Herrn Petermanns Tanz des Todes und des Glücks - Michael Böhm - E-Book

Herrn Petermanns Tanz des Todes und des Glücks E-Book

Michael Böhm

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Beschreibung

Leo Petermann, ehemaliger Chef des Softwareriesen »Pythagoras«, genießt die Ruhe und die Schönheit seines Rosengartens in seinem idyllischen Rückzugsort über dem See. Doch als sein Freund, der Baron von Blauberg, unter mysteriösen Umständen stirbt, wird Petermann in eine Suche nach einer verschollenen Inkunabel verwickelt. Diesmal stellt er sich nicht nur persönlichen Herausforderungen, sondern auch Bedrohungen für sein Unternehmen. Doch zwischen all dem findet Petermann auch Momente des Glücks und der Entspannung, während er der Wahrheit auf den Grund geht. Ein Krimi über Freundschaft, Liebe und Gerechtigkeit – ein würdiger Nachfolger des Friedrich-Glauser-Preis Gewinnertitels um den ungewöhnlichen Herrn Petermann, der für seine wohlverdiente Ruhe alles tut …

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Seitenzahl: 216

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Das Petermann-Quartett:

Herrn Petermanns unbedingter Wunsch nach Ruhe

Herr Petermann und das Triptychon des Todes

Quo vadis, Herr Petermann?

Herrn Petermanns Tanz des Todes und des Glücks

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2024 by Edition 211, ein Imprint des Bookspot Verlags

1. Auflage

Lektorat: Yvonne Schmotz

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Martina Stolzmann

Titelmotiv: Markus Lehner/Pixabay

eISBN 978-3-95669-212-3

www.bookspot.de

Meine Liebe fürund meinen Dank an Christel und Manuel

DIE KÜRZESTEN WORTE,

NÄMLICH »JA« UND »NEIN«,

ERFORDERN DAS MEISTE NACHDENKEN.

Pythagoras

ES IST DES WOHLLAUTS MÄCHTIGE GOTTHEIT,

DIE ZUM GESELLIGEN TANZ ORDNET DENTOBENDEN SPRUNG,

DIE, DIE NEMESIS GLEICH, AN DES RHYTHMUSGOLDENEM ZÜGEL

LENKT DIE BRAUSENDE LUST UND DIEVERWILDERTE ZÄHMT.

Friedrich Schiller

DAS VERGANGENE IST NIE TOT;

ES IST NICHT EINMAL VERGANGEN.

William Faulkner

PROLOG

DAS VERSCHWINDEN IN DEN ARDENNEN

Wo ist Eugen von Blauberg?

Am frühen Abend hatte ich mit dem Baron telefoniert. Er sagte mir, beinahe beiläufig, er habe vor, am nächsten Morgen für einige Tage in die Ardennen zu fahren. Den Grund für diese Reise verriet er mir nicht, ich fragte auch nicht nach. Als wir das Gespräch beendeten, ahnte ich nicht, dass ich zum letzten Mal seine ausdrucksvolle, noch immer feste Stimme gehört hatte.

Ich saß in meiner Bibliothek, lehnte mich im Sessel zurück, stellte mir schmunzelnd vor, wie der kleine alte Mann mit einem Gesicht wie zerknittertes Papier in den Polstern seines marineblauen Bentleys lag, seinen Fahrer eine CD einlegen ließ, um während der Fahrt mit geschlossenen Augen einem Klavierkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart zu lauschen.

Auf dem Weg nach Belgien, in die Wallonie, sprachen die beiden Männer kaum miteinander. Der Baron hing seinen Gedanken nach, begleitet dabei von der Musik. Nolte, sein langjähriger Fahrer, auch sein Leibwächter, antwortete nur auf Fragen seines Chefs, ansonsten schwieg er beharrlich.

Das Ziel der Reise war ein Städtchen in den Ardennen, eingebettet in ein sanftes Tal, von weiten grünen Wäldern umgeben. Im Hotel, einem der schönen alten Häuser am Markt, waren zwei Zimmer vorbestellt. Für Baron von Blauberg in der ersten Etage mit Blick zum Brunnen und zum Rathaus. Für Nolte im obersten Stock, hinten hinaus, mit Sicht über die dunkelgrauen Schieferdächer hin zur dunklen Wand des Waldes.

