass aus?“, fragte Hildegundis teilnahmsvoll. „Ich glaube, Ihr zittert an Armen und Beinen.“
Konrad ging einen Schritt auf Hildegundis zu, breitete die Arme aus, als wollte er sie umarmen, und sagte mühsam: „Ich finde die Urkunde nicht. Dein Vater wirft mich in den Kerker, wenn ich sie nicht finde. Gerade jetzt, wo er sie im Streit mit Otto so dringend braucht, kann ich sie einfach nicht finden. Dabei habe ich sie erst gestern hier auf diesen Stapel mit Dokumenten gelegt.“
„Pater Konrad, bitte bleibt ruhig, sie kann ja nicht so einfach verschwunden sein. Ich muss nur schnell zu meiner Mutter, dann komme ich zurück und helfe Euch suchen. Vier Augen sehen mehr als zwei“, fügte sie etwas altklug hinzu.
„Stärkt Ihr Euch erst mal bei einem Becher Wein. Agnes in der Küche wird Euch bestimmt einen einschenken, in der Lage, in der Ihr seid“, schlug sie vor, bevor sie sich zur Tür wandte und zu ihrer Mutter rannte.
Kaum hatte sie am Gemach ihrer Mutter angeklopft, ertönte die Stimme ihrer Mutter: „Komm nur herein, Töchterchen, und lass deine Ausreden hören!“
Hildegundis schloss geräuschlos die Tür hinter sich und wollte mit ihrer Entschuldigung beginnen, doch Hildegard ließ sie nicht zu Wort kommen.