Herz- und Steinbruch - Diare Cornley - E-Book

Herz- und Steinbruch E-Book

Diare Cornley

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Beschreibung

Mike ist ein seltsamer Typ. Das fällt Fabian sofort auf, als er den fremden Jungen auf einer Jahrgangsstufenfahrt kennenlernt. Wie seltsam, wird ihm erst klar, als er sieht, dass Mike sich bei Sonnenaufgang in eine Steinstatue verwandelt. Von da an versucht er alles, um Mike von seinem Fluch zu befreien. Denn nur die "wahre Liebe" kann ihn von seinem Schicksal erlösen. Das Problem: Fabian verliebt sich in Mike, während der auf die richtige Frau wartet. Boys Love

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Diare Cornley & Vanessa M.Herz- und Steinbruch

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2012

http://www.deadsoft.de

© die Autoren

Cover: M. Hanke

Motiv: © dancerP – fotolia.com

Giraffe: © Stephi – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-943678-43-7 (print)

ISBN 978-3-943678-44-4 (epub)

Orte und Personen frei erfunden. Romanfiguren können darauf verzichten, im richtigen Leben gilt: safer sex!

Prolog

Langsam rieselte Sand von der Statue und fiel auf den Boden, wo er direkt vom Wind fortgetragen wurde. Die Sonne ging unter und wich der Dunkelheit des Abends – der Dunkelheit, die der verfluchten Seele ein wenig Freiheit schenkte. Ein leises Keuchen erklang, und nur schwerfällig begannen die Finger des steinernen Gebildes sich zu bewegen.

Zarte, reine Haut wurde freigelegt, umso mehr Sand auf den Boden rieselte. Es dauerte eine Zeit lang, bis statt der steinernen Statue ein junger, hübscher Mann auf dem Sandsteinsockel stand. Sein blondes Haar schimmerte golden im Licht der Straßenlaternen, die bereits angestellt wurden und ihn das Nötigste an dem stillen, einsamen Fleckchen, an dem er seinen Platz gefunden hatte, sehen ließen. Neugierig huschten seine eisblauen Augen durch die Gegend und musterten das, was sie erfassten. Nur schwerfällig konnte er sich bewegen und seinen Sockel verlassen. Die Jahre des Stillstehens hatten ihn einrosten lassen, aber er würde wieder vitaler werden, das wusste er, war ihm diese Situation doch schon so sehr vertraut. Seine Umgebung hatte sich seit dem letzten Mal verändert. Die Gasse, die zu dieser Aussichtsplattform führte, kam ihm schmutziger vor, als er sie in Erinnerung hatte. Damals war sie noch schön gewesen. Überall hatte sich Efeu seinen Weg über die Mauern gesucht, doch davon war keine Spur mehr. Splitter, die im Licht der Laternen glänzten, konnte der junge Mann erkennen.

Das Rauschen von Wasser drang an sein Ohr und erregte seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich um und erblickte auch schon die Elbe. Automatisch zauberte sich ein Lächeln auf seine vollen Lippen. Er hatte diesen Anblick vermisst, auch wenn es ihm vorkam, als wenn er erst gestern hier gestanden hätte. Es war vermutlich wieder so viel Zeit vergangen …

Nachher würde er sich im Fluss waschen gehen, aber jetzt musste er sich erst mal in der Stadt umsehen, gucken, in welcher Zeit er jetzt lebte, was sich verändert hatte und vermutlich brauchte er auch neue Kleidung, um nicht zu sehr aufzufallen. Er lief los und spürte Schmerzen, ausgehend von seinen Muskeln und seinen Knochen, doch mit jedem Schritt wurde es besser und er beweglicher. Er kannte das und irgendwie mochte er es, machte es ihm jeden neuen Anfang noch deutlicher. Es dauerte nicht lang, da wurde es noch heller um ihn herum. Menschen kreuzten seinen Weg. Ein paar musterten ihn für einige Sekunden abfällig, schenkten ihm aber kein weiteres Interesse. Er war nicht angemessen gekleidet für die heutige Zeit, das erkannte er sofort. Er wusste noch immer nicht, in welcher Zeit er jetzt lebte, aber zuletzt war er 1974 erwacht und da hatten die Menschen noch andere Kleidung getragen als jetzt. Vor allem die Leute, die etwa in seinem Alter waren. Er fühlte sich etwas ausgegrenzt und alleine, aber auch das kannte er, war es doch jedes Mal dasselbe.

Erstaunt blieb er stehen, als er ein paar Geschäfte entdeckte, die noch geöffnet waren. Kleiderständer und Obst- und Gemüsekisten standen draußen, Licht brannte in den Geschäften und die Menschen kauften eifrig ein. In einem der Kleidungsgeschäfte sah er ein paar Jungen, circa Anfang 20. Das würde dann wohl zu ihm passen, oder? Zögerlich ging er auf das Geschäft und die draußen stehenden Kleidungsständer zu und sah sich um. Er hatte kein Geld und würde nur heimlich ein paar Dinge entwenden können.

Er schaute sich die Kleidung an, schätzte ab, welche ihm passen könnte, griff dann einfach nach der erstbesten Hose und einem der Shirts, die auf einem der Ständer hingen. Dann rannte er auch schon los, immer weiter, bis ihm die Luft ausging und er in eine der Gassen abbog. War ihm jemand gefolgt? Hatte ihn jemand beobachtet? Er wusste es nicht. Die ganze Zeit hatte er einfach nur nach vorne geschaut und nicht darauf geachtet, was hinter ihm passierte. Anscheinend hatte er seine Sache ganz gut gemacht, denn angelaufen kam niemand.

Hastig rang er nach Atem. Er war es einfach nicht mehr gewöhnt zu laufen. Tief atmete er ein und setzte sich dann wieder in Bewegung. Er würde sich jetzt einen Platz suchen, wo er sich umziehen konnte, ohne dass ihn die Leute direkt sehen konnten.