Der Baron hatte sich zum Abendessen im Restaurant des Hotels mit dem Anwalt, der das Kloster »Zwölf Apostel« juristisch vertrat, verabredet. Bei Tisch unterhielten sich die Männer ohne festes Thema, führten ihr Gespräch auf Französisch. Erst anschließend, bei einem Cognac in der gemütlichen Bar, kamen sie ohne weitere Vorrede auf den Grund ihres Treffens zu sprechen.

Der Cognac war getrunken, offenbar auch alles besprochen, denn die Männer erhoben sich irgendwann fast synchron, verneigten sich leicht voreinander, reichten sich jedoch nicht die Hände. Als der Anwalt die Bar verließ, folgten ihm die Augen des Barons. Auf seinem Gesicht war kein Nachhall des Gesprächs zu lesen. Er setzte sich wieder, ließ sich einen zweiten Cognac bringen, das Glas jedoch lange unberührt stehen, schaute nachdenklich zum Kamin, in dem ein künstliches Feuer loderte.

Nolte war sowohl im Restaurant wie auch in der Bar im Hintergrund unauffällig dabei.

Nach dem Frühstück am folgenden Tag wollte der Baron zum Kloster gefahren werden. Nach einer knappen Viertelstunde, die schmale Straße führte durch den Wald, erschien nach einer engen Kurve das Kloster »Zwölf Apostel« unerwartet wie auf einer Bühne, malerisch einer Illustration aus einem Märchenbuch oder der Kulisse eines Films gleich. Die nach dem ersten Blick doch überraschend kleine Anlage, von einer Mauer umgeben, lag am Ufer eines Sees, der wie ein schwarzes Zyklopenauge herüber glotzte.

Der Baron nickte Nolte im Spiegel zu, was bedeutete, er solle im Wagen bleiben und warten. Da es leicht zu regnen begonnen hatte, nahm von Blauberg einen Schirm mit. Allerdings öffnete er ihn nicht, als er auf die Pforte in der Mauer zumarschierte.

Der Fahrer beobachtete, wie dem Baron geöffnet wurde und er das Kloster betrat. Nolte lehnte sich zurück, schaltete das Radio an, suchte einen Sender mit Schlagermusik. Er fragte sich nicht, machte sich keine Gedanken darüber, was sein Chef in diesem Kloster eigentlich wollte.

Später, während der Rückfahrt zum Hotel, es regnete jetzt in Strömen, der Tag lag im Dämmerlicht, erzählte der Baron, was sonst eigentlich kaum vorkam, von seinem Treffen mit dem Abt des Klosters.

In der Bibliothek saßen sich die zwei alten Männer gegenüber, betrachteten sich eine kleine Weile stumm. Vor beiden stand ein Glas Saft aus den Äpfeln des Klostergartens gekeltert. Nach dem ersten Schluck erklärte der Baron, weshalb er gekommen war. Der Abt sah ihn mit traurigem Blick durch die Gläser seiner Brille an. Er bedauerte sehr, dem Gast das Buch, das er sehen wollte, nicht zeigen zu können. Es war vor Tagen schon an den Anwalt übergeben worden.

Davon sei bei dem Gespräch in der Bar mit keinem Wort die Rede gewesen, schloss der Baron erbost seinen knappen Bericht an Nolte ab. Was spielte der Anwalt für ein Spiel? Oder der Abt hatte ihn an der Nase herumgeführt.

Vor dem Hotel, noch im Wagen sitzend, erzählte der Baron noch einmal von dem Gespräch mit dem Abt. Er habe sein Gegenüber gefragt, warum das Kloster sich überhaupt von solchen Schätzen trennen wollte. Der Abt habe seine Arme ausgebreitet, den Gast angesehen und gesagt, die finanzielle Lage des Klosters verlange leider nach solchen drastischen Schritten. Er jammerte über das Böse in der Welt, gegen das nicht einmal mehr Gebete ein Schutzwall seien.

Nolte stieg aus dem Bentley, hielt dem Baron die Wagentür auf. Dieser spannte den Schirm auf, ging hinüber zur Anwaltskanzlei, während Nolte im Hoteleingang stehen blieb und dem alten Mann nachschaute.

