Herrenbesuch - Eva von Kleist - E-Book

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Eva von Kleist

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Beschreibung

In elf Geschichten greift Eva von Kleist das Leben in den 60er Jahren auf, einer Zeit des beginnenden Umbruchs in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, auch im Hinblick auf die Stellung der Geschlechter. In dieser Zeit wurde die unverheiratete Frau noch bis ins hohe Alter als Fräulein bezeichnet, die heutige Alleinerziehende als Sitzengelassene mit unehelichem Kind: Beides waren "Lebensentwürfe", die Eltern für ihre heranwachsenden Töchter dringend vermeiden wollten. Im Allgemeinen jedoch nicht mit der Anti-Baby-Pille, die seit 1962 zu haben war, sondern mit strenger Kontrolle der töchterlichen Aktivitäten. Die Heldin dieser Geschichten, ein junges Mädchen, erzählt von diesen elterlichen Umschlingungsbemühungen und von den oft hilflosen Versuchen der Erzählerin, Einfluss auf das eigene Leben zu nehmen.

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Inhalt

Herrenbesuch

Bliff mi vonne Köppe weg

Das Jahr 1962 – die Zeit nach Oswald und vor Kolle

Religion

Hosen

Paul

Männliche Größe

Musikunterricht

Wunschkandidat 1

Wunschkandidat 2

Bildung für Mädchen

Vorab:

In elf Geschichten greift Eva von Kleist das Leben in den 60er Jahren auf. In dieser Zeit des beginnenden gesellschaftlichen Umbruchs wurde die unverheiratete Frau noch bis ins hohe Alter häufig als „Fräulein“ bezeichnet, die heutige Alleinerziehende als „Sitzengelassene“ mit „unehelichem“ Kind: Beides waren „Lebensentwürfe“, die Eltern für ihre heranwachsenden Töchter dringend vermeiden wollten. Im Allgemeinen jedoch nicht mit der Anti-Baby-Pille, die seit 1962 zu haben war, sondern mit strenger Kontrolle der töchterlichen Aktivitäten.

Die Heldin der Geschichten, ein junges Mädchen, erzählt von diesen elterlichen Umschlingungsbemühungen und von den oft hilflosen Versuchen der Erzählerin, Einfluss auf das eigene Leben zu nehmen.

Die in den Geschichten enthaltenen autobiografischen Aspekte stehen nicht im Vordergrund. Es geht vielmehr darum, die damalige Zeit und das damit verbundene Lebensgefühl lebendig werden zu lassen, ein Rückblick ohne Anklage, mit einem gehörigen Schuss Selbstironie.

Vorab soll das politische und kulturelle Leben der damaligen Zeit am Beispiel einiger Ereignisse des Jahres 1962 schlaglichthaft beleuchtet werden.

Das Jahr 1962

1962 umkreist der US-Astronaut Walter Schirra die Erde, ein Jahr nach dem Russen Juri Gagarin.

Die Kubakrise führt zu einem unübersichtlichen Vorrat an Grundnahrungsmitteln im Haushalt meiner Eltern.

Peter Fechter verblutet an der innerdeutschen Grenze in der Nähe des Checkpoint Charlie.

Franz Josef Strauß tritt als Verteidigungsminister zurück. Gestolpert ist er über das Vorgehen der Bundesanwaltschaft gegen das Magazin „Der Spiegel“ wegen angeblichen Landesverrats, das ihm als Einschränkung der Pressefreiheit und als persönliche Rache zur Last gelegt wird. Der Spiegel hatte zuvor kritisch über das damalige Konzept eines atomaren Erstschlags und die entsprechende Rüstungspolitik berichtet.

50000 Menschen setzen mit ihrer Teilnahme an neun Ostermärschen ein Zeichen gegen atomare Bewaffnung und nukleares Wettrüsten.

Norma Jeane Mortensen, auch bekannt als Marilyn Monroe, stirbt, möglicherweise an einer Überdosis Nembutal. Die genauen Umstände ihres Todes können nicht vollständig geklärt werden.

Anfang Januar spielen die Beatles in den Decca Studios vor und werden abgelehnt, da Gitarrengruppen im Showbusiness keine Zukunft hätten. Ab April treten sie mehrfach im Hamburger „Star-Club“ auf. Mit „Love me do“ entsteht die erste reguläre Studioaufnahme der Beatles.

„Das Halstuch“ von Francis Durbridge wird zum Straßenfeger, sogar Nachtschichten in Fabriken müssen ausfallen, weil die Nation vor den Fernsehgeräten sitzt.

Georg Baselitz malt sein Bild „Der nackte Mann“, das 1963 wegen Unsittlichkeit von der Staatsanwaltschaft konfisziert werden wird.

Erst fünf Jahre später (1967) wird Oswald Kolle, der „Orpheus des Unterleibs“, mit Unterstützung der Gesundheitsministerin Käte Strobel den Aufklärungsfilm „Helga“ drehen und damit an Richard Oswalds ersten deutschen Aufklärungsfilm „Es werde Licht“ aus dem Jahr 1917 anknüpfen, der von der "Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten" unterstützt worden war.

