Herz aus Schatten - Laura Kneidl - E-Book

Herz aus Schatten E-Book

Laura Kneidl

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Beschreibung

Gefangen in der Dunkelheit befreist du aus der Finsternis mein Herz aus Schatten

Kayla hat ihre Angst bezwungen! Sie hat einen Schattenwolf gezähmt, der nun an sie gebunden ist. Als Bändigerin ist es ihre Aufgabe, die Stadt Praha mithilfe ihres Monsters gegen die dunklen Kreaturen zu verteidigen, die jenseits der Stadtmauer in den Wäldern lauern und nach dem Blut der letzten verbliebenen Menschen gieren. Doch dann geschieht das Unfassbare: Ihr Schattenwolf verwandelt sich in einen jungen Mann! Einen attraktiven, eindeutig menschlichen Mann, der sich nicht an seine Vergangenheit erinnern kann - und den die Dunkelheit immer wieder einzuholen droht ...

"Herz aus Schatten erzählt eine originelle Geschichte voller Magie, Finsternis, Spannung und Gefühlen, die einen vollkommen in ihren Bann zieht." MARIE GRAßHOFF

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Seitenzahl: 570

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Teil 2

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

Teil 3

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Laura Kneidl bei LYX

Impressum

LAURA KNEIDL

Herz aus Schatten

Roman

ZU DIESEM BUCH

Kaylas Leben ist vorbestimmt: In eine Familie von Bändigern hineingeboren, liegt es in ihrer Verantwortung, Praha gegen die grausamen Monster zu verteidigen, die in den Wäldern jenseits der Stadtmauer lauern. Allerdings hadert Kayla schon lange mit ihrem Schicksal. Obwohl sie seit ihrer Kindheit an einer Akademie für ihre Aufgaben ausgebildet wird, fühlt sie sich mit jedem Tag weniger bereit, diese anzutreten. Was, wenn sie es nicht schafft, ein Monster zu zähmen? Was, wenn sie die Kontrolle verliert und die Bewohner der Stadt in noch größere Gefahr bringt? Doch sie überwindet ihre Angst, und mit ihren Fähigkeiten gelingt es ihr, einen Schattenwolf an sich zu binden! Eigentlich soll dieser ihr nur beim Kampf gegen andere dunkle Kreaturen helfen – stattdessen stellt er ihr Weltbild völlig auf den Kopf: Denn über Nacht verwandelt sich das Monster plötzlich in einen Mann! Einen sehr attraktiven und eindeutig menschlichen jungen Mann, der sich nicht an seine Vergangenheit erinnern kann – und der immer wieder mit der Dunkelheit kämpfen muss, die ihn einzunehmen droht und die auch Kayla zum Verhängnis werden könnte …

Liebe Leser:innen,

bitte beachtet, dass Herz aus Schatten Elemente enthält, die triggern können. Diese sind:

Häusliche Gewalt, Selbstverletzung und Suizid

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Laura und euer LYX-Verlag

In Gedenken an Chester Bennington, der sich wenige Tage bevor ich dieses Buch beendet habe, das Leben genommen hat. Und der mich und viele andere mit seiner Stimme und seinen Songs durch die Dunkelheit geleitet hat.

PLAYLIST

Linkin Park – Crawling

Royal Blood – Blood Hands

The Silent Comedy – Bartholomew

Hozier – Arsonist’s Lullabye

Dorothy – Gun In My Hand

Johnny Cash – God’s Gonna Cut You Down

Woodkid – Run Boy Run

Royal Blood – Little Monster

Black Mountain – Don’t Run Our Hearts Around

Ruelle – Game Of Survival

Shinedown – Cry For Help

Florence + The Machine – Delilah

The Pretty Reckless – Heaven Knows

Highly Suspect – My Name Is Human

Goodbye June – Oh No

Hozier – In the Woods Somewhere

Casper – Lang Lebe Der Tod

All them Witches – When God Comes Back

Jack White – Lazaretto

IZII feat. The Powder Room – Birds

Blues Saraceno – Evil Ways (Justice Mix)

Bryce Fox – Horns

Molly Kate Kestner – Good Die Young

Welshly Arms – Need You Tonight

Linkin Park – One More Light

TEIL 1

Gefangen in der Dunkelheit

1. KAPITEL

Ich schmeckte Blut. Mit einem stummen Fluch nahm ich die Hand von meinem Mund und betrachtete den Nagel, den ich bis zum Fleisch abgekaut hatte. Eine Blutperle bildete sich auf meiner Haut, ehe sie als Rinnsal meinen Daumen hinablief.

»Verdammt«, murmelte ich und sah mich hinter der Ladentheke nach etwas um, mit dem ich die Blutung stoppen konnte. In einer Schublade unter der Kasse fand ich einen ausgefransten Stofffetzen. Ich wickelte ihn um die Wunde und ballte meine Hand zur Faust, den Daumen eingeklemmt. Eigentlich kaute ich nicht an den Nägeln, aber in letzter Zeit wusste ich mir nicht anders zu helfen. Ich musste etwas tun. Irgendetwas, um mit dieser Unruhe in mir klarzukommen. Außerdem hatte der pochende Schmerz in meinem Finger auch etwas Gutes. Er erinnerte mich daran, dass ich am Leben war.

Malsehen,wielangenoch, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf und mein Blick zuckte nervös zu der Wanduhr, die über dem Eingang des Kráms hing, seit Frída den Laden vor gut zehn Jahren eröffnet hatte. Die Sonne würde in einer Stunde untergehen und ebenso wie das Tageslicht schwand allmählich auch meine Hoffnung. Doch was hatte ich erwartet? Hatte ich ernsthaft geglaubt, jemand würde mich von der Pflicht befreien, die mir in die Wiege gelegt worden war? Ich war als Bändigerin geboren worden und würde als Bändigerin sterben. Wenn ich nicht aufpasste, vielleicht schon heute oder morgen, wenn ich Glück hatte, erst in dreißig oder vierzig Jahren. Aber eines war auf jeden Fall gewiss: dass die wenigsten Bändiger ein langes und erfülltes Leben führten. Dafür sorgten die Monster, die jenseits der Stadtmauer von Praha lauerten.

Ich atmete tief ein, bis meine Brust spannte, verdrängte all meine Sorgen und Ängste, die mit der heutigen Nacht zusammenhingen, und beschloss mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich konnte ohnehin nichts mehr an meiner Situation ändern.

Auf der Suche nach Ablenkung sah ich mich im Krám um. Der Laden meiner Stiefmutter war mit den Jahren ein zweites Zuhause für mich geworden. Die niedrige Decke und die steinernen Wände waren mir ebenso vertraut wie die unzähligen Regale, die mit den Überresten von Monstern bestückt waren. Flaschen gefüllt mit schwarzem Blut reihten sich auf den Brettern aneinander, daneben standen Körbe mit Krallen von Knochenträgern und Stacheln von Blutgängern. Traumfänger, die aus den Federn von Dunkelwebern geflochten waren und als Talismane verkauft wurden, baumelten von der Decke und wiegten sich sanft im Wind, der sich durch die Ritzen im Mauerwerk drückte. Und nirgendwo lag auch nur ein einziges Staubkorn, dafür hatte ich in den vergangenen Stunden gesorgt. Alles stand in Reih und Glied am richtigen Platz. Ich hatte sogar die verblassten Etiketten der Hovno-Dosen nachgezeichnet, die seit jeher im hintersten Teil des Ladens lagerten. Angeblich besaßen sie eine heilende Wirkung und verlangsamten den Alterungsprozess, aber ehrlich gesagt sah ich mit vierzig lieber aus wie siebzig, bevor ich mir Schattenläufer-Exkremente ins Gesicht schmierte.

Das verträumte Klimpern des Windspiels neben der Eingangstür erklang und ein Windstoß wehte mir das blonde Haar ins Gesicht. »Ahoj, Kayla«, begrüßte mich Marek und kam durch den Laden auf mich zugeschlendert. Seine Wangen waren gerötet von der Arbeit in der Waffenschmiede, die zum Laden gehörte und von meiner Mutter geführt wurde. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und liefen ihm vereinzelt das Gesicht hinab, über den Hals, bis in den Kragen seines Hemdes, das mit Ruß und Asche verschmiert war.

»Harter Tag?«

Ich löste den Stofffetzen, den ich noch immer um meinen Daumen gewickelt hatte, von meinem Finger und warf ihn Marek zu. Die aufgekaute Stelle an meinem Nagel hatte inzwischen aufgehört zu bluten.

Geschickt fing Marek das Tuch. Dabei blitzten die silbernen Ringe an seinen Fingern im Schein der Lampe auf. Er betrachtete den roten Fleck auf dem Stoff skeptisch, bevor er seine Finger daran abwischte. »Du bist unverbesserlich«, erklärte er, ohne auf meine Frage zu antworten.

»Ich bin nervös.«

»Dafür gibt es keinen Grund.«

Ich wedelte mit der Hand vielsagend in Richtung des Regals mit den Zähnen und Klauen. »Du machst dir also keine Sorgen darüber, dass mir irgendein Monster heute Nacht das Fleisch von den Knochen nagen könnte?«, fragte ich nur halb im Scherz, denn der Gedanke an die Kreaturen ließ mich erschaudern. Mir wurde einmal mehr bewusst, dass ich schon bald das erste Mal in meinem Leben die Sicherheit der Stadt verlassen würde, um eines dieser Monster für mich zu beanspruchen. Ginge es nach mir, würde ich mich ihnen auf hundert Fuß nicht nähern, doch dank der Gene, die mir mein Vater vererbt hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Bändigerin zu werden, die ich nicht sein wollte.

