Herrliche Zeiten - Dem Himmel so nah - Peter Prange - E-Book

Herrliche Zeiten - Dem Himmel so nah E-Book

Peter Prange

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Beschreibung

Der große Traum vom modernen, offenen Europa 1900: Aufbruch, Fortschritt, Optimismus – die Heirat der englischen Industriellentochter Claire mit dem Berliner Unternehmersohn Friwi ist ein Sinnbild des modernen Europas. Doch während Friwi in China und Afrika für Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht kämpft, streitet Claire für die Rechte der Frauen. Wird sie Kaspar je vergessen, der sich in Paris und St. Petersburg der Revolution verschrieben hat? Die Träume der drei könnten nicht unterschiedlicher sein. Wie werden sie sich erfüllen? Noch wetteifern bei Segelregatten nur die Jachten der Könige um den Sieg. Doch während Auguste Escoffier, der König der Köche und Koch der Könige, im Sommer 1914 ganz Europa zu einem Gastmahl vereint, taumelt die Welt dem Krieg entgegen. Peter Pranges Schicksalsroman über Europa am Scheideweg zwischen Glanz und Abgrund - heute so aktuell wie vor hundert Jahren.

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Seitenzahl: 991

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Peter Prange

Herrliche Zeiten - Dem Himmel so nah

Roman

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

1900: Auf der Weltausstellung in Paris feiern die Völker den Fortschritt, über alle Grenzen hinweg. Die Zukunft könnte nicht großartiger sein!

Doch die Zukunft hat zwei Gesichter. Während Friwi in den Kolonien für Deutschlands Glanz und Gloria kämpft, leidet Claire Höllenqualen in einer Ehe, die sie nur um ihres Kindes willen erträgt. Enttäuscht von ihrer Entscheidung für den anderen, flüchtet Kaspar nach Russland, wo er in die Wirren des vorrevolutionären Zarenreichs gerät, doch ohne Vicky vergessen zu können. Und während Germaines Versuche zu lieben, allesamt scheitern, bis sie endlich die Wahrheit über sich selbst erkennt, schreckt Johanna vor dieser Wahrheit zurück, bis es fast zu spät ist.

Der große Traum der Weltausstellung, der Traum vom Paradies – entpuppt er sich als Albtraum? Statt die Früchte des Fortschritts gemeinsam zu genießen, streiten die Völker um die Vorherrschaft in Europa und legen so Lunte an den Frieden, ohne den alles Streben nach Glück vergeblich ist.

 

Der zweite Band der großen Dilogie zur Jahrhundertwende. Band 1, »Herrliche Zeiten. Die Himmelsstürmer« liegt im Fischer Taschenbuch Verlag vor.

 

Weitere Titel von Peter Prange:

 

Der Traumpalast. Im Bann der Bilder Der Traumpalast. Bilder von Liebe und Macht Eine Familie in Deutschland. Zeit zu hoffen, Zeit zu leben Eine Familie in Deutschland. Am Ende die Hoffnung Winter der HoffnungUnsere wunderbaren Jahre Das Bernstein-Amulett Himmelsdiebe Der Kinderpapst Die Rose der Welt Ich, Maximilian, Kaiser der Welt Die Rebellin Die Philosophin Die Principessa Die Gärten der Frauen Werte: Von Plato bis Pop – alles, was uns verbindet

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Bestsellerautor Peter Prange ist der große Erzähler der deutschen und europäischen Geschichte. Als Autor aus Leidenschaft gelingt es ihm, die eigene Begeisterung für seine Themen auf Leser und Zuhörer zu übertragen. Die Gesamtauflage seiner Werke beträgt weit über drei Millionen. ›Herrliche Zeiten‹ ist der Abschluss seiner Deutschland-Pentalogie, eines großangelegten Panoramas unseres Landes in fünf Romanen. Die Vorläufer sind Bestseller, etwa seine Romane in zwei Bänden, ›Eine Familie in Deutschland‹ und ›Der Traumpalast‹. ›Das Bernstein-Amulett‹ wurde erfolgreich verfilmt, der TV-Mehrteiler zu ›Unsere wunderbaren Jahre‹ begeisterte in zwei Staffeln ein Millionenpublikum. Der Autor lebt mit seiner Frau in Tübingen.

 

www.peterprange.de

Impressum

 

 

Zu diesem Buch ist bei Argon ein Hörbuch erschienen.

Erfahren Sie mehr über Peter Prange und seine Romane auf www.facebook.com/peterprange

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: Mauritius Images / Alamy

ISBN 978-3-10-491775-7

 

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Inhalt

[Widmung]

Vorbemerkung

[Motto]

Zweites Buch Dem Himmel so nah

[Motto]

Teil vier Höher, schneller, weiter

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

93. Kapitel

94. Kapitel

95. Kapitel

96. Kapitel

97. Kapitel

98. Kapitel

99. Kapitel

100. Kapitel

101. Kapitel

Teil fünf Höhenrausch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

93. Kapitel

94. Kapitel

95. Kapitel

96. Kapitel

97. Kapitel

98. Kapitel

99. Kapitel

Teil sechs Das letzte Gastmahl

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

3. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

93. Kapitel

94. Kapitel

95. Kapitel

96. Kapitel

97. Kapitel

98. Kapitel

99. Kapitel

100. Kapitel

101. Kapitel

102. Kapitel

103. Kapitel

104. Kapitel

105. Kapitel

106. Kapitel

107. Kapitel

108. Kapitel

Epilog Der neue Bund

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Danke

Liste der handelnden Personen

Deutschland

England

Frankreich

Weitere Personen

[Neuigkeiten]

Für uns Europäer,

in der Hoffnung, dass wir endlich

zur Besinnung kommen.

Und für

Ilona und Rolf Schnellecke,

in Freundschaft.

Vorbemerkung

Die nachfolgende Geschichte ist, obwohl angelehnt an historische Ereignisse, frei erfunden. Rückschlüsse auf die tatsächliche Lebenswirklichkeit der geschilderten Personen sollen in keiner Weise nahegelegt oder ermöglicht werden. Die einzelnen Handlungsstränge sind ebenso wie die Lebenswege der Protagonisten Erfindungen des Autors. Dies gilt insbesondere für deren politische Verstrickungen und die Schilderung ihrer Privatsphäre. Alle intimen Szenen sowie die Dialoge und die Darstellung der Gefühlswelt des gesamten Romanpersonals sind reine Fiktion.

»Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe,

wie im Himmel also auch auf Erden.«

Evangelium nach Matthäus, 6,10f.

»Alle die fahlen Rosse der Apokalypse sind durch mein Leben gestürmt, Revolution und Hungersnot, Geldentwertung und Terror, Epidemien und Emigration. Ich habe die großen Massenideologien unter meinen Augen wachsen und sich ausbreiten sehen, vor allem die Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat.«

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern

Zweites BuchDem Himmel so nah

1900–1914/1919

»Und wandelt mit bedächt’ger Schnelle

Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.«

Goethe, Faust I, Vorspiel auf dem Theater

Teil vierHöher, schneller, weiter

1900–1905

1

Das 20. Jahrhundert begann mit einem Völkerfest, wie die Menschheit noch keines erlebt hatte. Begleitet von Marschmusik und Salutschüssen, eröffnete der französische Staatspräsident Émile Loubet am 15. April des Jahres 1900 auf dem Pariser Marsfeld vor zweimal hunderttausend Zuschauern die achte und größte Weltausstellung aller Zeiten. Gekrönte Häupter und Staatspräsidenten aus ganz Europa und Übersee waren in die französische Hauptstadt gekommen, um gemeinsam das neue Säkulum zu begrüßen. Achtundfünfzig Nationen hatten für dieses Fest, zu dem fünfzig Millionen Besucher erwartet wurden, ihre Pavillons zu Füßen des Arc de Triomphe errichtet, um in einem friedlichen Wettbewerb der Völker den Fortschritt der Menschheit zu feiern, in einer Leistungsschau, die die ganze Welt an einem Ort vereinte. Als Symbol dieses Fortschritts schlechthin war die exhibition universelle nicht nur ein Rückblick auf die größten menschlichen Hervorbringungen der Vergangenheit, vielmehr noch war sie Ausblick auf eine Zukunft, in der es nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien, dass mit den Mitteln von Wissenschaft und Technik der älteste Traum der Menschheit in Erfüllung gehen würde: der Traum vom Paradies auf Erden.