Nach kurzer Zeit fand er einen wenig beleuchteten kleinen Park. Er lauschte, und als er niemanden hörte, verschwand er rasch hinter einen großen, dichten Busch. Abermals sah er sich um und stellte erleichtert fest, dass ihn hier keiner so schnell sehen konnte. Also legte er seine alte Kleidung ab und zog sich die weite Hose und das große Shirt an. Da hatte er wohl etwas in der Größe daneben gegriffen, aber es war dennoch erst mal besser als die alte Kleidung. Und auch wenn diese hier viel zu weit wirkte, passte sie irgendwie. Die Hose saß zwar recht tief unten, aber sie rutschte nicht …

Schulterzuckend schmiss er sein altes Oberteil und die Hose in den Busch und überlegte dann. Frische Unterwäsche würde er sich später noch besorgen, jetzt brauchte er etwas zu essen, zu trinken und etwas, worin er ein paar Sachen verstauen konnte. Er musste sich erst wieder nach und nach ein paar Dinge zulegen, damit er leichter im Hier und Jetzt leben konnte. Es würde wie immer nicht einfach werden, aber er hoffte, dieses Mal endlich an sein Ziel zu gelangen. Er wünschte es sich so sehr …

Ächzend kroch er wieder aus dem Busch hervor und lief den dunklen Weg, der durch den Park führte, entlang. Wo sollte er jetzt weitermachen – wo sollte er weitersuchen? Wieder bei den Geschäften?

Ein leises Kichern und ein darauffolgendes Stöhnen weckte seine Aufmerksamkeit. Wo kam das her? Er sah niemanden, nur ein paar Dinge auf … Er hielt inne und lief langsam auf die Bank zu, wo eine Weste, eine Schachtel Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Rucksack lagen. Das wäre perfekt, aber wo waren die Leute? Er hatte sie doch gehört. Fast bei der Bank angekommen, hörte er wieder ein Kichern, ehe ein verhaltenes, männliches Stöhnen zu hören war.

„Schatz, ich würde ja auch gerne, aber wir sollten das nicht hier in der Öffentlichkeit machen, lass uns nach Hause gehen!“

Der Busch, schräg hinter der Bank, raschelte leise.„Komm schon, hier sieht uns doch keiner! Komm, nur ein kleiner Quickie!“

Suchend sah er sich um, dann schnappte er sich die Sachen, die auf der Bank lagen, und eilte davon. Die Besitzer schienen auch dieses Mal nichts zu bemerken – zum Glück schienen sie gerade ziemlich beschäftigt zu sein.

Mit knurrendem Magen lief er weiter und steuerte schließlich den Platz an der Elbe an, von wo aus er gerade gestartet war. Dort ließ er sich auf den staubigen Boden sinken und öffnete den Rucksack, den er einfach umdrehte und ausleerte. Ziemlich viel Krimskrams fiel heraus, was ihn die Stirn runzeln ließ.

Einige Sachen davon kannte er gar nicht und daher ließ er sie auch unbeachtet liegen. Irgendjemand würde morgen bestimmt vorbeikommen, das Zeug finden und mitnehmen, oder auch nicht. Ihm war es egal, er konnte nichts damit anfangen. Sein Blick fiel auf eine Flasche, in der eine bräunliche Flüssigkeit herumschwappte, und auf ein Brötchen, das in einer Folie eingewickelt war. Heute musste wohl sein Glückstag sein! Nicht nur, dass er jetzt neue Klamotten hatte, nein, er brauchte jetzt auch nicht noch mal los, um sich etwas zu essen zu besorgen!

Ein Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Er konnte nachher also einfach noch ein bisschen durch die Gegend laufen und sich umschauen. Und vielleicht hatte er ja noch einmal Glück und er würde sie endlich finden …

Auf jeden Fall hatte er jetzt schon mal einen guten Anfang gemacht und bei so einem guten Start konnte doch auch nur ein gutes Ende kommen, oder? Er hoffte es ...

1.

Genervt stöhnend lehnte Fabian seinen Kopf an die kalte Scheibe des riesigen Reisebusses. Seit Stunden fuhren sie schon in dem Ding,und so langsam tat ihm der Hintern weh. Von München nach Hamburgwar halt kein Katzensprung und die Fahrtwurdenicht nur für FabianzurGeduldsprobe. Die Lehrerin und die elterliche Aufsichtsperson hatten den gewählten Ausflugsortsicherschon längst bereut.Tja, da wäre Stuttgart wohl doch das angenehmere Reiseziel gewesen. Zumindest was die Fahrt anging. Aber natürlich wollten alle nach Hamburg, man hatte ja nicht jeden Tag die Gelegenheit dorthin zukommen.

Fabian war Schüler eines privaten Gymnasiums, und diese Fahrt war ihre Abi-Abschlussfahrt. Trotzdem war ihr Reisebus – zum Entsetzen aller – ein ganz normaler.

Nichts mit extra großer Beinfreiheit, Klimaanlage, Fernsehen oder sonstigemLuxus. Da war für den einenoder anderen gleich zu Beginn schon eine Welt zusammengebrochen. Fabian allerdings war das egal.Seine Eltern waren zwar reich, aber erwarnicht sehr anspruchsvoll, davon abgesehenschlief er lieber während der Fahrt, anstatt sich irgendeinen doofen Film anzusehen. Doch aus dem Schlafen wurdedank einem Bus voll peinlicher, nerviger und gelangweilter Teeniesleider nichts. Fabian war zwar einer von ihnen und er kam mit seiner Jahrgangsstufe an sich auch gut klar, aber in solchen Momenten war erschnell genervt.