»Nein«, versicherte mir Marek mit fester Stimme und einem Lächeln. Noch vor zwei Jahren war dieses schüchtern und unbeholfen gewesen, aber mittlerweile wirkte es selbstsicher und entschlossen. Es war nichts mehr von dem dürren Jungen mit den zotteligen Haaren aus dem Waisenhaus zu erkennen, den meine Mutter und Frída vor sechs Jahren aufgenommen hatten. Heute überragte mich Marek um einen halben Kopf, hatte Muskeln von der harten Arbeit in der Waffenschmiede, und das Braun seiner Haare war nur noch zu erkennen, wenn er sich den Schädel nicht gerade frisch rasiert hatte. »Jakub und Benedict werden nicht zulassen, dass dir etwas zustößt.«

Bei Miloš haben sie es zugelassen.

Ich sprach den Gedanken nicht aus. Wir hatten diese Diskussion schon in Hunderten von Varianten geführt und kamen immer nur zu der Einigung, uns nicht einig zu sein.

Marek war mutig.

Ich nicht.

Er wollte etwas in dieser Stadt verändern.

Ich nicht.

Er hatte Vertrauen in meine Fähigkeiten.

Ich nicht.

Egal, wie oft er mir das sagte, ich schaffte es nicht, das Selbstbewusstsein heraufzubeschwören, das anscheinend all die anderen Bändiger verspürten. Sie freuten sich auf heute Nacht und machten sich keine Sorgen darum, was passieren könnte, würden sie die Kontrolle über ihr zukünftiges Monster verlieren. Ich hingegen konnte an nichts anderes denken. Und noch mehr als meinen eigenen Tod fürchtete ich, Unschuldige zu verletzen, wenn ich nicht stark genug war, um das Ungeheuer in Schach zu halten, das ich in die Stadt bringen würde.

»Was machst du eigentlich hier? Brauchst du was?«, fragte ich Marek, um das Thema zu wechseln.

»Darf ich meine beste Freundin etwa nicht einfach so besuchen?«

»Nein«, antwortete ich schlicht, aber mein Tonfall war neckisch.

»Pah! Ich hoffe, ein Blutgänger frisst dich auf.«

»Dir ist schon klar, dass du dann hier aushelfen musst?« Er hasste es, im Krám zu arbeiten. Man konnte nichts tun, als auf Kundschaft zu warten oder zu putzen.

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Okay, dann vielleicht doch nicht.«

»Das dachte ich mir.« Ich grinste ihn an. »Aber jetzt sag schon, brauchst du etwas?«

Marek schüttelte den Kopf, wobei die zahlreichen Ringe in seinen Ohren gegeneinanderstießen und leise klirrten. »Ich wollte dir für heute Nacht nur viel Erfolg wünschen«, erklärte er und trat noch etwas näher an die Theke heran. Er roch nach Rauch und Metall. »Mach dir nicht so viele Gedanken, bleib locker und vertrau deinem Instinkt.«

Ein Geräusch, das irgendwo zwischen einem Lachen und Schnauben lag, entfuhr meinen Lippen. Mich von meinen Instinkten führen zu lassen war das Letzte, was ich wollte. Die Monster ließen sich von ihrer animalischen Seite treiben, da wollte zumindest ich bei Verstand bleiben. »Ich verzichte.«

»Wenn du meinst. Aber wenn du nicht aufhörst, dir ständig über alles den Kopf zu zerbrechen, wirst du noch frühzeitig runzelig werden.« Er streckte mir seinen Zeigefinger entgegen und berührte die Falte zwischen meinen Augenbrauen, die es sich dort in den letzten Monaten gemütlich gemacht hatte.

»Lass das.« Ich schlug seine Hand weg.

Marek seufzte. »Ich will damit nur sagen: Was auch immer heute passiert, du schaffst das. Du bist dazu geboren worden, eine Bändigerin zu sein. Es liegt dir im Blut. Denk an all das, was du in Zukunft leisten kannst! Es wird Zeit, dass jemand wie du das System aufmischt, damit die Dinge in dieser Stadt endlich wieder anders laufen.«

Die Hoffnung, die in Mareks Worten mitschwang, sollte mich ermutigen. Stattdessen fühlte ich mich wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln – unfähig zu tun, wofür ich geboren war, sosehr ich es auch versuchte. Der Bruch war da. Unheilbar. Meine Knochen von der Erinnerung an Miloš zertrümmert.

Das erneute Klimpern des Windspiels rettete mich davor, etwas erwidern zu müssen. Ich erwartete meine Mutter, da sie die Schmiede für heute geschlossen hatte. Stattdessen entdeckte ich Alexandr, einen Bändiger aus meinem Jahrgang und meinen einzigen Freund an der Akademie. »Ahoj!«, rief Alexandr heiter und lauter, als es in unserem kleinen Krám nötig gewesen wäre.

»Hey.« Ich lächelte ihn an. »Du bist aber früh dran.«

»Ich habe es zu Hause nicht länger ausgehalten. Du kennst meine Eltern, sie hassen alles, was mit den Bändigern zu tun hat. Tage wie heute führen ihnen nur vor Augen, dass meine Mutter damals Scheiße gebaut hat«, sagte Alexandr betont gleichgültig und blieb neben dem Regal mit den Blutflaschen stehen. »Und wie läuft’s bei dir?«

»Dasselbe wie immer. Rumstehen. Auf Kundschaft warten. Regale putzen.«

»Also ein ruhiger Tag.«

»Das kannst du laut sagen. Heute Morgen waren ein paar Leute da, um Traumfänger zu kaufen, aber das war’s auch schon.« Meistens genoss ich es, allein im Krám zu sein. Ich konnte meinen Gedanken nachhängen und Ideen für die Waffen meine Mutter austüfteln, aber heute wäre ich ausnahmsweise dankbar für etwas Ablenkung gewesen.

»Und wie läuft es in der Schmiede?«, fragte Alexandr an Marek gewandt. Er lief von den Blutflaschen weiter zu den Dosen mit den zermahlenen Knochen und schüttelte eine. Das weiße Pulver hätte man genauso gut für normales Mehl halten können.

»Ich kann mich nicht beklagen.«

»Woran arbeitest du gerade?«, fragte Alexandr leichthin und stellte die Dose zurück, als hätte er sich nur nach dem Wetter erkundigt – dabei wusste er genau, dass es Marek und mir nicht erlaubt war, über unfertige Erfindungen zu reden. Unsere Mutter lebte immer in der Angst, jemand könnte ihre Ideen klauen oder die Entwicklung neuer Waffen vereiteln.

»Darüber darf ich nicht reden«, sagte Marek.

»Ach, komm schon. Nur ein Tipp«, flehte er und trat neben Marek an die Theke. Im Vergleich zu ihm wirkte Alexandr noch schmächtiger. Sein Körper erinnerte an einen kahlen, getrockneten Ast – lang und dürr. Sein braunes Haar trug er schulterlang, aber die meiste Zeit zu einem Knoten gebunden, und die vollen Lippen gepaart mit seinen sanften Gesichtszügen ließen ihn jünger als siebzehn erscheinen. »Bitte.«

Mareks Blick wanderte zu mir. Jedes Mal, wenn die beiden sich trafen, stellte Alexandr ihm diese Frage. Ob aus reiner Neugierde oder nur, um ihn zu nerven, war inzwischen schwer zu sagen; vermutlich eine Mischung aus beidem. Marek stieß ein Seufzen aus. »Okay, einen Hinweis geb ich dir. Aber du darfst mit niemandem darüber sprechen«, sagte er und klang ernst.

Alexandrs Gesicht hellte sich auf. »Versprochen.«

Marek beugte sich ganz dicht an Alexandrs Ohr. »Wir arbeiten an Waffen.« Er legte eine Kunstpause ein. »Um Monster zu töten.«

Erwartungsvoll sah Alexandr ihn an und wartete darauf, dass Marek weitersprach. Für einige Sekunden behielt dieser eine völlig ausdruckslose Miene bei, bis schließlich ein Lächeln in seinen Mundwinkeln zu zucken begann. Da dämmerte es Alexandr, dass Marek ihn an der Nase herumführte und ihm nicht wirklich etwas verraten würde. Er wich zurück und verpasste Marek einen Stoß gegen die Schulter. »Du bist so ein Idiot.«

Er lachte. »Komm schon, hast du wirklich gedacht, ich würde dir etwas erzählen? Zuzane würde mich umbringen, wenn ich euch Bändigern irgendetwas stecke.«

Alexandr stieß ein Schnauben aus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kayla ist eine Bändigerin und sie weiß es.« Er sah mich an und etwas wie Verunsicherung blitzte in seinen Augen auf. »Oder?«

Ja. Ich schüttelte den Kopf, denn ich wollte nicht über das reden, was in der Waffenschmiede vor sich ging. Mein schlechtes Gewissen war schon groß genug.