Herrenbesuch

„Ein junges Mädchen darf seine Haare auf der Straße nicht offen tragen! Das gehört sich nicht! Da kann das Mädchen gleich mit blanken Brüsten durch die Stadt laufen. Außerdem dürfen junge Mädchen, wenn sie sich auf der Straße schon unbedingt mit jungen Männern zeigen müssen, mit diesen nicht Hand in Hand herumlaufen. Die Leute würden sich sonst nämlich fragen: ‚Was machen die beiden wohl, wenn sie im Wald spazieren gehen?‘“

Selbstredend stand – angesichts dieser klaren moralischen Vorgaben meines Vaters – der Besuch junger Männer in der elterlichen Wohnung für uns, zwei Mädchen von 14 und 16 Jahren, nicht zur Debatte. Ich war ohnehin räumlich eingeschränkt, da ich mir das Zimmer mit meiner acht Jahre jüngeren Schwester Liesbeth teilte. Zwei Stockbetten und zwei nebeneinanderstehende wuchtige Kleiderschränke, ein Tisch und zwei Stühle für die Hausaufgaben: Diese raumsparend nüchterne Kinderzimmeratmosphäre hätte ohnehin jeden Annäherungsversuch im Keim erstickt. Meine ältere Schwester Hanna verfügte immerhin über ein eigenes Zimmer mit einem großen Kleiderschrank darin, in dem Mann sich zur Not verstecken konnte oder hätte verstecken können, wie auch immer.

Weder an die moralischen Bedenken meines Vaters noch an die räumliche Unterbringung seiner Töchter wird der 19jährige Peter Z. gedacht haben, als er an einem schönen warmen Julitag des Jahres 1967 meine Schwester Hanna vom Schwimmen nach Hause brachte. Peter Z. arbeitete als Bademeister in einem Iserlohner Freibad und hatte sich von seinen bescheidenen Einkünften ein ebenso bescheidenes gebrauchtes Auto gekauft. Im Gegensatz zu seinem eher unauffälligen Auto war Peter jedoch ein echter „Hingucker“: Er war groß, schlank, gebräunt, athletisch und bewegte sich mit lässiger Eleganz. Trotz seiner fast weiblich anmutenden gleichmäßigen Gesichtszüge und seiner halblangen, dunklen, leicht gelockten Haare sah er nicht mehr wie ein großer Junge, sondern bereits wie ein junger Mann aus, ein wirklich durch und durch attraktiver junger Mann, möglicherweise die Ursache dafür, dass das Schwimmbad einen stetigen Zustrom weiblicher Gäste verzeichnete.

Meine Schwester war seinem Charme jedoch nur halbherzig erlegen, denn sie hatte bereits mit ihm gesprochen. Und dabei hatte sie leider feststellen müssen, dass dieser schöne junge Mann eine sehr zarte, piepsige Stimme besaß, die seine männliche Aura ihrer Strahlkraft beraubte. Auch der Inhalt seiner Rede gefiel ihr nicht: „Wenn wir uns häufiger treffen sollten, zieh bitte nicht mehr das blaue Kleid an. Das hat keinen Stil.“ Doch davon ab, Peter war das, was manche heute als „optischen Knaller“ bezeichnen würden, und es wurde ja auch nicht immer gesprochen.

Ausgiebig gesprochen wurde jedoch in der elterlichen Wohnung. Meine Schwester hatte meiner Mutter zuvor mitgeteilt, dass Peter Z. sie aus organisatorischen Gründen nach Hause bringen würde, und die hatte nach einem längeren Blick auf den jungen Mann vorgeschlagen, dass er gerne kurz mal reinkommen könne, auf eine Fanta, als Dankeschön.

Bevor meine Mutter Peter Z. das leise sprudelnde Getränk überreichte, hatte sie bereits die ersten Fragen auf ihn niederprasseln lassen. Dabei war sie ohne Umschweife zum Thema gekommen: „Wie lange besitzen Sie einen Führerschein? Was macht Ihr Vater beruflich? Ist Ihre Mutter auch berufstätig? Haben Sie Geschwister? Welche Ausbildung haben Sie? Planen Sie eine weitere berufliche Ausbildung?“ Auf das vertrauliche Du verzichtete sie ganz bewusst.

Peter Z. beantwortete die Fragen wahrheitsgemäß; er schätzte die Situation instinktiv richtig ein: Lügen wäre sinnlos gewesen. Meine Mutter entspannte sich nach seinen ersten Antworten deutlich. Ob es am Inhalt seiner Antworten oder am Klang seiner zarten Stimme gelegen hat, die ihn vom potentiellen Verführer zum harmlosen Knaben degradierte? Was auch immer die Laune meiner Mutter verbessert haben mag, sie schlug ein gemeinsames Kartenspiel vor. Und kurz darauf saßen wir – meine Mutter, meine Schwester Hanna, Peter Z., meine sechsjährige Schwester Liesbeth und ich – am Esszimmertisch und spielten Mau - Mau, bei Kakao und Plätzchen: Es wurde fast gemütlich – bis plötzlich mein Vater in der Tür stand und die Situation mit einem Blick erfasste.

