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Wer von uns hat nicht schon einmal im Stillen überlegt – vielleicht, weil man gerade das Buch einer bekannten Autorin gelesen oder aber das Gemälde eines berühmten Künstlers betrachtet hat –, wie es wäre, in deren Leben hineinzusehen? Zumindest einmal einige Schritte neben ihnen zu gehen? Mit den hier versammelten Geschichten aus der Geschichte ermöglicht Michael Böhm Begegnungen mit großen Persönlichkeiten, deren unsterbliche Namen noch heute nachklingen. Und wen fasziniert der Gedanke nicht, zu entdecken, wie wohl Marie Curie, Maria Stuart oder Lawrence Durrell gewesen sind? Eine literarische Annährung an große Persönlichkeiten von Michael Böhm – lebendig, poetisch, lebensecht. Zwei zauberhafte Galerien unsterblicher Namen, die in diesen Erzählungen fortleben. »Mit großem erzählerischen Geschick« (Süddeutsche Zeitung) begibt sich Michael Böhm auf die Spur bemerkenswerter Frauen und erträumt sich dabei deren fiktive Lebenswirklichkeit. Ob als verkleidete Geburtshelferin im antiken Athen, als erste Doktorin der Chemie oder als im Schatten forschende Ingenieurin der NASA: Michael Böhm zeigt bedeutende Frauen, die sich für ihre Ziele eingesetzt und entgegen aller Widerstände für diese gekämpft haben. Er lässt die Pianistin Clara Schumann in Erinnerungen schweifen, gewährt einen Blick hinter die Kulissen von Helene Weigels Leben im Exil und erzählt von Marilyn Monroe abseits des Scheinwerferlichts. Wir folgen Elisabeth von Österreich und Romy Schneider zu einem unerwarteten Treffen auf der Roseninsel, begleiten George Sand nach Mallorca und verbringen einen Novembertag mit der Schriftstellerin Luise Rinser.
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Seitenzahl: 476
Veröffentlichungsjahr: 2024
Michael Böhm
Träumeam Ende des Weges
Kleine Galerie unsterblicher Namen
P & L EDITION
Dieses Werk wurde durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler, München, vermittelt.
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Copyright © 2019 bei P&L Edition, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH, Planegg
1. Auflage
Lektorat: Sylvia Kling
Korrektorat: Andreas März
Satz/Layout und Covergestaltung: Martina Stolzmann
E-Book: Mirjam Hecht
Alle Abbildungen © Wikipedia/Wikimedia
Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Made in Germany
ISBN 978-3-95669-125-6
www.bookspot.de
Meinen Dank an Christel und unseren Manuel. Immer wieder.
Impressum
Dank
Inhalt
Schiller, Das Siegesfest
Bis an das Ende der Welt
Heinrich der Seefahrer – Ein Essay
Ode an die Freundschaft
Friedrich Schiller
Ein Schneider, der die Treppe herunterfiel und den Hals brach
Johann Wolfgang von Goethe
Tod in Triest
Johannes Joachim Winckelmann
Mein Vetter Saul
König Saul
Träume am Ende des Weges
Meine Hommage an Lawrence Durrell
Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln
In Verehrung Giuseppe Verdi
Ein schöner Sommertag oder Liebe Cousine
Wilhelm von Wolzogen
Die Spaziergänger von Montagnola
Hermann Hesse und Thomas Mann
Rast an der Quelle
Der Heilige Alto
Ein glücklicher Tod
In Memoriam Albert Camus
Die Suche nach L’ Arianna
Claudio Monteverdi
Der Glaube der Hähne
Theodor Fontane
Das Verschwinden eines Mahners
Auf der Suche nach dem Philosophen Roderich Axtner
Lehrer eines Kaisers
Alkuin von York und Karl der Große
Der Geheimagent
W. Somerset Maugham
Meister Hans Thoma
Der Maler zur Sommerfrische im Taunus
Sein Salinas-Tal
John Steinbeck schreibt »Jenseits von Eden«
Kreidefelsen im Licht
Claude Monet und Guy de Maupassant in Étretat
Reisender mit feiner Feder
Johann Wilhelm von Archenholz
Der Traum vom Drucken
Johannes Gutenberg zu Ehren
Entlang der Küste Afrikas
Hanno der Seefahrer
Anhang
Über den Autor
Weitere Titel im Verlagsprogramm
Leseprobe: Dinner mit Elch
FREITAG
Von des Lebens Gütern allen Ist der Ruhm das höchste doch; Wenn der Leib in Staub zerfallen, Lebt der große Name noch.
Eine Tafel am Eingang zur geheimnisumwitterten Seefahrerakademie in Sagres im Algarve erinnert an den Prinzen Heinrich:
»Aeternum sacrum! Von dieser Stelle aus hat der große Prinz Heinrich, Sohn Johanns I., König von Portugal, es unternommen, die vorher unbekannten Regionen von Westafrika zu erforschen und um Afrika herum einen Weg zu den entlegenen Ländern des Orients zu suchen. Er hat auf eigene Kosten sein Schloss, die berühmte Schule der Kosmographie, das astronomische Observatorium und das Seearsenal errichtet und bis an sein Lebensende mit bewunderungswürdiger Ausdauer erhalten, gefördert und erweitert zum größten Segen der Wissenschaft … Als seine Expeditionen den 8. Grad nördlicher Breite erreicht hatten, als manche Insel im Ozean entdeckt und mit portugiesischen Kolonien versehen war, starb dieser große Prinz am 13. Nov. 1460 …«
Prinz Heinrich von Portugal ist eine geheimnisumwitterte Figur der Geschichte, sogar eine zwiespältige, egal von welchem Blickwinkel aus man das wenige, welches man sicher von ihm weiß, auch betrachten mag.
Sofern an Geschichte interessiert, begegnet einem Interessierten immer wieder dieser Name, es ist nie viel, meist nur Bruchstückhaftes. Heinrich ist nur eine Randfigur der Weltgeschichte. Andere Namen überstrahlen ihn ganz leicht mit ihrem Nachruhm. Doch mit dem Zusatz zu seinem Namen, vermag er sich doch im fantasiebegabten Gedächtnis verankern: »Der Seefahrer«. Wen, welchen Mann bedachten da die Chroniken mit diesem ungewöhnlichen Beinamen? Hatten nicht viele andere glorreiche Figuren der Geschichte »der Große« als Zusatz hinter ihrem Namen? »Der Seefahrer« war einmalig, ließ Abenteuer ahnen, roch er doch nach Ferne und Träumen.
Wer war dieser Heinrich?
Vor Jahren bin ich ihm, Heinrich dem Seefahrer, begegnet, nicht persönlich natürlich, nur virtuell. Ich stand dort, wo auch er einst stand. In Sagres, auf dem Kap Sao Vincente, in der äußersten Südwestecke Portugals, im Algarve, wo jeder Besucher den heute noch eindrucksvollen Ort der ehemaligen Seefahrerakademie des Prinzen auf sich wirken lassen kann. Von diesem mächtigen, tief in ein wütend brausendes Meer abfallenden Felsen aus organisierte Heinrich seine Expeditionen ins Unbekannte. Der Prinz war ohne ein damals bekanntes Vorbild an diese Aufgabe herangetreten, ohne sich auf irgendwelche Erfahrungen stützen zu können, ohne schnelle Ergebnisse vor Augen zu haben, ohne eigentlich mit Erfolgen überhaupt rechnen zu können. Zudem kämpfte er von Anfang an gegen das Unverständnis seiner Umgebung.
Wer also war dieses Phantom der Geschichte?
Ich hatte Sagres gesehen, kehrte von der Urlaubsreise heim und »der Seefahrer« ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Schnell stellte ich fest, dass die Literatur über Heinrich nicht gerade eine Bibliothek füllt, nicht mal eine kleine. Die brauchbaren Quellen sprudelten nur spärlich. Was ich fand, sichtete, verglich, war oft widersprüchlich, in manchen Angaben sogar fehlerhaft. So wurde Heinrich, um ein Beispiel zu nennen, direkt mit Kolumbus in Verbindung gebracht, der jedoch im Todesjahr des Prinzen, 1460, noch ein Kind war.
In einigen Texten wird das Wirken Heinrichs, die Existenz seiner Akademie in großen Teilen, manchmal sogar gänzlich angezweifelt. Hat es den Prinzen überhaupt gegeben?
Gerade solche Punkte reizten mich, Heinrich weiter auf der Spur zu bleiben. Meine Sammlung über den portugiesischen Königssohn und seine Zeit wuchs langsam, aber doch stetig. Werden sich vielleicht die Lücken schließen, für die noch Vermutungen oder die Fantasie herhalten müssen?
Wenn ich auf den folgenden Seiten von diesem besonderen Mann erzählen will, seinen letzten Tag mit seiner Lebensgeschichte verwebe, erhebe ich nicht den Anspruch der Vollständigkeit und auch nicht den der reinen Wahrheit. Es soll nur der Versuch einer Annäherung an Heinrich den Seefahrer sein.
