Henkers Zweifel - Dirk Rühmann - E-Book

Henkers Zweifel E-Book

Dirk Rühmann

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Beschreibung

Ein Auftrag zum Töten – eine Entscheidung mit Folgen: Nach sechseinhalb Jahren Haft soll Drees Wetzig für 20.000 Euro einen Mord begehen. Doch statt den tödlichen Auftrag auszuführen, nähert er sich seinem Ziel auf ganz andere Weise – bis ein Anschlag auf ihn verübt wird. Plötzlich sind nicht nur sein Leben, sondern auch das seines vermeintlichen Opfers in Gefahr. Die junge Kommissarin Janina Benneis und ihr erfahrener Kollege Ole Beerbaum ermitteln in einem Fall, der tief in die Vergangenheit der DDR reicht – und eine Wahrheit ans Licht bringt, die tödlicher ist als jede Kugel.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dirk Rühmann

Henkers Zweifel

Kriminalroman

Impressum

Henkers Zweifel

ISBN 978-3-96901-123-2

ePub Edition

V1.0 (05/2025)

© 2025 by Dirk Rühmann

Abbildungsnachweise:

Umschlag © EvilWata | #705572220 | depositphotos.com

Umschlag © savconstantine | #478016564 | depositphotos.com

Textured Black Background © 4khz | Getty Images Signature via canva.com

Porträt des Autors © Ania Schulz | as-fotografie.com

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Schauplätze dieses Romans sind reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

... Eins ...

... Zwei ...

... Drei ...

... Vier ...

... Fünf ...

... Sechs ...

... Sieben ...

... Acht ...

... Neun ...

... Zehn ...

... Elf ...

... Zwölf ...

... Dreizehn ...

... Vierzehn ...

... Fünfzehn ...

... Sechzehn ...

... Siebzehn ...

... Achtzehn ...

... Neunzehn ...

... Zwanzig ...

... Einundzwanzig ...

... Zweiundzwanzig ...

... Dreiundzwanzig ...

... Vierundzwanzig ...

... Fünfundzwanzig ...

... Sechsundzwanzig ...

... Siebenundzwanzig ...

... Achtundzwanzig ...

... Neunundzwanzig ...

... Dreißig ...

... Einunddreißig ...

... Zweiunddreißig ...

... Dreiunddreißig ...

... Vierunddreißig ...

... Fünfunddreißig ...

... Sechsunddreißig ...

... Siebenunddreißig ...

... Achtunddreißig ...

... Neununddreißig ...

... Vierzig ...

... Einundvierzig ...

... Zweiundvierzig ...

... Dreiundvierzig ...

Über den Autor

Mehr von Dirk Rühmann

Eine kleine Bitte

... Eins ...

Das Rolltor öffnete sich nur für ihn ganz allein. Eher ungläubig schritt er hindurch und wusste, dass er sich auf der anderen Seite, in der so lang ersehnten Freiheit befand. Sechseinhalb Jahre hatte Drees Wetzig die Mauer mit dem aufgerollten Stacheldraht oben drauf von innen gesehen. Nun drehte er sich um und schaute sich das Ungetüm aus dem Augenwinkel von außen an.

Der Himmel war wolkenverhangen und es nieselte. Kein wirklich schöner Empfang, den das Wetter für den schlanken Mann von 35 Jahren mit kurzen schwarzen Haaren bereithielt. Trotzdem atmete der Haftentlassene tief ein, weil er sich von dem Gefühl überwältigt zeigte, dass die Luft in Freiheit einen anderen Duft versprühte.

Wetzig schaute sich um und sah nach rechts und nach links. Auf den ersten Blick schien sich draußen in den letzten 78 Monaten nicht sonderlich viel verändert zu haben. Es fühlte sich jedoch alles noch irgendwie fremd für ihn an. Er konnte nun hingehen, wohin er wollte, und mochte es kaum glauben.

Seine Sachen hatte er in einem Koffer verstaut, den er hinter sich herzog. Der Exhäftling legte einige Schritte zu Fuß zurück, bis er an einen Taxistand gelangte und sich mit einem der dort stehenden Fahrzeuge zum Bahnhof bringen ließ.