„Hey Fabian, wir sind da!“, riss Dylan, Fabians bester Freund,ihnaus den Gedanken. Verwirrt blickte er auf und aus dem Fenster. Tatsächlich, der Bushatte angehalten.Alle klebten schon an den Fenstern und starrten neugierig hinaus auf das Gebäude, indem sie die nächsten zwei Wochen nächtigen würden.

„Endlich sind wir da.“ Fabian streckte sich, als erausstieg,hielt sich als Einziger etwas aus dem ganzen Getümmel heraus und lehnte sich gegen den Bus.

„Ja, ich hätte nicht gedacht, dass die Fahrt so lange dauert“, meinte Dylan und verschwand kurz darauf, um sich seine Tasche zu greifen.

Fabian hingegen blieb still stehen und musterte ihre Unterkunft. Es erinnerte von außen mehr an eine Herberge für einen Skiurlaub. Er freute sich schon richtig auf die kommenden zwei Wochen. Er hatte sich in den letzten Tageneine Liste von Sehenswürdigkeiten zusammengestellt, die auf er jeden Fall ansehen wollte.

„Hey, Fabi, ich hab was für dich!“Dylanzog Fabians Trolley mit sich.

„Danke.“Fabian lächelte seinen Kumpel an und schloss kurz die Augen. Das Wetter meinte es gut mit der Gruppe und begrüßte sie mit strahlendem Sonnenschein.

„Okay, alle zuhören!“, verschaffte sich die Lehrerin Gehör, als auch die restlichen Schüler inklusive Aufpasser zu ihnen gefunden hatten. Frau Granich schien klar zu sein, dass sie nicht alle zum Schweigen bringen konnte, und so versuchte sie es gar nicht.

„Eure Zimmeraufteilung ist euch ja bereits bekannt! Jeder Zimmerverantwortliche holt sich jetzt die Schlüssel! Dann geht ihr bitte ohne unnötigen Krach zu machen auf eure Zimmer, richtet euch ein, seht euch um oder ruht euch noch ein wenig aus! Solange ihr keinen Ärger macht, könnt ihr tun, was ihr wollt! Um 14 Uhr sehen wir uns in der Kantine zum Kaffeetrinken und Programmbesprechen! Wir werden heute noch einen kleinen Trip in die Stadt machen, aber dazu kommen wir später! Also dann … holt eure Schlüssel!“

Sofort setzte sich Dylan in Bewegung,und holte den Schlüssel für das Zimmer, das Fabian, Peter, Freddy und er bewohnen sollten. Fabian seufzte, wie vorhin im Bus schon, und sah gelangweilt durch die Gegend. Sieben Stunden waren sie gefahren, gerade war es 12 Uhr … Da es mit dem Schlaf im Bus nichts geworden war, musste Fabian jetzt mit Augenringen herumlaufen! Fertigmachen mitten in der Nacht war noch nie seine Stärke gewesen … Naja, er würde damit leben müssen, bis sie in ihrem Zimmer waren. Aber dort würden ihn dann keine zehn Pferde mehr davon abhalten können, sich ordentlich aufzustylen! Dylan kam mit den Schlüsseln zurück und verteilte an jeden einen Stadtplan. Danach machten sie sich daran, Koffer und Taschen in den dritten Stock zu schleppen.

„Tolle Unterkunft, echt, nicht einmal funktionierende Fahrstühle gibt es hier“, nuschelte Peter und bildete bockig das Schlusslicht.

„Das bisschen Bewegung bringt uns schon nicht um“, meinte Dylan schulterzuckend.

„Also mich schon“, gab Peter grummelnd von sich.

„Warum packst du auch so viel Mist ein? Wir sind zwei Wochen hier, nicht zwei Monate“, kicherte Dylan.

„Was heißt hier Mist?!“, knurrte Peter, „Ich hab nur das Wichtigste mitgenommen.“

„Das Wichtigste …“, wiederholte Freddy lachend und schloss oben angekommen das Zimmer auf.

„So Leute, also wenn ihr noch ins Bad wollt, dann macht das schnell. Ich war heute Morgen nämlich mehr als unfähig, mich richtig zu stylen und werde vermutlich jetzt etwas länger brauchen“, gab Fabian bekannt, kramte dabei seine Kosmetiktasche aus seinem Koffer.

„Boah, du bist so eine Diva, Fabian“, sagte Freddy kopfschüttelnd und stellte sich ans Fenster. „Ich komme mir ein bisschen vor wie im Schwulenclub. Nicht, dass ihr alle schwul seid und ehrlich, ich mag euch alle, aber der eine hat zentnerweise Klamotten mit, der andere ist, was die Körper- und Hautpflege anbelangt, schlimmer als jedes Mädchen und der Letzte ist so weich und sanft von der Art her, dass man denkt, man sitzt einer Frau gegenüber, die mit einem Säugling spricht.“

Fabian hörte ihn lachen und schnaubte. Er fragte jetzt lieber nicht nach, wer in seiner Beschreibung wer war ...

Im Bad stand Fabian schon längst vor dem Spiegel und fummelte an seinem Gesicht herum. Noch nicht einmal umgesehen hatte er sich. Er war zwar nicht arrogant, aber eitel – wenn er nicht gepflegt aussah, fühlte er sich nicht wohl, nur flüchtig gekämmt zählte da bei ihm zu ungepflegt. Leider hatte er sich heute Morgen in der Zeit vertan, sodass er gedacht hatte, er könne sich noch richtig fertigmachen, aber letztendlich hatte er nicht mal mehr Zeit gehabt, sich seine Haare richtig zu frisieren. Schon dumm, wenn einem auf einmal auffiel, dass um fünf Uhr nicht die Abfahrt des elterlichen Autos, sondern die des Reisebusses war. Na ja, zu ändern war es eh nicht und seinen Jahrgangsstufenkameraden und Freunden war es nicht mal aufgefallen. Mit seiner Arbeit zufrieden, legte Fabian letztendlich alles wieder weg und verstaute es in seiner Kulturtasche, die er auf einen Sims packte. Dann sah er sich in der Unterkunft um. Das Apartment bestand aus einem Bad, Schlafzimmer, Balkon und einer Stube mit Küchenzeile. Natürlich alles nicht riesig, aber durchaus ausreichend für vier Jugendliche mit etwas gehobenen Ansprüchen. Na, hier ließ es sich doch aushalten! „Hey Fabian, in einer Stunde müssen wir los! Ne Idee, was wir machen könnten bis dahin?“, fragte Dylan neugierig und hockte mit den anderen beiden auf der Couch im Wohnzimmer.