Der halb nackte Mann ist nur noch Haut und Knochen. Völlige Stille umgibt ihn. Durch das eine größere und das zweite kleinere Fenster graut der neue Tag herein in die mehr als karge Klause. Mit brennenden Augen starrt der Mann hinauf zur tiefdunklen Decke. Irgendwann in der Nacht, er hatte es nur kurz im Halbschlaf wahrgenommen, rüttelte ein starker Wind an dem Haus. Unbewusst hatte er entschieden, dass der Wind nicht die Kraft zu einem Sturm haben würde. So war er wieder in den Schlaf zurückgesunken. Später in der Nacht war dann der weißgewandete Engel an sein Lager getreten mit der Nachricht, dass seine Abberufung von dieser Welt unmittelbar bevorstehe. Sein Herz hatte sich schmerzhaft verkrampft. Lautlos bewegten sich die blutleeren Lippen, als er tonlos fragte, ob der Himmel ihm vergeben habe oder ob er in die ewige Hölle hinabgestoßen würde. Der Engel hatte gelächelt. Noch einmal bat er eindringlich um eine Antwort. Wieder lächelte der Himmelsbote, um gleich darauf unsichtbar zu werden.
Seit dieser Vision liegt Heinrich, Prinz von Portugal, Herzog von Visen, Herr von Covilha, Großmeister des Christusordens, der in der gesamten Christenheit berühmte Seefahrer, wach.
Er stellt sich die Frage nach dem Warum, wieder einmal. Ist es Gottes Wille, der Mensch solle in seinem Lebensbereich bleiben? Oder folgt er dem Willen des Herrn, seinem Wort: Machet euch die Welt untertan? Zu welchem Nutzen gibt er, Heinrich, seine Befehle: Zum Wohle des Landes, allein für den König oder doch nur für eine kleine Oberschicht? Oder aber, das Schlimmste für ihn, ist es sein Ehrgeiz, doch nur sein persönliches Ziel? Ist er so, wie über ihn gesprochen wird? Er weiß es, denn er hat überall seine Ohren: Rücksichtslos sei er, hart, sogar bösartig. Muss er nicht so sein, um seine große Aufgabe zu erfüllen?
Jede Nacht, seit Jahren quält er sich mit diesen Fragen. Doch das ist nicht der wunde Punkt, der schwärzeste Punkt in seinem Leben, der jedes Mal als Höhepunkt seiner Selbstanklage in seine Gedanken drängt. Der alte Mann ist von einem Stigma gezeichnet, das allen bekannt ist, eine Schuld, an der er schwer trägt, die er nur tief bereuen, nicht wiedergutmachen kann. Es ist der Verrat an seinem jüngeren Bruder Fernando.
Tanger ist zweiundzwanzig Jahre nach Ceuta, im Jahre des Herrn 1437, das zweite kriegerische Unternehmen in Nordafrika. Prinz Pedro, der zweite Bruder, war dagegen, weil Portugal sich das Unternehmen nicht leisten konnte.
Heinrich ließ sich von realistischen Argumenten nicht von einem Ziel abbringen, das er sich vorgenommen hatte. Er verfasste eine Denkschrift, in der er zu dem Angriff aufrief. Scheute auch nicht vor reiner Kriegshetze zurück. Fernando sollte die Möglichkeit erhalten, sich seine Rittersporen zu verdienen, wie er selbst einst in Ceuta. Doch die Eroberung von Tanger blieb nur ein Versuch, wurde dem jungen Bruder zum Verhängnis. Die Folge des Fehlschlages war zudem ein Wirtschaftsniedergang in Portugal.
Damals, bei der Einnahme von Ceuta, war Heinrich als Hitzkopf vorgegangen und hatte zudem wirklich Glück gehabt. Mit seinen Worten gesagt: Der Himmel war mit ihm. In Tanger war der Himmel nicht mit ihm, ganz und gar nicht. Heinrich schlug alle strategischen und taktischen Ratschläge in den Wind, manövrierte sich in eine Lage, aus der er sich nur zu befreien vermochte, indem er seinen Bruder als Geisel zurückließ.
Die Bedingung für die Freilassung des jungen Prinzen war die Rückgabe von Ceuta. Die Brüder Duarte und Pedro waren dazu bereit, ebenso die Vertreter der Städte und der Provinzen. Der Adel und der Klerus hingegen wollten die christliche Stadt nicht in die Hände der Ungläubigen zurückgeben. Die Auseinandersetzung zog sich hin. Fernando blieb in den Händen der Mauren, für die er bis zu seinem Tod, acht lange Jahre, Sklavenarbeit verrichtete. Sein Gewissen meinte Portugal damit zu beruhigen, indem Fernando zu einem christlichen Märtyrer erhoben wurde.
Natürlich war auch Heinrich um seine Stellungnahme befragt worden. Er wich aus, indem er ein Heer verlangte, mit dem er die Mauren aus Afrika vertreiben und seinen Bruder befreien wollte. Das war ein rein rhetorischer Vorschlag, sowohl was die wirtschaftlichen Möglichkeiten als auch seine persönlichen Fähigkeiten betrafen. Heinrich, der seinem Bruder versprochen hatte, ihn auszulösen, opferte den Prinzen der Staatsräson und der christlichen Machtpolitik. Der von Heinrich geforderte Feldzug fand nicht statt.
Heinrich steigt mit tränenüberströmtem Gesicht von seinem einfachen Lager und wankt zu der nahen Kniebank.
Als er sich endlich wieder mühsam erhebt, küsst er das Amulett, das er um den Hals trägt. Seit seine streng religiöse Mutter es ihm als Kind geschenkt hatte, hat er es nie abgelegt.
Wenig später verlässt er seine Klause, ein völlig anderer Mann tritt in den jungen Tag hinaus. Ein stolzer, düsterer, unnahbarer Herr, schlank, hochgewachsen, ein schmales eingefallenes Gesicht, dunkle tiefliegende Augen, weißes volles Haar, in schwarzen Samt gekleidet, die goldene Kette des Christusordens auf der Brust.
Nur für Momente bleibt er stehen, blickt zum Himmel und hinunter zum Meer. Dann schreitet er zur nahen Kapelle. Bis auf den Altar, mit einem Teppich davor und zwei Stühlen an der Wand, ist sie leer. Heinrich geht in die Knie, legt sich der Länge nach auf den Teppich, der hier den Steinboden bedeckt, um zu beten.
Nur kurze Zeit später betritt beinahe unhörbar ein junger Mönch das Gotteshaus, der Benediktiner Paulinho, der vom fernen Rhein stammt. Er hat blondes langes Haar und ein zartes, offenes Gesicht. Der Mönch ist der Beichtvater des Prinzen, ist einer der ganz wenigen, die eine engere Beziehung zum Prinzen haben, so weit jedenfalls, wie dieser es zulässt. Er kennt Heinrich als äußerst liebenswürdig, aber eben auch als aufbrausend und unkontrolliert wütend. Hat der Prinz sich etwas in den Kopf gesetzt, wird sein Wille gnadenlos.
Paulinho bleibt nahe der Tür stehen, hat seine Hände in den weiten Ärmeln vergraben. Er weiß, er darf den vor dem Altar Liegenden auf keinen Fall stören, und er wird dafür sorgen, dass er auch nicht von anderer Seite in seinem Gebet unterbrochen wird. Seine hellen Augen haben Heinrich im Blick. Der Prinz ist auch nur ein Mönch, denkt Paulinho, nur fanatischer, unbeugsamer, unmenschlicher als irgendeiner von uns. Heinrich kennt keine Sinnesfreuden, hält sich stets von Frauen fern, als seien sie eine Krankheit, gestattet sich keinen Schluck Wein, fastet über jedes Gebot hinaus, trägt jeden Freitag ein Büßerhemd.
Warum ist Prinz Heinrich so? Paulinho weiß es nicht, hat nur einiges flüstern hören.
Heinrich, geboren am 4. März 1394 in Porto, in einem Adelshaus nahe dem Strom, als der dritte Sohn von König Johann I. aus dem Hause Avis, und Philippine, einer Prinzessin aus dem englischen Hause Lancaster. Heinrich ist demgemäß von Geburt an in der Thronfolge aussichtslos zurück.
Schon relativ früh lernt der kleine Prinz lesen, schlägt den ungewöhnlichen Weg, so es seine strengen Zeitregeln zulassen, des Selbststudiums ein. Alles, was ihm erreichbar ist, liest er und stößt so das erste Mal auf den Namen Atlantis, der ihn vom ersten Moment an fasziniert und tatsächlich sein ganzes späteres Leben bestimmen soll.
Sein Charakter folgt der Erziehung, auch sein Glaube ist darauf angelegt, aus ihm einen christlichen Ritter zu machen, fromm, ja fanatisch, die Bibel in der Tasche und das Schwert in der Hand.
Heinrich begleitet die älteren Brüder zunächst als Knappe zu den Turnieren, die überall im Lande abgehalten werden. Erst nachdem er alt genug ist, um als Gegner akzeptiert zu werden, nimmt er aktiv an den Wettkämpfen teil. Während die Brüder gern tanzen und manchen Becher in fröhlicher Gesellschaft leeren, hält Heinrich sich davon fern, zieht sich in irgendeine Kirche zurück, um zu beten.
Bei den ritterlichen Übungen zeichnet er sich aus, vor allem durch seinen unbändigen Ehrgeiz, der keine Rücksicht kennt. Und doch wird die Zukunft zeigen, dass Heinrich als Ritter kaum eine überragende Figur abgeben, auch nie ein guter Feldherr werden würde, da ihn strategische wie taktische Fragen kaum interessieren.