Dort zog Wetzig an einem Ticketautomaten eine Fahrkarte und las auf den Schautafeln, auf welchen Bahnsteig er zu gehen hatte und wann sein Zug abfuhr.

Etwa eine Stunde später saß er in einem ICE, mit dem der junge Mann von Celle nach Hannover fuhr. Dort stieg er um in einen Zug der Westfalenbahn, der ihn zu seinem gewünschten Ziel nach Braunschweig beförderte.

Hier angekommen stieg er in eine Straßenbahn, die ihn direkt ins Siegfriedviertel zu seiner Mutter brachte. Die ältere Dame erwartete Drees zwar, aber sie war nicht bereit gewesen, ihn von irgendwo abzuholen. Ebenso wenig hatte sie ihren Sohn in den letzten drei Jahren im Gefängnis besucht, ihm aber versprochen, dass er nach seiner Entlassung vorübergehend bei ihr wohnen dürfe.

Die Begrüßung fiel kühl aus. Drees starrte der 60-jährigen Frau in die Augen und zwang sich zu einem gequälten Lächeln, während Frau Wetzig keinen Mundwinkel verzog und ihren Sohn wortlos zu sich hereinbat.

»Du kannst auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Aber nicht länger, als es unbedingt sein muss. Besorg dir möglichst schnell eine Wohnung. Und in diesen vier Wänden wird nicht geraucht, getrunken oder Damenbesuch mit raufgebracht. Haben wir uns verstanden?«, fragte die zierliche Frau mit längeren grauen Haaren in bestimmendem Tonfall.

»Interessiert es dich gar nicht, wie es mir geht?«, wollte Drees von ihr wissen.

»Ich frage mich lieber, wie es den alten Damen geht, denen du ein Vermögen abgeschwatzt und sie an den Rand des finanziellen Ruins gebracht hast.«

»Was soll das, Mutter? Dafür bin ich rechtskräftig verurteilt worden und habe meine Strafe verbüßt.«

»Davon haben die Geschädigten ihr Geld nicht zurückbekommen. Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan. Sie hätten dich in Sibirien schuften lassen sollen, so lange, bis du das Geld für die alten Damen zusammengehabt hättest. Du hast immer auf viel zu großem Fuß gelebt. Mit dem Geld vom Sozialamt wirst du keine großen Sprünge machen können. Willst du da weitermachen, wo du vor dem Gefängnis aufgehört hast?«, zeigte sich die Mutter ungnädig gegenüber ihrem Sohn.

»Ich muss erst einmal sehen.«

»Du wirst deine alten Kumpels wiedertreffen und die werden dir helfen, schnell auf die schiefe Bahn zurückzufinden.«

»Hör doch mit deinen ewigen Sprüchen auf. Heute will ich erst einmal meine Freiheit feiern.«

»Alkohol und Titten. Mehr hast du nicht im Kopf. Zu gern würde ich dich ein einziges Mal so erleben wollen, wie du dich gegenüber den alten Damen benommen hast, damit sie dir immer Geld zugesteckt haben. Ich als deine Mutter bin ja nur der letzte Dreck für dich gewesen. Aber Benehmen und die entsprechenden Umgangsformen musst du dir ja irgendwo angeeignet haben. Sonst hättest du wohl kaum zum Liebling der greisen Damenwelt werden können. Dass sie nicht stutzig geworden sind und dir immer den Blödsinn abgekauft haben, den du ihnen erzählt hast. Doch am Ende haben sie alle dich fallen lassen und angezeigt. Nur war da ihr ganzes Geld schon durch den Schornstein. Sie hätten es gleich verbrennen können. Das wäre auf dasselbe hinausgelaufen, als es dir in die Hand zu drücken. Und dann Schnaps, Zigaretten und Titten. Wovon willst du das denn heute bezahlen?«

»Das lass mal schön meine Sorge sein«, brummte er grimmig.