Ja, es herrschten wahrhaft herrliche Zeiten, noch nie schien das Leben auf Erden dem Himmel so nah. Immer höher, immer schneller, immer weiter – als hätte die ganze Welt sich die Devise der zur gleichen Zeit in Paris stattfindenden Olympiade zu eigen gemacht, eilte sie der Zukunft entgegen. Tempo, Tempo war das alles beherrschende Lebensgefühl. Automobile und Züge brachen immer neue Geschwindigkeitsrekorde, Paternoster, mechanische Rolltreppen und elektrisch bewegte Gehsteige beschleunigten das Fortkommen im Alltag, und das Ticken der in immer größeren Massen und mit immer größerer Genauigkeit produzierten Uhren gab den Puls der Zeit vor, um in unermüdlicher Rastlosigkeit alle Bereiche des Lebens zu durchdringen.

»Wohin soll das nur führen?«

Der Mann, der die Frage gestellt hatte, war Auguste Escoffier, der berühmte Chefkoch des Pariser Ritz Hotels. Mit seinen schwarzen Augen blickte er seinen Freund Paul Biermann an, seines Zeichens Berliner Unternehmer und Bauingenieur, der zusammen mit seiner englischen Frau Vicky und seiner Schwiegermutter Emily Paxton-Stokes aus Anlass der Weltausstellung nach Paris gekommen war.

Paul schüttelte den Kopf. »Hast du etwa Angst vor der Zukunft?«, fragte er. »Warum? Der Fortschritt ist ein Geschenk Gottes, die Befreiung des Menschen aus seinen natürlichen Zwängen.«

»Ich weiß«, erwiderte Auguste, »dich hat schon immer alles fasziniert, was Zahnräder und Dampfkessel hat.« Skepsis sprach aus seinem feingeschnittenen Gesicht, während er sich über seinen schwarzen Schnurrbart strich, in dem sich nur wenige silberne Fäden eingenistet hatten, obwohl er wie Paul die fünfzig schon überschritten hatte. »Aber glaubt ihr Ingenieure wirklich, dass alles, was ihr erfindet, das Leben der Menschen verbessert?«

»Was für eine Frage?«, erwiderte Paul. »Ich habe gerade ein Telefon installieren lassen. Damit kann ich mich mit Menschen in ganz Deutschland in Verbindung setzen, ohne das Haus zu verlassen. Was für eine praktische Einrichtung! Die Post kommt ja nur dreimal am Tag. – Aber gehen wir weiter, wir haben noch längst nicht alles gesehen.«

Mit dem Ausstellungskatalog in der Hand eilte er voran. Sie hatten bereits den »Elektrizitätspalast« besichtigt, wo sinnreiche Maschinen und Apparate demonstrierten, wie elektrischer Strom die menschliche Arbeitskraft zu ersetzen vermochte, dann das »Palais der Erfindungen«, in denen die Brüder Lumière mit Hilfe eines Kinematographen in bewegten Bildern zeigten, wie ein Zug in einen Bahnhof einlief, und schließlich den »Globe Céleste«, ein riesiges Himmelsmodell, wo die Besucher in die unendlichen Weiten des Kosmos eintauchen konnten. Auf Emilys Drängen hatten sie sich sogar auf das Riesenrad gewagt, das mit fünfzig Metern Durchmesser größte Riesenrad der Welt, und während Paul, der trotz seines Berufs als Bauingenieur nicht frei von Höhenangst war, mit seinem Blutdruck zu kämpfen hatte, hatte Vicky mit ihrer Handkamera fotografische Aufnahmen von Paris gemacht.

»Wartet nur ab«, sagte Paul, als sie die »Halle der Illusionen« betraten, wo Lichteffekte und optische Täuschungen die Sinne so sehr verwirrten, dass man Dinge zu sehen glaubte, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. »Nicht mehr lange, und wir erheben uns mit Flugmaschinen in die Lüfte.«

»Großartig!« Seine Schwiegermutter war begeistert. »Dann könnte ich von London nach Berlin fliegen, um euch zu besuchen. Mein Gott, als ich so alt war wie ihr, gab es weder Autos noch elektrisches Licht – es gab gerade mal die Eisenbahn.«

»Ach ja, die Eisenbahn«, sagte Auguste. »Mit der fing alles an. Seitdem muss alles immer schneller und schneller gehen. Für nichts haben die Menschen mehr Zeit, nicht mal mehr für ihre Mahlzeiten. In London biete ich bereits Drei-Gänge-Menüs an, weil die Banker und Börsenjobber in einer Stunde mit dem Essen fertig sein wollen.«

»Nicht zu deinem Schaden«, wandte Paul mit einem Grinsen ein.

Auguste zuckte die Schulter. »Ja, das Geschäft brummt. Aber wo bleibt der Genuss? Bald sind wir so weit, dass wir nicht mal mehr Zeit für die Liebe haben.«

»Bei aller Begeisterung für den Fortschritt«, lachte Paul. »Das kann selbst ich mir nicht vorstellen.« Er drehte sich zu seiner Frau herum. »Oder was meinst du?«

Trotz ihrer sechsundvierzig Jahre war Vicky mit ihren türkisfarbenen Augen, den dunklen Locken und dem vollen, roten Mund für ihn noch immer die schönste und begehrenswerteste Frau der Welt und dass sie seit wenigen Monaten seine Ehefrau war, beglückte und erstaunte ihn jeden Tag aufs Neue. Doch statt seinen Blick zu erwidern, schaute sie durch ihn hindurch.

Paul küsste ihre Hand. »Verrätst du mir, woran du gerade denkst?«

Endlich erwiderte sie seinen Blick. »Entschuldige. Aber ich frage mich, ob es vielleicht ein Fehler war, Claire allein zu lassen. Sie braucht mich jetzt doch ganz besonders.«

Zärtlich lächelnd, schüttelte er den Kopf. »Gewöhn dich an den Gedanken, dass deine Tochter ihr eigenes Leben führt, schließlich ist sie eine verheiratete Frau. Oder hast du kein Vertrauen in deine Erziehung?«

»Ach«, sagte Vicky, »diese überstürzte Hochzeit. Ich kann einfach nicht verstehen, weshalb sie sich dazu entschieden hat.«

2

Der scharfe, süßliche Geruch von Karbol hing in der Luft. Claire atmete einmal tief durch. Dr. Hülsenbeck, ein Graubart fortgeschrittenen Alters mit einem Zwicker auf der großporigen Nase, der seit dreißig Jahren in Charlottenburg als Frauenarzt praktizierte, trat aufmunternd lächelnd auf sie zu, um mit Hilfe eines knarrenden Drehmechanismus die Lehne des gynäkologischen Stuhls zurückzustellen, auf dem sie, nur mit einem Hemd bekleidet, mit gespreizten Beinen vor ihm lag.

»Bitte entspannen Sie sich.«

Claire versuchte, sich auf das Schaubild an der weißgekalkten Wand zu konzentrieren, das, eingerahmt von Vitrinen voller Schalen und Phiolen und medizinischem Gerät, eine Gebärmutter darstellte. Doch als der Arzt sich auf einem Hocker zwischen ihren Schenkeln niederließ, um sich an ihrem Unterleib zu schaffen zu machen, spürte sie, wie ihre Hände sich um die hölzernen Armlehnen krampften.

War ihr Kind noch am Leben?

Sie war im sechsten Monat schwanger, doch seit Tagen hatte sie keine Bewegung mehr gespürt. Während Dr. Hülsenbeck mit einem Hörrohr an ihrem gewölbten Bauch horchte, zog sie sich in ihr Inneres zurück. Sie hätte nicht gedacht, dass sie sich um das ungeborene Wesen in ihrem Leib so sehr ängstigen würde. Schließlich hatte das Ausbleiben ihrer Regel sie mit solchem Entsetzen erfüllt, dass sie viele Tage lang gehofft hatte, die Blutung würde zurückkehren. Und dann, als es keinen Zweifel mehr hatte geben können, dass passiert war, was nie hätte passieren dürfen, hatte sie sogar den klammheimlichen Wunsch gehegt, dass vielleicht, um ihr dies Schicksal zu ersparen, das kleine, ungeborene Wesen …

»Gratuliere, gnädige Frau.« Der Arzt setzte das Hörrohr ab und richtete sich auf. »Alles in Ordnung, der Puls ist deutlich zu hören. Es droht auch keine Frühgeburt, der Muttermund ist vollständig verschlossen. Allerdings«, fügte er hinzu, »scheint Ihr Kind ein kleiner Faulpelz zu sein, der lieber schläft, als sich zu bewegen.«

»Gott sei Dank!« Claire verspürte solche Erleichterung, dass alle Zweifel und Ängste und bösen Hoffnungen verstummten. »Darf ich mich dann wieder anziehen?«

»Natürlich. Aber wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf«, sagte er, als sie hinter den Wandschirm trat. »Gehen Sie spazieren, frische Luft ist die beste Medizin. Nur überanstrengen Sie sich nicht. Dann wird alles gut.«

Vor dem Sprechzimmer wartete ihre Schwiegermutter, Erdmute Biermann, verwitwete Schmaltzried, eine hochgewachsene, grobknochige Frau um die sechzig.