Unruhig sah ich zur Wanduhr. »Glaubst du, Frída wird böse, wenn wir heute früher schließen?«, fragte ich Marek. Eigentlich sollte der Krám noch eine halbe Stunde geöffnet sein, aber nun war Alexandr schon da. Und ich vermutete, dass ohnehin keine Kundschaft mehr kommen würde. Die meisten Einwohner Prahas verbarrikadierten sich kurz vor Sonnenuntergang bereits in ihren Häusern und die Bändiger waren dabei, sich auf die Nacht vorzubereiten.

»Bestimmt nicht. Aber wenn du willst, kann ich die Stellung halten.«

Überrascht schossen meine Augenbrauen in die Höhe. »Das würdest du für mich tun?«

Er lächelte. »Ausnahmsweise.«

»Danke.« Ich wollte ihn schon umarmen, doch der Anblick seines verschwitzten Hemdes ließ mich innehalten. »Gebt mir fünf Minuten, um mich umzuziehen«, sagte ich zu Alexandr, drehte mich um und verschwand hinter dem Vorhang, der hinter der Ladentheke gespannt war. Auf der anderen Seite lag versteckt eine Treppe, die in den ersten Stock und die Wohnung von Frída und meiner Mutter führte. Sie war gemütlich eingerichtet, mit vielen Kerzen und Fellen, aber es lagen natürlich auch einige Skurrilitäten aus dem Krám und der Waffenschmiede herum.

Ich lief in das Zimmer, das Frída und meine Mutter für mich hergerichtet hatten. Obwohl ich seit Jahren in der Akademie lebte, genoss ich es hin und wieder, in die familiäre Umgebung zurückzukehren. Am Morgen hatte ich mir meine Livrej auf dem Bett bereitgelegt. Ich zog meine Kleidung aus und schlüpfte in die schwarze Uniform der Bändiger. Sie war einfach geschnitten, mit einem hohen Kragen und einer Reihe silberner Knöpfe, die schräg über die Brust verliefen. An der Hose war ein silberner Gürtel mit Schlaufen befestigt, um Waffen daran anzubringen.

Ich strich den Stoff glatt und betrachtete mich im Spiegel, der im Kleiderschrank eingelassen war. Obwohl ich die Livrej schon zu einigen offiziellen Anlässen getragen hatte, kam ich mir darin verkleidet vor. Ich fragte mich, ob man mir dieses Gefühl anmerkte. Vermutlich nicht, denn Benedict konnte ich mir ohne seine Livrej kaum mehr vorstellen, und ich war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten mit meinem spitzen Kinn, der schmalen Nase und den rabenschwarzen Augen, die mich und alle anderen Bändiger kennzeichneten.

Mehrere Minuten starrte ich mein Spiegelbild an, ohne wirklich etwas zu sehen, unfähig, mich zu bewegen. Meine Füße waren wie angewurzelt. Sobald ich die Treppe hinunterlief und mit Alexandr den Krám verließ, gab es für mich kein Zurück mehr. Wir würden die Stadt bis zu der Mauer durchqueren, hinein in die Dunkelheit und zu den Monstern, die meinen Bruder getötet hatten.

2. KAPITEL

Praha war eine Geisterstadt – die Straßen durch die Bedrohung der hereinbrechenden Nacht leer gefegt. Seit ich denken konnte, war es den Nicht-Bändigern untersagt, nach Sonnenuntergang im Freien zu sein, da die Nacht den Monstern gehörte. Zwar wurde die Stadt von der Mauer geschützt, die ringsherum errichtet worden war, aber sie bot keinen vollständigen Schutz, vor allem nicht vor den Dunkelwebern. Diese waren kleiner als die anderen Monster, aber von ihrer Größe durfte man sich nicht täuschen lassen. Sie waren alles andere als harmlos mit ihren spitzen Schnäbeln, den scharfen Krallen und den knochigen Flügeln, mit denen sie die Mauer mühelos überwinden konnten.

Immer wieder war Praha in den vergangenen Jahren von ganzen Schwärmen aus Dunkelwebern angegriffen worden und es war vor allem der Ausgangssperre zu verdanken, dass es dabei nur wenige Tote in der Zivilbevölkerung gegeben hatte – bei Bändigern sah das anders aus.

Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Himmel, der sich im Schein der untergehenden Sonne langsam verfärbte. Keine Dunkelweber waren am Horizont zu sehen, nur Krähen, die auf der Suche nach einem Versteck für die Nacht träge über der Stadt kreisten. Die Tiere waren nicht dumm. Im Gegensatz zu uns.

Mir wurde bewusst, dass ich hinter Alexandr zurückgefallen war, und ich beschleunigte meine Schritte. Der Kies knirschte unter meinen Stiefeln und ich wünschte, ich könnte einfach in einer der schmalen Gassen untertauchen, bis die Nacht vorüber war.

»Welches Monster hättest du am liebsten?«, fragte Alexandr. Er zog das Gummi aus seinen Haaren, um seinen Zopf neu zu binden, da sich einige Strähnen im pfeifenden Wind gelöst hatten.

Keines. Ich biss mir auf die Unterlippe. Mit Marek über meine Zweifel zu reden war eine Sache, er war kein Bändiger. Alexandr wollte ich meine Sorgen aber lieber nicht anvertrauen. Auch wenn ich vermutete, dass er meine Einstellung aufgrund meiner schlechten Leistungen in der Akademie bereits erahnte.

Auf mein Schweigen hin zog Alexandr erwartungsvoll die Augenbrauen hoch. Die wenigsten Bändiger zögerten bei einer Frage wie dieser. Seit Jahren lernten wir alles über die Monster und ihre Eigenarten, da war es nur natürlich, eine Vorliebe zu entwickeln. Aber wir konnten nicht einfach zwischen Schattenläufern, Knochenträgern, Blutgängern und Dunkelwebern wählen wie zwischen den Hemden in unserem Kleiderschrank. Denn entgegen dem Glauben vieler Bändiger waren Monster keine gefühllosen Wesen – sie hatten Persönlichkeit und Charakter, und nicht jedes Monster passte zu jedem Bändiger.

Es war wie mit den Menschen, denen wir in unserem Leben begegneten. Manche waren dazu bestimmt, für immer zu bleiben, andere sollten nur flüchtige Bekanntschaften sein. Bei ihnen sprang der Funke einfach nicht über und niemand konnte mit Gewissheit sagen, warum das so war. Meine letzte Hoffnung, heute ohne ein Monster davonzukommen, bestand darin, dass sie für mich alle nur flüchtige Bekanntschaften waren, die nicht zu mir passten. Aber so viel Glück würde ich vermutlich nicht haben. Außerdem würde es die Sache nur aufschieben, nicht verhindern.

»Ich glaube, mir wäre ein Dunkelweber am liebsten«, log ich schließlich, zumal die Wahrscheinlichkeit, einen solchen zu bekommen, ziemlich groß war, denn Dunkelweber waren die verbreitetsten Monster. Einige besaßen die Fähigkeit, Illusionen zu erschaffen und Menschen Dinge sehen zu lassen, die nicht wirklich da waren. Selbst ich musste zugeben, dass dies ein außergewöhnlich spannende Gabe war.

»Und was wäre dir am liebsten?«, fragte ich Alexandr, bevor er auf meine Antwort reagieren konnte. Wir liefen über eine der zahlreichen Brücken, welche die beiden Stadtteile miteinander verbanden. Das Wasser rauschte unter unseren Füßen hinweg und brachte seinen ganz eigenen Duft mit sich. Den Geruch nach Bäumen, Wäldern und der Freiheit jenseits der Stadtmauern.

Ein feines Grinsen erschien auf seinen Lippen. »Ein Irrlicht.«

Ich stieß ein Schnauben aus.

»Was denn? Es ist nicht unmöglich.«

»Behauptest du.«

»Es gibt sie«, sagte Alexandr eindringlich und schlug den Weg in die Hauptstraße ein, die das Tor im Westen der Stadt mit dem Stützpunkt im Osten verband. »Sie sind vielleicht selten, aber es gibt sie. Erst gestern hat einer der Holzfäller erzählt, dass er eines zwischen den Bäumen gesehen hat.«

»Diese Männer erzählen viel, wenn der Tag lang ist.«

»Du glaubst, er lügt?«

»Ich sage nur, dass es im Wald dunkel ist und man nicht immer alles klar erkennen kann.«

»Aber du würdest nicht an ihm zweifeln, wenn er behaupten würde, einen Schattenläufer gesehen zu haben, oder?«

»Nein, aber anders als bei einem Irrlicht wissen wir zumindest, wie ein Schattenläufer aussieht.« Denn Tatsache war, dass es keine handfesten Beweise für die Existenz der Irrlichter gab. Noch nie hatte sich ein Bändiger an eine dieser Kreaturen gebunden. Einige von uns behaupteten sogar, die Irrlichter wären nur ein Mythos. Für sie waren sie Illusionen, die von Dunkelwebern erzeugt wurden. Alexandr glaubte jedoch fest an sie. Ich hingegen wusste nicht, was ich denken sollte, aber ich hoffte, dass die Irrlichter wirklich nur Illusionen waren. Denn noch beängstigender als der Gedanke an die Monster selbst war die Vorstellung, dass es dort draußen eine weitere Kreatur gab, über die wir nichts wussten und deren Schwachstellen wir nicht kannten.

»Es gibt für alles ein erstes Mal«, beharrte Alexandr.