In seiner frühen Jugend wird wohl auch der Grund von Heinrichs innerer Zerrissenheit zu suchen sein. So ist er einer der ersten ernsthaften und kritischen Wissenschaftler der Neuzeit, hat aber auch in sich alle Düsternis und Beschränktheit des Mittelalters, was auf die Erziehung seiner überaus frommen Mutter zurückzuführen sein wird. Mal ist der Prinz im Laufe seines Lebens der Überwinder der alten Zeit, dann wieder steckt er in ihr fest. So ging er, ein mystischer Denker, der an Wunder und die Sterne glaubte, mit aller Macht gegen den Aberglauben an. So beschwor er in zündenden Reden die Seeleute, nicht an die Märchen zu glauben, die man ihnen erzählte. Sie sollten ihm vertrauen, er würde ihnen den richtigen Weg weisen.
Er, Prinz Heinrich, der Initiator und Organisator, der Finanzier der Entdeckungsreisen, war selbst so gut wie nie auf See; kam nicht über den Maghreb hinaus. Dennoch hat er die Seefahrt in neue Bahnen gelenkt, ihr völlig neue Wege gewiesen. Und hat den Grundstein gelegt zur Kolonialmacht und der historischen Bedeutung Portugals und zur späteren Weltherrschaft der westeuropäischen Völker.
Seine weitblickenden Pläne hat kaum einer und am Königshof überhaupt niemand verstanden. Heinrich war bald klar, nach seinem Tod wird man sein Lebenswerk, die Seefahrerakademie, schließen.
Prinz Heinrich erhebt sich vor dem Altar, langsam und mühsam, schaut sich mit schmalen Augen um, sieht den Mönch an der Wand im Halbdunkel stehen. Ein schnelles Leuchten blitzt in seinen Augen auf.
Der Prinz nennt bei der Begrüßung den Mönch Bruder.
Sie setzen sich auf zwei einfache Hocker, die seitlich an der Wand stehen. Ohne jede Vorrede schneidet Heinrich das Thema Schuld und Vergebung an.
Alles ist eine Gnade Gottes. Das ganze Leben ist Gnade. Werden wir alle an den göttlichen Fäden gezogen? Haben wir einen eigenen Willen, oder folgen wir allein dem göttlichen Willen? Gehorchen wir den göttlichen Vorgaben, können wir dann überhaupt schuldig werden?
Heinrich will beichten. Bruder Paulinho, sagt er, meine Zeit ist abgelaufen.
Prinz Heinrich hat wohl als Einziger seiner Familie wirklich erkannt, dass die Zukunft Portugals auf dem Meer liegen musste. Und damit sind wir genau an dem Punkt, warum Heinrich bis heute den Historikern ein Rätsel aufgibt.
Dieser streng Konservative, dieser mittelalterliche Ritter, der Mystiker, der an Wunder und die Sterne glaubte, zeigte sich ebenso durch seine wissenschaftliche Methodik als ein Mann, der seiner Zeit weit, weit voraus war. Er wurde das Sinnbild eines neuen Typus, der des Intellektuellen, was nicht heißt, dass der andere Teil seiner Persönlichkeit dahinter zurücktrat. Männer, die ihn persönlich kannten, wie Zurara, Diogo Gomes, Cada Mosto beschrieben seine hervorstechendsten Eigenschaften: strenge Frömmigkeit, unbeugsame asketische Haltung, besessen von der Kreuzzugsidee.
Doch diese Aussagen stehen so stark im Gegensatz zu dem, was und wie er sein Werk in Gang setzte, dass zu vermuten ist, dass die erwähnten Charakterzüge gerade die waren, auf die Heinrich selbst besonderen Wert legte.
In diesem eklatanten Widerspruch zwischen dem strengen Bild des Infanten und seinen realen Taten ist wohl der Grund zu suchen, warum es unter den Historikern Kreise gibt, die die Seefahrerakademie von Sagres für eine schöne Erfindung halten und auch an Beweisen für die Unterstützung des Prinzen für die Wissenschaft zweifeln. Sie führen natürlich ein starkes Indiz an, denn von Heinrich haben sich keinerlei schriftliche Zeugnisse von eigener Hand erhalten. Auch darum wird er von den Zweiflern für wenig gebildet gehalten und zum Kopf der Forschungsreisen als nicht geeignet angesehen.
Es ist nur ein einfaches Frühstück, das der Prinz zu sich nimmt: Brot, Käse, Wasser.
Der alte Diener Gatao, der Kater, hat das Essen gebracht und wird auch nachher, wenn Heinrich gegangen ist, den Holztisch abräumen.
In einen weiten Mantel gehüllt verlässt Heinrich sein Haus. Am Himmel jagen graue Wolken über blaue Flecken und es weht ein kühler Wind vom Meer her.
Auf der äußersten Landspitze Portugals, dem Ende der Welt, nahe Kap Sao Vincente, einem Vorgebirge, das sich in den Atlantik hinausstreckt, errichtet der Prinz 1416 das Schloss Sagres, die Villa do Infante, aus dem sich schon bald eine nautische Versuchsstation entwickelt. Über dem Haupttor lässt er seinen Wappenspruch anbringen: »Talent de bien faire – Fähig zu großen Taten, fähig, es gut zu tun, den Willen, es gut zu machen.«
Das Schloss, mehr ein Landhaus, ist für einen königlichen Prinzen sehr bescheiden. Da ist das karge Steinhaus, in dem Heinrich wohnt. Daneben die kleine Kirche. Ein Turm, in dem das Observatorium untergebracht ist. Einige flache Gebäude für die Forschungen. Und eine riesige Windrose aus Steinen.
Was hier an Technikern und Experten versammelt ist, kann neben der Akademie in Florenz bestehen. Hier wie dort wurden Grundlagen geschaffen, die die damalige Welt verändern sollten. Während in Florenz das Menschenbild überprüft und erweitert wurde, eröffnete Sagres den Menschen die Naturwissenschaft, mit deren Kenntnissen es gelang, in den nächsten Jahrzehnten die erkundete Welt viermal größer werden zu lassen.
Auf dem weiten Hof sind einige Männer beschäftigt, mehrere eilen geschäftig hin und her. Keiner von ihnen wagt den Prinzen anzusprechen. Wenn er etwas von ihnen will, nimmt er den Kontakt auf. Nur wenige genießen das Privileg, von sich aus Heinrich ansprechen zu dürfen.
Heinrich sieht Paulinho aus einem der niedrigen Gebäude treten, winkt ihn heran, fordert ihn auf, mit ihm zu gehen. Sie halten weiter auf das Meer zu, der Wind hat weiter zugenommen, tief unter ihnen gebärdet sich das Meer aufgewühlt und ungebärdig.
Die beiden Männer stehen im Windschutz einer Mauer. Heinrich spricht von der Schwere seiner Verantwortung, von seiner Angst, Menschen in den Tod geschickt zu haben bei den Fahrten über das Bekannte hinaus, bis an das Ende der Welt. Er sende Männer ins Ungewisse, in eine unbekannte Leere mit der Gewissheit, dass es richtig sei für sein Land, für das Wissen der Christenheit. Dennoch kranke seine Seele am Zweifel.
Der Mönch schaut ihn ernst an, sagt, der Prinz sei das Werkzeug des Herrn. Der Himmel wisse, wen er für große Aufgaben auswähle, mache es aber seinen Werkzeugen dabei nicht einfach.
Das Gesicht des Prinzen hellt sich auf, ein Lächeln erscheint. Der Mönch staunt stumm, denn solche sichtbaren Gemütsregungen kommen nur sehr selten vor.
Das Lächeln bleibt auf dem Gesicht, während die Augen über das unruhige Meer blicken.
Erinnerungen.
Ein Schlachtfeld, eine weiße Stadt, das gütige Gesicht eines alten Mannes. Heinrich war gerade mal zwanzig Jahre alt, als die Vorbereitungen zur Eroberung von Ceuta, der Maurenstadt in Nordafrika, anliefen. Das blühende Handelszentrum versprach den Portugiesen den Schlüssel zum Mittelmeer, hatte doch, wer Ceuta hatte, die Kontrolle über die Meerenge von Gibraltar, konnte die Piraten in Schach halten und besaß den Zugang, eine unwiderstehliche Verlockung, zum afrikanischen Gold.
Der König machte den Söhnen die ritterlichen Turniere schmackhaft, hier sollten sie sich bewähren. Doch sie wollten bald keine Spiele mehr, forderten den Ernst, riefen nach Krieg. Und der Vater gab nach.
Während der König die Truppen rekrutierte, nahm sich der älteste Sohn der Regierungsgeschäfte an. Die beiden anderen Söhne beaufsichtigten den Flottenbau, Pedro in Lissabon, Heinrich in Porto. Bei den langen Gesprächen mit Kapitänen, Steuermännern, Schiffsbauern erkannte Heinrich die Schwächen der Nautik, fiel ihm auf, dass den Seefahrern es an guten Instrumenten und Methoden zur Ortsbestimmung auf See mangelte. Er nahm sich vor, dafür zu sorgen, Lösungen für die Probleme zu finden. Was ihm vorschwebte, war in Porto nur allzu schwer, eigentlich gar nicht durchzuführen. In diesem lebhaften Hafen gab es zu viele Augen, denen ungewöhnliche Vorgänge nicht allzu lange verborgen blieben, zu viele Ohren, die hören wollten, was im Geheimen gesprochen würde.
In dieser Phase seines Lebens trat der methodische Teil seines Wesens in den Vordergrund. Schritt für Schritt ging Heinrich leidenschaftlich erregt und dennoch ganz kühl seinen Weg.
