Henriette Goldschmidt: Ihr Leben und ihr Schaffen - Josephine Siebe - E-Book
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Henriette Goldschmidt: Ihr Leben und ihr Schaffen E-Book

Josephine Siebe

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Beschreibung

Diese Sammlung, betitelt 'Henriette Goldschmidt: Ihr Leben und ihr Schaffen', bietet einen tiefgreifenden Einblick in das Leben und Wirken einer bemerkenswerten Persönlichkeit der Bildungs- und Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts. Durch die Zusammenführung von Texten verschiedener literarischer Genres – von biographischen Skizzen bis hin zu analytischen Essays – gelingt es dieser Anthologie, die Vielfalt und den Reichtum von Goldschmidts Erbe zu erfassen. Die ausgewählten Stücke widerspiegeln sowohl die zeitgenössischen als auch die nachhaltigen Einflüsse ihrer Arbeit auf die damalige Gesellschaft und die darauf folgenden Generationen. Die Beiträge von Josephine Siebe und Johannes Prüfer repräsentieren nicht nur ihren eigenen literarischen Wert, sondern auch ihre tiefe Auseinandersetzung mit dem Leben und den Errungenschaften Henriette Goldschmidts. Ihre Texte, geprägt von unterschiedlichen Perspektiven und Schreibstilen, bereichern das Thema durch eine multidimensionale Betrachtungsweise. Sie lassen die Leserinnen und Leser die historischen, kulturellen und literarischen Kontexte, in denen Goldschmidt wirkte, neu entdecken und würdigen. Die Sammlung bietet eine einzigartige Gelegenheit, das Wirken einer Frau zu erkunden, deren Leben und Schaffen weit über ihre Zeit hinaus Bedeutung haben. Sie ist eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich für die Geschichte der Frauenbewegung, der Pädagogik und der sozialen Reformen interessieren. Die Leserinnen und Leser werden ermutigt, sich auf eine Reise durch das facettenreiche Leben einer Frau zu begeben, die ihrer Zeit weit voraus war. Diese Anthologie eröffnet die Möglichkeit, aus einer Vielzahl von Perspektiven zu lernen und sich von dem Dialog zwischen den verschiedenen Autoren inspirieren zu lassen.

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Josephine Siebe, Johannes Prüfer

Henriette Goldschmidt: Ihr Leben und ihr Schaffen

 
EAN 8596547069171
DigiCat, 2022 Contact: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung.
Henriette Goldschmidts Leben
1. Jugend.
2. Die Bewegung der vierziger Jahre.
3. Die ersten Ehejahre in Warschau.
4. Die ersten Jahre in Leipzig.
5. Schaffensjahre.
6. Ausklang.
Henriette Goldschmidts Schaffen
1. Die geistigen Grundlagen ihrer Arbeit.
a) Anfänge der Frauenbewegung.
b) Friedrich Fröbel.
2. Ihr Wirken für die Kindergartensache.
a) Petition an die deutschen Regierungen.
b) Streitschrift gegen K. O. Beetz.
3. Ihre Reform der Frauenbildung.
a) Kindergärtnerinnen-Ausbildung.
b) Allgemeine Frauenbildung.
Die Nachwirkung und Fortentwicklung ihrer Ideen an der Leipziger Hochschule für Frauen.
Anmerkungen
Bemerkungen zur Textgestalt

Zur Einführung.

Inhaltsverzeichnis

Als der Allgemeine Deutsche Frauenverein, schon mitten in den Wirren des Weltkrieges, seine Fünfzigjahrfeier in Leipzig beging, saß unter den Ehrengästen auch eine kleine alte Dame. Silberweiße Löckchen – die Haartracht einer vergangenen Zeit – umrahmten die Schläfen, und unter dem schwarzen Spitzentuch blickten die großen, klugen Augen klar und gütig auf das Treiben umher, anteilnehmend und doch schon von der Warte des hohen Alters aus das Leben überschauend. Es klangen große, mutige Worte in den Saal hinein; Worte von Erreichtem und zu Erhoffendem, auch Worte von deutschem Siege, deutscher Kraft, und vielleicht war in dem übervollen Saal niemand so tief, fast prophetisch klar von der Angst um das Vaterland erschüttert, das Land, das sie seit ihrer Kindheit mit Bewußtsein liebte, wie die alte Frau Henriette Goldschmidt. Sie, die einst in der frühesten Jugend des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins mit ihren, ihr längst in die unbekannten Weiten vorangegangenen Genossinnen, Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt, öffentlich für die Rechte der Frauen aufgetreten war, hörte nun, wie im Krieg laut der Ruf nach der Mithilfe der Frauen ertönte. Aus den wenigen von einst waren viele geworden, eine gewaltige Masse, und die alte Frau sah Erreichtes, sah die Frauen, sich ihrer Bestimmung bewußt, auf ihrem Posten stehen, sie sah aber auch das um die Jahrhundertwende aufgerichtete Ideal eines Frauenweltbundes in Scherben am Boden liegen. Würde sich die kraftvolle Hand finden, die Zerbrochenes, Zertrümmertes wieder zusammenfügte?