Überraschend schnell erschien von Blauberg wieder auf der Straße. Er war offenbar so in Gedanken, dass er erst nach einigen Schritten den Schirm öffnete. Beim Näherkommen sah Nolte das hochrote Gesicht, ein sicheres Zeichen für eine sehr hitzige Unterredung beim Anwalt. Ohne ein Wort stapfte der Baron ins Hotel.

Nach gut zwei Stunden auf seinem Zimmer rief er seinen Fahrer und ließ sich durch die weiten Wälder chauffieren, ohne ein Ziel. Aus einer anderen Himmelsrichtung kommend, nur wenige 100 Meter vor dem Ortsschild der Stadt, schob sich eine alte Villa auf der linken Straßenseite in ihr Blickfeld. Der Baron beugte sich nach vorne, wies Nolte an, er solle abbiegen, näher an das im Regen nur schemenhaft zu sehende Gebäude heranfahren. Der Bentley rollte weiter bis zur Brückenauffahrt über den kleinen Fluss, an dem die Villa lag. Mit seinen verspielten Zinnen und Türmchen durfte das Gebäude auch ohne Übertreibung als ein Schlösschen betrachtet werden.

Der Baron stieg nicht aus, blickte minutenlang mit einem Stirnrunzeln hinüber. Was ging in seinem Kopf vor? Dort wohne der Anwalt des Klosters, sagte von Blauberg mit düsterer Stimme, wie zu sich selbst. Dann bat er Nolte zum Hotel zurückzufahren.

An diesem Abend sah der Fahrer seinen Chef nicht mehr. Nolte las in der deutschsprachigen Zeitung, die er aus der Halle mitgenommen hatte. Nebenher lief der Fernseher. Später ging er bei einem Italiener am Marktplatz essen.

Am nächsten Morgen erschien der Baron nicht zum Frühstück. Nachdem Nolte den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte, ging er hinauf und klopfte an die Zimmertür seines Chefs. Nachdem von drinnen keine Reaktion kam, suchte er die Rezeption auf. Der Portier, der recht gut deutsch sprach, konnte ihm sagen, er habe am Vorabend den Baron gesehen. Den Stockschirm am Arm hätte er die Halle durchquert und das Hotel verlassen.

Der Portier bat ein Zimmermädchen, auf dem Zimmer des Barons nachzusehen. Nur kurz darauf meldete die junge Frau, das Bett sei unberührt. Der nächste Anruf ging zum Kloster. Doch auch dort war der Baron nicht.

Nolte dankte für die Hilfe des Portiers. Er suchte die Kanzlei des Anwalts auf, fragte dort vergeblich nach dem Verbleib des Barons. Danach fuhr er die kurze Strecke zur Villa am Fluss. Wieder hielt er vor der Brücke. Es war ein grauer Vormittag, die Wolken hingen tief, doch es regnete nicht.

Nolte stieg aus, spazierte bis zum hohen Tor, das verschlossen war, danach an der Mauer entlang, die offenbar das ganze Anwesen umgab. Kein Mensch irgendwo in der Nähe. Die Villa schien in tiefem Schlaf zu liegen. Er ging weiter zur Brücke, die leichte Schräge hinauf bis die hintere Mauer und der Fluss vor ihm lagen. Irgendwie kam ihm die Stille, die über diesem Ort lag, bedrückend vor. Er lauschte gezielt und hörte nicht mal einen Vogel. Auch vom Wasser unter ihm klang kein Ton herauf.

Schlucken diese weiten Wälder den Lärm der Welt?, fragte er sich. Ein leises Lächeln umspielte dabei seine Lippen.

In diesem Moment entdeckten seine Augen den Schirm. Aufgespannt hatte sich dessen oben gerundeter Griff an einem überhängenden Ast verhakt. Ruhig dümpelte der umgedrehte Schirm im Wasser.

Trotz der Entfernung hatte Nolte keinen Zweifel daran, dass es der seines Chefs war.