»Mein einziger Sohn hat Hunderttausende im Handstreich verprasst. Und im Gefängnis? Da hast du doch sicher andere Ganoven kennengelernt mit neuen miesen Tricks. Wenn du heute besoffen nach Hause kommst, mach bloß leise. Sonst setze ich dich noch diese Nacht auf die Straße. Wenn du nicht mein Sohn wärest, hättest du ohnehin sehen können, wo du bleibst. Schlag bloß keine Wurzeln hier.«

»Keine Angst. Vielleicht komme ich diese Nacht überhaupt nicht nach Hause. Ich will die wiedergewonnene Freiheit spüren. Saufen und ficken.«

»Vielleicht solltest du es in anderer Reihenfolge probieren. Sechseinhalb Jahre Entzug von dem einen wie dem anderen würde ich an deiner Stelle besser nicht unterschätzen.«

»Halt doch einfach die Fresse! Wo kann ich meine Sachen hintun?«

»Ich habe Platz für dich im Schrank geschaffen«, sagte Frau Wetzig widerborstig und zeigte es ihm, woraufhin er seinen Koffer auspackte und die Kleidungsstücke in den Schrank hineinwarf. Dann verließ er die Wohnung seiner Mutter wortlos und ging hinüber zur Straßenbahn.

... Zwei ...

Die mit Holz getäfelte Wand schimmerte lila, weil der Strahler an der Decke in dieser schrillen Farbe Licht spendete, das die natürlichen Töne verfälschte und den Raum in ein Halbdunkel tauchte, in dem sechs Menschen auf ihren Stühlen sich kreisförmig um einen siebten in der Mitte scharten. Ihre Gesichter verfinsterten sich durch die Beleuchtung, als würde ein großer Schatten auf ihnen ruhen. Überall in diesem Zimmer verteilt standen brennende Kerzen auf Schränkchen und Tischchen, die dem spirituellen Charakter des Zusammentreffens Ausdruck verliehen.

Bei dem Mann in der Mitte handelte es sich um den 60-jährigen Oskar Friedrichs, den in dieser Runde alle nur Udo nannten. Er leitete die Sitzungen und präsentierte sich für seine Anhänger wie ein Guru. Die Teilnehmer erhofften sich in ihren jeweiligen völlig verschiedenen Lebenssituationen Zuspruch von ihm und stellten sein Wort mit einem ungeschriebenen Gesetz auf eine Stufe, dem sie bedingungslos zu folgen bereit waren.

Das Thema jeder Sitzung wurde von Udo vorgegeben und diese Gruppe traf sich zweimal wöchentlich. Jeder spendete 50 Euro für eine solche Veranstaltung, die in einen Fonds flossen, aus dem angeblich soziale Projekte gefördert wurden.

Wie werde ich von meinen Mitmenschen wahrgenommen und wer oder was bin ich durch ihren Blick auf mich?

Unter dieser Überschrift hatte Udo seine Anhängerschaft zum heutigen Abend eingeladen. Es handelte sich bei den sechs Menschen um einen festen Personenkreis. Udo leitete mehrere Gruppen, die sich in diesem Raum zu verschiedenen Zeiten trafen. Er ließ aber keine Fluktuation innerhalb einer Gruppe zu. Wechseln war daher untersagt.

Jeder sollte sich zu dem jeweiligen Thema ganz frei äußern. Danach nahm der Leiter den Gesprächsfaden auf, fasste das Gesagte zusammen und begann, es, in eine bestimmte Richtung zu lenken, die er vorgab. Daraus bastelte er dann eine völlig konzeptlos gehaltene Ansprache, die in ihrer Wirkung im Zuhörerkreis aufgenommen wurde wie das Wort Gottes.

Udo saß als Einziger auf einem Drehstuhl, sodass er sich jedem zuwenden und von vorn ansprechen konnte.