„Koffer auspacken und einräumen?“, fragte Fabian mit angehobener Augenbraue nach und schnappte sich auch gleich seinen Rollkoffer. Ein Blick in den Schrank genügte – die Jungs hatten in der Zwischenzeit schon ausgepackt. Schön für sie, aber er hatte noch genügend zu tun!

„Könnt ja mal das Bier holen! Und macht mir auch eine Flasche mit auf!“

„Das nenne ich ein Wort!“ Grinsend schwang sich Freddy von der Couch und holte die Getränke aus dem kleinen Kühlschrank. Fabian verstaute währenddessen schnell den Inhalt seines Koffers ordentlich im Schrank und schob den Trolley anschließend unter das Bett.

„Bitte sehr die Dame.“ Freddy hielt ihm die Flasche entgegen.

„Danke“, brummte er nicht besonders begeistert, hier gleich wieder als Frau bezeichnet zu werden, nur, weil er ein bisschen auf sich achtete. Fabian hievte sich eine Etage höher, da er ja noch immer auf dem Boden saß, und ließ sich auf seine weiche Matratze fallen. „Also ginge es nach mir, würde ich heute freimachen und schlafen gehen“, seufzte er. „Aber es geht nicht nach dir, also wird dein Mittagsschläfchen nichts“, kam es von Dylan.

„Das weiß ich auch“, erwiderte er und nippte an seinem Bier. Er merkte erst jetzt, wie anstrengend die Fahrt gewesen war und wie sehr er unter dem Schlafmangel litt. Wenn er sich jetzt allerdings noch 40 Minuten hinlegte, sähe er danach aus wie Frankensteins Monster persönlich.

„Meint ihr, man kann auch mal was alleine unternehmen? Ich hab gehört, dass es hier einen schönen See geben soll. Aber da will ich nicht die halbe Jahrgangsstufe mitschleppen!“

„Okay, verständlich“, sagte Freddy. „Und was ist mit dir, Fabi? Schon was vor?“

Fabian schreckte leicht auf. „Ich … ähm … Ja, klar hab ich einiges vor hier, aber das alles aufzuzählen würde Stunden dauern“, sagte er etwas verdattert und schaute zu seinen Zimmergenossen. „Ich hoffe mal, dass wir nachher einfach machen können, was wir wollen. Die Granich meinte ja letztens, dass wir am ersten Tag gleich in die Innenstadt fahren. Wenn wir Glück haben, können wir vielleicht dort bleiben. Da wir ja alle volljährig sind, wird sie uns nicht an der kurzen Leine halten. Wir müssen dann nur die Fahrt hierher zurück bezahlen.“

Dylan schmunzelte. Ihm und auch den anderen war klar, dass Fabians Eltern ihrem Sohn reichlich Taschengeld mitgegeben hatten. Sie waren wirklich spendabel und wollten immer das Beste für ihren Sohn. Trotzdem war Fabian auf dem Boden geblieben, ihm war es gleich, ob jemand reich oder arm, intelligent oder eher schlicht war.

„Sagte sie nicht, wir machen eine Stadtrundfahrt? Wenn der Fahrer nett ist, setzt er uns vielleicht gleich irgendwo ab, wo wir auch was machen können.“

Freddy nickte und kratzte sich an dem kleinen Ziegenbart an seinem Kinn.

„Werden wir dann ja sehen.“ Fabian streckte sich, trank den letzten Schluck aus seiner Bierflasche und stand dann wieder auf. „Wollen wir los?“, fragte er und sah in die Runde.

„Mhm … nur keinen Stress, wir müssen eh erst in zehn Minuten da sein und die Hälfte wird wahrscheinlich sowieso zu spät kommen.“

Als sie Minuten später in der Kantine eintrafen, stellten sie fest, dass sie wirklich zu den Ersten gehörten. Noch nicht einmal die Lehrerin war da!

„Seid ihr sicher, dass wir uns hier um 14 Uhr treffen wollten und nicht irgendwo anders?“, fragte Peter.

„Ja, eigentlich schon, aber ist doch gut, schaut mal, die haben hier sogar noch ein Buffet“, stellte Dylan fest und war auch schon dorthin verschwunden.

„Das trifft sich gut, ich hab heute noch nichts Ordentliches gehabt.“ Freddy folgte begeistert und auch Fabian und Peter ließen sich kein zweites Mal bitten. Es gab Kuchen, Kekse und Waffeln. Das war der Vorteil, wenn man etwas mehr Geld für die Unterkunft zahlte. Fabian nahm sich ein Stückchen Apfelkuchen und eine Tasse Kaffee, bevor er an den Tisch ging, wo seine Freunde bereits saßen. Er klaute Dylan einen Löffel Schlagsahne und grinste breit, als sein bester Freund ein empörtes „Hey!“ ausstieß. Dann kostete Fabian ein Stück Kuchen. Nicht schlecht!

Frau Granich machte sich bemerkbar, verkündete, dass sie in zwanzig Minuten ihre Rede halten wollte und danach ginge es los.

2.