»Was hat der Doktor gesagt?«

»Alles in Ordnung.«

»Ich habe es ja gewusst.« Die Schwiegermutter nickte. »Dann war also alles nur Einbildung, ihr englischen Frauen seid einfach zu verzärtelt.« Sie klatschte in die Hände. »Aber jetzt Tempo! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, der Coiffeur und die Putzmacherin halten sich zu Hause schon bereit. Schließlich wollen wir die Kaiserin nicht warten lassen.«

3

Über den Dächern von Paris ging gerade die Sonne unter, als der Personenzug von Berlin schnaufend wie ein erschöpfter Marathonläufer im Gare du Nord einfuhr und mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam.

Kaspar reckte seine steifen Glieder. Zwei Tage und eine Nacht hatte er auf den harten Holzbänken verbracht. Jetzt spürte er jeden Muskel im Leib, und da es in der dritten Klasse keine Gelegenheit gab, während der Fahrt Toilette zu machen, war er von dem durchs Fenster wehenden Ruß ebenso verschmutzt wie seine Mitreisenden.

Auf den Bahnsteigen wimmelte es von Menschen aus aller Herren Länder: Amerikaner mit breitkrempigen Hüten, Chinesen in bunten Seidengewändern, Araber in schneeweißen Burnussen … Sie alle waren in die französische Hauptstadt gekommen, um die Weltausstellung zu besuchen – auch Kaspars Onkel Paul und seine englische Frau.

Er nahm seinen Handkoffer und stieg aus dem Zug. Anders als sein Onkel und seine Tante war er nicht wegen der Weltausstellung nach Paris gekommen. Er hatte Berlin verlassen, um hier ein neues Leben anzufangen.

Der Grund dafür war Claire. Seit seiner Abreise hatte es nicht eine Sekunde gegeben, in der er nicht an sie gedacht hatte. Ob wachend oder dösend oder träumend im Schlaf: Stets sah er ihr Gesicht vor sich, ihre ernsten, dunklen Augen, die manchmal vor Begeisterung so hell strahlten, hörte sie sprechen, mit dieser ruhigen, sanften Stimme, die ihn sogar in der Erinnerung tiefer berührte als die Stimme eines jeden anderen Menschen. Sie war die Frau, mit der er sein Leben hatte teilen wollen. Aber sie hatte sich für Friwi entschieden, seinen Cousin.

Wie hatte er nur glauben können, sie würde seine Gefühle erwidern? Sie waren ja nie ein Paar gewesen, er hatte sich ihr ja nie erklärt.

Ach, hätte er nur den Mut dazu gehabt …

Wo würde er übernachten? Für einen Moment kam ihm der Gedanke, seinen Onkel aufzusuchen, der wie immer bei seinem Freund Escoffier im Ritz logieren würde, dem elegantesten Hotel der Stadt. Aber das kam nicht in Frage. Sein Onkel hatte an ihn geglaubt, als niemand an ihn geglaubt hatte, und ihm zweimal, als er am Boden gewesen war, die Chance gegeben, sich wieder aufzurappeln. Mit seiner Entscheidung, die familieneigene Baufirma Biermann & Gumbrecht zu verlassen, hatte er ihm ins Gesicht gespuckt. Aber er hatte keine Wahl gehabt. Er konnte nicht in derselben Stadt leben wie Claire, die nun Friwis Ehefrau war – unmöglich.

Mit seinem Koffer in der Hand bahnte er sich den Weg zum Ausgang. Inmitten all der vielen Menschen fühlte er sich plötzlich wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Außer den paar Habseligkeiten in seinem Gepäck hatte er nur noch eine Adresse, die er in seiner Brusttasche aufbewahrte.

Sie war die Eintrittskarte für sein neues Leben in der großen, fremden Stadt.

4

Als sie die »Halle der Illusionen« verließen, war die Sonne über dem Marsfeld bereits untergegangen. Trotzdem flanierten immer noch Tausende Menschen über das Ausstellungsgelände. Auguste, der mit Pauls Schwiegermutter voranging, warf einen Blick über die Schulter. Paul und Vicky steckten hinter ihnen die Köpfe über dem Ausstellungskatalog zusammen, um nach weiteren Attraktionen zu schauen.

Wie glücklich die zwei miteinander waren …

Für einen Moment verspürte er Neid. Aber nur für einen Moment. Nein, er hatte keinen Grund, eifersüchtig zu sein, er hatte ja alles, was er zu seinem eigenen Glück brauchte, eine Frau und eine Familie, vor allem aber seinen Beruf. Und dass Vicky einmal seine Geliebte gewesen war, kam ihm inzwischen so unwirklich vor wie aus einem anderen Leben. Es war ein wunderbares Abenteuer gewesen, doch keine Liebe für die Ewigkeit. Mit Wehmut allerdings dachte er an seine Tochter, die aus der Affäre hervorgegangen war, Claire. Nur wegen ihr hatte er vor Jahren das Angebot angenommen, in London die Küche des Carlton zu leiten. Doch jetzt lebte Claire in Berlin, weil sie Pauls Sohn Friwi geheiratet hatte, und er sah sie seltener denn je.

Vickys Mutter ließ seinen Arm los, um sich eine Zigarette anzustecken. »In meiner Jugend«, sagte sie, die irritierten Blicke der Passanten sichtlich genießend, »wollte ich die ganze Welt bereisen. Eine Reise durch alle fünf Kontinente, auf den Spuren von Charles Darwin.«

»Das ist nun nicht mehr nötig«, sagte Paul, der inzwischen mit Vicky nachgekommen war. »Die Ausstellung verrät uns mehr von der Welt als jede Reise.«

»Unsinn! Die Ausstellung ist doch nur ein Abbild der Welt, und ein sehr unvollkommenes dazu.«

Wie immer, wenn Paul verlegen wurde, errötete er: »Bitte verzeih, wenn ich widerspreche, aber die Ausstellung ist mehr als nur Abbild der Welt, in der wir leben, sie ist ihr Sinnbild. Nicht zuletzt, weil sie die Kräfteverschiebungen der letzten Jahre zum Ausdruck bringt. Zwar ist London immer noch das Finanzzentrum der Welt und die politisch vorherrschende Großmacht. Doch in Wissenschaft und Technik haben deutsche Forscher und Ingenieure ihre britischen Kollegen längst eingeholt und in vielen Bereichen die Führung übernommen, vor allem in der Elektrotechnik und der chemischen Industrie. Kein Land kann so viele Patente vorweisen wie das Reich.«

»Und was ist mit Frankreich?«, wollte Auguste wissen.

»Tut mir leid«, sagte Paul, »aber Frankreich ist auf allen zukunftsweisenden Gebieten hoffnungslos im Rückstand.«

»Wie kannst du das behaupten? Immerhin haben wir den Eiffelturm, und der ist eine der größten Ingenieursleistungen überhaupt.«

»Weshalb viele Pariser ihn am liebsten abreißen würden. Weil er ihr ästhetisches Empfinden stört. Eure Dichterfürsten Maupassant und Dumas sind sogar der Meinung, der Turm sei eine gigantische Scheußlichkeit aus Stahl. Was beweist, dass Frankreich keine Ingenieursnation ist.«

Auguste zuckte die Achseln. »Schönheit und Lebensart sind uns wichtiger als Zahnräder und Dampfkessel.«

»Fangt ihr schon wieder an?«, fragte Vicky. Sie blickte erst Paul an, dann Auguste. Der erinnerte sich ebenso wie sein Freund und musste grinsen.

»Sale boche!«, fauchte er mit gespieltem Zorn.

»Elender Küchenschwengel!«, fauchte Paul zurück.

»Keine Politik!«, fuhr Vicky mit gespielter Strenge dazwischen. »Mir zuliebe!«

Sie mussten lachen. Genauso hatte Vicky schon einmal einen Streit zwischen ihnen beendet, vor über einem Vierteljahrhundert in Karlsbad, bei ihrem Picknick unter dem Dianaturm, mit dem alles begonnen hatte.

5

Die Adresse, die Kaspar in seiner Brusttasche aufbewahrt hatte, bezeichnete ein kleines, windschiefes Haus im Quartier Latin, dem mittelalterlichen Viertel von Paris am linken Ufer der Seine, wo seit Gründung der Universität die Professoren und Studenten der Sorbonne mit Künstlern, Schriftstellern, Prostituierten und ähnlich zweifelhaften Existenzen zusammenlebten, um sich in den zahllosen Kneipen, Cabarets und Kaffeehäusern über Gott und die Welt die Köpfe heiß zu reden oder das Leben und vor allem sich selbst und ihr eigenes Genie zu feiern.