Da war der 32-jährige Robin, ein in Deutschland geborener Schwarzer, der der Sprache zwar mächtig war, aber als haltloser Stotterer allen anderen eine Engelsgeduld abverlangte, die jeder aufbrachte und ihn aussprechen ließ, ohne einzugreifen. Ihm wurde die lange Zeit zugestanden, die er benötigte, um zuweilen einen einzigen Satz herauszubringen. Neben ihm saß die 45-jährige Inge, eine Alkoholikerin, die seit drei Jahren trocken war. Tom war ein junger Mann von 18 Jahren ohne Schulabschluss, der keinen Job fand, aber auch nicht die rechte Motivation zum regelmäßigen Arbeiten aufbrachte. Svea Noetzel saß als Einzige nicht auf einem der harten Holzstühle ohne vernünftiges Polster, sondern stattdessen in ihrem Rollstuhl, an den sie schon immer gefesselt war. Es handelte sich bei ihr um eine bildhübsche Frau von 37 Jahren, die in Bad Harzburg in der Mannschaft der Rollstuhlbasketballerinnen erfolgreich mitmischte. Andreas war ein 70-jähriger Mann, der wegen seines Diabetes so gut wie blind geworden war. Bei Ulrike handelte es sich um eine 56-jährige Frau, die mit einem massiven Übergewicht zu kämpfen hatte, gegen das sie nicht mehr ankam.

Sie waren also alle miteinander Menschen, die mühselig und beladen waren und zu Udo gingen, um sich durch sein Wort erquicken zu lassen, so wie andere es in früheren Zeiten mit Jesus gehalten hatten. Freilich wurde niemand hier geheilt, aber jeder wusste sich von den anderen getragen und das geistliche Oberhaupt der Veranstaltung vermittelte jedem seiner Teilnehmenden den Eindruck, mit seinem Handicap einzigartig und dadurch besonders zu sein. Natürlich hatte jeder von ihnen ein anderes Empfinden, wie er oder sie von den Mitmenschen wahrgenommen wurde. Doch Udo verstand es, ihre negativen Gefühle so geschickt ins Gegenteil zu verkehren, dass alle sich gewertschätzt fühlten und seelisch aufgebaut wurden. Für jeden hier war der zweimal wöchentlich stattfindende Stuhlkreis eine Art Höhepunkt, auf den sich alle freuten, und Udo glich einem Meister, der die Sorgen und Nöte eines jeden verstand und von eben auf jetzt wegwischte, als gäbe es sie nicht und hätte sie nie gegeben. Freundschaftliche Verbindungen unter den Teilnehmenden über ihre gemeinsamen Sitzungen hinaus waren nicht entstanden.

Svea wurde jedes Mal von ihrem Vater mit dem Auto abgeholt. Der weißhaarige Emmerich Noetzel mit leichtem Bauchansatz begleitete sie auch stets zu ihren sportlichen Aktivitäten und zeigte sich trotz seiner 75 Lebensjahre, die er auf dem Buckel hatte, immer fürsorglich und hilfsbereit.

»Wie war es heute mit Udo?«, erkundigte er sich freundlich, wenngleich er nichts für einen derartigen Hokuspokus übrig hatte.

»Wir haben an diesem Abend darüber gesprochen, was es mit uns macht, wenn wir gewahr werden, wie Menschen uns ansehen. Auf mich als Rollstuhlfahrerin wirkt es oft so, als schauten Menschen auf mich herab.«

»Notgedrungen. Die anderen stehen sehr häufig und du sitzt immer.«

»Nein. Sie schauen mitleidig auf mich herab, weil sie mir nichts zutrauen. Udo sagt, die anderen sind hilflos, weil sie das Besondere in mir erkennen und nicht damit umgehen können. Robin hat heute ganz furchtbar gestottert. Er hat kaum ein einziges Wort herausgebracht. Irgendwie tat er mir leid.«

»Und was hat Udo dazu gesagt?«, fragte ihr Vater mit einem Anflug von Ironie in der Stimme.