1

STILLE LEIDENSCHAFT FÜR ROSEN

Zugegeben, in den letzten Tagen bin ich wegen dem trüben Wetter ein wenig ungeduldig geworden, denn mich zieht es nach draußen, vor allem zu meinen Rosen. Sie durch das Fenster grüßen zu können oder ihnen bei kühlem Regen einen schnellen Besuch abzustatten, reicht mir nicht. Ich möchte sie berühren, die samtenen filigranen Blüten aus der Nähe betrachten, ihren feinen Duft mit meiner Nase prüfen, ihn regelrecht schmecken.

Doch Petrus will meine stummen Wünsche einfach nicht erhören, lässt ein Tief dem nächsten nachfolgen.

Meine Sammlung afrikanischer Kunst und das Schreiben – zwei Steckenpferde, die ich mit Vergnügen reite – halten mich fest, tragen dazu bei, dass es mir gut geht. Doch stehe ich am großen Fenster zur Terrasse, sehe zu den Rosenbeeten, meine ich deren Schönheit zu spüren und tatsächlich das lockende Lachen der königlichen Blumen zu hören.

Plötzlich, über Nacht, hat Petrus ziemlich unverhofft ein Einsehen, zieht den langweiligen grauen feuchten Vorhang endlich zur Seite. Über den morgendlichen Himmel fliegen die letzten Wolken davon, die Sonne zeigt sich, wie um uns zu beweisen, dass es sie noch gibt.

Im Laufe des Vormittags sind die Wolken dann verschwunden, die Sonne hat die Herrschaft ganz übernommen. Ich verlasse die Bibliothek, ziehe alte Hosen an, streife einen Pullover über, steige in die Gummistiefel, nehme Korb und Schere, gehe in den Garten und besuche meine Rosen.

Langsam umrunde ich die Rabatte, betrachte die bunte Pracht, welcher der Regen und der Wind offenbar erfreulich wenig antun konnten. Auf den Blüten und Blättern lässt die Sonne die letzte Feuchtigkeit wie Diamanten glitzern.

Gebückt bewege ich mich an den Rosenstöcken entlang, betrachte jede einzelne Rose und schneide die besonders schönen Exemplare ab, lege die Kostbarkeiten gleich vorsichtig in den Korb. In einigen Tagen, nach weiterem kühlem Regen, wird die Pracht meines Rosengartens sich für dieses Jahr ihrem Ende zuneigen.

Ich stelle den Korb auf den Kiesweg, knie mich hin und beschneide bedächtig, doch keineswegs zögerlich Stock um Stock.

Inmitten meiner Rosen liegen mir die ganze Zeit die noch wärmenden Sonnenstrahlen auf dem Rücken. Dennoch macht er sich spürbar und murrend bemerkbar. Ich richte mich auf, strecke mich intensiv und das tut richtig wohl. Den Oberkörper noch durchgedrückt, greife ich spontan mit der freien linken Hand in die schwarze Erde, balle die Faust, lasse sie langsam durch meine Finger rinnen. Dabei streift mein Blick erneut über die Rabatte. Rosen sind für mich ein Synonym für Schönheit, sind Boten des Himmels. Mein Rosengarten ist eine ruhige Insel, auf der mein Gemüt, meine Seele, wenn ich denn eine haben sollte, für eine Zeit Frieden findet.

Auch wenn ich bei diesem Gedanken leise lächle, weiß ich, in diesen Momenten bin ich ganz bei mir, fühle in mir einen hellen Punkt, den ich kaum wage Glück zu nennen.

Ich kehre in das Jetzt zurück, komme heim auf die Erde. Zum Obstgarten hin sehe ich das sich im leichten Wind bewegende Gras. Franz, der alte Schäfer, wird in den nächsten Tagen, zum letzten Mal in diesem Jahr, mit seinen Schafen kommen. Was ist es, was mich erneut in eine ätherische Trance versetzt? Ist es die Sonne, die hörbare Ruhe, das muntere Singen der bunten Vogelschar, der schöne Blick durch die Baumreihen hinunter zum See, einfach dieser magische Augenblick?

Aus der Vergangenheit steigen die Bilder auf, als ich diesen Fels der Ruhe fand, an dem die Wellen der nervösen Welt zumeist nur sanft anlaufen. Mein Hort des Friedens thront hoch über dem See, am Rande eines Weilers und nahe dem kleinen Ort Kimmling. Hier bin ich der Ritter, der wenn nötig sein kleines Reich mit dem Schwert verteidigt. Meine Ruhe wurde nur wenige Male ernsthaft gestört, die mich allerdings einem Tsu-nami gleich trafen. Dennoch blieb ich siegreich im Kampf um meine Burg.