Hier, in der Rue Saint-André des Arts No. 8, lebte Popol, Auguste Escoffiers ältester Sohn, der kurz vor der Reifeprüfung das Gymnasium geschmissen hatte, um Schauspieler zu werden, und mit Hilfe der berühmten Sarah Bernhardt, einer Freundin seines Vaters, ein Engagement als zweiter Jugendlicher Liebhaber an einem kleinen Theater namens »Arlequin« gefunden hatte, auf dessen Bühne er sich in der Hoffnung erprobte, die Theaterwelt zu erobern, um in nicht allzu ferner Zukunft ein ebenso glanzvolles Leben zu führen wie seine in ganz Europa gefeierte Förderin.

Noch aber war es nicht so weit, noch hauste er in einer kleinen, schäbigen Dachkammer, wo er an diesem Abend zusammen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Daniel, der noch zur Schule ging und bei den Eltern lebte, Kaspar empfangen hatte, um diesem nach seiner Ankunft in Paris eine erste Bleibe zu bieten. Kaspar hatte die Brüder bei der Hochzeit seines Onkels Paul in Karlsbad kennengelernt, auf der ihr Vater als bester und ältester Freund des Brautpaares das Festmenü bereitet hatte.

Jetzt hockten sie bei Kerzenlicht auf der Strohmatratze, die Daniel für Kaspar besorgt hatte, und hatten zur Feier ihres Wiedersehens bereits die erste Flasche Wein geleert.

»Was hast du in Paris vor?«, fragte Daniel, der mit seiner Stupsnase und den Sommersprossen zwar jünger aussah, als er mit seinen siebzehn Jahren tatsächlich war, doch dem die Intelligenz aus jedem Knopfloch zu platzen schien. »Du hast geschrieben, dass du in der Firma deiner Familie gekündigt hast. Warum?«

»Um mein Leben der Politik zu widmen«, erklärte Kaspar. »Ich werde mich der sozialistischen Internationale anschließen.«

»Und was hat deine Familie dazu gesagt?«, fiel Popol seinem Bruder ins Wort und blickte Kaspar mit seinen eng stehenden Augen an, die ihm eher das Aussehen eines Inquisitors als das eines jugendlichen Liebhabers verliehen.

Kaspar zögerte. »Darüber möchte ich nicht sprechen.«

Seine Mutter war entsetzt gewesen, als er ihr seinen Entschluss eröffnet hatte, genauso wie sein Onkel Paul. Ihm hätte er gern den wahren Grund seiner Flucht aus Berlin anvertraut. Aber dafür hätte er ihm sein Innerstes offenbaren müssen, und das hatte er nicht über sich gebracht. Im Guten war er deshalb nur von seiner Schwester Johanna geschieden, die ihn als Einzige in der Familie verstanden hatte.

»Von der Politik zu leben ist wahrscheinlich genauso schwer wie von der Schauspielerei«, sagte Popol. »Paris ist teuer, und du hast ja geschrieben, dass du auf das Erbe deines Vaters verzichtet hast. Willst du vielleicht als Kellner im Ritz anfangen? Ich bin sicher, unser Vater würde dich mit Kusshand nehmen, er hat immer in höchsten Tönen von dir gesprochen.«

Kaspar schüttelte den Kopf. »Die Zeit als Lakai in London hat mir gereicht. Einmal und nie wieder! – Nein, ich werde als Journalist arbeiten. Ich spreche genügend Französisch, um als Korrespondent für deutsche Zeitungen zu arbeiten. Ich habe schon beim ›Vorwärts‹ und der ›Neuen Zeit‹ angefragt, und beide sind interessiert. Da müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht …« Er unterbrach sich mitten im Satz. »Aber vielleicht ist das ja alles unrealistisch.«

»Ganz und gar nicht!«, sagte Daniel. »Ich habe sogar eine Idee, wie wir dir helfen können. Ich kenne den Anwalt, der Émile Zola in der Dreyfus-Affäre verteidigt hat, Maître Labori, und der wiederum ist ein Vertrauter von Jean Jaurès.«

»Dem Führer der französischen Sozialisten?«

»Ja, mit ein bisschen Glück kann Maître Labori dich ihm vorstellen. Jaurès wird nächste Woche im Café du Croissant eine Rede halten – am besten, du kommst einfach mit. Und Popol kennt ein paar Journalisten, die können dir bestimmt auch weiterhelfen. Nicht wahr, Bruderherz?«

Popol öffnete gerade eine zweite Flasche Wein. Doch statt seinem Bruder zu antworten, richtete er seinen stechenden Blick auf Kaspar.

»Bist du wirklich nur wegen der Politik hierhergekommen? Oder steckt etwas anderes dahinter?«

6

Friwi war so nervös, dass er sich beherrschen musste, um nicht an den Nägeln zu kauen. Kaiserin Viktoria Auguste hatte auf Schloss Bellevue geladen, um als Schutzherrin der kürzlich von ihr aus der Taufe gehobenen »Evangelischen Frauenhülfe« um Spenden zu bitten, und alles, was in der Hauptstadt Rang und Namen hatte, war der Einladung gefolgt. Friwi konnte nur schätzen, wie viele Millionen Goldmark in dem stuckverzierten, bis auf den letzten Platz gefüllten Barocksaal versammelt waren. Doch ob Vertreter der Großindustrie oder der Finanzwirtschaft, der Adelshäuser oder der politischen Parteien: Alle Augen waren auf seine Frau gerichtet, Claire Biermann, geborene Paxton-Stokes, der die ehrenvolle Aufgabe zugefallen war, den Anwesenden eine Vorstellung vom Tun der »Frauenhülfe« zu vermitteln.

»… Die Aufgabe, der wir uns gestellt haben, ist groß, es gibt in den Gemeinden zahllose bedürftige Menschen, die unsere Unterstützung brauchen, insbesondere ledige Mütter, Witwen und Waisen. Sie dürfen wir in der Not nicht alleinlassen …«

Obwohl Claires Akzent verriet, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache war, trug sie ihre Rede frei und sicher vor, unbeeindruckt von der Anwesenheit der Kaiserin, die in einem dunkelblauen, mit Spitze und Stickerei versehenen Kleid auf ihrem Ehrenplatz neben dem Rednerpult saß und Claire aufmerksam lauschte. Friwi fragte sich, woher seine Frau diese Ruhe nahm. War das die Ruhe, die angeblich werdenden Müttern eigen ist?

Seine Mutter, die neben ihm in der ersten Reihe saß, war nicht weniger aufgeregt als er, immer wieder zupfte sie an ihrem Ohrläppchen. Während der Ehe mit Friwis Vater war es ihr größtes Glück gewesen, bei Hofe empfangen zu werden, doch nach ihrer Scheidung war sie dort zur persona non grata geworden. Durch ihr Engagement für die »Frauenhülfe« hoffte sie, die verlorene Courfähigkeit wiederzuerlangen. Wochenlang hatte sie ihre Beziehungen spielen lassen, um selbst die Rede zu halten, die jetzt ihre Schwiegertochter hielt, aber vergebens. Nicht mal mit der Behauptung, dass sie sich von ihrem Mann nur deshalb getrennt hatte, weil der als liberaler Gesinnungsjude sein Geld mehr liebte als sein Vaterland und sie aus Geiz daran hindere, die nationale Sache so zu unterstützen, wie es ihrer Überzeugung entsprach, hatte sie das Oberhofamt umstimmen können. Gehör hatte sie erst gefunden, nachdem sie Claire den Vortritt gelassen hatte, weil diese wie die Kaiserin, eine Großnichte Queen Victorias, englisches Blut in den Adern führte.

Friwi versuchte, den Blick seiner Frau zu fangen. Aber Claire ignorierte ihn und sprach unbeirrt weiter.