»Trotzdem denke ich nicht, dass ein Irrlicht dein Monster wird.«

Ein herausforderndes Funkeln trat in Alexandrs Augen. »Wollen wir wetten?«

»Du scheinst dir deiner Sache ja ziemlich sicher zu sein.«

»Wenn schon niemand an mich glaubt, dann muss ich zumindest selbst an mich glauben.« Alexandrs Aussage klang souverän, allerdings konnte er den Schmerz nicht gänzlich aus seiner Stimme heraushalten. Denn während man von mir Großes erwartete wie von meinem Vater und meinem Bruder Jakub, trauten die meisten Alexandr wenig zu. Schließlich war er nicht nur ein Bastard, sondern auch zierlicher als die meisten männlichen Bändiger.

»Worum wollen wir wetten?«, fragte ich.

Er dachte einen Augenblick nach. »Drei Gutscheine fürs Käfigausmisten. Einzulösen jederzeit und ohne Beschwerde.«

»Einverstanden. Wenn du ein Irrlicht bekommst, putze ich dreimal deinen Käfig, aber solltest du ein anderes Monster bekommen, musst du dreimal das Gehege für mich sauber machen.«

Alexandr schürzte die Lippen und zögerte.

»Bist du dir deiner Sache etwa doch nicht so sicher?«, stichelte ich.

Ein entschlossener Ausdruck trat auf sein Gesicht, kurz bevor er mitten auf der Straße stehen blieb. »Abgemacht.« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Ich kann es kaum erwarten, mit anzusehen, wie du den Mist meines Irrlichts vom Boden schrubbst.«

»Als ob. Kauf dir besser schon einmal gute Stiefel für später, wenn du im Dreck versinkst.«

Wir schlugen ein und machten uns wieder auf den Weg.

Die Häuser am Rande der Stadt waren herunterkommen und standen meist leer. Bei Angriffen der Monster waren sie stets das erste Ziel und wurden zerstört. Ziegel waren von Dunkelwebern vom Dach geworfen worden. Knochenträger hatten Löcher ins Mauerwerk gerammt und Blutträger Türen aufgestemmt. Niemand, der sich etwas Besseres leisten konnte, würde hier freiwillig wohnen. Wir ließen die Gebäude hinter uns und erreichten den Vorplatz des Westtores: eine hundert Meter breite, aus Stein gepflasterte Fläche, die sich rings um die Stadt zog und von zahlreichen Lampen und Scheinwerfern ausgeleuchtet war. Dahinter lagen die Mauer und mehrere Quadratmeter abgeholzter Bäume, ehe der Wald begann.

Vor dem Tor, das von zwei Wachtürmen flankiert wurde, hatten sich bereits zahlreiche Bändiger versammelt. Die Erfahrenen unter ihnen, die uns zu unserem Schutz in den Wald begleiten würden, erkannte ich auf den ersten Blick. Nicht nur wegen der Monster, die ihnen zur Seite standen, sondern vor allem, weil sie ruhig und in sich gekehrt waren. Sie sammelten Kraft und Konzentration für eine möglicherweise tödliche Mission – meine Kommilitonen hingegen waren laute Trottel.

In Gruppen aus drei bis fünf Leuten hatten sie sich zusammengefunden. Ich konnte im Stimmengewirr nicht ausmachen, worüber sie redeten, aber das war nicht schwer zu erahnen, denn natürlich ging es darum, was uns nun bevorstand. Gewohnheitsgemäß blieben Alexandr und ich etwas abseits stehen, aber dennoch nah genug an den anderen, damit deutlich wurde, dass wir dazugehörten; als wären unsere Livrejs nicht Hinweis genug.

Ich betrachtete die anderen Bändiger in der Hoffnung, nur ein einziges Gesicht zu entdecken, auf dem sich meine eigene Panik widerspiegelte – erfolglos. Konnte es wirklich sein, dass ich die Einzige war, die sich vor der heutigen Nacht fürchtete? Wir alle hatten bereits Familienmitglieder, Freunde und Bekannte an die Monster verloren. Hier ging es nicht nur um Geld, Ruhm und Ansehen. Die Bedrohung aus den Wäldern war real. Erkannten die anderen das nicht oder war ich nur der größte Feigling, der je auf dieser Erde gelebt hatte?

Ich wollte mich gerade abwenden, als mein Bruder meinen Blick einfing. Jakub nickte mir über die Distanz hinweg zu und schenkte mir ein Lächeln, das ich nur schwach erwidern konnte. Er war sechzehn Jahre älter als ich und würde die heutige Mission gemeinsam mit unserem Vater anführen. Ihn konnte ich nirgendwo ausmachen, was aber nicht bedeutete, dass Jakub allein war. An seiner Seite stand sein Monster, ein Knochenträger.

Diese Kreaturen erinnerten an einen Hirsch. Ihr Geweih war aus Gebein geformt und schwarze Augen blickten hinter einem skelettartigen Schädel hervor. Sie waren hochgewachsen und ausgesprochen dürr. Es wirkte, als stünden diese Bestien stets am Rande des Verhungerns, aber dem war nicht so, auch wenn jeder einzelne Knochen zu erkennen war. Zudem lagen ihre Rippenbögen frei und dort, wo eigentlich ihre Organe – Lunge, Herz, Leber – sitzen sollten, formte nur ein schwarzer Knoten ihr Inneres. Etwas darin regte sich langsam, wie Würmer in einem Apfel, die sich ihren Weg nach außen zu fressen versuchten.

Ein Schauder lief mir über den Rücken. Ich verabscheute diesen Anblick und wandte mich von Jakub ab. Unruhig trat ich dabei von einem Fuß auf den anderen und hoffte inständig, dass sich kein Knochenträger an mich binden würde.

»Bestimmt geht es bald los«, sagte Alexandr, als wäre das etwas Gutes. Anscheinend verwechselte er meine Nervosität mit Vorfreude.

Ich nickte dennoch und sah gen Himmel. Es würde tatsächlich nicht mehr lange dauern. Von der Sonne war nur noch ein Schimmer am Horizont zu sehen und die hereinbrechende Dunkelheit war bereits von Sternen gefleckt. Die Wolken hatten sich verzogen und der Vollmond wartete darauf, die ganze Stadt in seinem silbernen Licht erstrahlen zu lassen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf und ich fragte mich, ob ich mich von nun an immer so fühlen würde, als stünde ich an einem Abgrund.

»Ich will meinen Abschluss innerhalb eines Jahres machen«, hörte ich auf einmal Ambrož hinter mir sagen. Seine Stimme war voller Überzeugung und ohne jeden Zweifel. Unbewusst suchte mein Blick nach ihm und wie nicht anders erwartet, stand er in einer Gruppe mit seinen Anhängern – Danica, Bruno und Ruža – beisammen.

Danica stieß ein Schnauben aus. »Fünfhundert Punkte in einem Jahr? Das ist unmöglich.«

»Jakub hat es in dreizehn Monaten geschafft«, erwiderte Ambrož. Er fuhr sich mit der Hand durch das dunkelblonde Haar und sah dabei zu meinem Bruder. Ehrfurcht und Anerkennung spiegelten sich in seinen schwarzen Augen wider, aber auch noch etwas anderes: Ehrgeiz. »Ich muss nur noch etwas schneller sein.«

Ruža schnaubte. »Du glaubst, du bist besser als Jakub Novák?«

Ein selbstsicheres Lächeln trat auf Ambrož’ Lippen. »Ich glaub es nicht. Ich weiß es.«

»Schwachsinn«, murmelte ich, anscheinend eine Spur zu laut, denn plötzlich stand ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und vier erzürnte Blicke waren auf mich gerichtet.

Ambrož funkelte mich wütend an. »Was hast du gesagt?«

Ich betrachtete ihn und es brauchte kein Genie, um zu erkennen, dass er mir körperlich überlegen war. Er überragte meine eins siebenundsechzig um gut zwanzig Zentimeter und trotz der Livrej waren die Muskeln, die er sich in den letzten Jahren im Kampf- und Waffentraining erarbeitet hatte, nicht zu übersehen. Zugegeben, ich war dank des strengen Lehrplans der Akademie alles andere als schwach, aber gegen jemanden wie ihn hatte ich keine Chance.

Vermutlich wäre es klüger gewesen, mich zu entschuldigen und Gras über die Sache wachsen zu lassen, aber ich hatte keine Angst vor Ambrož. Er besaß weder Klauen noch Reißzähne. Er konnte sich nicht durch die Schatten an mich heranschleichen oder sich aus der Höhe auf mich herabstürzen. Was hatte ich also zu befürchten?

»Du hast mich schon verstanden«, erklärte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ambrož trat einen Schritt auf mich zu. »Nein, das habe ich nicht. Wiederhole es.«

»Vielleicht solltest du dein Gehör untersuchen lassen«, kam Alexandr mir zu Hilfe. Er trat neben mich, das Kinn erhoben.

»Halt dich da raus, Bastard.« Er sprach das letzte Wort mit einem Ekel in der Stimme aus, der sonst für die Hovno-Dosen in unserem Krám reserviert war.

Alexandr ballte die Hände zu Fäusten. Es wäre nicht das erste Mal, dass er mit Ambrož aneinandergeriet. Doch er würde diese Schlägerei bereuen, noch mehr als sonst, wenn er deswegen von der heutigen Nacht ausgeschlossen werden würde.