Es gehört heute weniger Mut dazu, rechts oder links den steilen Gipfel zu besteigen und Kampfrufe über die Masse hinauszuschreien, als ihn vor mehr als einem halben Jahrhundert Henriette Goldschmidt aufbringen mußte, die aus dem wohlumhegten Frieden des Hauses hinaustrat und zuerst die Frage stellte: „Wir haben Väter der Stadt, wo bleiben die Mütter?“

Damals von der Gleichberechtigung der Frau im öffentlichen Leben zu sprechen war eine Tat; die Frauen aber, die zuerst diese Tat ausführten, hatten im Grunde wohl viel weniger das stolze Bewußtsein auf einer hohen Lebenswarte zu stehen, wie es dann viele ihrer Nachfolgerinnen bei geringeren Leistungen aufgebracht haben. Sie begannen ihr Werk, weil ihr innerstes Fühlen und Erkennen sie dazu trieb, sie standen im Bann einer großen, sie erfüllenden Idee, und so wurden sie Pionierinnen in jener unbewußten Sicherheit, die das Kind leicht auf einer lose schwankenden Brücke über den Abgrund schreiten läßt.

Eine solche Pionierin, die bei aller Kraft des Wollens, unverrückt ein hohes Ziel vor Augen, doch immer jene Kindlichkeit des Wesens wahrte, die sie Abgründe nicht sehen ließ, war Henriette Goldschmidt. Sie blieb bis über das biblische Alter hinaus eine Kämpferin und wurde dann mehr und mehr die weise, gütige Lebensüberwinderin, die noch mit zitternder Hand nach Lessing das Wort niederschrieb: „Müßte, so lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre desselben auch die Sphäre meines inneren Auges sein, so würde ich, um von dieser Einschränkung frei zu werden, einen großen Wert auf den Verlust des ersten legen.“

Die Schwere des hohen Alters machte sich auch ihr fühlbar. Das Leben rauschte immer lauter, drängender an ihr vorbei; fremde Melodien tönten auf, die Menschen redeten nicht mehr die Sprache ihrer Jugend, und der Geist von Weimar wurde in Deutschland von anderen Stimmen übergellt, aber Henriette Goldschmidt fand doch immer in der anmutigen Beweglichkeit ihres Geistes die Kraft, Verbindungswege herzustellen, sie fand das weise Lächeln des „Alles verstehen heißt alles verzeihen.“ Bis zuletzt aber blieb ihr auch das ungeteilte Interesse an dem Werk ihres Lebens, dem Leipziger Verein für Familien- und Volkserziehung und seinen Anstalten. Und bis zur letzten Bewußtseinsstunde zehrte an ihr tief die trauernde Sorge um das Vaterland.

Das Leben dieser Frau ist von einer seltenen Geschlossenheit; es geht die ganz klare Linie folgerichtiger Entwicklung hindurch; es gibt keine Brüche, kein sprunghaftes Hinundher in ihren Anschauungen, keine Seitenpfade und Irrwege. Wir begegnen in diesem Leben nicht unbegreiflichen Verwirrungen des Gefühlslebens, es quellen nicht plötzlich aus dunklem Unterbewußtsein seltsame Lebensäußerungen und Empfindungen auf, und schon das junge Mädchen findet ganz klar den Weg heraus aus der Verstrickung, in die es sein Familiensinn für kurze Zeit hineingetrieben hatte.