»Menschen, die schnell und vermeintlich sicher sprechen können, sagen oft Unüberlegtes, das sie später bereuen. Wer so sehr um jedes einzelne Wort kämpfen muss, spricht nur Wesentliches aus und keinen Unfug.«

»Euer Udo hat auch für alles eine geniale Ausrede.«

»Keine Ausrede. Das ist Zuspruch und macht den Schwachen Mut, wodurch wir stark werden. Wir alle befinden uns in einer Warteschleife. In dem Leben nach dem Tod sind wir dann frei von Handicaps. Aber um dahin zu kommen, müssen wir akzeptieren, dass nicht die Perfektion das Auswahlkriterium für uns ist, sondern die Einzigartigkeit. Niemand stottert so perfekt wie Robin.«

»Das ist doch der größte Schwachsinn des Jahrhunderts. Dafür bezahlt ihr noch Geld. Der verkauft euch für dumm und ihr merkt es nicht. Das ist in meinen Augen kriminell. Und ein Leben nach dem Tod Blödsinn. Der Bettnässer schifft auch weiterhin ins Bett, er schämt sich nur nicht mehr. So tickt euer Udo. Ihr habt eure Handicaps und nichts ändert sich daran oder wird besser, weil ihr zu diesem Kurpfuscher geht. Aber er kassiert ab von euch. Und nicht zu knapp!«

»Ich weiß ja, wie du über so was denkst. Du sitzt auch nicht im Rollstuhl und hast zwei gesunde Beine. Aber auch dir täte es gut, mal auf einer höheren Ebene über das Leben und seinen Sinn nachzudenken«, beschwor ihn Svea, während ihr Vater kopfschüttelnd das Auto steuerte. Mit ihren 37 Jahren fühlte sich die an den Rollstuhl gefesselte Frau neben dem alten Herrn keineswegs nur geborgen und gut aufgehoben, sondern stets bevormundet und kritisiert. Dass sie bei derartigen Menschen wie Udo versuchte, sich ihr fehlendes Selbstvertrauen zu holen, verstand er nicht. Svea hatte schon lange den Absprung in die Selbstständigkeit verpasst und hasste sich zuweilen dafür, in ihrem fortgeschrittenen Alter noch immer bei den Eltern zu wohnen. Die anderen Rollstuhlbasketballerinnen hatten es doch auch geschafft, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Warum fehlte ihr der Mut?

Sie erreichten das Haus am Rande von Bad Harzburg, das die Familie seit den frühen Neunzigerjahren bewohnte. Das Ehepaar Noetzel hatte es seinerzeit gekauft und zahlte noch heute monatlich einen nicht unbeträchtlichen Betrag für den Kredit an die zuständige Bank zurück, was bei einer nicht üppig ausfallenden Rente ein harter Brocken war.

Svea beteiligte sich natürlich an diesen Zahlungen. Sie arbeitete in einem Verlag als Lektorin und erledigte das meiste im Homeoffice, was nicht gerade dazu beitrug, dass sie endlich flügge wurde.

Es hatte ein paarmal Freunde in ihren jüngeren Jahren gegeben, doch der Rollstuhl mit all den Schwierigkeiten des Alltags, die daraus resultierten, hatte sich letztlich als hauptsächlicher Grund für schnell wieder erfolgte Trennungen erwiesen. Ihr Augenmerk richtete die 37-Jährige auf den Sport, in dem sie glänzen konnte. Sie zählte zu den Besten ihrer Mannschaft. Dieser Umstand trug allerdings nicht zu einer näheren Verbindung mit ihren Teamkameradinnen bei. Neid und Missgunst machten in diesem Kreise die Runde und bildeten nicht gerade einen Nährboden für Freundschaften. Außerdem lebten viele der anderen Frauen in festen Beziehungen, sodass ihr der Anschluss häufig versagt blieb. Ihre Eltern stellten den einzigen Ausweg vor ihrem Alleinsein dar. Doch sie waren alt und würden nicht ewig leben. Die Angst vor Vereinsamung im eigenen späteren Alter saß Svea im Genick.

... Drei ...

Seit dem Tag seiner Entlassung war Drees Wetzig abendlicher Gast in dem Lokal Brustwarze auf der Braunschweiger Sündenmeile, in dem er vor seiner Haftstrafe bereits regelmäßig verkehrt hatte. Hier wurde gesoffen, gespielt, herumgehurt und kräftig mit Fäusten ausgeteilt, wenn es die Situation erforderte, weil wieder einmal eine sich zuspitzende Lage eskaliert war.