Als durchsickerte, Portugal kaufe Waffen in England, wurde von offizieller Seite behauptet, die Waffen würden für eine Strafaktion gegen die Niederländer benötigt. Geheimdiplomaten unterrichteten die Niederländer gleichzeitig über die wahren Absichten. Die politica de siglo und die politica de segredo, die Politik des Verschweigens und der Geheimhaltung, die Heinrich führend mitentwarf, sollte den zukünftigen Stil der portugiesischen Politik prägen, vor allem als es später darum ging, die Entdeckungen so lange wie möglich geheim zu halten.
Heinrich wurde zum Oberbefehlshaber für den Feldzug gegen Ceuta ernannt. Er war 21 Jahre alt, als 200 Schiffe und etwa 25.000 Mann, unter ihnen viele Ritter aus ganz Europa, auch der Tiroler Dichter Oswald von Wolkenstein, in See stachen.
Der junge Prinz ließ es sich nicht nehmen, als Erster an Land zu springen und an vorderster Front gegen die Stadt zu stürmen.
Auch als Lohn für den Sieg wurde er noch in Ceuta mit der Verwaltung des Großmeisteramtes des Christusordens, einer Nachfolgeorganisation der Templer, betraut. Der Orden sah es als eine seiner Aufgaben an, die Mauren zu bekämpfen. Unter der Führung von Prinz Heinrich wurde er aber vor allem ein Handelsunternehmen.
Bei seinem erfolgreichen Abenteuer von Ceuta war Heinrich erst 21 Jahre alt. Er war der Sieger. Wird mit hohen Ehren überhäuft. Muss nun eine große Verantwortung tragen. Wie kommt ein so junger Mensch damit zurecht? Wie geht er mit seiner Macht um?
Von seiner schon festen und ernsten Persönlichkeit ausgehend, nehme ich an, dass in seinem Verhalten keine Veränderung erkennbar wurde. Er blieb ruhig und überlegt. Ich sehe es als sicher an, dass er, als er seine Akademie aufbaute, sich aus der ersten Linie zurückzog, delegierte und aus dem Hintergrund die Fäden zog.
In Ceuta lernte Heinrich einen alten Mann kennen, einen Juden. Die beiden Männer, der eine alt und weise, der andere jung und stürmisch, kamen sich näher, soweit das bei dem komplizierten Charakter des Prinzen überhaupt möglich war. Der alte Jude wird sich als einer der wenigen ehrlichen Freunde im Leben Heinrichs erweisen. Der alte Jakob wurde in der beschränkten Zeit zum Lehrer für den jungen Heißsporn und für dessen zukünftigen Lebenslauf sehr wichtig. Jakob öffnete Heinrich die Augen, sprach aus, was der Prinz tief innen ahnte. Bei der Einnahme der Stadt hatte er eine Menge Fehler gemacht und war nur Sieger geblieben, weil er Glück und zu viele Vorteile auf seiner Seite hatte. Das Urteil des Alten: Heinrich ist kein Feldherr. Der stolze Prinz war von diesem Zeugnis hart getroffen. Er fühlte, dass es die Wahrheit war, aber sein Traum war es nun einmal, ein großer Eroberer zu werden. Ja, nickte Jakob, Eroberer, aber nicht zu Lande, sondern auf dem Wasser. Für Portugal bringen solche militärischen Erfolge wie Ceuta für die Zukunft nur wenig. Das Meer müsse Portugal beherrschen. Hier liege die Aufgabe für den Prinzen. Heinrich vertraute Jakob seinen Jugendtraum an, nämlich Atlantis zu finden. Dann solle er Atlantis eben finden, sagte Jakob. Heinrich erkundigte sich nach den Karawanenstraßen in die Weite des Landes. In seiner Antwort erzählte der alte Jude auch von der geheimnisvollen Wüstenstadt Timbuktu. Jakob vernahm auch die anderen Träume des Prinzen, nämlich den sagenhaften Priester Johannes, den Weg zum großen Indien zu finden. Doch dahin führt der Weg durch das Mare tenebrosum, dem Meer der Finsternis, das südlich des Kap Bajador liegen muss, wohin sich noch kein Schiff gewagt hat. Nämlich ganz in der Nähe liegt Kap Nun, von wo es keine Rückkehr gibt, denn gleich südlich davon ist das Ende der Welt, wo Dunkelheit und Verderben warten. Dort, wo die Winde ständig umspringen, die Strömungen unwiderstehlich sind, brennt die heiße Sonne auch weiße Menschen zu Negern, bevor sie endlich scheitern.
Der alte Jakob wischte mit einer entschiedenen Handbewegung diese Gedanken zur Seite. Das ist alles Unsinn, Prinz. Überwinde er diesen dummen Aberglauben nicht, dann finde er Atlantis niemals oder das große Indien. Keine wirklich wichtige Aufgabe würde er so für sein Land erfüllen.
Beim Abschied, noch in der letzten Umarmung, mahnte Jakob ihn noch einmal. Er werde wohl für immer ein zerrissener Mensch bleiben, aber vielleicht konnte er ihm den Weg nach vorn weisen, ihn dazu bringen, an das Gute und nicht an das Dunkle zu glauben.
Als der alte Jude ihm nachschaute, als Heinrich steif davonschritt, dachte er melancholisch: Was ist das für ein armer Mensch. Sein Leben wird Askese und Verrat, Handel und Krieg, Mystik und Wissenschaft sein. Jehova möge seine Wege segnen.
Bald nach der Rückkehr nach Lissabon besprach sich Heinrich mit seinem Vater und seinen Brüdern. Dann zog er sich nach Sagres zurück, wo er sein Landhaus baute, das so wichtig für Portugal werden sollte.
Noch im Jahre 1416 schickte er die ersten Schiffe von Lagos aus hinaus auf das Meer. Noch segelten sie entlang bekannter Landstriche, die marokkanische Küste hinunter.
Sein erster, auf ihn eingeschworener Kapitän war Gil Eanes, der im Laufe der Jahre auch sein erfolgreichster werden würde.
Nach den Auswertungen der ersten Fahrten, den langen Gesprächen, die sie führen, mussten sie erkennen, dass es so nicht weitergehen würde, sie unbedingt Unterstützung brauchten.
Heinrich handelte und zog mit seinem Namen eine ganze Reihe Kapazitäten nach Sagres. Alles im Geheimen.
Die Expeditionen wurden nun nicht mehr aufs Geratewohl unternommen, sorgfältige Vorbereitungen des Gelehrtenkollegiums gingen den Reisen ins Unbekannte jetzt voraus. Alle Karten, denen man habhaft werden konnte, wurden zu Rate gezogen, auch Karten, in die die Kanaren, die Madeiragruppe sogar die Azoren, wenn auch nur vage, schon eingezeichnet waren.
So konnte ein greifbarer Erfolg, auch wenn der Zufall in Form eines Sturmes helfen musste, nicht lange auf sich warten lassen.
Auf zwei Schiffen segelten Joao Goncalves Zarco und Tristao Vaz Teixeira aus dem Hafen von Lagos. Die lange dunkle Gestalt des Prinzen blickte den Schiffen nach, bis sie hinter dem Horizont nicht mehr zu sehen waren. Ihre Aufgabe war, die Küste der Berberei weiter zu erforschen. Allein Zarco wusste von dem eigentlichen Ziel. Heinrich hatte ihm in einem Gespräch unter vier Augen eine alte Karte, in die die neuen Erkenntnisse eingearbeitet waren, auch die Lage der Madeiragruppe verzeichnet war, übergeben. Der Kapitän sollte die Inseln für Heinrich und Portugal finden, eigentlich wiederfinden, wie der Prinz mit einer Andeutung von Lächeln sagte.
Das Wissen der Karte, die der Kapitän in seiner verschlossenen Kabine hütete, die die Kartographen bearbeitet hatten, stammte aus dem Jahr 1351, war eine florentinische Seekarte. Die Inseln der Madeiragruppe waren seit den Karthagern so gut wie vergessen. Als die Genueser sie fanden, nahmen sie nur so weit Notiz von ihnen, das sie sie in ihre Karten einzeichneten, wenn auch eher nachlässig.
Nach einigen Tagen fiel ein Sturm über die Schiffe von Zarco und Teixeira her. Der Wind und die Wellen trieben sie nach Porto Santo, die heilige Insel. Aus Dankbarkeit für die Rettung gab Zarco dem Eiland diesen Namen, wohl wissend, dass sie schon auf der alten Karte mit diesem Namen eingetragen war.
Die Schiffsmannschaft hielt die nahen düsteren Schatten zwischen den Wolken für den »Höllenschlund«. Nur Zarco wusste es besser, spielte den Todesmutigen, hielt darauf zu, »fand« Madeira, was die Hölzerne heißt, und nahm die Insel für Portugal in Besitz.
Heinrich ließ kaum Zeit verstreichen, begann schon bald mit der Kolonisierung der Inseln. Die ersten Siedler kamen schon im folgenden Jahr 1420.
Einer der Siedler hatte den Namen Bartholomäus Perestrelo. Er sollte später der Schwiegervater von Kolumbus werden. Dieser Mann nahm ein trächtiges Kaninchen mit auf die Insel. Was zunächst als ein gutes Omen angesehen wurde, stellte sich für die Siedler bald als eine arge Plage heraus. Große Teile von dem, was gesät und gepflanzt wurde, nagten die Kaninchen wieder ab.