Genüsslich schlürfte Fabian den Kaffee und ließ dabei seinen Blick durch den Raum schweifen. Er kannte nicht alle aus seiner Jahrgangsstufe sehr gut, aber von der Anzahl her schienen mittlerweile so ziemlich alle da zu sein. Und da war auch ein Typ aus einem seiner Kurse, der ganz schnuckelig aussah ... Zwei Tische entfernt saß Tristan. Fabian wusste, dass er ebenfalls schwul war und er entsprach auch seinem Geschmack. Doch bisher hatte sich nie etwas zwischen ihnen ergeben. Jetzt grinste Tristan ihn breit an und zwinkerte auffällig. Fabian spuckte vor Schreck fast über den Tisch – Interesse war da, aber dieses offene Anmachen … da stand Fabian nicht wirklich drauf. Er mochte es lieber still und heimlich, ganz langsam erobert zu werden. Oder halt anders herum – dass er eroberte. Aber na ja, die Jahrgangsstufenfahrt dauerte noch zwei Wochen, da war viel Zeit vorhanden, sich von einer anderen Seite kennenzulernen.

„So, bitte mal zuhören!“, meldete sich Frau Granich wieder und die zweite Lehrerin trat zu ihr. „Ich bitte euch, eure Tische abzuräumen und zu dem Reisebus vor dem Gebäude zu gehen! Wir fahren heute an den Hamburger Hafen und machen dort eine Besichtigung, und von dort aus erkunden wir ein bisschen die Gegend. Etwa gegen 15 Uhr werden wir dort sein und um 18 Uhr ist die Tour zu Ende! Wer möchte, kann danach noch dort bleiben, die Rückfahrtkosten müsst ihr da allerdings selber tragen! Des Weiteren bitte ich euch, um spätestens 23 Uhr wieder da zu sein, da hier dann die Nachtruhe beginnt! Also … beeilt euch bitte ein wenig!“ Frau Leimer, die zweite Lehrerin, endete mit ihrer Rede und begann nun selbst, ihren Tisch abzuräumen.

Fabian grinste Freddy an, streckte ihm die Zunge raus und schnappte sich sein schmutziges Geschirr.

„Ich wusste gar nicht, dass der Hafen hier so interessant sein kann, dass wir uns ganze drei Stunden damit beschäftigen können“, nuschelte Dylan, als sie schließlich im Bus saßen, lehnte sich in den Sitz zurück und schloss eine Weile seine Augen.

„Hm … drei Stunden Busfahren …“, sagte Peter gespielt begeistert.

„Aber soweit ich das mitbekommen habe, sind wir gleich zu Fuß unterwegs, also müssen wir wenigstens nicht wieder die ganze Zeit sitzen“, seufzte Fabian, schaute aus dem Fenster, als der Bus abfuhr.

„Wie lange fahren wir denn jetzt eigentlich?“, meldete sich Freddy wieder.

„Unsere Tour oder Führung oder was auch immer, beginnt gegen 15 Uhr, das heißt, wir müssten in den nächsten zehn Minuten beim Hafen sein“, rechnete Dylan, „Also das geht doch noch, oder?“

Fabian freute sich schon auf später, wenn die Führung vorbei sein würde, dann würde er sich, so hatte er es sich schon vor Tagen gedacht, seinen besten Freund schnappen und den kurzerhand dazu verdonnern, mit ihm einmal durch die ganzen Geschäfte zu schauen. Irgendjemand hatte ihm nämlich mal gesagt, dass Hamburg eine tolle Stadt zum Shoppen war und das wollte er heute herausfinden! Dylan wusste von seinem Glück natürlich noch nichts, aber er war der Einzige, mit dem sich Fabian so eine Tour vorstellen konnte.

„Du, Dylan, hast du Lust, später ein bisschen mit mir die Gegend zu erkunden?“, entschied er sich dann doch dazu, seinen Kumpel auf das Kommende vorzubereiten.

Verwirrt sah Dylan ihn an. „Das hatten wir eh vor! Haben wir doch gesagt, du Trantüte!“

Dylan runzelte die Stirn. Fabians Blick verfeinerte sich und dann lockerten die Falten auf Dylans Stirn sich mit einem Mal auf. „Nee Fabi, nicht heute! Tu mir das nicht an ...!“

Fabian schob seine Unterlippe nach vorn und sah seinen besten Freund traurig an, sich durchaus bewusst, welche Wirkung das auf diesen hatte.

Seufzend gab Dylan schließlich nach. „Aber nur eine halbe Stunde! Länger halte ich deine Shoppingtour heute nicht aus! Für richtiges Shoppen finden wir in den zwei Wochen schon noch mal Zeit, klar?“

Fabian strahlte seinen Kumpel an und fiel ihm um den Hals. „Danke, danke, danke!!“, quietschte er und gab seinem besten Freund einen Kuss auf die Wange.

Dylan verzog seine Lippen. Fabians feuchte Schmatzer hatte er noch nie leiden können. Er mochte Fabian sehr, aber ihre Freundschaft war rein platonisch.

„Wir gehen erst einmal direkt am Hafen lang! Dann folgen wir sozusagen der Elbe, Stadt einwärts! Nehmt bitte eure Rucksäcke und Taschen mit, wenn ihr sie braucht, wir werden erst in drei Stunden wieder zurückkommen!“, erhob die Lehrerin wieder ihre Stimme.

„Na dann, auf geht’s!“ Freddy grinste, griff sich seinen Rucksack und stieg, wie auch die anderen, aus dem Bus. „Mann, was gäbe ich dafür, mich jetzt irgendwo auf eine Wiese in die Sonne schmeißen zu können“, seufzte Freddy.