Charlie, der seit Jahren das berüchtigte Etablissement bewirtschaftete, hatte seinerzeit eine Spielregel ausgegeben. Keine Auseinandersetzung durfte nach außen dringen, da alles zu vermeiden war, dass Polizei anrückte. Offensichtlich hatte der in die Jahre gekommene Wirt, der auch immer mehr dem Alkohol verfiel, sich mit seinen Prinzipien hilflos hinter die eigene Theke zurückgezogen, wo er nur noch Getränke einschenkte und häufig selbst konsumierte, während sich im Gastraum die Dinge zu verselbstständigen schienen. Hier saßen vermehrt ausländische Männer an den Tischen, die das Sagen übernommen hatten und sich als die eigentlichen Herren dieser üblen Kneipe verstanden, in der Charlie fortan nicht mehr war als eine Marionette. Sie spielten Karten, tranken harte Drinks und schienen nebenbei Geschäfte irgendwelcher Art fast unbemerkt abzuwickeln.

Wetzig hatte sich schnell mit der neuen Situation arrangiert und einige unliebsame Begegnungen mit den fremdländischen Herren gehabt, denen er nun lieber aus dem Weg ging. Stattdessen versuchte er, freundschaftlich mit ihnen klarzukommen.

Das Misstrauen der neuen Herren galt grundsätzlich unbekannten Gästen, die das Lokal betraten. Wetzig war klar, dass diese Abkapselung Gründe haben musste, die man besser nicht an die große Glocke hängte. Ihm vertrauten sie inzwischen, weil sie wussten, dass er im Knast gesessen hatte.

Umso mehr zog der Fremde die Aufmerksamkeit auf sich, der an diesem Abend die verräucherte Puffkneipe betrat und hier offensichtlich nicht hineingehörte. Er trug eine schwarze Bügelfaltenhose und ein blaues Sakko mit einem weißen, zur Hälfte aufgeknöpften Hemd darunter.

Die Männer, die an den Tischen Karten spielten, registrierten diesen Mann aus den Augenwinkeln und verfolgten insgeheim jeden seiner Schritte. Sie alle waren mit einem Messer bewaffnet und gehörten zu jener Sorte Mensch, die erst zustach und dann nach dem Wunsch des Gastes fragte. Wer es wagte, die Ordnung zu stören, innerhalb derer entsprechend krumme Geschäfte abgewickelt wurden, begriff sehr schnell, dass sein Leben hier nichts wert war.

Charlie hatte früher auf seine Weise dafür gesorgt, dass der von ihm gesteckte Rahmen Beachtung fand. Es galt das Faustrecht. Das hatten die neuen Herren aus anderen Kulturkreisen stammend durch das schnelle Zücken des Messers abgelöst.

Wetzig saß an der Theke und spülte seinen Durst hinunter. Zwischen Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand hielt er eine Zigarette, von der unaufhörlich Rauch nach oben stieg. Vorher hatte er eine Dame auf der Bruchstraße besucht und ordnungsgemäß entlohnt.

Der Fremde stellte sich direkt neben den kürzlich aus der Haft Entlassenen und verlangte nach einem Bier. Nervös blickte Wetzig den Mann an, der ihm körperlich verdächtig nahekam.

»Kennen wir uns?«, fragte er ihn mit einem aggressiven Unterton.

»Wohl kaum. Das wird auch so bleiben. Aber ich habe einen Job für Sie.«

»Woher weißt du Arsch denn, ob ich einen brauche oder überhaupt will?«

»Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Weiß ganz genau, wer Sie sind. Mit Ihrer alten Masche sind Sie aufgeflogen. Bevor Sie da wieder richtig drin sind, um Geld verdienen zu können, braucht es wohl ein wenig Zeit. Zwanzigtausend könnten da eine gute Überbrückungshilfe sein«, sagte der Mann mit einem eiskalten Lächeln.

Plötzlich stand einer der Kartenspieler hinter dem seltsamen Gast und fragte Drees über dessen Kopf hinweg, ob er Probleme habe.

»Macht den mal etwas lockerer!«, forderte Wetzig den Südländer auf und ging zur Toilette.

Charlie versteckte seinen Kopf hinter der Theke.