Bebte die Erde unter meinen Füßen, wenn Dunkelheit das Helle ablöste, war das der Moment, um mit grüner Tinte ein rotes Notizbuch Zeile um Zeile mit dem Lauf der Ereignisse zu füllen.

Wenn ich nachher meinen Rosengarten verlasse, werde ich mich an meinen alten wunderschönen Tisch in der Bibliothek setzen, durch das breite Fenster hinüber zum Kastlerhof und hinunter zur Bucht des Sees sehen, werde das vierte rote Buch aufschlagen, die Kappe vom Füller ziehen und zu schreiben beginnen.

Spule ich meine Erinnerungen zurück, so habe ich wenig Zweifel daran, dass die Reise des Barons der Anfang war, irgendwie alles ausgelöst hat. Also wird diese Episode am Beginn dieses roten Heftes stehen. Ich brauche nicht einmal nach dem ersten Satz zu suchen, denn ich habe ihn bereits fertig im Kopf.

Wo ist Eugen von Blauberg?

Noch einmal lasse ich meine Augen durch den Garten, zur Terrasse und zum Haus wandern, sehe hinauf in den blassblauen Himmel und denke, dass ich hier an einem wunderschönen Fleckchen des Paradieses bin.

Gedanken auf goldenen Flügeln. Das ist Freiheit. Unbezahlbar.

Als ich mich erhebe, den Korb mit den Rosen ergreife, fällt mir ein, morgen werde ich einem Gast, nämlich Alan Carruthers, mein Haus, meinen Garten, den herrlichen Blick über den See zeigen können. Bis dahin lässt Petrus den Himmel weiß-blau über uns gespannt.

Ich werde stolz sein auf mein Refugium.

2

HEIMKEHR ZU DEN STERNEN

Alleine mit mir und meinen Gedanken sehe ich mich in der ersten Bankreihe der Kirche von Kimmling sitzen. Während meine Augen die schöne Holzfigur seitlich des Altars betrachten, ist mein Kopf bei Eugen von Blauberg; der Baron ist tot.

Auch du, alter Freund, wirst jetzt zu Erde, zu Staub werden. Dein Geist wird heimkehren zu den Sternen. Alles Gute auf deiner weiten Reise.

Vor einer guten Stunde hat mich einer der Direktoren der Privatbank von Blauberg angerufen, um mich über das plötzliche Ableben des ehemaligen Bankchefs und noch immer Hauptgesellschafters zu informieren.

In freundlichem Ton, mit wenigen Sätzen, erfuhr ich die noch unklaren Umstände des unerwarteten Todes. Ich ging nach den ersten Worten von einem unspektakulären Ableben aus, mutmaßlich im Schlaf in seinem Bett auf Schloss Blauberg. Einmal sagte er zu mir, wenn mich seine Tochter anrufen würde, könne ich davon ausgehen, dass er zu den Sternen unterwegs sei. Doch nun hörte ich, dass er leblos aus dem sumpfigen Wasser eines kleinen Flusses in den Ardennen gezogen wurde. Die belgische Polizei schloss im Moment ein Gewaltverbrechen nicht aus.

Gleich nach dem Anruf machte ich mich auf zu einem Spaziergang, der mich hierher in die Dorfkirche führte.

Ich denke dem alten Freund nach.