Das durfte ich nicht zulassen. Ich trat zwischen sie. »Du hast deine Bändiger-Zulassung mit fünfzehn Punkten weniger bestanden als Jakub zu seiner Zeit. Warum solltest du jetzt besser sein als er?«

»Weil ich meine Punkte ehrlich verdient habe.«

Ich runzelte die Stirn. »Und Jakub nicht?«

»Natürlich nicht.« Ambrož verdrehte die Augen. »Oder glaubst du, es war Zufall, dass ausgerechnet er die Tabelle angeführt hat? Euer Vater hat ihm die Punkte damals zugesteckt. Genauso wie er sie dir jetzt zusteckt.«

Ich presste die Lippen aufeinander und wusste, ich sollte widersprechen. Ich sollte Benedict verteidigen, aber das konnte ich nicht. Wir alle, die hier standen, wussten, dass er recht hatte. Ich hatte in den letzten drei Jahren alles darangesetzt, möglichst schlecht an der Akademie abzuschneiden. In der Hoffnung, ein paar zusätzliche Jahre ohne Monster zu gewinnen oder gar exmatrikuliert zu werden. Aber Benedict hatte weder das eine noch das andere zugelassen. Egal wie schlecht ich mich angestellt hatte, er hatte immer einen Weg gefunden, mir Punkte zuzuschieben, schließlich war ich eine Novák und Nováks gehörten zur Bändiger-Elite. Sie fielen nicht durch Klausuren.

»Sie streitet es nicht einmal ab.« Ambrož lachte und ich hätte ihm das selbstgefällige Grinsen am liebsten aus dem Gesicht geschlagen. Vielleicht war das meine Chance, der heutigen Nacht zu entkommen. Doch bevor ich mich entscheiden konnte, erklang eine vertraute Stimme neben mir.

»Was ist hier los?«, fragte Jakub. Ich wandte mich meinem Bruder zu. Er stand nur wenige Schritte von Ambrož und mir entfernt, sein Knochenträger war ihm direkt auf den Fersen. Die Kreatur überragte selbst Ambrož um mehrere Zentimeter und das ohne ihr Geweih.

»Nichts ist los«, log ich.

»Von dort drüben sah es aus, als würdet ihr streiten.«

Ambrož schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich nicht.«

Misstrauisch glitt Jakubs Blick von Ambrož und mir zu Danica, Bruno und Ruža und schließlich zu Alexandr. Er glaubte uns kein Wort, dennoch nickte er. »Das freut mich zu hören, denn wir können uns keine Ablenkung erlauben, wenn wir gleich da rausgehen. Denkt immer daran, die Monster sind eure Feinde und niemand sonst.«

»Natürlich«, erwiderte Ambrož gehorsam. Jede Unterstellung des Betrugs war vergessen.

Jakubs Blick wanderte ein letztes Mal über unsere Gruppe, ehe er sich mit seinem Knochenträger wieder auf den Weg nach vorn zum Tor machte. Dort war inzwischen Unruhe ausgebrochen. Das konnte nur eines bedeuten: Es ging los. Die Gespräche um uns herum verstummten. Aufregung und Vorfreude wichen Ungeduld, und diese Ungeduld sprang auf die anwesenden Monster über. Fieberhaft scharrten sie mit ihren Klauen und Hufen, als könnten sie es kaum erwarten, in den dunklen Wald zurückzukehren.

»Okovy, aufgepasst!«, bellte die tiefe Stimme meines Vaters. Der große Benedict Novák hatte sich auf die Treppenstufen eines Wachturms gestellt und alle Aufmerksamkeit war auf ihn gerichtet. Selbst die Monster schienen ihm zu lauschen. Im grellen Licht der Scheinwerfer wirkte sein blondes Haar beinahe weiß und ließ ihn älter als dreiundfünfzig Jahre erscheinen. Der geisterhafte Effekt wurde von der schwarzen Livrej noch verstärkt, die anders als meine Uniform nicht mit silbernen, sondern mit goldenen Knöpfen ausgestattet war. Ein Zeichen dafür, dass Benedict die Akademie vor Jahren erfolgreich abgeschlossen hatte. Auch sein Gürtel war golden und über seiner Schulter trug er einen Köcher mit Pfeilen und der dazugehörigen Armbrust. Er benutzte diese Waffe nur im Notfall. Eigentlich brauchte er sie nicht, denn er hatte einen Blutgänger, der für ihn kämpfte.

Die hochgewachsene Kreatur stand gekrümmt neben Benedict. Von allen Monstern waren es die Blutgänger, die den Menschen am meisten ähnelten. Sie glichen uns in Größe und Statur und liefen aufrecht auf zwei Beinen. Ihre Haut war blutrot. Sie besaßen keine Geschlechtsteile und hatten keine Haare auf dem Kopf, aber etwas Ähnliches wie ein Gesicht, nur dass ihnen der Mund fehlte und sie anstelle einer Nase, nur eine leichte Erhebung ohne Löcher hatten. Sie rochen und aßen mit ihren Händen und den Stacheln an ihren Fingern, die Blut wittern und aufsaugen konnten. Durch diese konnten sie ihre Opfer auch mit einem Gift infizieren, das Lähmungserscheinungen hervorrief und sie so zu leichter Beute machte.

»Heute ist ein besonderer Tag«, sagte Benedict. »Es ist der Tag, an dem aus zwanzig Novizen Bändiger werden. In den vergangenen drei Jahren haben die Mitglieder der Akademie alles darangesetzt, euch auf diesen Tag vorzubereiten. Wir haben euch viel gelehrt und euch an eure Grenzen getrieben, nicht nur körperlich im Kampf- und Waffentraining, sondern auch im Geiste, damit ihr euch dem stellen könnt, was euch heute Nacht erwartet. Denn die Stärke eurer Muskeln bedeutet nichts, wenn euer Verstand nicht in der Lage ist, der Dunkelheit standzuhalten. Gemeinsam mit uns werdet ihr nun erstmals die Wälder betreten, in denen die Monster hausen. Doch ihr seid Bändiger. Und wir Bändiger lassen uns nicht bedrohen oder von der Finsternis einschüchtern. Wir wehren uns gegen diese Kreaturen und machen sie uns mit unserem Willen zu eigen, bis sie zu Sklaven unseres Verstandes werden.«

Worte des Zuspruches und der Begeisterung erklangen aus den Reihen der Zuhörer. Alexandr hatte sich zwei Finger in den Mund geschoben und stieß einen scharfen Pfiff aus, der mich zusammenzucken ließ und noch sekundenlang in meinen Ohren nachhallte. Ich hingegen stand völlig regungslos inmitten der Gruppe. Dennoch fand mich Benedicts Blick mit einer Zielsicherheit, als hätte ich eine Leuchtrakete abgefeuert. Er zog die Brauen zusammen und trotz der Distanz zwischen uns erkannte ich eine Aufforderung in seinen Augen.

Ich ballte die Hände zu Fäusten und zwang mich dazu, nicht wegzusehen. Er wartete nur darauf, dass ich ebenfalls klatschte. Ich verspürte jedoch keinen Triumph, sondern nur ein nagendes Gefühl, das direkt in meinem Herzen saß.

Der Jubel der Bändiger verklang und Benedict blieb keine andere Wahl, als sich von mir abzuwenden. Mir entfuhr ein erleichtertes Seufzen, ohne dass die Anspannung meinem Körper verließ.

»Wir alle wissen, wie die Sache heute ablaufen wird«, erklärte Benedict weiter und ließ seinen Blick über die Männer und Frauen gleiten, die mit ihren Kreaturen vor ihm standen. »Es geht einzig und allein darum, die Monster für unsere Anwärter zu finden. Bleibt dicht beisammen. Keine Ausflüge. Keine Fehltritte, denn heute wird kein rotes Blut vergossen.«

»Und morgen wird kein rotes Blut vergossen«, riefen die anderen Bändiger. Ihre Freude darüber, uns in ihrem Kreis willkommen heißen zu dürfen, wich einer stählernen Entschlossenheit, die fester stand als die Mauer vor uns.

Meine Knie begannen zu zittern und mit wild schlagendem Herzen beobachtete ich, wie zwei Bändiger nach den Kurbeln griffen, welche den Mechanismus des Tors in Bewegung setzten. Die Zahnräder begannen sich zu drehen. Ich hielt den Atem an. Alexandr spannte sich neben mir an, als Millimeter für Millimeter die Pforte vor uns aufgeschoben wurde. Nur langsam gab sie den Blick auf den Wald frei. Hinter einem Feld abgeholzter Stämme reihten sich dürre Bäume aneinander. Ihr Blattwerk wurde vom Mond und dem Licht der Laternen beschienen, ehe es sich in der Finsternis verlor und ein Teil der Dunkelheit wurde.

3. KAPITEL

Der Wald war anders als in meiner Vorstellung. Ich hatte einen lauten Ort erwartet, der erfüllt war vom angstvollen Quieken der Wildtiere, den Schreien der Dunkelweber und dem Knurren der Schattenläufer. Doch zwischen den Bäumen war es still. Einzig das Pfeifen des Windes und das Knirschen der trockenen Blätter unter unseren Stiefeln waren zu hören. Niemand sagte ein Wort.