Danach packte der Südländer dem Unbekannten unter die Arme, drehte ihn um und versetzte ihm einen so starken Stoß, dass der Fremde durch den Raum geschleudert wurde und auf dem Tisch der Kartenspieler mit dem Kopf nach unten landete.

Lachend erhoben sich die anderen drei Männer von ihren Plätzen. Einer von ihnen richtete den auf dem Tisch Liegenden auf und schubste ihn in Richtung der beiden anderen. Der eine hielt ihn fest und der andere Kartenspieler filzte den Fremden.

Wetzig war gerade von der Toilette zurückgekehrt und besah sich die Aktion aus sicherer Entfernung.

»Keine Waffe, kein Bulle. Deine Entscheidung«, sagte der, der ihn durchsucht hatte.

»Dann lasst ihn mal hierher zurückkommen und ihn in Ruhe sein Bier austrinken lassen«, rief Drees den Männern am Tisch zu, woraufhin einer von ihnen den Kragen des Unbekannten demonstrativ wieder geraderückte und ihn dann ziehen ließ. Daraufhin nahmen die vier Südländer erneut am Tisch Platz und setzten ihr Kartenspiel fort.

Wetzig nahm mit dem Gefilzten an der Theke Platz und stieß mit ihm an.

»Darf ich nach dieser Feuertaufe jetzt mit Ihrer Loyalität rechnen?«, fragte er ihn mit süßsaurer Miene.

»Wer bist du?«

»Das tut nichts zur Sache. Zehntausend Vorschuss. Weitere zehntausend nach Erledigung des Jobs.«

»Was für ein Job soll das sein?«

»Es geht darum, eine Person auszuknipsen.«

»Für zwanzigtausend? So wenig Kohle für einen Mord? Du hast sie wohl nicht mehr alle! «, empörte sich Wetzig.

»Sie haben in diesem Job bisher noch keine Erfahrungen gesammelt. Profis können Honorarforderungen stellen. Aber keine blutigen Anfänger. Wenn Sie erst in die Gewerkschaft eintreten wollen, bitte sehr! Doch dann kriegt ein anderer den Job. Woher sollen Sie so schnell zwanzigtausend bekommen? Zeigen Sie erst einmal, was Sie drauf haben, bevor Sie eine bessere Bezahlung fordern.«

Er legte ihm einen weißen Umschlag auf die Theke. Drees starrte ihn sekundenlang an, bis er das Kuvert in die Hand nahm und aufriss. Mit staunendem Blick betrachtete er sich die Geldscheine darin, ohne sie herauszunehmen. Dann verschloss er es wieder und verstaute es in der Innentasche seiner Lederjacke, die er hier niemals ablegte.

Beide Männer sahen einander eindringlich an, bevor Drees zu der alles entscheidenden Frage ausholte: »Wen soll ich erledigen?«

»Endlich kommen wir ins Geschäft. Eine Person, die Sie nicht kennen. Niemand wird jemals zwischen Ihnen und der Zielperson irgendeine Beziehung herstellen können. Keinerlei Risiko für Sie. Ich komme morgen Abend wieder. Dann erfahren Sie von mir, wann und wo der Job zu erledigen sein wird, und Sie erhalten den Revolver, den Sie bitte selbst so entsorgen, dass ihn niemand finden wird. Sollten Sie mit dem Vorschuss durchbrennen und untertauchen wollen, werde ich Sie finden und fertigmachen. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt. Was Ihre Kampfhunde dahinten angeht, nehmen Sie die bitte das nächste Mal an die Leine, wenn ich dieses edle Etablissement wieder betrete.« Er blickte in Richtung der Kartenspieler und Drees hatte verstanden.

»Sie können auf mich zählen. Und danke für den Job und natürlich Ihr Vertrauen«, sagte er, woraufhin der Fremde ging, ohne sein Bier zu bezahlen.

»Keine Angst. Das übernehme ich«, beruhigte Wetzig den Wirt.

»Du hast ja eben auch gerade genug Kleingeld bekommen«, grunzte Charlie.

»Das geht niemanden etwas an. Also halt dein Maul!«