»… auch wollen wir uns um die Kranken und Gebrechlichen kümmern, indem wir für sie die häusliche Pflege organisieren, im Haushalt und bei der Betreuung der Kinder helfen sowie öffentliche Suppenküchen und Krankenstationen einrichten …«

Offenbar sprach Claire den Zuhörern aus dem Herzen – Friwi sah um sich herum überall wohlwollende Gesichter und Kopfnicken. Auch seine Mutter registrierte den Zuspruch, den Claires Rede fand, und in einer für sie untypischen Regung drückte sie seine Hand. Dankbar erwiderte er ihren Blick – es war sein größter Herzenswunsch, dass seine Mutter und seine Frau endlich Sympathie zueinander fassten. Die Mutter machte keinen Hehl daraus, dass ihr seine Heirat mit einer Engländerin ein Dorn im Auge war. Eigentlich war Claire, die mit ihren schwarzen Haaren und Augen fast wie eine Südländerin wirkte, auch gar nicht sein Typ, und vielleicht hätte er nie um sie geworben, wenn sein Cousin sich nicht um sie bemüht hätte. Aber inzwischen hatten sich seine Gefühle in einer Weise gewandelt, wie er es nicht für möglich gehalten hätte, so dass er seine Ehe, wie noch beim Polterabend im Kreis seiner Regimentskameraden befürchtet, keine Sekunde bereut hatte. Jetzt platzte er fast vor Stolz, dass die Frau, auf die jedermann im Saal voller Bewunderung schaute, sein Eheweib war. Was für ein Glück, dass er sich in Karlsbad ermannt und sie durch sein entschlossenes Handeln erobert hatte!

»… Wie wollen wir all die Aufgaben erfüllen, die wir uns vorgenommen haben? Um die dafür nötigen Gelder aufzubringen, werden wir Basare, Kuchenverkäufe und Sammelaktionen veranstalten. Doch die auf diese Weise zu erzielenden Mittel werden nicht reichen, um allen Anforderungen Genüge zu tun. Dafür werden wir auch auf Spenden angewiesen sein …«

Die Kaiserin schenkte dem Publikum ein Lächeln, das weiteres Kopfnicken auslöste, so dass Friwi im Geiste schon vor sich sah, wie all die Millionäre im Saal ihre Scheckbücher zückten. Was würde sein Vater wohl sagen, wäre er hier? Würde er dann endlich begreifen, dass er es war, der das Banner der Familie hochhielt, und nicht sein Liebling Kaspar, der sich so schnöde aus dem Staub gemacht hatte?

Claire erhob ihre Stimme. »Bitte erlauben Sie mir zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung. Wenn wir dem Namen und den Zielen unseres Vereins gerecht werden wollen, dürfen wir uns nicht darauf beschränken, akute Not zu lindern. Noch dringlicher ist die Förderung von Bildung und Ausbildung der uns anbefohlenen Frauen. Um ihnen wirklich und auf Dauer zu helfen, müssen wir sie anleiten, selbständig ihr Leben zu führen. Damit sie sich aus der Abhängigkeit von ihren Männern befreien, zu ihrem eigenen Wohl und dem ihrer Kinder …«

Täuschte Friwi sich, oder erwiderte Claire seinen Blick? Ja, ihre Augen hatten ihn endlich gefunden. Eine Aufwallung von Glück mischte sich in seinen Stolz. Doch da stieß seine Mutter mit einer so heftigen Bewegung seine Hand von sich, dass er erschrocken herumfuhr.

Als er das Entsetzen in ihren aufgerissenen Augen sah, wurde ihm jäh bewusst, was Claire gerade gesagt hatte.

Um Gottes willen, war sie verrückt geworden?

Für einen Moment hoffte er, dass er sich verhört hatte. Aber das hatte er nicht. Unruhe breitete sich im Publikum aus, ein missbilligendes Murmeln ging durch die Reihen, viele Zuhörer schüttelten die Köpfe. Und die Kaiserin saß wie versteinert da, mit keiner Regung ihrer Miene gab sie zu erkennen, was in ihr vorging, während Claire ihre Rede beendete.

»… und deshalb bitte ich Sie im Namen Ihrer Majestät und zugleich im Namen unserer Schutzbefohlenen, Ihre Herzen zu öffnen und die Arbeit der ›Frauenhülfe‹ mit Ihren Spenden großzügig zu unterstützen.«

Keine Hand rührte sich zum Applaus, niemand zückte ein Scheckbuch. Es war so still im Saal, dass Friwi das leise Stöhnen seiner Mutter hörte. Ganz von allein fuhr seine Hand zum Mund. Während er an den Nägeln kaute, erhob die Kaiserin sich auf der Tribüne von ihrem Platz und trat zu Claire ans Pult.

»Was für eine wundervolle Rede, meine Liebe. Vor allem der Schluss hat mich tief berührt. In den unteren Schichten gibt es ja so viele Männer, die zur Gewalttätigkeit neigen, oft noch gepaart mit Trunksucht. Die meinten Sie doch, nicht wahr? Bei der Vorstellung, wie die Frauen leiden, die an solche Männer gekettet sind, war ich den Tränen nahe. Aus ihrer Hölle kann nur Bildung sie befreien, vor allem Herzensbildung. Darum greife ich Ihre Mahnung gerne auf und schlage vor, Bibelstunden und Gebetskreise einzurichten, eigens für diese Frauen, zur Stärkung ihres Glaubens an den Herrn.«

Die Kaiserin hatte noch nicht ausgesprochen, da begann jemand im Publikum zu klatschen, andere fielen ein, und es dauerte nicht lange, da erhoben die Zuschauer sich von den Stühlen, um ihren Beifall zu bekunden. Erleichtert tat Friwi es ihnen nach. Und als die Kaiserin auch seine Mutter zu sich auf die Tribüne winkte, um sie zusammen mit Claire dem applaudierenden Publikum zu präsentieren, klatschte er sich fast die Hände wund, unfähig, zu entscheiden, welche der drei Frauen seine wahre Königin und Kaiserin war – seine Mutter, Claire oder Viktoria Auguste.

7

Hört, Ihr Leut’, und lasst Euch sagen,

Uns’re Uhr hat zehn geschlagen.

Bewahrt das Feuer und das Licht,

Damit kein Unglück Euch geschieht.

Ein Nachtwächter trottete mit seiner Laterne über den vom Mondlicht beschienenen Marktplatz, als Vicky an Pauls Arm mit ihrer Mutter und Auguste die Taverne Vieux Paris verließ, in der sie Bier aus irdenen Krügen getrunken und das Fleisch eines am offenen Feuer gebratenen Ochsen gegessen hatten.

Nein, der Ausstellungskatalog hatte nicht zu viel versprochen, der Besuch des mittelalterlichen Stadtviertels, das man für die Weltausstellung mit bewundernswerter Sorgfalt nachgebildet hatte, war ein Erlebnis gewesen. Zwischen Fachwerkhäusern aus Pappmaché hatten Schauspieler in historischen Kostümen Alltagsszenen eines Paris zum Leben erweckt, das gerade erst zur Hauptstadt des Königreichs erhoben worden war, mit Töpfern und Gerbern und Kürschnern, denen man bei der Arbeit zusehen konnte, sowie Schaustellern, Gauklern und Straßensängern, die die Illusion der mittelalterlichen Welt perfekt gemacht hatten. Und auch jetzt, da in den Häusern des Potemkin’schen Dorfes die Lichter erloschen und die Betreiber der Marktbuden und Werkstätten zur Nacht in das wirkliche Paris heimgekehrt waren, um in ihren Federbetten statt auf Heu und Stroh zu schlafen, war der Zauber noch zu spüren, atmeten die so kunstvoll nachgebildeten Straßen und Plätze den Geist einer Vergangenheit, die allzu romantisch war, um jemals Wirklichkeit gewesen zu sein.

Zwei Sänftenträger boten ihre Dienste an, in der Hoffnung auf ein letztes Geschäft für diesen Tag.

»Wenn die Damen bitte Platz nehmen möchten?«, forderte Auguste die Frauen auf. »Bis zum Ausgang ist es noch ein Stück.«

Während er ihnen aufmunternd zunickte, fragte Vicky sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wäre sie damals mit ihm nach Paris durchgebrannt, wie sie es nach der Entdeckung ihrer Schwangerschaft verabredet hatten. Doch kaum war ihr der Gedanke gekommen, schüttelte sie ihn ab. Nein, ihr Leben wäre so falsch gewesen wie die Kulissenwelt hier um sie herum. Rupert war ihr bis zu seinem Tod ein wunderbarer Mann und Claire ein wunderbarer Vater gewesen. Und auch das ruhige, sanfte Glück, das sie nun in ihrer zweiten Ehe genoss, wäre ihr nicht zuteilgeworden, hätte sie sich damals für das Abenteuer entschieden.

»Danke«, sagte sie, während ihre Mutter sich in die Sänfte helfen ließ, und hakte sich bei Paul unter. »Ich gehe lieber zu Fuß.«

Ein Zucken ging durch Augustes Gesicht, aber die kurze Irritation wich sogleich einem Lächeln. »Natürlich.«

Er wandte sich ab, um der Sänfte zu folgen.