Wollte jemand diesen Lebensweg bildlich darstellen, er müßte die lange gerade bergansteigende Landstraße wählen, ohne Seitenwege und Biegungen, Baumschatten und Sonnenflecke darüber und in der Ferne das hohe, helle, klare Ziel: die geistige Befreiung der Frauen, die Erziehung der Frau zum tätig bewußten Glied der Volksfamilie, die innerliche Versöhnung dieser Volksfamilie und das Überbrücken sozialer Unterschiede durch den Einfluß und die Teilnahme der Frau am öffentlichen Leben.

Ehrenbezeigungen, wie Ordensverleihungen vermochten die überzeugte Demokratin, die alte Achtundvierzigerin nicht zu beeinflussen und den Weg des neuen Deutschland ging sie innerlich nicht mit, und vielleicht sah sie gerade darum von Anfang, von der Stunde an, da England in den Weltkrieg gegen Deutschland eintrat, so klar, daß Deutschland unterliegen würde. Bei allem Siegesjubel der ersten Zeit blieb immer ihr Wort: „Ach, ich will mich ja so gern irren!“

Bei der großen Schärfe ihres Verstandes, ihrem philosophischen Erkennen des Lebens war Henriette Goldschmidt immer die Frau voll Anmut und Kindlichkeit, sie besaß eine Grazie des Geistes, die immer ohne Schärfe das richtige Wort fand. Sie sah aber daher auch das Dunkle, Lauernde am Wege nicht; ein Ja war ihr ein Ja, ein Nein ein Nein, und sie hat es nie verstanden, daß im Handumdrehen aus Neinsagern Jasager werden konnten. Und wohl darum ist sie auch mitunter verkannt worden, auch von ihren Mitarbeiterinnen in der Frauenbewegung; ihr unverrückbares Zielsehen wurde nicht immer gewürdigt. Sie suchte immer die Einheit in der Mannigfaltigkeit, nach der Lehre ihres Meisters Friedrich Fröbel. Sie aber war selbst eine Einheit.

Leider sind die Aufzeichnungen, die Frau Henriette Goldschmidt hinterlassen hat, nur lückenhaft. Sie hatte nie das Gefühl der Verpflichtung, über jeden Lebensabschnitt der Nachwelt gewissermaßen Rechenschaft abzulegen. Sie lebte dem Tag und seiner Arbeit, lebte mit großer Leidenschaft ihrem Ziel, und die Vergangenheit war ihr goldenes Buch, das sie selbst, dank ihres glänzenden Gedächtnisses, zu jeder Stunde aufschlagen konnte, sich heiter daran freuend oder nachdenklich darüber sinnend. Selbst schrieb sie darüber: „Ich bin häufig von älteren und jüngeren Freunden, denen ich im geselligen Beisammensein Einzelheiten aus meinem Leben mitteilte, gebeten worden, meine Lebensgeschichte zu schreiben, doch konnte ich mich nicht dazu entschließen. In den Jahren lebensvoller Betätigung war es nicht nur der Mangel an Zeit, es war vielmehr der Mangel an Selbstbewußtsein. Durch meine öffentliche Wirksamkeit sind biographische Notizen in Zeitungen und Zeitschriften gelangt, so daß ich es für überflüssig hielt, meine Persönlichkeit noch öffentlich vorzustellen.“

Über manche Zeit ihres Lebens, so ihre Anteilnahme an der deutschen Frauenbewegung, sind schon Niederschriften vorhanden, und es ist nicht der Zweck dieses kurzen Lebens- und Arbeitsbildes, zu schnell Festgelegtem vielleicht, eine neue Beleuchtung zu geben, vielmehr soll hier das ganz eigene persönliche Wirken Henriette Goldschmidts, besonders, wie sie neben ihrer Pionierarbeit in der deutschen Frauenbewegung sich ihren eigenen Wirkungskreis schuf, in den zwei Abschnitten „Leben“ und „Schaffen“ dargestellt werden.