In den nächsten Jahren wurden auch die benachbarten Inseln der Desertas und die Inseln Salvages besetzt. Alle die Inseln wurden rasch ertragreich und brachten dem Prinzen Heinrich einen satten Gewinn.
Zuerst kam hochwertiges Holz für Möbel, Häuser und Schiffe nach Portugal, dann folgte der Zuckerhandel. Heinrich ließ Zuckerrohr aus Sizilien nach Madeira bringen. Heinrich finanzierte die ersten Zuckermühlen auf der Insel. Von Kreta wurde die Malvasier-Traube gebracht und angebaut. Der Madeirawein wurde ein großer und anhaltender Erfolg.
Heinrich geht neben dem Mönch über den Platz. Er winkt seinen alten Leibdiener heran, der vor seinem Herrn seine Knie beugt und ihm die Hand küsst. Es solle angespannt werden, er wolle nach Lagos, sagt der Prinz, ohne den alten Diener dabei anzusehen.
Die Kutsche rollt von Sagres aus dem östlich liegenden Hafen von Lagos zu.
Korkeichen stehen auf den Grasfeldern. Pinien mit kräftigen Zapfen an den starken Ästen.
Heinrich wird von dem alten Diener begleitet. Vor langen Jahren hat er ihn in Porto vor der Hinrichtung auf einem Schiff errettet.
Der Prinz hält die Augen geschlossen. Seine Gedanken beschäftigen sich mit seiner Familie.
Im Jahr 1385 besiegte Johann I. endgültig Kastilien, den feindlichen Nachbarn.
Mit Johann I. war eine neue Dynastie an die Macht gekommen. Die Dinis, das Geschlecht der nationalen Eroberer, wurde vom Geschlecht der Entdecker abgelöst, den Avis. Die Söhne von Johann I. sollten zur »berühmten Generation« werden.
Eduard, der älteste Sohn, der seinem Vater auf dem Thron nachfolgte, war in seiner kurzen Regierungszeit (1433 - 1438) auf Konsolidierung bedacht und gegen jedes Abenteuer. Er war im Gegensatz zu seinem Vater ein intellektueller Mann.
Pedro oder Peter, der zweite Sohn, hatte wie kein anderer iberischer Prinz das damalige Europa und den Vorderen Orient bereist, Informationen und Erfahrungen sammelnd, nicht zuletzt was den Schiffsbau betraf.
Nach Eduards Tod gab es Streit zwischen dessen Witwe und Pedro um die Regentschaft, wobei Pedro sich durchsetzte. Als er für seinen sechsjährigen Neffen Afonso V. die Regierung übernahm, führte er erst einmal eine Gesetzesreform durch. Später konnte sich Pedro nicht gegen die Intrigen zur Wehr setzen, in die sich der Neffe nach seiner Volljährigkeit hineinziehen ließ. Pedro fiel in einer inszenierten bewaffneten Auseinandersetzung mit Soldaten.
Zunächst schaut Heinrich beim Hafenmeister vorbei. Auch diesen Mann kennt der Prinz schon lange. Er weiß, dass der Mann eine Dame liebt, eine leidenschaftliche Frau. Aber er hat eine Ehefrau ohne jede Leidenschaft. Den Mann quält seine Schuld, doch er kann nicht anders. Der Hafenmeister weiß allerdings nicht, dass der Prinz sein Geheimnis kennt. Heinrich vermag sich wohl nicht in die Situation des Mannes zu versetzen, schweigt gleichwohl, weil der Mann ein guter Hafenmeister und auf ihn eingeschworen ist.
Heinrich spricht seinen Mann ohne jede Vorrede gleich auf Pedro da Sintra an, den Kapitän, der gerade unterwegs ist. Ein Steuermann tritt zurückhaltend hinzu. Kurz darauf beginnen die Männer offen zu diskutieren. Solche Momente gefallen dem Prinzen.
Für den Steuermann des 15. Jahrhunderts gab es nur eine Möglichkeit die Sonnenhöhe zu messen, ohne in die Sonne zu schauen: sein Astrolabium zunächst frei aufzuhängen und dann die Alhidade so lange zu drehen, bis der Lichtstrahl, der durch das obere Visier fiel, genau auf das untere Visier traf.
Hatte der Steuermann seine Sonnenhöhe gefunden, so schrieb er sie auf seine Schiefertafel. Dann nahm er seine Tabellen, suchte die Sonnendeklination für den Tag heraus und schrieb sie dazu. Nun hatte er zu entscheiden, ob er die Deklination zur Höhe dazuzählen oder von ihr abziehen musste, was davon abhing, ob er sich nördlich oder südlich des Äquators befand, ob die Deklination nördlich oder südlich war und ob sie mehr oder weniger als die geographische Breite betrug, wenn beide annähernd gleich groß waren. Die Anwendung der gängigen Regel ergab die Höhe des Himmeläquators über dem eigenen Horizont. Diese wurde von 90 Grad abgezogen, und so erhielt er die gesuchte Breite.
Gleich dem Polarstern hatte auch die Sonnenhöhe seit langem dazu gedient, dem Seefahrer ungefähr seine Entfernung vom Ausgangspunkt nach Süden oder Norden anzuzeigen. Bei der Messung der Sonnenhöhe mit Instrumenten ergaben sich jedoch Schwierigkeiten; und auch wenn diese überwunden waren, machte die Bestimmung des Breitengrades eine viel kompliziertere Berechnung nötig als bei der Polarsternregel. Dem Steuermann lag daran, seinen Winkelabstand in Graden nördlich und südlich des Äquators, der dem Abstand des Himmeläquators vom Zenit entspricht, zu ermitteln. Aber im Gegensatz zum Polarstern kann der Himmeläquator nicht direkt beobachtet werden. Die Sonne folgt nicht dem Himmeläquator, und der Winkelabstand zwischen dem Himmeläquator und der Ekliptik, der Bahn, die die Sonne in Bezug auf die Erde beschreibt, verändert sich von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Der Schiffer musste also den nördlichen oder südlichen Winkelabstand des Himmeläquators, die Abweichung der Sonne, für jeden Mittag an jedem Tag jeden Jahres kennen.
Dies war nicht nur ein astronomisches, sondern ebenso ein mathematisches Problem, das keine noch so große praktische Erfahrung lösen konnte.
Heinrich berichtet von dem Gespräch mit Kapitän Sintra vor der Abfahrt. Er solle den abergläubigen Männern der Mannschaft anhand aus dem Meer aufsteigenden Land klarmachen, dass die Erde rund und es nicht möglich ist, hinter dem Horizont in die Tiefe zu stürzen. Das Verfahren hat schon Tristao mit seinen Leuten durchgeführt.
Der Hafenmeister erinnert an Tristao, der immer wieder mit den Mauren und Negern seinen Schabernack trieb. Er ließ sie in eine Kiste schauen, an deren Boden ein Spiegel lag. Sie erschraken sehr und hielten Tristao für einen Zauberer, was dem Kapitän wiederum Vorteile mit diesen Menschen einbrachte.
Die Gruppe Männer geht weiter zum Hafen und zur Werft. An den Segeln wehen die Fahnen mit dem Tatzenkreuz des Christusordens, unter denen die Schiffe unterwegs sind.
Seit dem Fehlschlag von Tanger 1437 war Heinrich bemüht, Portugal eine einsatzbereite Flotte mit zuverlässigen Stammbesatzungen zu schaffen. In Hafenstädten wurden Werften errichtet, erfahrene Schiffsbaumeister verpflichtet, Berge von Bauholz aus Madeira geholt, mit dem Hochseeschiffe gebaut wurden. Die Kapitäne der Schiffe wurden auf den Prinzen eingeschworen.
Die Krönung aller theoretischen und praktischen Studien war der Bau der Karavelle, jenes Schiff, das die Barca und den Naus ablöste.
Die Karavelle war ein Schiff mit Lateinsegeln: Die Rahen waren nicht mehr im rechten Winkel, sondern schräg zur Schiffsachse aufgehängt. Damit war es möglich, gegen den Wind zu segeln. Zur besseren Manövrierfähigkeit kam zusätzliche Seetüchtigkeit, indem die schwere Rumpfkonstruktion der traditionellen Schiffe beibehalten wurde. Die Karavelle war der erste Schiffstyp, auf dem dann auch Nicht-Portugiesen ihre Entdeckungsfahrten machten. Diese Hochseeschiffe scheinen verfugte Planken gehabt zu haben, waren wohl leichter und schlanker als die meisten zeitgenössischen Segelschiffe. Sie hatten nur ein Deck, und manche waren sogar offen oder halb gedeckt. Sie trugen keine Aufbauten am Bug, sondern nur eine mäßig hohe Achterhütte und ein abgestumpftes Heck.