Die Ausbilder hatten uns Laternen gegeben, die uns den Weg zum Chrám, dem Tempel der Bändiger, leuchten sollten. Ich lief neben Alexandr. Jakub und sein Knochenträger waren an unserer Seite. Das Monster ging neben meinem Bruder wie ein Schoßhund. Sein Geweih streifte niedrig hängende Äste und gelegentlich blitzte seine Zunge hervor, um Blätter zu verspeisen. Ebenso wie die Dunkelweber ernährten sich Knochenträger nicht ausschließlich von Fleisch und Blut, aber das machte ihre Anwesenheit keineswegs erträglicher.

Ich schloss die Finger fester um den Griff meiner Laterne. Wir liefen erst seit wenigen Minuten durch den Wald, dennoch war um uns herum nur noch Dunkelheit. Von der Stadt, die ich siebzehn Jahre lang nicht verlassen hatte, war nichts mehr zu erkennen. Sollte ich die anderen verlieren, wusste ich nicht, ob ich allein den Weg zurückfinden würde.

Es knackte unter meinen Füßen und als ich nach unten sah, entdeckte ich einen morschen Knochen. Dreckig und angenagt, aber eindeutig ein Knochen. Angewidert verzog ich die Lippen. Ganz bestimmt war es der Knochen eines Tieres.

Ich hob meinen Blick, als plötzlich das Brechen von Holz zu hören war, und bevor ich begriff, was das bedeutete, sprang ein wilder Blutgänger von einem der Bäume herunter. Er landete inmitten unserer Kolonne. Einem meiner Kommilitonen entfuhr ein schriller Schrei. Ein zweiter Blutgänger trat aus der Finsternis hervor, gefolgt von einem dritten, vierten und fünften. Sie kesselten uns ein.

Scheiße.

Die Stille wich einem Gewirr aus Befehlen. Wir hatten für einen solchen Fall trainiert, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was ich tun sollte. Ich war wie erstarrt. Unfähig mich zu bewegen, konnte ich nur zusehen, wie die Bändiger die Blutgänger mit ihren Kreaturen attackierten.

Jakubs Knochenträger rammte eines der Monster mit seinem Geweih gegen einen Baum und durchbohrte dessen Magen mit den spitzen Enden. Ohne einen Mund war es dem Blutgänger unmöglich, einen Schrei auszustoßen, aber sein Schmerz war nicht zu übersehen. Seine Muskeln verkrampften sich und schwarzes Blut sickerte hervor. Hilflos ruderte er mit den Armen und versuchte die Stacheln an seinen Händen in den Körper des Knochenträgers zu treiben. Es gelang ihm nicht und seine Bewegungen wurden immer verzweifelter.

Eine Hand packte meinen Oberarm. Ich schrie auf und wirbelte herum, in der Erwartung, ein Blutgänger hätte mich zu fassen bekommen. Doch es war kein Monster, das mich festhielt, sondern die neue Professorin. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich an ihren Namen erinnerte: Tereza Leharová.

»Komm«, sagte sie und zerrte mich hinter sich her zu meinen Kommilitonen. Eng aneinandergedrängt standen sie beisammen. Umzingelt von den Bändigern der Akademie. Über ihren Köpfen flogen die gebändigten Dunkelweber, um uns vor möglichen Angriffen zu schützen. Tereza schubste mich in den Kreis und ich taumelte gegen Julek. Sein braunes Haar war vom Angstschweiß feucht und aus irgendeinem Grund beruhigte mich seine Furcht. Offenbar war ich doch nicht die Einzige, welche die Bedrohung durch die Monster erkannte.

Ich hielt erneut nach Jakub und Benedict Ausschau und entdeckte die beiden nur wenige Schritte von Jakubs Knochenträger entfernt, dessen Geweih noch immer im Körper des Blutgängers steckte. Regungslos stand Jakub da. Sein Blick vollkommen leer, denn er sah nicht länger durch seine eigenen Augen, sondern durch die seines Knochenträgers. Er war in seinen Geist eingedrungen und zwang ihm seinen Willen auf. Beschützt wurde er von unserem Vater, der gemeinsam mit seiner Kreatur aufpasste, dass kein Monster Jakub in seinem verletzlichen Zustand angriff.

Die Bändiger, die nicht dazu abgestellt waren, uns Novizen zu beschützen, hatten sich ebenfalls in Paaren und Gruppen zusammengeschlossen und versuchten die Blutgänger von uns fernzuhalten. Dabei waren nicht alle so erfolgreich wie Jakub. Ein Dunkelweber lag verwundet auf dem Boden. Sein Bändiger kniete über ihm, bemüht, die Wunde zu schließen. Die Luft war erfüllt von dem Gestank des schwarzen Blutes – schweflig und sauer wie ranzige Butter.

Ich schluckte schwer und konzentrierte mich darauf, durch den Mund zu atmen.

»Glaubst du, es kommen noch mehr?«, fragte Julek.

»Nein«, antwortete ich, obwohl ich mir dessen nicht sicher sein konnte. Allerdings lag ein Blutgänger inzwischen reglos auf der Erde und würden noch weitere Bestien dort draußen auf uns lauern, hätten sie vermutlich bereits angegriffen.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder meiner Familie zu. Benedict hatte seine Armbrust gezogen und zielte damit auf den Kopf des Blutgängers. Zischend löste sich ein Pfeil aus der Verankerung und bohrte sich in den Schädel der Kreatur.

Einen Menschen hätte dieser Treffer getötet.

Ein Monster nicht.

Der Blutgänger hielt inne, bemühte sich nicht länger, seinen Stachel in den Körper von Jakubs Knochenträger zu treiben, sondern griff stattdessen nach dem Pfeil in seiner Stirn. Er zog ihn heraus und augenblicklich begann sich die Wunde zu schließen, denn das war das Problem mit diesen Kreaturen. Sie waren immun gegen alle herkömmlichen Waffen.

Es brauchte ein Monster, um ein Monster zu töten.

Der Dunkelweber eines anderen Bändigers nutzte jedoch diesen Moment der Ablenkung. Er stürzte sich auf den Blutgänger und schlug seine Klauen in dessen Gesicht. Es war ein Kampf, der nur wenige Sekunden dauerte, und schließlich erschlaffte der Körper des Blutgängers.

Jakubs Knochenträger schüttelte seinen Schädel ein letztes Mal, ehe er sein Geweih zurückzog. Das leblose Monster sackte in sich zusammen und ein Ruck fuhr durch den Körper meines Bruders, als dieser sein Bewusstsein wiedererlangte. Er taumelte einen Schritt zurück. Benedict fing ihn auf und sagte etwas, das ich aus der Ferne unmöglich hätte verstehen können.

Der Dunkelweber, der den beiden geholfen hatte, flatterte zurück zu seiner Bändigerin Tereza.

Nun, da zwei der fünf Blutgänger gefallen waren, konnte mit den übrigen drei kurzer Prozess gemacht werden, und nachdem sichergestellt war, dass kein Bändiger schwer verletzt war, führten wir den Weg zum Chrám fort.

»Geht es euch gut?«, fragte Jakub. Er lief wieder an meiner Seite und bedachte Alexandr und mich mit einem besorgten Blick.

»Sollten wir dich das nicht fragen?« Meine Stimme klang belegt.

»Ach, das wird schon wieder.« Jakub lächelte, aber sein Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er noch ziemlich mitgenommen aussah. Das blonde Haar, das er für gewöhnlich immer sorgfältig gekämmt trug, war zerzaust und seine Haut wirkte noch blasser als sonst. Sich mit einem Monster zu verbinden, so wie er und einige andere Bändiger es im Kampf gegen die Blutgänger getan hatten, war nicht ohne.

Es gab zwei Arten des Bändigens, den Přestat und das Hýbat. Der Přestat war die einfachere Form und beschrieb den Zustand, wenn ein Bändiger mit seinem Monster verbunden war, um seine wilde Natur zu zähmen. Dieser Zustand sollte vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche anhalten, damit ein Monster nicht seinen niederen Instinkten folgte und willkürlich Menschen angriff. Im Přestat war der Bändiger ganz er selbst und in seinem eigenen Kopf.

Im Hýbat hingegen tauchte der Bändiger in den Verstand seines Monsters ein und gab sich selbst der Dunkelheit hin. Denn im Hýbat wurden nicht länger nur deren Instinkte unterdrückt, sondern den Kreaturen wurde der Wille des Bändigers aufgedrängt, damit sie an der Seite der Menschen kämpften. Diese Form des Bändigens kostete mehr Kraft und Kontrolle als der Přestat und je stärker und erfahrener ein Bändiger war, umso länger konnte er im Zustand des Hýbat ausharren. Einige Mitglieder der Akademie wie Benedict und Jakub konnten sehr viel Zeit in den Köpfen ihrer Monster verbringen, dennoch war es ein Kraftakt, der nicht zu unterschätzen war.

»Brauchst du was zu essen?« Alexandr griff in seine Hosentasche und zog ein paar Mandeln hervor.

Jakub schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es geht schon.«

»Dann eben nicht.« Er zuckte mit den Schultern und schob sich eine Mandel in den Mund. Ich fragte mich, wie er in einem Moment wie diesem nur ans Essen denken konnte. Mein Magen war ein nervöser Knoten, und während wir anderen mit wachsamen Blicken durch den Wald schlichen, knabberte Alexandr die Nüsse, als wäre er eben nicht von einer Horde Monster angegriffen worden.