Aus Niedergeschriebenem, Erzähltem, Erinnerungen, geführten Gesprächen und flüchtig hingeworfenen Worten ist dieses kurze Lebensbild gewoben. Es zeigt nicht die modernen grellen Linien derzeitiger Gewebe, der Hauch der vergangenen, der wirklich guten alten Zeit ruht über diesem Leben, denn seine Wurzeln hingen noch in der klassischen Zeit. Der Geist von Weimar war es, der dieser Frau die Kraft und den Aufschwung gab, sich selbst zu einer Persönlichkeit von ganz eigenartigem Gepräge zu entwickeln. Dem Geist von Weimar blieb sie ihr Leben lang treu, von ihm wich sie nicht um eines Halmes Breite ab, und so lebte sie ihr inneres und in seiner Einfachheit auch ihr äußeres Leben in dem Lichte, das uns von Weimar gekommen ist.

Henriette Goldschmidts Leben

Inhaltsverzeichnis

1. Jugend.

Inhaltsverzeichnis

Zwischen dem Weimar des Jahres 1825 und dem deutsch-polnischen Städtchen Krotoschin von damals, welche ungeheure, geistige Entfernung! In der kleinen Provinzstadt spürten wohl nur wenige den Hauch des Geistes von Weimar; es war ein richtiges Philisternestchen, in dem am 23. November 1825 Henriette Benas als sechstes Kind eines jüdischen Kaufmanns geboren wurde. Das wohlhabende Haus, in dem sie aufwuchs, war durch die kühle Strenge der unmütterlichen zweiten Frau des Vaters der hellen Wärme einer echten Heimstätte beraubt worden. Es ist bezeichnend für die geistige Wertung des Fraueneinflusses in damaliger Zeit, daß der geistig hochstehende Vater, von dem die Tochter sagte, er hätte seinen Kindern „die Anregung für die Auffassung der Lebensverhältnisse über das ewig Gestrige hinaus gegeben“, die zweite Frau wählte, weil sie nicht lesen und schreiben konnte, seinen fünf mutterlosen Kindern also eine fürsorgliche Mutter sein würde, deren Geist nicht durch überflüssige Lektüre abgelenkt werden würde. Trotz ihrer Unbildung besaß die Frau aber eine gewisse Würde des Wesens, sie war sich ihrer Stellung als Hausfrau bewußt, und der Haushalt mit allen seinen Verzweigungen nahm, nicht immer zur Freude der Kinder, ihr ganzes Denken in Anspruch, und sie verlangte dies gleichfalls von den heranwachsenden Töchtern. Henriette schrieb später von dem Einfluß der Stiefmutter: „Leider war unsere Stiefmutter keine mütterliche Natur, und wie alle Vorurteile genährt und gestaltet werden durch die Gedankenlosigkeit der Menschen, so wurde auch dies schwierige Verhältnis der Stiefmutter durch liebevolle Verwandte und Freunde für uns Kinder unnötig bedrückend gemacht. Es entwickelten sich nach und nach alle die Unstimmigkeiten, die in solchem Verhältnis gang und gäbe sind. Ich kann nicht behaupten, daß ich im Verkehr mit meiner Stiefmutter mich als prädestiniert für eine Schülerin Fröbels betrachten kann, doch hatte das Mißverhältnis einen Kampf in mir erzeugt, der mein Wesen, vielleicht mein Leben hätte vernichten können.“

Von ihren Vorfahren wußte Henriette Goldschmidt-Benas nicht allzuviel; an ihre eigne Mutter erinnert sie sich nicht mehr, sie war etwas über fünf Jahre alt bei deren Tode. Den tiefsten Eindruck hat auf ihr Kindergemüt das Schicksal ihres Großvaters gemacht. Sie schrieb von ihm: „Vor meinem geistigen Auge steht mein Großvater so, wie er aus den Erzählungen seiner Frau und seiner Kinder hervortrat. Ich selbst lernte ihn infolge seines frühen Todes nicht kennen. Er war in Krotoschin geboren, wurde, wie es damals üblich war, mit achtzehn Jahren verheiratet und entschloß sich, seine Heimat, Frau und Kind zu verlassen, um sich eine umfassendere Bildung zu verschaffen; seine einzigen Vorkenntnisse waren die des hebräischen Schrifttums. Er wandte sich zuerst nach Berlin an Moses Mendelssohn, den bekannten Philosophen ..... Mein Großvater suchte ihn auf und erhielt durch seine gütige Vermittlung die Stelle eines Hauslehrers in Fridericia in Dänemark. Im Hause eines begüterten Glaubensgenossen, namens Rée, wurde er Lehrer des Hebräischen und blieb mehrere Jahre in dessen Hause. Er nahm teil an dem wissenschaftlichen Unterricht seiner Schüler und hatte somit Gelegenheit, sich ein gründliches Wissen anzueignen. Ja, bei einem Besuche des Königs von Dänemark in Fridericia erhielt er den Auftrag von der dortigen jüdischen Gemeinde, den König in französischer Sprache zu begrüßen. Daß es ihm schwer fiel, das Land und die Verhältnisse, die ihn zum Manne gereift hatten, zu verlassen, ist begreiflich, aber seine Frau war nicht zu bewegen, von Krotoschin fortzugehen, und so mußte er sich entschließen, in seine ihm fremd gewordene Heimat zurückzukehren.“

