Lebenslagen - Eva von Kleist - E-Book

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Eva von Kleist

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Beschreibung

In ihren Kurzgeschichten und Erzählungen greift Eva von Kleist ganz unterschiedliche Themen auf: eine Kindheit, geprägt von der geistigen Enge der frühen 60er Jahre, das Konfliktfeld Schule, kriminalistische Verwicklungen im Altenheim, die Beziehungen der Geschlechter zwischen Freundschaft und Verlangen, ein Verlassener, der Hilfe bei einer Schamanin sucht ... Und so wechselt auch der erzählerische Blick auf die Welt: teils ironisch, teils satirisch überspitzt, manchmal auch distanziert neutral das Geschehen gleichsam protokollierend, immer jedoch genau beobachtend.

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Inhalt

Aufklärung im Jahre 1961

Das unerwartete Ableben...

La giacca stupida (Die dumme Jacke)

Die Eltern

Besuch von Frau Z.

Zufällig?

Das schwache und das starke Geschlecht

Der Heilige Abend

Die Wette

Die Nikolausfeier

Inliner

Die Fremdenergie

Vorab:

In ihren Kurzgeschichten und Erzählungen greift Eva von Kleist ganz unterschiedliche Themen auf: eine Kindheit, geprägt von der geistigen Enge der frühen 60er Jahre, das Konfliktfeld Schule, kriminalistische Verwicklungen im Altenheim, die Beziehungen der Geschlechter zwischen Freundschaft und Verlangen, ein Verlassener, der Hilfe bei einer Schamanin sucht ...

Und so wechselt auch der erzählerische Blick auf die Welt: teils ironisch, teils satirisch überspitzt, manchmal auch distanziert neutral das Geschehen gleichsam protokollierend, immer jedoch genau beobachtend.

Aufklärung im Jahre 1961

Anfang der 60er Jahre ging ich in die dritte Klasse der evangelischen Volksschule in der Waisenhausstraße in Iserlohn. Ich war mit meinen neun Jahren bereits recht hoch aufgeschossen und trug meine blonden Haare streichholzkurz. Dafür sorgte meine Mutter eigenhändig und verhinderte damit in mütterlicher Fürsorge jede Form von Niedlichkeit meinerseits.

Vier Jahre zuvor war meine extreme Kurzsichtigkeit aufgefallen, seitdem trug ich eine Brille, was mir einerseits dumme Sprüche bescherte – „Mein letzter Wille, ne Frau mit Brille!“-, mir aber andererseits auch einen größeren Überblick und damit ein gewisses Überlegenheitsgefühl vermittelte.

So hatte ich die Schule meiner Einschätzung nach im Grunde nicht mehr nötig, da ich notwendiges Wissen fürs spätere Leben bereits erworben hatte: Ich beherrschte das große Einmaleins, konnte flüssig lesen und überwiegend fehlerfrei schreiben, Gedichte auswendig lernen und aufsagen, ohne zu leiern, war Klassenbeste im Gummitwist, konnte Handstand an der Wand und wusste, dass man zu fremden Männern nicht ins Auto steigt.

Dieses Gefühl der Überlegenheit verließ mich jedoch häufig im Religionsunterricht. Das Lieblingsthema unseres Religionslehrers, die Geschichte von Adam und Eva, nahm ich persönlich, denn ich hieß nun mal Eva, und deshalb drehte sich die erste Reihe, in der die frechen Jungen saßen, gerne grinsend zu mir um, und der Brillenspruch kam zum Einsatz.

Mein diffuses Unbehagen steigerte sich zu puterroter Peinlichkeit, wenn Kain und Abel ins Spiel kamen. Mein Problem war hier nicht der Brudermord, sondern die Tatsache, dass Eva Mutter dieser beiden Knaben geworden war und irgendwie zu ihren Kindern gekommen sein musste, und zwar auf eine mir unbekannte Weise. Damit wollte ich nichts zu tun haben, und deshalb erwähnte ich hin und wieder, dass mein zweiter Vorname Maria sei.