Fabian grinste nur und schaute sich etwas um. Das, was er bis jetzt von der Stadt gesehen hatte, gefiel ihm sehr gut und es war weit schöner als in München. Vielleicht konnte er seine Eltern ja dazu überreden, dass er außerhalb von München studieren konnte, vielleicht sogar hier? Aber zuerst musste er sich sowieso noch entscheiden, was er überhaupt einmal werden wollte. Seine Eltern sagten ja immer, er sollte irgendwas machen, womit er auch einmal eine Familie ernähren könnte, wie zum Beispiel Jura studieren, um Anwalt zu werden. Fabian hingegen hatte kein großes Interesse an so was, eigentlich war er sich noch nicht einmal sicher, ob er überhaupt studieren wollte. Vielleicht würde er ja lieber eine Lehre anfangen? Aber recht viel anderes würde ihm wahrscheinlich nicht übrig bleiben, denn gegen seine Eltern würde er sich bestimmt nicht auflehnen, immerhin war er im Moment noch finanziell abhängig von ihnen. Aber er würde das Thema mit dem Studieren in Hamburg auf jeden Fall im Hinterkopf behalten und noch mal ansprechen, wenn er wieder zu Hause war.

„Schau mal, da werden gerade Schiffe beladen.“ Peter zeigte begeistert zu einer Anlegestelle, was Fabian wieder in die Realität zurückholte.

„Was meinst du, wenn du mal nach Amerika oder Australien oder so auswanderst, dann könntest du deine Möbel von solchen Schiffen transportieren lassen“, meinte Dylan lachend und pikte seinen Kumpel neckend in die Seite.

Fabian zeigte ihm den Vogel und schüttelte den Kopf. „Weißt du, was das kostet und wie lange das dauert? In der Zeit und mit dem Geld habe ich schon zehn Mal ein Haus eingerichtet! Geld haben ist echt gut, aber aus dem Fenster rausschmeißen, muss ich es dann doch nicht!“

Dylan grinste und blickte zu der Lehrerin, welche ihnen nun anwies, ihr zu folgen. Sie hatte irgendeinen Touristenführer dabei, der ihnen die Gegend zeigte und ein paar Sachen erklärte.

Zwei Stunden später waren sie schon ein Stück Richtung Innenstadt gelaufen. Gerade betraten sie einen großen Platz, auf dem ein Springbrunnen war, ein großes Gebäude, dessen Bezeichnung Fabian nach wenigen Sekunden schon wieder vergessen hatte. Dafür weckten ein paar Geschäfte und Cafés, die auch hier waren, seine Aufmerksamkeit. „Hier sind einige alte Gebäude, die im 19ten Jahrhundert gebaut wurden. Dabei entstanden auch die engen Gassen, die heute noch vorhanden sind. Das ist ein alter Stadtkern von Hamburg, welcher im ursprünglichen Zustand erhalten wurde. Deswegen gibt es hier keine Neubauten oder dergleichen! Außerdem gibt es hier einige Denkmäler, zwei Kirchen, einige Springbrunnen und sogar noch alte Brunnen, wo die Menschen früher das Wasser mit dem Eimer nach oben gezogen haben! Aber davon werden wir gleich bei der Rundführung noch einiges sehen“, sagte der Reiseführer, als sie auf einem kleinen Platz stehen blieben.

Abermals gähnte Fabian und blickte sich um. Die Gassen waren schmutzig, genauso wie die meisten dieser „Denkmäler“.

„Ihr könnt jetzt fünf Minuten Pause machen, dann geht es weiter!“, riss Frau Granich Fabian auf einmal aus den Gedanken. Sofort zog er Dylan zur Seite und zündete sich eine Zigarette an.

„Tut das gut!“, murmelte er dann und musterte seinen besten Freund, der sich ebenfalls eine Zigarette anzündete.

„Ja, in der Tat! Aber das Viertel hier finde ich ganz cool. Direkt neben dem Bonzen-Neumachviertel … Voll der Kontrast irgendwie!“, seufzte er und schnippte etwas Asche von seiner Zigarette. Rauchend sah Fabian sich um und blieb mit seinem Blick an einer Statue hängen. Neugierig schritt er an sie heran und wie automatisch folgte Dylan ihm.

„Sieht cool aus, oder?“, fragte er, und Fabian zuckte die Schultern.

„Jo, passt schon. Schau mal, da steht gar nicht dran, wer das ist. Steht das nicht eigentlich immer auf dem Sockel?“, fragte Fabian verwirrt und ließ seinen Blick wieder nach oben wandern. Die Statue musste etwa in Lebensgröße und aus Sandstein sein, vermutete er zumindest. Sie stellte einen jungen Mann dar, welcher den linken Arm etwas ausgestreckt und gedreht hatte, als würde er mit offener Handfläche nach oben, jemandem etwas hinhalten. Der andere Arm war ebenfalls nach vorn gestreckt, die Hand war zur Faust geballt.

„Hm, eigenartig. Vielleicht ist das ja ein Privatding oder einfach jemand Unwichtiges, der nicht mit Namen erwähnt werden muss!“ Dylan lachte. Spielerisch kratzte er mit seinem Feuerzeug über die Handfläche der geöffneten Hand und hinterließ helle Striemen damit. Auch etwas gelöster Sandstein rieselte in die Mitte der Handfläche und sammelte sich dort.

„Lass das lieber, sonst bekommen wir noch einen Anschiss! Komm, wir gehen zurück, die fünf Minuten sind rum, Dylan! – Irgendwie würde mich aber interessieren, wer das ist, oder warum der hier so versteckt steht …“, sagte Fabian und drehte sich beim Gehen noch einmal um, sodass er die Steinstatue anschauen konnte.

„Ach, ist egal, ist doch nur so eine dumme, alte Statue“, meinte Dylan, „Wahrscheinlich ist das einfach nur irgendein Mitbringsel von einem Beutezug, wie die meisten anderen hier auch.“

„Ja, hast vermutlich recht“, murmelte er und lief dann mit seinem Kumpel zurück zu seiner Jahrgangsstufe, die bereits auf sie wartete.