Dieser Großvater, der in seinen letzten Lebensjahren immer weiß gekleidet ging, stand seiner Frau wie ein höheres Wesen vor Augen, und die Ehrfurcht vor der Weisheit des Mannes ging auch auf die Enkelkinder über. Die Großmutter selbst mit ihrer liebevollen Güte lebte noch lebendig in der Erinnerung der Enkelin. Von den Kindern blieb nur der Vater Henriettes in Krotoschin. Henriette war Art von seiner Art, war es innerlich und wohl auch äußerlich, denn noch in späteren Lebensjahren erinnerten die Greisin selbst manche ihrer Bewegungen an den Vater. Dieser, ein sehr lebhafter, fortschrittlich gesinnter Mann, pflegte manchmal zu sagen, wenn seine Kinder allzu leidenschaftlich in politischen Fragen Partei nahmen: „Ich habe doch sonderbare Kinder!“

Daß er selbst in seiner Art Vorbild der Kinder war und erheblich in seinem Wesen von dem seiner Mitbürger abstach, kam ihm dabei kaum zum Bewußtsein. Seine Tochter schildert ihn im Anschluß an den aus Kaufleuten bestehenden jüdischen Teil der Bevölkerung Krotoschins:

„Meinem Vater sagte der Kleinkram des dortigen Geschäftslebens wenig zu, er konnte sich nicht beschränken, an den zwei Markttagen der Woche von den Bauern Getreide zu kaufen und an den Müller zu liefern, er trat in Beziehung zu Geschäftshäusern in Stettin, Berlin und Hamburg. So waren seine Unternehmungen als Kaufmann großzügiger Natur. Da seine Jugend in den Anfang des 19. Jahrhunderts fiel, erlebte er die Befreiungskriege mit, und sein Sinn blieb stets der Geschichte und den politischen Erscheinungen der Gegenwart zugewendet. So verfolgte er, der überaus beschäftigte Kaufmann, mit wärmster Anteilnahme und lebhaftestem Interesse die innere Bewegung der vierziger Jahre, die auf allen Gebieten des Geisteslebens die Gemüter ergriff.“

Neben dem Vater, der Stiefmutter und den Geschwistern (vier waren zwischen ihr und der zehn Jahre älteren Schwester noch im frühesten Kindesalter gestorben), mit denen die junge Henriette innige Liebe verband, waren es noch einzelne Gestalten, die schattenhaft in der Erinnerung der alten Frau auftauchten. Vor allem war es eine Tante Ninon, an die sie sich lebhaft erinnerte. Diese Tante Ninon hatte offenbar ein großes schauspielerisches Talent besessen, sie wußte ganze Rollen auswendig, mimte sie den Kindern vor und fesselte die kleine Schar auch immer wieder durch phantastische Erzählungen von einer Reise nach – Breslau. Dann lebte noch ein greiser Onkel in der Erinnerung der alten Frau fort, der noch mit etwa neunzig Jahren zu sagen pflegte, wenn jemand vom Tode sprach: „Zu was brauche ich mich zu sputen auf das, was mir so gewiß ist.“

Ganz frühe Kindheitserinnerungen knüpften sich noch an einen Brand, bei dem eine Anzahl Häuser vernichtet wurde, und der ihrem Vater, der sie selbst aus seinem gefährdeten Hause trug, beinahe Freude bereitete, da er in seinem Optimismus bereits an Stelle der engen, ungesunden, winkeligen Quartiere neue helle Heimstätten erstehen sah.