Die Karavellen des Prinzen Heinrich waren wahrscheinlich Zweimastschiffe mit Latein-Takelung. Später wurden jedoch dreimastige Karavellen üblich, die auch Rah-Takelung tragen konnten, wenn die Umstände es erforderten. Zeichnungen auf zeitgenössischen Karten zeigen eine Vielzahl von Zusammenstellungen, so zum Beispiel die vertraute Bark-Takelung mit Rahsegeln am Fock– und Großmast und lateinischem Besansegel. Gelegentlich sieht man auch vier Masten, von denen einer oder zwei Rahsegel tragen. Diese Unterschiede zeigen die Vielseitigkeit dieses Schifftyps. Sie passten die Ausstattung der Schiffe der gestellten Aufgabe an. Sie zogen das Lateinsegel vor, wenn sie Flussmündungen zu befahren hatten, beim gewöhnlichen Küstenhandel oder bei der Küstenerforschung. Aber für weite Fahrten durch Zonen mit gleichmäßigem Wind, etwa im Sommer nach den Kapverden oder den Kanaren bei Passatwinden, war das Rahsegel vorzuziehen. Dann wechselten sie die Rahen an ein oder zwei Masten, behielten jedoch stets die lateinischen Besansegel wegen der Stabilität und der Manövrierfähigkeit bei.
Portugal – und das heißt zuerst Prinz Heinrich – hat sich stets bemüht, das Konstruktionsgeheimnis der Karavelle aufs Strengste zu hüten, wie auch über die ganze Tätigkeit der Seefahrerakademie in Sagres eine politische Zensur herrschte. Die Kenntnisse waren so zukunftsweisend, dass man sie nicht an fremdländische Reeder oder Staaten weitergeben wollte. Die Geheimhaltungspolitik ging so weit, dass man bewusst die Karten fälschte. Gleichzeitig trieb man aktive Spionage. Geheimagenten besorgten gewünschte Informationen aus europäischen Hauptstädten, andere waren beauftragt, alle ausländischen Chroniken auf Brauchbares hin zu lesen.
Der Prinz lässt die Männer stehen und geht allein ein Stück. Er schaut Kindern zu, die im und am Wasser toben. Er selbst kann nicht schwimmen. Der große dunkle Mann blickt melancholisch dem kindlichen Spiel zu.
Es ist ein nur kurzer entspannter Moment. Schon überkommt es ihn wieder. Er denkt an seinen Kapitän dort draußen in der grauen Wasserwüste. Die Angst schnürt ihm die Brust zusammen. Er weiß auch, eigentlich müsste er glücklich sein. Konnte er doch immer tun, was ihm beliebte. Auch weiß er, dass sie ihn hinter seinem Rücken lange einen Träumer und Lügner genannt haben.
Er schüttelt die Beklemmung ab, geht zurück zu den Wartenden. Zusammen suchen sie das große Lager- und Handelshaus auf. Er erinnert sich, wie die ersten schwarzen Sklaven hier von seinen Schiffen kletterten. Vom ersten Moment an war ihm gar nicht wohl, Menschen, und er sah in den schwarzen Gefangenen richtige Menschen, einfach an den Meistbietenden zu verkaufen. Wieder einmal schlugen zwei Herzen in seiner Brust. Hier der Kaufmann, dort der strenge Christ. Schnell jedoch siegte der Kaufmann über den Christen.
Ein Lagerverwalter gesellt sich mit einer Kladde zu ihnen. Die gestapelte Handelsware, nämlich Tuche, Zucker, Glasperlen, war gerade inspiziert worden. Dafür tauschen die Kapitäne Gold, Elfenbein und Sklaven ein.
Auf der Rückfahrt regnet es, der Sturm hat zugenommen. Heinrich lässt sich davon nicht in seinen Gedanken stören. Er hat die Bilder von einer Konventsitzung in der Burg in Tomar, dem Sitz des Christusordens, vor Augen. Die Brüder machten ihm sein eisiges Schweigen, seine eisenharte Geheimhaltungspolitik, seine ungewöhnlichen, so sinnlos erscheinenden Pläne, seine Härte – verbunden mit religiösem Eifer – zum Vorwurf.
Plötzlich bricht ein Sonnenstrahl durch die treibenden Wolken, was er gern als ein Wink des Himmels nimmt, und seine Stimmung hellt sich auf.
Erst 1434, ein Jahr nach dem Tod von Johann I., nahm Gil Eanes das große Wagnis, es war sein zweiter Versuch, auf sich, am Kap Bojador, diesem grauseligen Ort der Seefahrer, vorbeizukommen. Vorher getraute sich niemand, das Vorgebirge zu umsegeln, weil es sich über 40 Meilen westlich hinausstreckt, es weite Sandbänke gibt, vor allem aber, weil von diesem Kap ein Riff hinausläuft, auf dem die Brandung so stark ist, dass es jedem wilde Schrecken einjagt. Und Eanes drang dieses Mal tatsächlich über den unpassierbaren Punkt hinaus, eine epochale Tat, die dem Kapitän einen zeitgenössischen Ruhm brachte. Er hatte nicht nur das gefährliche Kap umschifft, sondern war auch über den Aberglauben hinausgefahren.
1435 gelangten Eanes und Goncalves Baldaya nach Angra dos Ruivos.
1436 ankerte Baldaya am Rio de Oro. Hier knüpfte er erste Handelsbeziehungen zu den Mauren und Schwarzen an.
1442 sichtete Nuno Tristao Kap Blanco.
1443 gelangte Tristao bis zur Arguin-Bay. Dort errichtete er die erste Faktorei für den Tauschhandel mit Beduinen und Schwarzen: Stoffe, Pferde, Getreide gegen Gold und Elfenbein, bald auch Sklaven.
Nach der Rückkehr aus Lagos sucht Heinrich umgehend seinen Arbeitsraum auf. Im Gegensatz zu seinem kargen Privatraum scheint es der eines ganz anderen Mannes zu sein. Repräsentativ, das offizielle Arbeitszimmer eines mächtigen Mannes, das eines Königsohnes, dem Großmeister des Christusordens. Der Fußboden ist dick mit Teppichen aus Persien und Anatolien ausgelegt. Die Wandteppiche zeigen See– und Schiffsmotive.
Heinrich studiert im Stehen Papiere auf dem großen Tisch, der aus Madeiraholz gefertigt ist, macht mit seiner steilen Schrift eilige Notizen. Erst dann nimmt er Platz und unterzeichnet einige Schriftstücke. Als er nach dem Sekretär ruft, der sofort aus einem Nebenraum herbeieilt, beginnt er ihm zu diktieren.
Erst nach einer ganzen Weile geht er in den einfachen Raum, in dem er schon sein Frühstück eingenommen hat. Gatao serviert ihm auf dem rohen Holztisch das Essen. Es besteht aus einem gebratenen Hähnchenschenkel, zwei Scheiben dunklem Brot und einer Karaffe Wasser. Vor und nach dem Essen betet Heinrich minutenlang.
Während er langsam kaut, denkt er an das Gespräch mit Diogo Gomes, dem Entdecker der Kapverdischen Inseln, das er nachher führen wird.
Zum zweiten Mal an diesem Tag lässt er Entdeckungsfahrten an seinem Gedächtnis vorbeiziehen.
1444 segelte Lancarotes nach Arguin und zu den Tyder-Inseln. Im gleichen Jahr drang Alvaro Fernandez bis zum Kap dos Mastos vor, Nuno Tristao entdeckte die Mündung des Senegal und Dinis Diaz die Insel Palma.
1445 fand Dinis Diaz das Kap Verde.
1446 nahmen Lancarotes und Gomes Pires die Arguin-Gruppe in Besitz.
1447 drang Alvaro Fernandes fast bis zur Sierra Liona vor.
1449 ließ Heinrich auf Arguin eine Festung errichten, um den gewinnbringenden Handel zu sichern.
1455 entdeckten Diogo Gomes, Antonio de Noli und der Venezianer Cada Mosto die Kapverdischen Inseln. Der Anspruch Portugals auf die Inseln wurde nie angefochten. Auch im Jahr 1455 befuhr Cada Mosto den Senegal und kam bis zum Gambia.
1456 fand Diogo Gomes die Mündungen der Flüsse Geba und Casamance.
Wieder in seinem Arbeitszimmer, und während er auf Gomes wartet, der aus Lagos kommt, nimmt er eine schmale Mappe aus dem Regal, setzt sich in einen Stuhl nahe dem Fenster und beginnt zu lesen. Es ist eine Zusammenfassung der Aufzeichnungen des Kapitäns und Kaufmanns Cada Mosto.
Die Fischgründe vor der mauretanischen Küste waren an sich schon wertvoll genug, um die portugiesischen und andalusischen Fischer anzulocken, schrieb Cada Mosto.
Die mauretanische Küste ist sandig, öde und spärlich besiedelt, unwirtlich und dürr. Abgesehen von Fischen, Seehundfellen und Seehundtran, die entweder unmittelbar gewonnen oder den Küstenbewohnern abgekauft wurden, besaß das Land wenig. Jenseits dem 17. Grad südlicher Breite wird die Küstenlinie von verschiedenen großen Flüssen durchbrochen, vor allem dem Senegal und dem Gambia, die vom Futa-Dschalon-Gebirge herabkommen. Die Dörfer an den Mündungen wurden zu Handelsorten.
Cada Mosto schildert anschaulich das Land, seine Bewohner, Moslems in weißen Gewändern und nackte Wilde, seine Tiere, Elefanten, Flusspferde, Affen, seine Märkte, wo man außer den üblichen Handelswaren auch Straußeneier und Felle von Pavianen, Murmeltieren und Zibetkatzen erhielt, und seine baumumsäumten Buchten. Aber gerade vom Gambia nach Süden sind die seichten Gewässer voll von Inseln, Felsen und Sandbänken, und die ganze Strecke von den Bissagoinseln bis zum Kap St. Anna auf der Sherbroinsel ist jede Annäherung gefährlich. Etwa beim Kap der Drei Spitzen ändert sich dann die Küste, wird offen, sandig, mit gelegentlichen felsigen Landzungen und ist, abgesehen von starker Brandung, leicht zugänglich.