„Was ist denn hier los?“, fragte er überflüssigerweise, mit angespannt heiterer Miene. „Papa, wir spielen Mau - Mau, und der Mann da heißt Peter und hat Hanne vom Schwimmbad nach Hause gebracht“, antwortete meine Schwester Liesbeth, der damals der Sinn für atmosphärische Störungen noch fehlte.

„Ach so, guten Abend, Westphal mein Name“, erinnerte sich mein Vater an grundlegende Höflichkeitsregeln. Danach bat er ohne viel Federlesens den jungen Mann nach unten in seine Anwaltskanzlei, die im Erdgeschoss des Hauses lag. Er müsse ihm dort seine neuesten Umbaumaßnahmen zeigen.

Peter erhob sich sehr eilig und verließ uns mit kurzem Gruß, um meinem Vater in die Kanzlei zu folgen.

Keine zehn Minuten später erschien unser Vater wieder im Esszimmer, ohne Peter. Seine zuvor heitere Miene war wie weggeblasen. Kurz schwieg er, während sein Gesicht eine rötliche Färbung annahm. Und dann, mit bebenden Nasenflügeln und funkelnden Augen, sprach er – mir bis heute unvergesslich – die Worte: „Das sind ja Zustände hier, wie in Sodom und Gomorrha! Kommen die Freier schon ins Haus.“

Für einen Moment herrschte Stille, dichte, angespannte Stille. Dann fing meine kleine Schwester an zu kichern und wurde mit allgemeiner Zustimmung des Raumes verwiesen. Da gab es wirklich nichts zu lachen. Und während meine Schwester Hanna im Folgenden die zweckgerichteten Aspekte ihrer Verbindung zu Peter Z. hervorhob – er habe sie doch nur mal nach Hause gebracht, sonst hätte sie doch so schrecklich lange auf den Bus warten müssen –, verwies meine Mutter sehr energisch auf die mangelnde Gefahr sittlicher Entgleisungen beim Kartenspielen im Familienkreis. Ich schwieg und wunderte mich. Seit wann benutzte mein Vater Textstellen aus der Bibel?

Im Übrigen ist bis heute unklar, was damals in der Anwaltskanzlei besprochen wurde. Mein Vater hat es uns nicht erzählt, und Peter Z. schien nach diesem Gespräch jedes Interesse an Mitgliedern unserer Familie verloren zu haben.

Bliff mi vonne Köppe weg!

In den stürmischen 60er Jahren geriet so mancher Grundpfeiler der bürgerlichen Ordnung ins Wanken. Die ersten Risse dieser Ordnung hatten sich bereits im Frühjahr des Jahres 1960 gezeigt, genauer gesagt, im Osterurlaub, den unsere Familie wie in jedem Jahr in der Schweiz verbrachte, in der beschaulichen Ortschaft Unterschächen oberhalb von Altdorf. Der „Übeltäter“ war in diesem Fall mein Vater, dem das von Berufs wegen, als Anwalt, nun wirklich nicht hätte passieren dürfen.

Vielleicht wäre aber alles gar nicht so gekommen, wenn unsere Tante Klärchen nicht mitgefahren wäre. Die Hinfahrt mit Tante Klärchen im Auto meines Vaters, einem Peugeot 404, hatte sich als recht beschwerlich erwiesen.

So mussten wir stets auf eine korrekte Gewichtsverteilung achten. Unsere extrem übergewichtige Tante Klärchen saß vorne auf dem Beifahrersitz neben meinem Vater. Nach hinten hätte sie schlichtweg nicht gepasst. Wir Kinder, damals sieben und neun Jahre alt und auch zu zweit deutlich leichter als unsere Mutter, saßen hinter unserer Tante, während unsere Mutter hinter dem Fahrersitz Platz genommen hatte.

Deshalb litt sie unter permanenter Übelkeit: Den Sitzplatz auf der Rückbank eines Autos empfand unsere Mutter generell als Zumutung.

Verstärkt wurde ihre missliche Lage zusätzlich durch unsere Fahrstrecke: Wer 1960 von Iserlohn aus mit dem Auto Richtung Altdorf unterwegs war, einer Gemeinde, südlich des Vierwaldstädtersees gelegen, benötigte einen robusten Magen. Vor allem die Strecke am See entlang war extrem kurvig, da der Ausbau der Autobahn noch in den Kinderschuhen steckte.

Außerdem war unsere Mutter im zweiten Monat schwanger, was sich aber erst nach diesem Urlaub herausstellen würde.

Und so wurde die Hinfahrt von allen als wenig komfortabel empfunden. Vor allem wir Kinder langweilten uns, wenn wir im