In meinem Kopf war der Chrám ein heiliger Ort. Ein Licht im Dunkel des Waldes, dazu geschaffen, uns Bändigern Zuflucht zu gewähren, während wir einen Teil unserer Seele der Finsternis hingaben. In Wirklichkeit war der Tempel ein baufälliges Gebäude. Er hatte nichts mehr mit dem prachtvollen Bauwerk gemein, das ich von dem Gemälde aus dem Eingangsbereich der Akademie her kannte. Die vor langer Zeit aus hellem Stein gebauten Mauern waren ergraut und von Wind und Kälte gezeichnet. Risse zogen sich über die Fassaden wie Falten durch das Gesicht einer alten Frau. Statuen, die früher den Eingang bewacht haben mussten, lagen zerschlagen auf der nassen Erde. Dort, wo einst ein massives Tor das Innere geschützt hatte, klaffte inzwischen ein Loch, Laub und Dreck bedeckten den Boden und vor meinen Füßen lag eine tote Ratte.

Ich machte einen großen Schritt über den Kadaver hinweg und ließ meinen Blick durch den Chrám schweifen, der nichts weiter war als ein leer geräumtes Zimmer – nur zehnmal größer, damit alle Bändiger und ihre Monster Platz darin fanden. Einzig und allein eine im Boden eingelassene Platte aus getrübtem Gold ließ erahnen, dass dies ein besonderer Ort war. Darin eingraviert war die Zahl 1412 – das Jahr, in dem der erste Bändiger sich ein Monster zu eigen gemacht hatte; das lag bereits ein halbes Jahrtausend zurück.

»Irgendwie habe ich mehr erwartet«, flüsterte Alexandr neben mir.

Ich nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war gut eine Stunde vergangen, seit wir die Stadt verlassen hatten und inzwischen hatte die Luft merklich abgekühlt. Der kalte Wind prickelte auf meiner vor Nervosität feuchten Haut und ich bereute es, meinen Mantel nicht mitgenommen zu haben, aber keiner der Bändiger hatte einen dabei. Sie alle stellten ihr Livrej zur Schau und ich wollte nicht die Einzige sein, die es nicht tat.

»Okovy, bringt euch in Stellung!«, brüllte Benedict. Er liebte es, das alte Wort für Bändiger zu benutzen. Jakub, Tereza und drei andere Professoren delegierten uns an die hintere Wand des Raumes.

Mir rauschte das Blut in den Ohren. Passierte das hier wirklich? Ich hatte diesen Moment so oft in meinen Albträumen gesehen, dass er mir nun unwirklich erschien. Ich war nicht ich selbst, sondern steckte in dem Körper einer Fremden. Wie betäubt blieb mir nichts anderes übrig, als mit anzusehen, wie die letzten Vorbereitungen getroffen wurden. Die Bändiger entzündeten weitere Lampen, bis der komplette Chrám ausgeleuchtet war.

Zwischen uns und dem Eingang des Tempels positionierten sich die anderen Bändiger mit ihren Monstern, nur die goldene Fläche in der Mitte blieb frei. Es wurde wieder still und die Anspannung, die uns verfolgte, seit wir Praha verlassen hatten, legte sich über uns wie ein eiserner Vorhang. Schwer und drückend lastete er auf unseren Schultern.

Benedict trat aus den Reihen der Bändiger hervor. Auch an ihm war der Kampf mit den Blutgängern nicht spurlos vorübergezogen. Er wirkte bei Weitem nicht so erschöpft wie Jakub, aber seine Uniform saß nicht mehr so glatt wie zuvor und ein Fleck dunklen Blutes klebte an seinem Hals. »Nun ist er da. Einer der wichtigsten Momente eures Lebens«, erklärte er. Der leere Raum fing seine Worte auf und warf sie als Echo zurück. »Viele von euch werden im Laufe ihres Lebens noch öfter hierherkommen. Nicht nur, um Novizen zu schützen, wie wir es heute tun, sondern auch um sich ein weiteres Mal mit einem Monster zu verbinden. Nur wenige von euch werden das Privileg haben, bis zum Schluss an der Seite einer einzigen Kreatur kämpfen zu dürfen. Und möglicherweise läuft diese Kreatur heute Nacht durch diese Pforte. Ihr werdet ihre Dunkelheit sehen und ein Teil von ihr werden, so wie sie ein Teil von euch wird.«

Vereinzelt klatschten ein paar meiner Kommilitonen, aber die anderen Bändiger blieben ruhig und der verhaltene Beifall verklang.

»Gibt es Freiwillige, die bereit sind, den Anfang zu machen?«, fragte Benedict. Das Kinn stolz erhoben, betrachtete er uns – seine Schützlinge – und schließlich blieb sein Blick an mir hängen. Natürlich erwartete er, dass ich mich meldete, denn ich war eine Novák. Aber das konnte er vergessen.

Ich hatte nur eine ungefähre Ahnung davon, was uns nun erwartete. Jakub und die anderen Professoren hatten versucht uns zu erklären, wie es sich anfühlte, sich an ein Monster zu binden. Gemeinsam hatten wir all die Jahre über für diesen Moment trainiert. Doch die Theorie zu kennen bedeutete nicht, die Praxis zu beherrschen, und ich wollte nicht das Versuchskaninchen für eine Sache sein, an der ich ohnehin nicht teilhaben wollte.

»Ich mach es!«, rief Ambrož mit fester Stimme und trat aus unseren Reihen hervor. Ich war ihm noch nie dankbarer für seine Arroganz gewesen als in diesem Moment.

Benedict wandte sich ihm zu und ich atmete erleichtert auf. »Komm zu mir.«

»Gern«, sagte Ambrož und murmelte: »Ich will ja nicht, dass irgendwelche Loser mir mein Monster wegschnappen«, als er an uns vorbeilief.

Alexandr stieß ein Knurren aus und ich wusste, dass er es spätestens in dieser Sekunde bereute, sich nicht zuerst gemeldet zu haben. »Wehe, dieses Arschloch bekommt mein Irrlicht.«

»Ganz sicher nicht«, bestärkte ich ihn und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Ambrož. Er war auf die goldene Platte vor Benedict getreten und nahm einen Kelch entgegen. Darin war eine Kräutermischung, die uns beruhigen sollte. Damit würde es uns leichter fallen, das Stadium der Konzentration zu erreichen, das wir für die Beschwörung eines Monsters brauchten.

Ambrož gab Benedict den Kelch zurück und setzte sich mit überkreuzten Beinen auf die goldene Platte. Er hatte uns den Rücken zugewandt, sein Blick war auf den Durchgang zum Wald gerichtet. Seine Schultern hoben und senkten sich, als er tief einatmete – und dann wurde es vollkommen ruhig im Chrám. Alle hielten die Luft an und selbst die Monster schienen andächtig zu schweigen.

Die älteren Bändiger hatten uns bereits gewarnt, dass dies eine lange Nacht werden könnte. Denn um das richtige Monster zu finden, musste sich der Geist eines Bändigers auf die Suche nach einer Finsternis begeben, die seine eigene ergänzte. Und hatte er sie erst einmal gefunden, musste er sie bezwingen. Das war keine Angelegenheit von ein paar Minuten.

Doch ich hatte nicht erwartet, wie nervenaufreibend das Warten sein würde. Die Sekunden krochen dahin wie Schnecken im Sommer über die trockenen Straßen Prahas – zäh und schleimig. Immer wieder sah ich von Ambrož zu den Wäldern, in der Erwartung, endlich das Monster zu erblicken, das seinen Ruf erwiderte. Nichts regte sich.

»Seht ihr etwas?«, fragte ein Mädchen hinter mir. Ich glaubte, es war Jolana.

»Nein«, antwortete ein Junge. »Wie lange warten wir jetzt schon?«

»Dreißig Minuten«, sagte Šimon mit seiner unverkennbar rauen Stimme.

»Vielleicht funktioniert es nicht«, flüsterte Alexandr neben mir mit einem selbstgefälligen Grinsen. Ich verpasste ihm einen mahnenden Schubs mit der Schulter. Ambrož war vielleicht ein Arschloch, aber auch ein begnadeter Bändiger. Praha brauchte gute Bändiger, zumindest bis die Waffen in der Schmiede meiner Mutter ausgereift waren; was hoffentlich bald der Fall sein würde.

»Da!«, rief jemand aus den hinteren Reihen.

Alle drehten die Köpfe wieder in Richtung des Eingangs und tatsächlich regte sich etwas in der Finsternis. Die Bändiger spannten sich an und machten sich bereit für einen Angriff, sollte dieses Monster nicht von Ambrož herbeigerufen worden sein. Zuerst waren nur das Rascheln des Laubs und das Knacken von Zweigen zu hören, dann trat eine Kreatur aus der Dunkelheit – und ein Raunen ging durch die Menge.

»Will der mich verarschen?«, fragte Alexandr. Niemand antwortete ihm. Gebannt starrten wir alle auf das Monster, das zwischen den Bäumen hervorgetreten war. Es war kein Irrlicht, aber das Nächstbeste: ein Schattenläufer. Es gab nicht viele von ihnen, dementsprechend ungewöhnlich war es für einen Bändiger, einen Schattenläufer zu finden.