So weit Cada Mosto.
Der Sekretär kündigt den Kapitän an. Heinrich erhebt sich, legt die Mappe auf den Tisch, bleibt im Gegenlicht des Fensters stehen, eine hohe, schlanke, dunkle Gestalt.
Gomes tritt ein. Der Kapitän ist ein mittelgroßer Mann, kräftig, rundes von der Sonne gegerbtes Gesicht wie aus Leder, schwarzer mit Grau durchzogener Vollbart, dichtes langes Haar, in graue Wolle gekleidet, schwarze Stiefel bis an die Knie. Um die schnellen dunklen Augen viele kleine Falten. Beim Eintritt umgibt ihn seine starke Persönlichkeit wie eine Aura. Doch sobald er den dunklen Schatten vor dem Fenster stehen sieht, wirkt das Charisma des Prinzen noch stärker.
Heinrich wendet sich um, macht einen Schritt auf Gomes zu, heißt ihn willkommen.
Gomes geht zum Prinzen, kniet vor ihm, haucht ihm einen angedeuteten Kuss auf den dargebotenen Handrücken.
Heinrich hilft ihm auf und sie setzen sich ans Fenster, gegenüber.
Heinrich hat einen neuen Auftrag für den Kapitän. Aber zunächst wollen sie etwas plaudern, schlägt er vor.
Gomes schätzt diese besondere Ehre hoch ein.
Heinrich lässt sich nicht anmerken, dass ihn die dicke rote Nase des Seebären amüsiert. Er weiß, der Kapitän trinkt gern und reichlich Rotwein. Immer gehen mehrere Fässchen mit an Bord. Und der Wein hat auch der Besatzung noch nie geschadet.
Leider können sie bei diesem Wetter nicht im Freien sitzen. Er erinnert sich gern an die Besprechungen mit seinen Kapitänen, besonders mit Nuno Tristao, draußen auf der von Blüten umrankten Loggia der großen Terrasse. Wie jedes Mal sehen sie sich Seefahrtkarten, Reise- und Küstenbeschreibungen an und diskutieren darüber.
Am Vormittag habe er mit dem Hafenmeister gesprochen, sagt der Prinz, ihr Thema sei die Erdkrümmung und die Erde als Kugel gewesen. Was sage er dazu als Praktiker? Ist die Erde der Mittelpunkt des Himmels oder doch die Sonne, wie die maurischen Astronomen behaupten?
Der Prinz spricht an Fragen aus, was ihm durch den Kopf geht. Es gibt nicht viele Menschen in seiner Umgebung, denen er so viel Vertrauen entgegenbringt.
Haben wir Atlantis gefunden? Ist es die kanarische Inselgruppe, vielleicht Madeira? Wir haben die Schwarzen sprechen hören, doch sind wir der Antwort keinen Schritt weitergekommen, wie die Ursprache von Babel klang. Wir haben viele abergläubische Märchen ad absurdum geführt. Wir wissen, dass der Mond Ebbe und Flut bestimmt, und nicht ein riesiges Meerungeheuer. Der Magnetberg, der die Nägel aus den Planken der Schiffe zieht, das kochende Wasser am Kap Bojador, das Lebermeer mit seinen undurchdringlichen Wasserpflanzen. Alles Unsinn, wir wissen es, nicht wahr, Kapitän?
Ein ganz leichtes Lächeln umspielt den Mund des Prinzen. Der Kapitän hat zu jedem Satz stumm genickt oder mit knappen Worten dem Prinzen zugestimmt.
Nun zu Ihrem Auftrag, Kapitän.
Heinrich setzt Gomes seine Pläne auseinander, will ihn mit zwei Schiffen nach Süden schicken, über die bekannten Grenzen hinaus.
Er bittet den Kapitän zum Tisch, bespricht mit ihm neue Karten und alle Angaben zu seiner Reiseroute.
Der Auftrag sei eine hohe Ehre für ihn, sagt Gomes und meint es auch genauso.
Ohne jede Eile schreitet Prinz Heinrich über das Gelände der Seefahrerakademie, schaut alles so an, als sei es für ihn das letzte Mal.
Er betritt eines der flachen Gebäude, geht in dem großen Raum von Arbeitstisch zu Arbeitstisch, spricht mit den Männern, die über ihre Arbeit gebeugt sitzen oder auch stehen. Länger unterhält er sich mit einem Mathematiker, der sich mit Berechnungen der Meeresströmungen befasst.
Die neuen Zahlen von den Strömungen bei den Kanaren hat der Prinz an Gomez übergeben, der sie in der Praxis überprüfen soll, bevor er weiter nach Süden segelt.
Irgendwann konnte Heinrich die Erkenntnis nicht mehr umgehen, dass das Auffinden fremder Länder wenig wert ist, wenn sie nicht mit der genauen Erforschung, dem Sammeln von Wissen einhergeht. So wurden die Fahrten über das unbekannte Meer, hin zu neuen Küsten, auch zu einem Feldzug für die Wissenschaft. Als er zum ersten Mal von den seltsamen Strömungen zwischen den Kanarischen Inseln hörte, rüstete er eine Expedition aus, die das Phänomen untersuchen sollte. Die Fahrt wurde so die erste nautische Expedition überhaupt.
Von den Tischen der Fachleute wechselt Heinrich in den engen Raum seines Finanzverwalters. Es ist wahrlich kein erfreulicher Besuch, den er da vor sich hat, weiß er doch nur zu gut, was ihn erwartet. Seine Mittel sind erschöpft, die Schulden türmen sich haushoch. Die Fahrt von Gomes wird wohl vorläufig die letzte sein. Mehr als 50 Expeditionen hat er finanziert. Die zum Teil hohen Gewinne aus seinen klugen Anlagen haben andere eingesteckt, oft gerade diejenigen, die ihn am heftigsten als Schuldner angehen.
Der Bau und die Ausrüstung der Schiffe, der Unterhalt der Akademie verschlangen enorme Summen, persönliche des Prinzen, Mittel des Christusordens und des Landes Portugal waren auf die Dauer fast ruinös. Dabei verfügte Heinrich über gewaltige Einkünfte. Als Großmeister des Christusordens stand ihm ein beachtliches Vermögen zur Verfügung. Die Stadt Lagos zahlte Tribut, sein Herzogtum brachte ihm Steuern. Der Prinz besaß das Monopol für die Herstellung von Seife und Keramik und er kontrollierte den Thunfischfang im Algarve. Sein Bruder hatte ihm das Monopol für den Handel südlich von Kap Bajador zuerkannt, das Papst Nikolaus V. bestätigte. Die päpstlichen Bullen aus den Jahren 1454 und 1456 sprachen dem Prinzen und dem Christusorden das alleinige Recht auf diese Gebiete und die Pflicht zur Bekehrung der Eingeborenen zu. Zudem erhielt Heinrich ein Fünftel aller Waren, die aus Westafrika kamen.
Madeira und Teile der Kanaren wurden von den Portugiesen besiedelt. Es waren meist einfache Menschen, Bauern und Handwerker, die sich das erforderliche Kapital von adligen Geldgebern zu relativ günstigen Bedingungen liehen. Sie brachten den Geldgebern, auch dem Prinzen Heinrich, große Einkünfte und lockten so zur Suche nach weiterem Land.
Portugal besaß eine lange Meeresküste, gute Häfen, eine beträchtliche Fischer– und Seefahrerbevölkerung und einen Kaufmannsstand, der sich sogar weitgehend von feudaler Bevormundung befreit hatte. Die Kaufleute, gemeinsam mit den Seefahrern, waren erpicht darauf, vom Küstenhandel mit Wein, Fisch und Salz zu einträglicheren Spekulationen mit Gold, Gewürzen und Zucker überzugehen.
Die Forschungsreisen galten am Anfang keineswegs als populär, mehr als ein kostspieliges Steckenpferd eines sonst ernst zu nehmenden Prinzen. Tatsächlich hatten die Expeditionen 14 Jahre lang keinerlei sichtbaren Gewinn abgeworfen. Der Umschwung trat erst ein, als Heinrich die Inseln Madeira, Porto Santo, die Azoren besiedeln ließ. Was nicht selbstverständlich war, ließen doch Kastilien die Inseln der Kanaren unbeachtet liegen. Als Holz, Zucker, Wein, Wachs, Honig, Harz von Madeira kamen, wurde allmählich ernster genommen, was der Prinz so trieb. Und als Nuno Tristao die ersten Sklaven aus Afrika brachte, leuchtete es denen ein, die immer gern gute Geschäfte machten, dass es tatsächlich lohnte, die Welt zu entdecken.
Heinrich war nicht allein der Initiator von Entdeckungsfahrten entlang der Westküste von Afrika, er war auch der Schutzherr der nach Westen vorstoßenden Erforschung des Atlantiks. Portugal hatte vor seiner Nase eine Inselgruppe liegen, die Kastilien ganz beanspruchte, die Kanarischen oder Glücklichen Inseln, die bei Ptolemäus die westliche Ecke der unbewohnbaren Welt einnahmen. Portugal versuchte wiederholt, ebenfalls Anspruch auf diese Inseln zu erheben, jedoch ohne Erfolg. Inseln waren wichtig: Viele waren fruchtbar und sehr ertragreich, waren zudem Stützpunkte und Zwischenstationen bei Expeditionen.