„Hier endet die heutige Führung, ich hoffe, es hat euch gefallen und ja, ich wünsche euch noch einen schönen Aufenthalt in Hamburg!“, verabschiedete sich der Reiseführer, nachdem er sie wieder zurück zu ihrem Bus gelotst hatte. Alle stiegen wieder ein, waren froh, dass sie jetzt endlich zurückfahren und später dann alleine weg konnten.

„Wir fahren jetzt gemeinsam ein Stück zurück. In der Stadt könnt ihr dann entscheiden, ob ihr aussteigen oder mit zur Herberge wollt. Spätestens um 23 Uhr seid ihr dann aber alle wieder, ab da ist Nachtruhe“, erhob die Lehrerin die Stimme.

Fabian freute sich schon unheimlich auf die kleine, bevorstehende Shoppingtour. Zwar hatte Dylan ihm nur eine halbe Stunde gegeben, aber immerhin … mehr hätte er heute in Sachen Shoppen vermutlich eh nicht gepackt! Einkaufen war verdammt anstrengend, da war ein Discobesuch, der heute vielleicht auch noch folgen sollte, pure Erholung!

Der Bus setzte sie in der Innenstadt ab. Als Fabian sich umsah, musste er feststellen, dass fast alle ausgestiegen waren.

„Peter, Freddy? Ich gehe mit Dylan erstmal ein bisschen shoppen, ja? Wollt ihr mitkommen oder wollen wir uns nachher irgendwo treffen?“, fragte Fabian nach, als die Masse der Jugendlichen sich etwas gelichtet und er die beiden gesichtet hatte.

„Wir wollten in die Gamehall hier um die Ecke! Ich hab im Internet nen schicken Club rausgesucht, Apple Ice heißt der. Da könnten wir uns ja nachher treffen – 19 Uhr?“, fragte nun Freddy, und Peter nickte zustimmend.

Kurz überlegten Fabian und Dylan, sahen sich an und nickten dann einfach. Klar, da konnten sie gleich einen der Clubs austesten, auch, wenn es für einen Clubbesuch früh war, aber sie mussten ja um 23 Uhr wieder „zuhause“ sein.

„Na gut, dann bis nachher!“

Die Freunde trennten sich, und Fabian schleppte seinen Kumpel gleich in das nächstbeste Geschäft, wo sie durch die Gänge liefen. „Okay, also hier müssen wir unbedingt noch mal her“, sagte Fabian und schaute sich fasziniert einige Ketten und Ringe an, „Wahnsinn, was die hier alles Schönes haben …“

„Mhm“, auch Dylan schaute sich ein wenig um und schien an manchen der Schmuckstücke Gefallen zu finden. „Fabi, schau mal, glaubst du, die würde meiner Freundin gefallen?“ Er hielt Fabian eine Halskette mit Herzanhänger hin.

„Klar, warum nicht? Also ich als Mädchen würde die Kette tragen“, meinte dieser und schaute sich den Halsschmuck kurz an.

„Soll ich sie mitnehmen?“

„Ich denke, sie würde ihr bestimmt gefallen, aber du kannst natürlich auch ein Foto machen und ihr das geben.“ Fabian lachte und kassierte dafür einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Sag mal, kann ich so eigentlich in den Club gehen nachher? Sehe ich nicht zu müde oder so aus? Und meine Haare? Sitzen die noch?“, begann Fabian ein neues Thema.

„Ja, passt alles, keine Sorge, Kleiner, du siehst nach wie vor perfekt aus!“ Dylan nickte und ging dann voraus zur Kasse, um die Halskette zu bezahlen. Fabian trottete zufrieden hinter ihm her und sah sich nebenbei noch etwas um. Alleine dieser Laden hier übertraf alles, was er in München bis jetzt gesehen hatte, und er kannte die Stadt nahezu auswendig.

„Und wo gehen wir als Nächstes hin?“

„Zu Freddy und Peter! Wir haben uns schließlich für 19 Uhr mit ihnen bei dem Club da verabredet“, sagte Dylan, woraufhin Fabian etwas enttäuscht nickte. „Du hast also doch keine Lust mit mir zu shoppen!“ Er schob seine Unterlippe nach vorn und sah Dylan beleidigt an.

„Ich hab gesagt nur eine halbe Stunde!“, antwortete dieser und brachte Fabian dazu, empört zu schnauben. „Schau mal auf die Uhr! Es sind gerade mal zehn Minuten vergangen, und das hier war das erste Geschäft! Wir haben noch zwanzig Minuten Zeit und dann haben wir noch fünfzehn Minuten dazu Zeit, um den Club zu finden! Müssen wir halt ein bisschen rumfragen, im Notfall Freddy anrufen!“

Peinlich berührt schielte Dylan auf seine Uhr. Tatsächlich – er hatte irgendwie angenommen, dass mehr Zeit vergangen war. Ihm kam es viel länger vor als zehn Minuten. Entschuldigend lächelte er Fabian an und klopfte ihm auf die Schulter. „Sorry Fabi, wir gehen noch in ein Geschäft, ja? Hab mich nur in der Zeit vertan!“

Fabian nahm die Entschuldigung an und nickte, lief sofort in ein Kosmetikgeschäft, das sich genau gegenüber befand. Lancôme, Chanel und andere teure Spitzenmarken fand man in den Regalen, und Fabian fühlte sich wie im siebten Himmel. Das war seine Welt, und jetzt würde er ordentlich zuschlagen.

3.