Der ungekrönte Anführer der Quälgeister in der ersten Reihe war Paule Häulig. Paule benötigte noch Hilfslinien beim Schreiben, las nur stockend vor und konnte erst bis 50 rechnen. Er war etwas kleiner als ich und überspielte seine geringe Körpergröße erfolgreich durch männlich-herbe Ausdünstungen in der Klasse und kräftiges Ausrotzen großer grünlich-grauer Schleimbrocken auf dem Schulhof. Nach der Schule pinkelte er im Allgemeinen an ein niedriges Mäuerchen, das dem Ausgang des Schulhofes gegenüberlag. Paule war der erste Mensch in meinem Leben, dessen körperliche Nähe mir tiefes Unbehagen einflößte und den ich ohne jedes Mitleid wissentlich und gründlich übersah.

Trotz all dieser Widrigkeiten ging ich ganz gerne in die Schule. Zum einen wäre es sowieso nicht zu verhindern gewesen, da meine Mutter die Parallelklasse unterrichtete und so immer auf dem Laufenden war, zum andern verbrachte ich gerne meine Zeit mit meiner Klassenkameradin Karin Rosig, einer Nachbarstochter. Karin war etwas kleiner als ich und in der Schule sehr still. Wenn unser Klassenlehrer, Herr Meiersdorfer, ihr eine Frage stellte, überzog sich ihr rundes Gesicht mit einem rosafarbenen Schimmer, was ihr den Spitznamen „Röschen“ eingebracht hatte. Karin hasste diesen Namen, und da sie ihren Nachnamen als Quelle ihrer Misere ausgemacht hatte, teilte sie diesen nur auf bohrende Nachfragen mit und sprach ihn dann auch ganz undeutlich, nahezu unverständlich aus.

Auf dem gemeinsamen Heimweg jedoch taute Karin jedes Mal auf. Mit frechen Bemerkungen über die großen und oft so roten Ohren von Herrn Meiersdorfer konnte ich ihr leicht ein fröhliches Gekicher entlocken. Zuweilen lachte sie dabei sogar laut, hielt sich aber dann doch schnell die Hand vor den Mund und warf einen kurzen Blick nach hinten, wobei ihre langen, dicken, blonden Zöpfe flogen.

Nur einmal trübte ein Zwischenfall unsere Freundschaft. Karin und ich schwärmten für denselben Jungen, einen sonnengebräunten, dunkelhaarigen, großgewachsenen Knaben mit braunen Augen, der die Parallelklasse besuchte und den wohlklingenden Namen Michael Brandtmeister trug. Dieser Junge wusste nichts von unserer Schwärmerei, die wir nicht nur vor ihm, sondern auch vor der jeweils anderen so geschickt wie möglich zu verbergen suchten.

Eine Schulveranstaltung brachte mein Geheimnis dann doch ans Licht, und zwar folgendermaßen: Meine Mutter hatte Vertretungsunterricht in meiner Klasse und musste sich um ihre eigene Klasse, besagte Parallelklasse, gleichzeitig kümmern, hatte also ca. 60 Drittklässler zu betreuen. Diese Doppelbelastung versüßte sie sich und uns mit einem Polka ähnlichen Hüpfetanz, wohlgemerkt mit Auffordern. Karin wurde sogleich zum Tanz gebeten, ich dagegen „blieb sitzen“. Auf der Seite der Jungen saß ebenfalls, allerdings freiwillig und mit etwas gelangweiltem Gesichtsausdruck, Michael Brandtmeister.