Sonst hatten sich ihr die frühen Kindheitserinnerungen durch ihr reiches späteres Erleben ziemlich verwischt; lebhaft gedachte sie noch eines Gartens, in dem die Kinder für wenige Pfennige so viel Beerenobst essen durften, wie sie wollten, und dabei manchmal des Guten etwas zuviel taten. Es ist bezeichnend für das Kindheitserinnern, daß diese beiden zeitlich auseinanderliegenden, ganz verschiedenen Tatsachen den stärksten Eindruck hinterlassen haben.

Die Schule vermittelte der jungen Henriette nur geringe Bildungswerte, sie war aber dennoch die Ursache, daß die Greisin, schon fast neunzig Jahre alt, einige kurze Aufzeichnungen machte. Zur Eröffnung der Hochschule für Frauen in Leipzig 1911 sandte nämlich der Direktor der Töchterschule in Krotoschin einen Glückwunsch, verbunden mit einer Einladung zum fünfundsiebzigjährigen Jubiläum der Schule, zu deren ersten Schülerinnen die junge Henriette gehört hatte. Sie schrieb davon später nieder:

„Dieser Rückblick auf die lange hinter mir liegende Vergangenheit brachte mir den Weg zum Bewußtsein, den ich zurückgelegt. Nur einem inneren Drange folgend, bin ich von der kleinen Stadt in der Provinz Posen in die deutsche Kulturwelt hineingewachsen. Ohne einen anderen Unterricht als den dürftigen einer Elementarschule und den Besuch eines Jahreskursus in einer, aus einer Klasse bestehenden Töchterschule, bin ich zur Gründung einer Hochschule für Frauen gelangt in einer der anerkanntesten Kulturstädte des Vaterlandes.

Mit vierzehn Jahren hatte ich meine Schulzeit beendet. Eine große Bereicherung hat sie mir nicht gebracht, dennoch ist sie natürlich nicht ohne Einfluß auf meine innere Entwicklung gewesen, brachte sie mich doch in Beziehung zu Mitschülerinnen aus einem anderen, als dem gewohnten Lebenskreise. Zum erstenmal trat ich Töchtern aus dem deutschen Beamten- und Offizierstand nahe, empfand zum ersten Male, daß diese sich in bevorzugter Stellung den jüdischen Mitschülerinnen, also auch mir gegenüber zu befinden glaubten, und es kam zu kleinen Zwistigkeiten zwischen uns. Einen Streit hatte ich mit einer adeligen Majorstochter, die das vertrauliche Du, das wir fast alle untereinander gebrauchten, auch bei mir anwendete, sich aber berechtigt fühlte, sich von mir den gleichen Gebrauch ihr gegenüber zu verbitten. Ich war darüber derartig entrüstet, daß ich den Eintritt des Lehrers überhörte, so daß er Zeuge des Streites wurde. Zur Ehre dieses Lehrers sei erwähnt, daß er sich meiner, der Herausgeforderten, annahm und das junge Fräulein von Soundso in seine Schranken zurückwies. So jung ich damals war, so hatte ich doch in einer Zeit und in Verhältnissen, in denen es als selbstverständlich galt, die Juden nach Belieben zu behandeln, so viel Persönlichkeitsgefühl, um gegen solche mich beleidigende Behandlungsweise gewappnet zu sein!“

Das starke Gerechtigkeitsgefühl, das leidenschaftliche Temperament rissen die junge Henriette auch manchmal zu unbedachten Äußerungen hin. An den Wortlaut des Streites mit einer Mitschülerin aus einer anderen Gesellschaftsschicht erinnerte sie sich nicht mehr genau. An eine Szene aber dachte die Greisin noch mit heiterem Lachen. Der Lehrer wandelte in der Klasse auf und ab, und stieß von Zeit zu Zeit tiefe Seufzer aus und jedesmal sagte er, vor Henriette Benas stehenbleibend, dumpf: „Wem gelten diese Seufzer? Dir, Benas, gelten sie!“ Die Szene machte einen tiefen Eindruck auf die junge Henriette, noch schluchzend trat sie mit der Freundin den Heimweg an und sagte zu dieser, auch einem Jettchen: „Du wirst sehen, daß ich nie mehr im Leben lachen werde.“ Sie hat dann freilich das gute herzbefreiende Lachen wieder gelernt, hat es bis in ihr Alter sich bewahrt und pflegte später lobend von einem Menschen zu sagen: „Er hat so ein gutes Lachen.“