Als damals Rainer Fall, Freund und Mitbegründer von »Pythagoras«, völlig überraschend die Firma verlassen wollte, um sich auf ein Hebriden Eiland zurückzuziehen, hat es mir die Privatbank von Blauberg, vor allem der Baron persönlich, ermöglicht, bei »Pythagoras« die Mehrheit zu übernehmen. Seitdem pflegten wir einen angenehmen privaten Umgang. Wir besuchten uns gegenseitig regelmäßig, doch nicht zu oft. Ich hörte ihm zu, wenn er am Bösendorf-Flügel in seiner Bibliothek spielte. Hier tranken wir auch manch guten Schluck. In diesem Raum reichten wir uns die Hände auf unsere Partnerschaft bei dem Projekt Edelwasser »Wildbach«. Seiner Leidenschaft für die Jagd konnte ich jedoch nichts abgewinnen. Aber ich ließ mir gern von seinem Mönchsfreund aus dem Süden Frankreichs erzählen. Der Baron und der Mönch folgten zusammen Rätseln der Geschichte, berichteten sich in langen Briefen über ihre Forschungen. An einer finalen Lösung ihrer Fragen waren beide nicht unbedingt interessiert, das Rätsel an sich war ihnen wichtig. Hier durfte ich von dem wunderbaren Calvados probieren, den der Klostermann einmal im Jahr in einer Holzkiste schickte, ein Geschenk für jeden verwöhnten Gaumen.

Ich werde dich vermissen, Eugen von Blauberg, alter Freund.

Die auf feinstem handgeschöpftem Büttenpapier gedruckte Trauerkarte kam mit Boten. Eugens Tochter Sophie von Haag, in gewissen Kreisen eine bekannte Modedesignerin, sandte die Karte im Namen ihres verstorbenen Vaters. Nicht nur der Text, auch die Schriftgestaltung waren ungewöhnlich. Sophie lud mich mit handschriftlichem Zusatz, geschrieben mit lila Tinte, zur Trauerfeier und Grablegung auf das Stammschloss der Familie in der Gegend von Rudolstadt ein.

Die Antwort an Sophie schrieb ich mit grüner Tinte auf einen Briefbogen mit meinem Namen als Blindprägung. Ich dankte ihr, nahm die Einladung nach Thüringen an, sang ein hohes Lied auf den verstorbenen Vater, den ich einen guten Freund nannte, von dem Abschied nehmen zu müssen, mir sehr nahe gehe.

Kondolenztexte habe ich als CEO von »Pythagoras« immer wieder schreiben müssen. Oft waren es Lügen gewesen, die nach Wahrheit klangen. Meine Worte zu Eugen jedoch waren aufrichtig, wenn die Zeilen auch an eine Frau gerichtet waren, mit der mich weniger als nichts verband. Sophie und ich, wir waren uns wenn möglich aus dem Weg gegangen, mochten uns einfach nicht.

Magdalena nahm sich von ihren Puppen frei, ich von meinen Steckenpferden und so fuhren wir für ein paar Tage gen Thüringen. Unterwegs wechselten wir uns hinter dem Steuer ab, hatten es nicht eilig, bummelten regelrecht durch das Land, wählten längere Strecken auf der legendären Bundesstraße 2, der längsten Bundesstraße unserer Republik.

Magdalena erzählte von ihren Ideen zu drei Puppen, die sie für die Semperoper in Dresden gestalten soll. Erst vor wenigen Tagen hatte sie mit dem Bühnenbildner telefoniert. Würden die Puppen den erwarteten Vorstellungen entsprechen, versprach man ihr eine ständige Zusammenarbeit. Hatte sie dafür die Kapazitäten?, wurde angefragt.

Ich berichtete meiner Herzensdame von der letzten Entwicklung meiner Recherche nach einer besonderen Stilrichtung afrikanischer Stammeskunst. Mit Galerien, mit denen ich schon länger in Kontakt stand, in Paris, Rom, Wien und Berlin, hatte ich mich darum in Verbindung gesetzt. Bislang waren auf dem Markt noch keine Objekte aufgetaucht, nach denen ich speziell suchte. Von Dora Achebe, dem alten Freund, vor vielen Jahren in Lagos der erste Schwarze Niederlassungsleiter von »Pythagoras«, heute Botschafter seines Landes in Namibia, hatte ich den Tipp und die zugehörigen Parameter erhalten. Und an Doras Hinweisen konnte ich kaum zweifeln. Er war es gewesen, der mich damals animierte, zum Sammler afrikanischer Kunst zu werden.

Dann waren wir auf einmal erneut mit dem Thema verbunden, über das wir seit einigen Wochen sprachen und nachdachten. Magdalena und ich hatten im weiten Reich der Philosophie fruchtbare Inseln gefunden, mit denen wir uns intensiv beschäftigten. Da liegt auch der Grund, weshalb ich zuletzt keinen Roman mehr geschrieben habe. Neben der Suche nach meinen frühen Erinnerungen, habe ich mich darauf verlegt, unsere Gespräche und Diskussionen über bestimmte Bereiche des Lebens zusammenzufassen und in eine lesbare Essayform zu gießen.