»Um noch einmal auf Claire zurückzukommen«, sagte Paul, »ich war ebenso überzeugt wie du, dass sie Kaspar den Vorzug geben würde. Hast du sie je gefragt, warum sie sich für Friwi entschieden hat?«

»Ich habe es versucht«, erwiderte Vicky. »Aber sie hat nur gesagt, sie habe einen schweren Fehler begangen, für den ihr Kind nicht sein Leben lang büßen dürfe. Danach hat sie sich jede weitere Frage zu dem Thema verbeten.«

Paul stieß einen Seufzer aus. »Ach ja, die Liebe geht manchmal seltsame Wege. Aber wer weiß, vielleicht hat Claire in Friwi ja Eigenschaften entdeckt, die mir verborgen geblieben sind. Sonst hätte sie sich ja kaum für ihn entschieden. Oder?«

Sie wich seinem Blick aus. Wie gern hätte sie ihn in seiner Hoffnung bestärkt, sie wusste ja, wie sehr er darunter litt, dass Friwi nicht der Sohn war, den er sich wünschte. Aber sie kannte die Antwort auch nicht. Daran, was in Karlsbad zwischen Claire und Friwi geschehen war, konnte es keinen Zweifel geben – die Schwangerschaft war der Beweis. Doch das Wie und Warum lag für sie alle im Dunkeln.

Als sie den Ausgang erreichten, stieg ihre Mutter gerade aus der Sänfte.

»Und was besichtigen wir morgen?«, fragte sie, trotz der späten Stunde noch so unternehmungslustig, als wäre sie nicht siebzig, sondern siebzehn.

»Wie wäre es mit dem Palast der Nationen?«, schlug Auguste vor. »Im Grand Palais gibt es Indianer und Eskimos …«

»Das wäre sicher interessant. Aber noch lieber würde ich den internationalen Frauenkongress im Palais de Congrès besuchen. Da geht es um das Wahlrecht für Frauen, ihren Zugang zu Universitäten, Frauenarbeit und faire Löhne …«

»Extrablatt! Extrablatt!«

Auf der anderen Straßenseite rief ein Zeitungsjunge die Meldung des Tages aus.

»Boxeraufstand in Peking! Deutscher Gesandter erschossen!«

Paul wollte eine Zeitung kaufen. Aber Vicky hielt ihn zurück.

»Bitte keine Politik! Mir zuliebe.«

Diesmal war ihre Bitte kein Scherz. Sie wusste selbst nicht warum, aber irgendwie hatte sie das dunkle Gefühl, dass diese Meldung vom anderen Ende der Welt alle Pläne zunichtemachen würde.

8

»SM hat mit der Entschlossenheit reagiert, die das deutsche Volk von seinem Kaiser erwartet, und bereits die Entsendung von Truppen nach China befohlen.« Fritz war so erregt, dass die Spitzen seines beidseitig aufgezwirbelten Barts zitterten. »Das wird die Schlitzaugen Mores lehren. Von wegen, einen Gesandten Seiner Majestät auf offener Straße abzuknallen. Eine solche Provokation lässt das Deutsche Reich sich nicht gefallen.«

Claire hatte gerade die Morgentoilette beendet, als Friwis Onkel mit ihrer Schwiegermutter in der Villa erschienen war, die diese mit ihrem aus erster Ehe geerbten Geld erworben und ihrem Sohn zur Hochzeit geschenkt hatte. Die Villa, die mit ihrer schlossartigen Architektur inmitten eines parkähnlichen Gartens alle repräsentativen Ansprüche erfüllte, befand sich im Grunewald, einer der exklusivsten Wohngegenden Berlins, in fußläufiger Nachbarschaft zu der Villa, in der Friwis Mutter seit ihrer Scheidung zusammen mit Friwis Onkel lebte, in einer eheähnlichen, vor der Welt jedoch streng abgeschirmten Beziehung. Eine Legalisierung kam vorerst nicht in Frage. Seit ihrer Scheidung von Friwis Vater rang seine Mutter um die Wiedererlangung ihrer Courfähigkeit bei der für ihre Sittenstrenge bekannten Kaiserin und durfte die ersten Gunstbezeigungen, die sie Viktoria Auguste durch ihr Engagement in der »Frauenhülfe« abgerungen hatte, nicht aufs Spiel setzen. Friwis Onkel musste sich ähnlich bedeckt halten. Eine Verheiratung mit der geschiedenen Frau seines Bruders würde einen Skandal hervorrufen, der seiner Karriere in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes erheblichen, wenn nicht irreparablen Schaden zufügen musste.

Mit strenger Miene fasste er seinen Neffen ins Auge.

»Du weißt, was deine Mutter von dir erwartet?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Friwi, der noch im Morgenrock war, so zackig, als wären sie auf dem Kasernenhof. Er hielt kurz inne, seine Hand fuhr zum Mund, und nachdem er mit einem Ruck einen Hautfetzen von seinem Daumennagel abgebissen hatte, fügte er etwas weniger zackig hinzu: »Aber ist jetzt nicht mein Platz an der Seite meiner Frau?«

»Dein Platz ist da, wo das Vaterland dich braucht!«, sagte Fritz. »Der Boxeraufstand erfordert schärfste Gegenmaßnahmen. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Schlitzaugen sämtliche Kolonialherren aus China vertreiben wollen. Sie oder wir! Der Kaiser hat deshalb nicht nur die Aufstellung eines eigenen Expeditionskorps angeordnet, sondern auch die Botschafter der europäischen Großmächte sowie Japans und Amerikas einberufen, um Instruktionen zur Einleitung einer gemeinsamen Militäraktion zu geben.«

»Aber was, wenn ich nicht lebend zurückkomme?«, fragte Friwi. »Soll mein Kind dann ohne Vater aufwachsen? – Nein, das kann das Vaterland nicht wollen. Und auch die Kaiserin nicht«, fügte er hinzu, als er die unwillige Miene seines Onkels sah. »Auf Schloss Bellevue hat Ihre Majestät keinen Zweifel daran gelassen, welchen besonderen Schutz sie allen Kindern …«

»Hier geht es um die Zukunft Deutschlands«, fiel seine Mutter ihm ins Wort. »Und du versteckt dich hinter deiner Frau und einem ungeborenen Kind?«

Hilfesuchend drehte Friwi sich zu Claire um. »Jetzt sag du doch auch mal was!«

Obwohl es ihr zuwider war, erwiderte sie seinen Blick. Warum war sie nur an diesen Mann gekettet? Für eine Sekunde sah sie Kaspars Gesicht vor sich. Doch sie unterdrückte die Anwandlung. Nein, sie durfte nicht an Kaspar denken, das hatte sie sich verboten. Vorbei war vorbei.

»Nun?« Friwi strich sich über das blonde Bürstenhaar, das er von seinem Vater geerbt hatte, und schaute sie mit seinen wasserblauen Augen fast flehentlich an.

Doch Claire schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Das ist allein deine Entscheidung.«

9

Das Café du Croissant befand sich in der Rue Montmartre, einer der belebtesten Straßen des 2. Pariser Arrondissements, unmittelbar an der Kreuzung zur Rue du Croissant gelegen. Von der Terrasse des Ecklokals, hinter dessen in kunstvollen Schnörkeln beschrifteter Milchglasfront vor allem Politiker und Journalisten verkehrten, sah man in der einen Richtung den Eiffelturm, das Wahrzeichen der Stadt, während in der anderen Richtung der Blick auf die Markthallen ging, den »Bauch von Paris«.

Hier sprach an diesem Abend der Führer der Französischen Sozialistischen Partei Jean Jaurès, ein bärtiger, untersetzter Mann um die vierzig mit dichtem, kurz geschorenem Haar, der dank seiner aufrechten Haltung größer wirkte, als er in Wirklichkeit war, um für den Zusammenschluss seiner Partei mit der rivalisierenden Sozialistischen Partei Frankreichs zu werben, ein Ziel, das er auch mit der von ihm gegründeten Tageszeitung »L’Humanité« verfolgte, die seit kurzem allen sozialistischen Kräften des Landes als gemeinsames Sprachrohr diente.

Jaurès hatte seine Rede bereits begonnen, als Kaspar zusammen mit Daniel das Croissant betrat. In dem brechend vollen Lokal roch es nach Tabak und Alkohol, nach Arbeit und Schweiß. Alle Tische waren bis auf den letzten Platz besetzt, und in den Gängen drängten sich so viele Zuhörer, dass Kaspar Daniel durch das Gewühl in die hinterste Ecke folgen musste, um sich dort an eine Wand zu quetschen.

Was zum Teufel hatte er hier verloren?