Diese Phase der Entspannung wurde ihm jedoch durch meine Mutter verkürzt: „Ja, Michael, willst du denn nicht mit der Eva tanzen?“ Michael war ein im Sinne der damaligen Zeit guterzogener Junge, der es sich keinesfalls mit seiner Lehrerin verscherzen wollte, und absolvierte mit mir einen Pflichttanz, den ausdruckslosen Blick mit sichtbar angespannter Kinnmuskulatur starr auf die fleckige Decke des Klassenzimmers gerichtet. Ich ahnte, dass hier irgendetwas nicht stimmte, und hüpfte - zwischen der glücklichen Aufregung über diese unerwartete körperliche Nähe und der Peinlichkeit der Situation hin- und hergerissen - schwankend, beinahe hölzern, auf alle Fälle unkoordiniert über den staubigen Boden. Dabei trat ich dem Angebeteten ein paarmal kräftig auf die Füße, dieser verzog keine Miene, begleitete mich nach dem Tanz höflich zu meinem Stuhl und forderte ein anderes Mädchen auf.

Als Karin mich an diesem Schultag nach Hause begleitete, schien sie mir schweigsamer als sonst. Vor unserer Haustür starrte sie mich kurz mit blitzenden Augen und leicht geröteten Wangen an, und dann brach es aus ihr heraus, laut und sehr hörbar im Umkreis von 20 Metern:

„Du bist in Michael Brandtmeister verliebt!“

Ich war aufgeflogen - und das in aller Öffentlichkeit! Nun, daran ließ sich jetzt nicht mehr ändern, also startete ich durch zum Gegenangriff:

„Nein, du bist in Michael Brandtmeister verliebt!“ Dabei zog ich energisch an ihren langen blonden Zöpfen.

Diesen schweren Vorwurf wollte Karin keinesfalls auf sich sitzen lassen und so zerrte sie, ebenfalls energisch, an meinem Blusenkragen:

„Nein, du!“

„Nein, du!“

Und so tobten die Anschuldigungen hin und her. Dabei zerbrach meine Brille, Karins linker Zopf löste sich, ein Blusenknopf sprang ab. Ebenso blitzartig, wie der Streit begonnen hatte, fand er sein jähes Ende durch das unerwartete Auftauchen einer Klassenkameradin, auf deren neugierige Fragen wir sehr wortkarg antworteten:

„Versehentlich gestoßen und dann hingefallen“, damit musste sie zufrieden sein.

Und auch mein Abschied von Röschen geriet etwas kühl. Mit einem hastig gemurmelten „Wiedersehen, bis dann“ verabschiedete ich mich in die Ferien.

Die Ferien verbrachte ich, wie so häufig, auf einem Bauernhof in Sellenrade. Sellenrade, eine Ansammlung von sieben Häusern, im tiefen Sauerland zwischen Attendorn und Meinerzhagen gelegen, verfügt inzwischen über immerhin zehn Festnetzanschlüsse. Die ehemaligen Höfe sind umgewandelt in Gewerbebetriebe, die gemächlich ihre Dungfladen kreuz und quer auf den Wiesen verteilenden Kühe ersetzt durch sehr gleichmäßig angeordnete Tannen, Weihnachtsgeschäft eben.

Damals, Anfang der 60er Jahre, war davon jedoch noch keine Rede. Für mich war dieser Ort der schönste, den es auf der Welt gab, und am schönsten war der Bauernhof von Tante Else und Onkel Willi. Von der Hofseite kommend betrat man diesen Eindachhof - Tiere und Menschen wohnten unter einem Dach – durch einen großen Stall, in dem Kühe, Schweine und Hühner gemeinsam untergebracht waren, in jeweils dafür vorgesehenen Bereichen. Diese verströmten eine unbeschreibliche, intensive Geruchsmischung, die mir jedes Mal warm und würzig in die Nase stieg. Ende Juni roch es am besten, denn dann war das frische Heu oben auf dem Boden eingelagert worden, zu kleinen rechteckig geformten Ballen zusammengepresst, da die Besitzer inzwischen einen Hanomag mit stolzen 24 Pferdestärken besaßen. Damit konnten sie einen Balkenmäher, einen Heuwender und eine Ballenpresse bedienen. All das war vier Jahre zuvor noch von Hand geschehen und hatte eine große Anzahl helfender Hände erfordert. Diese waren nun nicht mehr nötig, und somit gab es auch nur noch einen Helfer, der Kalle oder auch Knecht genannt wurde, Letzteres allerdings nur in seiner Abwesenheit.