Geschmeidig näherte sich die Kreatur dem Chrám, die aus reiner Dunkelheit zu bestehen schien. Ihr Fell war von einem reinen Schwarz und kein Funke Licht reflektierte auf ihrer Gestalt, die der einer überdimensionalen Waldkatze ähnelte. Während Dunkelweber, Knochenträger und Blutgänger stets gleich aussahen, unterschieden sich Schattenläufer in ihrer Erscheinung. Fest stand, dass sie stets Tieren glichen und manch einer behauptete, sie stammten von den erzürnten Geistern des Waldes ab. Doch eines hatten alle Schattenläufer gemein: Sie besaßen Krallen, um klaffende Wunden zu schlagen, und Zähne, die Knochen brechen konnten.

Alle Blicke waren auf das Monster gerichtet, das nun den Chrám betrat. Für einen Moment war meine Angst vergessen. Argwöhnisch pirschte es sich an Ambrož an. Dabei warf sein Körper im Licht keinen Schatten, denn es war der Schatten selbst. Die Schritte der Katze wurden langsamer und selbst aus der Ferne erkannte ich den inneren Kampf in den schwarzen Augen der Kreatur – sie versuchte sich gegen Ambrož’ Kontrolle zu wehren, doch es war zwecklos. Bereits wenige Sekunden später lag die Schattenkatze Ambrož zu Füßen wie ein reumütiger Hund seinem Besitzer.

Ambrož erwachte aus dem Hýbat. Die Anspannung wich aus seinen Schultern. Er senkte den Kopf und betrachtete den Schattenläufer. Selbst ohne sein Gesicht zu sehen, war mir klar, dass sich beim Anblick der seltenen Kreatur ein Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete.

Benedict, Jakub und die anderen Professoren gingen auf Ambrož zu. Sie schüttelten ihm die Hand und richteten ein paar Worte an ihn. Vermutlich gratulierten sie ihm zu seinem Schattenläufer, als hätte er Einfluss darauf gehabt. Nachdem alle Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht waren, wurde die goldene Fläche geräumt und Ambrož durfte sich gemeinsam mit seiner Schattenkatze zu den anderen Bändigern stellen.

»Wer möchte als Nächster?«, fragte nun Jakub. Mehrere Hände schossen in die Höhe. Meine war nicht darunter und selbst ohne hinzusehen, spürte ich Benedicts stechenden Blick. Jakub betrachtete die Auswahl der Freiwilligen und deutete schließlich auf Alexandr.

»Ha!« Er straffte die Schultern und zog eine Grimasse in Richtung von Ambrož’ Freunden, die sich ebenfalls gemeldet hatten. Manchmal suchte Alexandr den Ärger wie Motten das Licht.

Ich lächelte ihn an. »Viel Glück mit dem Irrlicht.«

Alexandr salutierte vor mir, bevor er zu meinem Bruder marschierte. Die beiden wechselten ein paar Worte miteinander, ehe Jakub Alexandr den aufgefüllten Kelch übergab. Er trank einen Schluck der Kräutermischung, setzte sich auf die goldene Fläche und das Warten begann von vorn.

4. KAPITEL

Alexandr rief kein Irrlicht herbei. Dennoch konnte er stolz auf sich sein. Noch nie hatte ein Bändiger sein Monster schneller bezwungen. Er hatte sich kaum auf die Platte gesetzt, da raschelte es bereits im Dickicht. Die anderen Bändiger gingen in Angriffsstellung. Sie hielten es für unmöglich, dass die Kreatur, die hinter den Bäumen hervortrat, schon zu Alexandr gehörte. Dennoch lief der Knochenträger geradewegs auf ihn zu. Sein Geweih hoch erhoben, blieb er neben der goldenen Platte stehen und scharrte mit seinen Hufen über das rissige Gestein.

Alexandr erwachte aus der Trance und kein Bedauern spiegelte sich auf seinem Gesicht, als er den Knochenträger entdeckte. Er grinste die Kreatur stolz an und wurde von unseren Professoren mit anerkennenden Worten überschüttet. Das Lob, das er einheimste, missfiel Ambrož. Er durchbohrte Alexandr mit giftigen Blicken, als sich dieser mit seinem Knochenträger schließlich neben ihn und seinen Schattenläufer stellte.

Anschließend wurde die Zeremonie fortgeführt. Alexandr und Ambrož hatten die Messlatte wirklich hoch gesetzt und ich spürte, wie sich eine neue Art der Nervosität unter meinen Mitschülern ausbreitete. Dennoch fanden sich immer weitere Anwärter, die sich freiwillig meldeten. Die Stunden vergingen und es wurde auf meiner Seite des Chrám immer leerer, während sich weitere Blutgänger, Dunkelweber und Knochenträger im Tempel einfanden.

Den anderen Bändigern waren Pflicht und Tradition vielleicht wichtiger als ihr Leben, aber meine Prioritäten lagen anders – und mir lief die Zeit davon. Wie bei einer Sanduhr kam ich Korn für Korn meinem Schicksal näher. Meine Livrej war inzwischen durchgeschwitzt und meine Lunge spannte. Ich bekam kaum noch Luft.

»Kayla.«

Ich war erschöpft. Erschöpft vom Stehen. Erschöpft vom Ruhigsein. Erschöpft vom Warten und Sorgenmachen. Ich wollte nur noch nach Hause. Raus aus diesem Wald. Weg von all den Monstern. Rein in ein Leben, das nicht von der Dunkelheit bestimmt wurde.

»Kayla.«

In den Ohren hörte ich das Pulsieren meines eigenen Herzens und es schien ein Wort zu flüstern: Nein.

Nein.

Nein.

Nein.

Ich war noch nicht bereit.

»Kayla!«

Erschrocken blickte ich auf. In Gedanken versunken hatte ich eine ganze Weile auf den Boden gestarrt. Erwartungsvoll sah mich Benedict an. Das Funkeln in seinen Augen verriet mir, dass er mit meinem Verhalten alles andere als zufrieden war.

»Kayla, du bist an der Reihe.«

Ich sah mich um und stellte fest, dass ich die letzte verbleibende Novizin ohne Monster war. Ein Teil von mir wusste, dass meine Angst übertrieben war. Hunderte von Bändigern hatten ihre Monster überlebt. Jakub und Benedict kämpften seit Jahren ohne große Verletzungen an der Seite ihrer Kreaturen. Ich könnte wie sie sein. Stark. Mutig. Furchtlos. Der andere Teil von mir konnte hingegen nicht aufhören, an Miloš zu denken. Er war auch stark, mutig und furchtlos gewesen und wohin hatte es ihn gebracht? Ins Grab.

»Komm schon.« Benedict winkte mich zu sich heran. »Kayla, jetzt mach es nicht so spannend.« Er lachte und ein Außenstehender hätte dieses Lachen möglicherweise für ein ehrliches gehalten. Ich wusste es besser. Siebzehn Jahre lang hatte ich gelernt, die Spitzen in Benedicts Stimme zu erkennen, die mir gefährlich werden konnten. Nicht gefährlicher als ein Monster, dennoch setzten sich meine Füße in Bewegung und ich näherte mich der goldenen Platte.

Jakub war neben Benedict getreten. Die beiden sahen sich mit ihren blonden Haaren und schwarzen Augen so ähnlich, dass es fast unheimlich war. Jakub überreichte mir den Kelch, bis zum Rand gefüllt mit der Kräutermischung. Ich blickte in die trübe Flüssigkeit. Was würde wohl passieren, wenn ich sie nicht trank und einfach »Nein« sagte? Wenn ich hier stehen blieb und gar nichts tat? Zwar könnten sie mich in die Knie zwingen, aber nicht dazu, meinen Geist für die Dunkelheit zu öffnen. Doch sosehr ich mich auch vor den Monstern fürchtete, war ich tatsächlich bereit, dieses Stigma zu tragen? Wollte ich wirklich die Bändigerin sein, die ihrer Pflicht nicht nachkam? Meine Mutter, Marek und Frída würden mich für diese Entscheidung nicht verurteilen. Aber was war mit all den anderen? Benedict, Jakub und den Einwohnern Prahas, die den Monstern hilflos gegenüberstanden. Würden sie mich verstehen?

»Kayla.« Mein Name aus Jakubs Mund ließ mich aufsehen und mir war klar, dass mir meine Unsicherheit ins Gesicht geschrieben stand. Ich rechnete damit, dass er sagen würde, ich solle mich zusammenreißen, meiner Bestimmung folgen und nicht so ein Feigling sein. Er überraschte mich jedoch mit ganz anderen Worten: »Ich kann deine Zweifel nachvollziehen.«

»Wirklich?«

Er nickte. »Miloš war auch mein Bruder und seit seinem Tod ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich mich nicht gefragt habe, ob ich dieses Leben überhaupt noch will.« Jakubs Stimme war ein Flüstern, das nur Benedict und ich hören konnten. »Er war ein begnadeter Bändiger und niemand hat damit gerechnet, dass ausgerechnet er die Kontrolle über seinen Dunkelweber verliert. Wenn ihm so etwas passieren kann, warum nicht auch mir?«

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich schluckte schwer. Jakub brachte es auf den Punkt. All sein Talent hatte Miloš nicht gerettet, und ich besaß nur einen kleinen Funken davon.