Während er inmitten der vielen fremden Menschen hin und her geschubst wurde, musste er an sein Zuhause denken, an die Villa in Charlottenburg, an den »Salong« mit den auf Hochglanz polierten Möbeln, an die Familienzusammenkünfte mit seiner Mutter und seiner Schwester und seinen Onkeln und Tanten und den Zwillingen, die immer Eierlikör ausgeschenkt hatten. Vor lauter Heimweh zog sich ihm das Herz zusammen, und obwohl er sich Mühe gab, sich auf Jaurès’ Rede zu konzentrieren, rauschten dessen Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken, der Einführung sozialer Reformen, der Bekämpfung von Armut und Ungleichheit sowie der Stärkung der Rechte der Frauen und der Förderung des Friedens durch die internationale Solidarität der Arbeiterschaft an seinem Ohr vorbei.

»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«

Jaurès hatte seine Hand zur Faust geballt, und während er sie in die Höhe reckte, stimmte er die »Internationale« an. Kaum hatte er die erste Zeile gesungen, fiel der ganze Saal ein.

Völker, hört die Signale!

Auf zum letzten Gefecht!

Die Internationale

erkämpft das Menschenrecht …

Kaspar versuchte mitzusingen, er kannte den Text, auch auf Französisch, aber nach wenigen Versen gingen ihm die Worte aus. Denn die Woge der Brüderlichkeit, die das Lokal erfasste, ließ ihn seine Einsamkeit nur umso schmerzlicher spüren.

»Du merkst wohl gar nichts«, sagte Daniel, als die letzte Strophe verklungen war.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Kaspar.

»Da hinten macht dir jemand schöne Augen.« Daniel deutete in Richtung Tresen. »Der blonde Lockenkopf.«

Kaspar wusste nicht, wen oder was sein Freund meinte, er sah in dem Tabaksdunst nur lauter gestikulierende Menschen. Doch dann traf ihn der Blick zweier großer brauner Augen. Plötzlich wusste er nicht mehr, wohin er schauen sollte, so hatte ihn früher Claire angeschaut, und vor lauter Verlegenheit drehte er sich wieder zu Daniel herum.

Der grinste über sein ganzes sommersprossiges Gesicht. »O, là là! Sieht ganz so aus, als hättest du Schlag bei Frauen.«

10

Ein Kitzeln im Gesicht weckte Paul aus seligem Schlummer.

»Vicky?«

In süßer Erwartung eines Kusses öffnete er die Augen. Aber nein, nicht Vicky hatte ihn geweckt, sondern eine Fliege, die summend davonschwirrte. Vicky stand, nur mit einem cremefarbenen, die Formen ihres Körpers sanft umschmeichelnden Seidennachthemd bekleidet, mit dem Rücken zu ihm am Fenster und zog mit beiden Armen die Vorhänge zurück. Zwischen den dunkelroten Samtstores flutete das Sonnenlicht so hell herein, dass er blinzeln musste.

»Du bist schon wach?«, fragte er.

Sie drehte sich über die Schulter nach ihm um. »Guten Morgen, mein Liebster. Schau nur, was für ein wundervoller Tag.«

Durch das Fenster sah er die Bronzesäule, die, umschwirrt von flatternden Vögeln, sich auf dem Place Vendôme in einen strahlend blauen Himmel erhob. Doch noch schöner war das Lächeln, mit dem Vicky ihn begrüßte.

Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und trat zu ihr.

»Bist du glücklich?«, fragte er und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände.

»Woher weißt du das?«, fragte sie zurück.

»Ganz einfach. Weil ich selbst so glücklich bin.«

Er gab ihr einen zärtlichen Kuss, den sie ebenso zärtlich erwiderte.

»Die Nacht war wunderschön«, flüsterte sie.

»Pssst«, machte er und legte ihr einen Finger auf den Mund. »Vielleicht hören die Götter ja mit. Und die mögen es gar nicht, wenn man glücklicher ist als sie.«

»Wirst du etwa rot?« Sie schnappte mit ihren Lippen nach seinem Finger. »Mein geliebter Dummkopf. Weißt du denn immer noch nicht, wie sehr ich es mag, wenn du verlegen wirst? Ich glaube, ich habe mich damals vor allem deswegen in dich verliebt. Auch wenn ich ziemlich lange gebraucht habe, um es zu begreifen.«

Er spürte, wie er noch röter wurde. Bei dem Picknick, das er und Auguste für sie in Karlsbad vor fast dreißig Jahren veranstaltet hatten, hatte er keine Sekunde geglaubt, dass er gegen seinen Freund eine Chance haben würde, und als Vicky sich dann später auf eine Affäre mit Auguste eingelassen hatte, um schließlich doch in London zu bleiben und Rupert Watkin zu heiraten, den Mann, mit dem sie so viele Jahre glücklich gewesen war, hatte er sich schweren Herzens damit begnügt, mit beiden Freundschaft zu pflegen. Umso tiefer empfand er darum das Glück, das ihm so spät zuteilgeworden war.

»Ich fand die Nacht auch wunderschön«, sagte er.

»Wirklich?« Mit einem Lächeln schlug Vicky die Augen zu ihm auf. »Wer weiß, vielleicht ist sie ja noch nicht zu Ende.« Sie nahm seine Hand, um ihn zum Bett zu führen.

Da klopfte es an der Tür.

»Bon jour! Es ist acht Uhr!«

Paul stieß einen Seufzer aus. Sie hatten wunderbare Tage in Paris verbracht. Doch nun mussten sie zurück in ihren Alltag. Vicky würde noch an diesem Vormittag mit ihrer Mutter nach London reisen, um die Übergabe der Midland Railway Company an ihren Sohn Nigel vorzubereiten, und auch für Paul standen in Berlin dringende Entscheidungen an.

»Zieh nicht so ein Gesicht«, sagte Vicky. »In zwei Wochen sehen wir uns wieder.«

»Ach, du hast ja keine Ahnung, wie lang zwei Wochen ohne dich sind. Weil – es ist so unglaublich schön mit dir. Egal, was wir tun, es ist für mich jedes Mal wie beim allerersten Mal.«

»Was für ein wundervolles Kompliment.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Meinst du damit vielleicht so etwas wie dies?«

»Ja …«, flüsterte er.

»Oder auch das?« Sie küsste ihn auf den Mund.

»Wie gut du mich doch kennst …«

»Dann habe ich eine Idee …« Sie öffnete den obersten Knopf seiner Pyjamajacke. »Vielleicht sollten wir das Frühstück ausfallen lassen. Was meinst du – schaffst du das, ohne zu verhungern?«

11

Claire streifte das baumwollene Nachthemd über, das Gerda, ihr deutsches Dienstmädchen, für sie bereitgelegt hatte, dann nahm sie vor der Frisierkommode Platz, um sich für die Nacht zurechtzumachen. Die Stunde vor dem Zubettgehen war für sie die wertvollste des Tages, denn diese Stunde gehörte ihr ganz allein. Obwohl sie versuchte, an nichts anderes zu denken als an das, was sie gerade tat, kehrten ihre Gedanken, kaum dass sie die Haarklammern gelöst und ihr Haar zu bürsten begonnen hatte, zu ihrer Hochzeit zurück. Außer ihr und Friwi hatten nur noch dessen geschiedene Eltern sowie ihre Mutter der kleinen Gesellschaft angehört. Nach der schlichten, auf das Allernotwendigste beschränkten Trauungszeremonie auf dem Standesamt waren sie zum Adlon gefahren, wo Claires Mutter zum Essen geladen hatte. Obwohl sie aus gutem Grund nur drei Gänge bestellt hatte, schien die Mahlzeit kein Ende nehmen zu wollen, und als sie endlich vorbei gewesen war, war jedermann erleichtert gewesen, sich verabschieden zu können.

Und dann war sie mit Friwi allein zurückgeblieben, ihrem Mann, mit dem sie fortan bis zum Ende ihrer Tage leben würde, allein in dieser großen, fremden Villa, die nun ihr Zuhause war.

Während sie ihren Nachtzopf flocht, blieb ihr Blick an ihrem eigenen Spiegelbild hängen. Ach, wenn es nur einen Menschen gäbe, mit dem sie ihr Unglück hätte teilen können. Aber das war unmöglich. Es würde sie doch niemand verstehen, warum sie diese Ehe eingegangen war und fortan das Leben führen würde, das sie nun führte.

»Claire?«

Sie hatte gehofft, dass ihr Mann sie in dieser Nacht nicht mehr besuchen würde, er musste am Morgen ja in aller Herrgottsfrühe nach Bremerhaven, wo der Kaiser das Expeditionskorps nach China verabschieden würde. Ja, Friwi hatte sich entschlossen zu tun, was seine Mutter erwartete. Claire war insgeheim froh, dass es so gekommen war. Auf diese Weise würde das Kind, das sie zur Welt bringen würde, ganz allein ihr Kind sein, zumindest in den ersten Wochen seines Lebens.