Die Besiedlung der Kanaren, die in der Nordwest-Passat-Zone liegen, war eine umstrittene und verwickelte Geschichte. Im Gegensatz zu Madeira waren die Inseln von einer primitiven, aber zahlreichen und kriegerischen Bevölkerung, den Guanchen, bewohnt. Die kastilische Krone sicherte sich bereits 1344 beim Papst gewissermaßen einen Rechtsanspruch auf die Kanaren. Prinz Heinrich begann seine Bemühungen um die Inseln mit zwei Expeditionen in den Jahren 1425 und 1427 nach Gran Canaria, das damals noch nicht von Europäern besetzt war. Diese beiden Versuche wurden von den Einheimischen vereitelt. Also verschaffte er sich 1434 vom Papst eine Bulle, die noch nicht besetzten Inseln besiedeln zu dürfen; aber der König von Kastilien protestierte, und die Bulle wurde widerrufen. Erst 1448 erwarb Heinrich von der führenden Ansiedlerfamilie Rechte auf Lanzarote und schickte eine Expedition aus, der die Besetzung der Insel gelang. Es folgte eine unruhige Periode wechselnder, inoffizieller Lokalkriege. Während einer verhältnismäßig friedlichen Zeit besuchte Cada Mosto die Kanaren, lief sowohl spanische wie portugiesische Inseln an. Sein Bericht weist nach, dass die Haupterzeugnisse der Inseln Zucker, Wein und Weizen waren.
Irgendwann war Heinrich gezwungen, Partner in seine Unternehmungen zu holen und Erfahrungen anderer zu nutzen, so die der Italiener. Aloisio Cada Mosto, ein Kaufmann aus Venedig, der zufällig zu Heinrich gekommen war, wurde einer seiner wichtigsten Entdecker und als Unternehmer einer seiner Gläubiger. Cada Mosto war bereit, Schiffe auf seine Kosten auszurüsten und dennoch in Heinrichs Namen zu fahren. Er kam bis zu den Kapverdischen Inseln. Und er hat über seine Reisen genau Buch geführt. Was er aufschrieb, gehört zu den besten ethnographischen Berichten.
Die systematische Erforschung der Azoren hatte zwischen 1430 und 1440 begonnen. Bis dahin waren sieben Inseln entdeckt. Die Besiedlung nahm beständig zu, und auf Anordnung des Prinzen wurde eine große Menge von Schafen dorthin gebracht.
Heinrich, der nicht mehr alle seine Vorhaben finanziell stemmen konnte, vergab nun die Rechte an den Inseln der Azoren an zahlungskräftige Investoren, und das waren hauptsächlich Holländer. Obwohl sie portugiesisch waren, wurde die Inselgruppe lange als »flämische Inseln« bezeichnet. Ohne diese modern anmutenden Entscheidungen wäre der Prinz trotz gewaltigen Vermögens in absehbarer Zeit am Ende seiner Mittel gewesen, hätte alle Segel streichen müssen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Natürlich wusste Heinrich genau um das Risiko der fremden Teilhaber. Darum sah er immer darauf, alle Fäden in der Hand zu behalten, sein Entscheidungsrecht nicht abzutreten.
Mit gezielten Informationen und auch geschickt ausgestreuten Gerüchten über noch unentdeckte Inseln und Länder draußen in den Weiten des Atlantiks hält der findige Prinz das Interesse der Spekulanten wach.
Nach einem einfachen Abendessen: Käse, Obst und Wasser, geht Heinrich in seinen Arbeitsraum. Aus dem Regal sucht er einige Mappen heraus, die er auf dem großen Tisch ausbreitet.
Der Prinz öffnet die erste Mappe: Es sind nur wenige beschriebene Blätter, kurze Aufzeichnungen aus den Jahren 1436 bis 1441, als er sich in Folge von Tanger mit inneren Angelegenheiten von Portugal befassen musste. Damals reorganisierte er die Wirtschaft und brachte sie wieder in Schwung. Er reiste viel in dieser Zeit, setzte, ohne zu zögern, die geballte Macht des Christusordens ein.
Ein kurzes Leuchten fliegt über sein strenges Gesicht. Er steht auf, geht zum Kamin und wirft die Blätter hinein.
Nach und nach schaut er die anderen Mappen mit seinen persönlichen Aufzeichnungen durch. Auch diese Blätter werden zu Futter für das Feuer.
Diogo Gomes ließ in seinen Schiffstagebüchern keinen Zweifel aufkommen: Der Prinz habe die Länder finden wollen, aus denen das Gold stammte, das auf den Wüstenrouten nach Marokko kam, um mit ihnen Handel zu treiben. Ganz nach dem Motto: Diene Gott und werde reich.
Ein anderer schrieb: Der Prinz denkt nicht nur daran, Sklavenmärkte, Gewürzinseln und neue Handelswege zu finden, ihm geht es auch um die Erweiterung des Weltbildes. Die Kapitäne brachten Kunde von den tiefschwarzen Völkern. Nuno Tristao umsegelte Kap Blanco und entdeckte das Ende der afrikanischen Sandwüste. Heinrich schickte seine Seehelden in die Weiten des West- und Südmeeres.
Zurara, ein Chronist zu Lebzeiten Heinrichs und ein übler Schmeichler, notierte die Beweggründe, die Heinrich zur Erforschung des Unbekannten veranlassten. An erster Stelle nennt er den Wunsch, wissen zu wollen, was hinter den Glücklichen Inseln und dem Kap Bojador liegt. Von einer wissenschaftlichen Wissbegier schrieb der Chronist nichts. Heinrich dachte allein in Soll und Haben. Ein weiterer Beweggrund laut Zurara war des Prinzen Hoffnung, mit christlichen Völkern jenseits der Maurengebiete in Beziehungen treten zu können. Ein Wunsch, der nie erfüllt wurde.
Eine andere Mappe enthält die Aufzeichnungen seines letzten Kampfes gegen die Mauren. Sein Neffe Afonso war König. Byzanz war gefallen. Der Papst hatte zum Heiligen Krieg aufgerufen. Afonso wollte sich als christlicher Herrscher auszeichnen. Heinrich führte den Feldzug gegen Alcacer-Ceguer, das sie 1458 eroberten. So vermochte der Prinz seinen Misserfolg gegen Tanger ausgleichen. Aber der Ruhm fiel allein Afonso zu, der den Beinamen »Der Afrikaner« erhielt.
In der letzten Mappe liegen seine persönlichsten Schriften gesammelt. Ideen, Vorstellungen, Vorschläge zur Politik von Portugal. Verhandlungsstrategien und Anweisungen, auf welche Art sie durchzusetzen wären. Schachzüge. Geheimdiplomatie.
An diesem schon fortgeschrittenen Abend wird Heinrich, der Königssohn, alles dem Feuer übergeben, von dem er annehmen kann, dass es seinem Ansehen schaden könne. Auch wenn es nach seinem Tod heißen wird, er habe keine Schriften hinterlassen. Das erscheint ihm besser, als der Welt zu sagen, was er tatsächlich dachte und plante.
Mit einem kleinen Lächeln auf den schmalen Lippen steht er mitten im Raum, ein letzter Blick.
In der kleinen Kapelle ist es dunkel. Nur zwei Kerzen brennen ruhig auf dem Altar.
Heinrich kniet auf dem Teppich vor dem Altar. Er betet nicht, er gibt seinen Gedanken Raum. Er weiß, dass er Großes für sein Land vollbracht, Portugal vorangebracht hat. Er sieht das Gesicht des alten Juden Jakob in der Dunkelheit vor sich. Heinrich fühlt Dankbarkeit für dessen Worte, die ihm den richtigen Weg wiesen, die ihm seinen Aberglauben nahmen. Was auch immer er in Sagres und Lagos unternahm, immer fragte er Jakob in unruhigen Nachtstunden, ob richtig sei, was er tat. So hatte er damals, nach den ersten Fahrten gen Süden etwas getan, was er ohne Jakob nie gemacht hätte. Gil Eanes hatte ihm gesagt, allein würden sie nie schaffen, was sie sich vorgenommen hatten. Als Heinrich zweifelte, hatte er das lächelnde Gesicht des weisen Juden vor sich gesehen. So wie jetzt.
Unter großer Geheimhaltung zog Heinrich Astronomen, Mathematiker, Kartographen, Schiffsbauer, Nautiker, Steuerleute aus vielen Ländern zu sich auf das Kap Sao Vincente. Seine erste Aufgabe für die Männer war das Sammeln von allem bekannten Wissen ihres Fachgebietes.
Auch der berühmte Kartograph und Instrumentenbauer Jaffuda aus Mallorca sah es für sich als Ehre an, für den Prinzen von Portugal forschen zu dürfen. Ebenso gingen Italiener, Mohammedaner, Juden gemeinsam ihren Studien nach. Die Schiffsbauer kamen nicht nur vom Douro, sondern auch von der Loire und sogar vom fernen Rhein. Mathematiker und Kosmographen arbeiteten an Deklinationstabellen, um danach den Breitengrad nach der Höhe der Sonne zu bestimmen. Die Instrumente wurden laufend verbessert. Schon allein diese internationalen, fachübergreifenden Arbeiten kündeten eine neue Zeit an.