Nachdem wir das Thema Einsamkeit abgeschlossen glaubten, sprechen wir zurzeit über den Tod, für mich so spannend, weil ich meine, mich gerade mit diesem Thema auszukennen. Nicht erst seit meinem Abschied vom »Pythagoras«-Chefsessel, bin ich mir gewiss, meine Zeit sei beschränkt, mein Stundenglas neige sich dem Ende zu. Mit Magdalena konnte ich darüber sprechen. Für meine Partnerin war der Tod auch kein fremdes Terrain. Ihre Vorstellungen führten mich zu ganz anderen, zu völlig neuen Gedankengebilden. Unsere Diskussionen, nicht durch irgendwelche Grenzen eingeengt, nahmen einen weiten Raum ein, dehnten sich wie das unendliche All aus. Antworten auf unsere zentralen Fragen suchten wir im Alten Testament und in ehrwürdigen auf uns gekommenen Zeugnissen aus der Antike.

Noch befanden wir uns auf philosophischen Pfaden, als wir auf Coburg zufuhren, um dort die erste Tagesetappe abzuschließen. Lange brauchten wir nicht, um ein Hotel zu finden, das uns für eine Nacht zusagte. In einem schönen Lokal in der Altstadt saßen und speisten wir gut, und gingen danach spontan ins Kino.

3

WORTE DES SOHNES

Am nächsten Tag, gegen Mittag, also früh genug, erreichten wir den kleinen Ort, über dem auf einer sanften Höhe das Stammschloss der Blaubergs stand. Ort und Schloss trugen den gleichen Namen: Waldburg. Das Dorf hatte nichts vorzuweisen, was dem Besucher unmittelbar ins Auge zu springen vermochte. Während wir die Straße hinauf zum Schloss fuhren, hatten wir Zeit, es zu betrachten. Türme, Türmchen, Erker, Schornsteine, rote Dächer, graue Mauern.

So ähnlich stelle sie sich das Dornröschenschloss vor, sagte Magdalena.

Langsam rollten wir durch das Tor der Waldburg. Im Hof fanden wir mit Mühe einen freien Platz zum Abstellen des Wagens. Dazu bekamen wir die Hilfe eines Bediensteten in grüner Jägeruniform.

Von dem mit den Kutschen der Neuzeit vollgestellten Burg-hof führte uns ein zweiter grüngekleideter Mann auf einer breiten Treppe in eine andere Welt. In eine sichtbare Umgebung des Mittelalters. War dieser weite Raum die Kulisse eines Ritterfilms? Dunkle, fast schwarze Holzdecke, mittelalterliche Waffen an den Wänden, handgewebte schwere Teppiche, silbern glänzende Rüstungen zwischen den Fenstern. Der Rittersaal?

Auf langen Tischen war ein Buffet angerichtet, an dem sich die Mehrzahl der Anwesenden aufhielt.

Ich entdeckte bei einem Rundumblick kein mir bekanntes Gesicht.

Magdalena und ich zogen uns, jeder mit einem Glas Saft in der Hand, in eine Fensternische zurück. Von dort sahen wir hinunter in den Ort und hinüber zu den bewaldeten Hügeln in unterschiedlichem Grün.

Den Mann, der an uns herantrat, etwas rundlich, im mittleren Alter, und uns begrüßte, kannte ich. Als Direktor der Privatbank von Blauberg hatte ich, nachdem der Baron sich zurückgezogen hatte, immer wieder als Kunde mit ihm zu tun. Er war es, der mich über den Tod des Barons telefonisch informierte, mir die Zeitungsanzeige und den Nachruf hatte zukommen lassen.

Freundlich, mit ruhiger Stimme, dankte er für unser Kommen. Formvollendet küsste er Magdalenas Hand. Als ich ihm die Hand reichte, verneigte er sich leicht. Es ergab sich jetzt ohne Schwierigkeiten ein gutes Gespräch, alles andere als Smalltalk, wie zu solchen Gelegenheiten oft üblich.