»Warum antwortest du nicht? Schläfst du schon?«

Nein, er würde keine Ruhe geben. Mit einem Seufzer legte sie die Bürste beiseite und zog sich einen Morgenmantel über, der genauso schmucklos war wie ihr baumwollenes Hemd. In ihrer Aussteuer gab es Négligés aus zarter Spitze sowie mit Bändern und Rüschen verzierte Seidenhöschen, doch hatte sie noch keines dieser Teile in ihrer Ehe getragen, nicht mal in der Hochzeitsnacht. Es wäre ihr wie Verrat an dem Mann vorgekommen, für den sie diese Wäsche zu tragen gehofft hatte.

»Bitte! Ich … ich will mich von dir verabschieden.«

Sie verließ den Frisiertisch und öffnete die Tür. Auch Friwi hatte sich bereits zur Nacht umgezogen und trug nur noch ein Hemd und darüber einen nachlässig geschlossenen Morgenmantel.

Doch als sie sein Gesicht sah, stutzte sie.

»Ist etwas passiert?«

In seinen Augen schimmerten Tränen. »Ich … ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass mein Sohn zur Welt kommen wird, während ich …« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht werde ich ihn niemals sehen.«

Für einen Moment tat er ihr leid. Offenbar hatte er Angst vor dem, was ihn in China erwartete. Aber ihr Hass auf ihn war größer.

»Woher willst du wissen, dass es ein Junge wird?«, fragte sie.

»Natürlich bekommst du einen Sohn«, erwiderte er, plötzlich wieder er selbst. »Daran kann es keinen Zweifel geben. Schließlich bin ich der Vater.« Er trat in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Unwillkürlich machte sei einen Schritt zurück. »Es ist schon spät«, sagte sie. »Und du musst morgen früh raus.«

»Papperlapapp!« Er packte ihre Handgelenke und zog sie an sich. »Für die Liebe ist es nie zu spät! Und schlafen kann ich im Zug.«

Sie spürte den Druck seiner Hände, und aus seinen Augen, die eben noch feucht geschimmert hatten, sprach dieselbe Entschlossenheit wie damals in Karlsbad.

»Bitte … bitte nicht.«

»Das bist du mir schuldig.« Er drängte sie in Richtung Bett. »Vielleicht komme ich nie wieder zurück.«

»Aber ich … ich bin unpässlich.«

»In der Schwangerschaft?«

Noch während er sprach, stieß er sie aufs Bett.

»Denk an deinen Sohn!«, sagte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Du … du könntest ihn umbringen.«

Tatsächlich hielt er inne.

»Wer sagt das?«

»Dr. Hülsenbeck.«

»Wirklich?«

»Frag deine Mutter. Jede Form von Kontakt während der Schwangerschaft …«

Sie verstummte. Noch immer starrte er sie an. Doch die Entschlossenheit war aus seinem Blick gewichen.

Täuschte sie sich, oder hatte er wieder Tränen in den Augen?

»Das … das ist das Letzte, was ich will«, stammelte er. »Weil … weil … Bitte verzeih.«

Mit einem Ruck wandte er sich ab und verließ das Zimmer.

12

Jeanne Calment hieß die blonde junge Frau, die Kaspar im Café du Croissant schöne Augen gemacht hatte, und die machte sie ihm, wenn ihn nicht alles täuschte, noch immer, als sie eine Stunde später im Café Procope saßen, einem Bistro in der Rue de Seine. Daniel hatte Jeanne, ohne Kaspar zu fragen, nach dem Ende der Versammlung angesprochen und ihr angeboten, sie zu zweit nach Hause zu bringen – eine so hübsche junge Frau wie sie dürfe nicht ohne männliche Begleitung durch die dunklen Straßen laufen. Doch kaum hatten sie das Café verlassen, hatte Daniel sich aus dem Staub gemacht, so dass Kaspar mit Jeanne allein zurückgeblieben war. Während des Fußwegs zum Quartier Latin hatten sie nur wenige Worte gewechselt, Jeanne war offenbar genauso verlegen gewesen wie er selbst. Als sie vor ihrer Haustür angekommen waren und er sich hatte verabschieden wollen, hatte sie zu seiner Überraschung jedoch vorgeschlagen, noch ein Glas im Procope zu trinken, das nur ein paar Häuser weiter lag. Er hatte dazu nicht die geringste Lust verspürt, obwohl er sich den ganzen Abend einsam gefühlt hatte, wollte er lieber allein sein, denn nirgendwo empfand er die Einsamkeit schmerzlicher als in fremder Gesellschaft. Außerdem hatten die Blicke, mit denen Jeanne ein paar Mal von der Seite zu ihm aufgeschaut hatte, ihn mehr berührt, als er sich eingestehen mochte. Denn sie hatten Gefühle in ihm wachgerufen, die ihn an jemand anderes erinnerten, und das wollte er nicht. Erst als sie gesagt hatte, das Procope sei das Stammlokal von Diderot und d’Alembert gewesen, der Herausgeber der berühmten Enzyklopädie, die wie kein anderes Buch die Französische Revolution befeuert hatte, war seine Neugier stärker gewesen.

Inzwischen tranken sie bereits das dritte Glas, und obwohl das Procope mit den abgewetzten Lederstühlen und den vom Rauch fast schwarzen Eichentischen zu einer ganz gewöhnlichen Kneipe heruntergekommen war, in der mehr geflucht als philosophiert wurde, bereute er nicht, der Einladung gefolgt zu sein. Jeanne war ebenso intelligent wie hübsch, immer wieder verblüffte sie ihn mit Bemerkungen, die ganz einfach klangen, aber viel mehr bedeuteten, als man zunächst dachte, und obwohl ihre braunen Augen manchmal für einen Moment so ernst blickten, als wäre sie furchtbar traurig, konnte sie im nächsten Moment so ansteckend lachen, dass er sich in ihrer Gegenwart so wohl fühlte wie noch nie, seit er in Paris war. Jeanne war offenbar beliebt in dem Lokal, jeder schien sie zu kennen, der Wirt hatte sie sogar mit einer Umarmung begrüßt. Irritierend waren nur die unverschämten Blicke, die einige Männer ihr zuwarfen.

»Ich habe früher hier gearbeitet«, sagte sie, als sie sein fragendes Gesicht sah.

»Als Kellnerin?«

»Ja, das auch.« Sie zögerte. Dann fügte sie hinzu: »Aber nicht nur.«

»Was soll das heißen? Als was denn noch?«

Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Während sie ihren Blick auf ein von einem Pfeil durchbohrtes Herz richtete, das irgendwann ein Gast in die Tischplatte geritzt hatte, schien sie plötzlich so verloren und einsam, wie er sich vor wenigen Stunden noch selbst gefühlt hatte.

Was war der Grund, weshalb sie schwieg?

Eine auffallend geschminkte Frau mit blutroten Lippen betrat das Lokal. Einer der Männer, die Jeanne so schamlos begafft hatten, zog sie zu sich auf den Schoß, und als er sie küsste und ihr gleichzeitig mit seiner großen Hand in den Ausschnitt griff, fiel es Kaspar wie Schuppen von den Augen.

»Bist du jetzt entsetzt?«, fragte Jeanne.

»Nein, nein«, stammelte er. »Es ist nur, weil … weil ich … weil ich noch nie …«

»Du musst dich nicht entschuldigen«, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln. »Du bist ein braver und anständiger Junge und hattest noch nie mit so einer wie mir zu tun. Nicht wahr?«

Seine Kehle war wie zugeschnürt. Tatsächlich war er noch nie bei einer Prostituierten gewesen.

»Du … du hattest bestimmt deine Gründe«, brachte er schließlich hervor.

»Ja, die hatte ich, allerdings.«

Die Augen wieder auf die Tischplatte gerichtet, begann sie zu erzählen. Von ihrer Kindheit ohne Vater, dem ständigen Hunger und der Angst ihrer Mutter, dass das Geld für die Miete nicht reichen und der Hausbesitzer sie auf die Straße werfen würde, von ihrer ersten Stelle in einer Kaschemme in der Rue St. Dénis, zunächst als Küchenhilfe, dann als Kellnerin, von der Erkrankung ihrer Mutter und den Arztrechnungen, die sie nicht hatte bezahlen können. Und schließlich von der Begegnung mit einem Mann, dem »schönen André«, Schwarm aller Frauen in ihrem Viertel. Sie hatte sich hemmungslos in ihn verliebt, weil er ihr nicht nur den Himmel auf Erden versprochen, sondern ihr auch das Geld für die Behandlung ihrer Mutter vorgestreckt hatte. Um sie dann zu zwingen, für ihn auf die Straße zu gehen, damit sie ihm das Geld zurückzahlen konnte.

»Ich habe ihn so sehr geliebt, dass ich alles tat, was er verlangte.«