Nach einer gewissen Trauerzeit würde er, Dr. Gerald Schorten, zum Sprecher der Bank ernannt werden, trete damit, so sei es im Testament des Barons vorgesehen, die Nachfolge seines Vaters an. Seines Vaters? Erkannte ich da ein kurzes schelmisches Blitzen in seinen Augen? Er trage den Namen der Mutter. Vom Vater sei er immer gefordert und gefördert worden, sei schon länger als der legitime Nachfolger vorgesehen gewesen. Seit dem Ausscheiden des Barons aus dem Tagesgeschäft stand er einem Direktorium, eine Frau und zwei Männer, vor.

Zum Tod des Vaters erzählte er in ruhigem Ton, ein belgisches Detektivbüro – leider lebe Hercule Poirot nicht mehr, scherzte er zurückhaltend – beauftragt zu haben, um die Gründe des seltsamen Ablebens des Barons herauszufinden. Bislang gebe es noch keine Erkenntnisse, was ihm überhaupt nicht gefiele.

An dieser Stelle wurden wir gestört. Dr. Schorten, Eugens Sohn, wurde irgendwo gebraucht. Er entschuldigte sich, fragte, ob wir uns die Burg ansehen wollten, winkte einen der Grüngekleideten heran, als wir bejahten, sagte, später würde man sich sehen, noch ein schnelles Lächeln, und weg war er.

Der Rundgang bestätigte unseren ersten Eindruck vom Rittersaal. Die Burg war ein Bild von einer mittelalterlichen Befestigung. Bestimmt hätte sie sogar Richard Wagner inspiriert. Die Familie von Blauberg hatte keine Mühen und ganz sicher keine finanziellen Mittel gescheut, um den Stammsitz, dieses Dornröschenschloss, so stilsicher und repräsentativ herzurichten. Oben auf dem flachen Rundgang des Bergfrieds war die Aussicht weit und hinreißend. Als ich in die Tiefe schaute, wurde mir auf einmal schwindlig, ich griff nach Magdalenas Hand, richtete meinen Blick sofort wieder nach vorne.

Wir kamen gerade recht, als die Gäste in die Kapelle gebeten wurden, in der die Trauerfeier stattfinden sollte.

Wer sich in der Familie von Blauberg auskannte, und das waren wohl die meisten, dem konnte nicht verborgen bleiben, wer hier Regie führte. Sophie von Haag überließ nichts dem Zufall, sie machte aus der Beerdigung ihres Vaters eine filmreife Inszenierung.

Kein Priester, ein Redner leitete die Trauerfeier. Nach einigen allgemeinen Sätzen über die Zeit des Menschen, die der grauhaarige, ganz in schwarz gekleidete Mann mit angenehmem Bariton sprach, trugen sechs Männer in roten Umhängen, unter denen eine blaue Uniform zu sehen war, den Sarg herein, stellten ihn vor dem Altar ab.

Später hörten wir vom Sohn, dass die Männer wie auch der Baron einer alten Verbindung angehörten, deren Mitglieder wie Pech und Schwefel zusammenhielten, sich allerdings, wie bei den schlagenden Verbindungen, keine Narben gegenseitig ins Gesicht schlugen.

Der Redner stellte sich nun neben den Sarg, legte seine linke Hand leicht an das helle Holz. Er las Worte Goethes zum Leben und zum Tod. Danach sprach er über den Verstorbenen. Und es waren berührende Worte, die Eugen nachgesprochen wurden. Jeder, der mit ihm vertraut gewesen war, vermochte die Klage über den Verlust des Barons nachzufühlen.

Erst Wochen danach erfuhr ich, dass diese den Verstorbenen beweinenden Worte von seinem Sohn stammten.

Nach der Feier begleitete nur die engste Familie den Sarg in die Gruft. Die Mehrzahl der Gäste blieb in der Kapelle, nur einige gingen nach draußen, auch wir.

4

WER WAR SOKRATES?

Über dem See liegt noch leichter Dunst, als ich mit dem Rad hinüber zum Bäcker List fahre. Nach meiner Rückkehr frühstücken wir in der Küche, sprechen darüber, was wir beide uns für diesen Tag vorgenommen haben.