Dylan grinste, als er sah, wie sein bester Freund mit glänzenden Augen vor einem Regal stand und eine Gesichtsmaske nach der anderen herausnahm, um zu schauen, ob die nun toll war oder nicht. Aber wer dachte, dass die kleine Diva jetzt voll bepackt zur Kasse gehen würde, lag falsch. Fabian war sehr wählerisch und kam meistens nur mit zwei oder drei Sachen aus einem Kosmetikgeschäft. Und das nannte er dann immer „zuschlagen“ … Nach zwanzig weiteren Minuten musste Dylan ihn regelrecht aus dem Geschäft prügeln. Zwei Sachen hatte er zwar gefunden, aber er hätte noch stundenlang stöbern können. Er war keine Shoppingqueen beziehungsweise kein Shoppingking, aber in Klamotten- und Kosmetikgeschäften hätte er auch wohnen können.

Die beiden liefen zurück zu der Stelle, wo sie sich vor einer halben Stunde von ihren Zimmergenossen verabschiedet hatten. Freddy hatte immerhin gesagt, sie wären in einer Gamehall gleich um die Ecke, vielleicht erwischten sie die zwei ja noch rechtzeitig, dann müssten sie den Club nicht extra suchen.

Eine Straße weiter fanden sie die Halle dann auch, doch dort war keine Spur von ihren Freunden.

„Ich ruf sie einfach mal an.“ Dylan kramte sein Handy hervor.

Fabian hockte sich währenddessen auf eine Art Bank, die neben der Gamehall war, und beobachtete seinen Freund, der ungeduldig mit dem Fuß auf dem Asphalt herumtippte und wartete, dass jemand ranging.

„Ja, hallo, ich bin’s, wo seid ihr denn? Fabian und ich sind jetzt vor der Spielhalle und haben keine Ahnung, wie wir zu dem Club kommen. Ruf mich bitte zurück, bis dann“, redete Dylan und legte auf. „Die gehen beide nicht ran, ich hab Freddy jetzt auf die Box gequatscht. Ich hoffe mal, der ruft bald zurück …“, seufzte er und lief einige Schritte weiter.

„Jetzt warte doch mal, wir wissen ja nicht einmal, wie wir dahin kommen. Was ist, wenn wir in die völlig falsche Richtung laufen? Ich kenne mich hier nicht aus und du dich wahrscheinlich auch nicht“, stoppte Fabian seinen Kumpel auch sofort.

„Ja, dann fragen wir halt, ist doch nicht so schlimm, oder?“

„Werd nicht gleich zickig, aber es bringt uns ja wirklich nichts, wenn wir uns jetzt verlaufen würden, oder?“, brummte Fabian und schaute Dylan entschuldigend an.

Seufzend und Augen verdrehend nickte Dylan und sah sich suchend um, ehe er einen Typen ansprach.

„Hey, sag mal, weiß du, wo das ‚Apple Ice‘ ist? Wir kennen uns hier nicht aus, sind dort aber verabredet“, erkundigte er sich und tatsächlich – der Typ wusste, wo es war und erklärte ihm den Weg. Immer wieder nickte Dylan verstehend und bedankte sich letztendlich, bevor er zu Fabian ging und diesen am Ärmel schnappte, um ihn einfach hinter sich herzuziehen.

„Ist direkt um die Ecke!“

Nach etwa fünf Minuten waren sie bei dem Club angekommen, wo Peter und Freddy auch schon auf sie warteten. Und aus den Augenwinkeln – sah er Tristan. Wie schon im Speisesaal sah der zu ihm herüber und lächelte ihn an, als er sah, dass Fabian seinen Blick erwiderte. Ein kleines Schmunzeln konnte sich dieser nun nicht mehr verkneifen und entgegen seiner Vorsätze entschuldigte er sich kurz bei seinen Freunden.

„Geht schon mal vor!“

Er ging auf Tristan zu.

„Hey, bist du etwa ganz alleine unterwegs?“, fragte er.

„Ja, bin ich, die anderen wollten noch wo anders hin.“ Sein Gegenüber lächelte.

„Hast du Lust etwas mit uns feiern zu gehen? Je mehr wir sind, desto lustiger wird es“, bot Fabian an und erhielt ein freudiges Nicken, „Na, dann komm mal mit.“

Gemeinsam liefen sie zum Eingang des Clubs zurück, zeigten den Türstehern brav ihre Ausweise und steuerten dann die Bar an. Eigentlich wunderte es Fabian, dass hier überhaupt Ausweise verlangt wurden, wie oft passierte denn so was eigentlich noch? Meistens waren ja sogar schon Dreizehn- oder Vierzehnjährige in solchen Clubs. Und dann wunderte man sich, warum immer wieder Kinder ins Krankenhaus kamen, die sich ins Koma gesoffen hatten …

„Darf ich dich auf einen Drink einladen?“, kam es von Tristan, als sie sich zu den anderen setzten.

Fabian nickte und hatte kurz darauf einen bunten Cocktail vor sich stehen. Dankend lächelte er seinen Schulkollegen an und nippte kurz an dem Glas.

„Wie gefällt dir Hamburg denn bis jetzt?“, fragte Tristan interessiert und setzte sich neben Fabian.

„Ich finde es einfach klasse hier. Ich war vorhin mit Dylan ein wenig shoppen, und die Läden hier sind einfach Wahnsinn! Du musst sie dir unbedingt mal anschauen“, schwärmte er, was seinen Sitznachbarn leise lachen ließ.

„Das glaub ich dir. Wir könnten ja mal gemeinsam gehen, was hältst du davon?“, schlug Tristan vor.

Sofort wurde Fabian rot. Er wusste, dass es für andere Leute eine verdammte Geduldsprobe war, mit ihm zu shoppen. Mehr als einmal hatte er bereits Freunde oder auch Partner damit vergrault …

„Ähem … ja … mal sehen … Ich hab mit Dylan schon ausgemacht, dass wir mal eine richtige Shoppingtour machen, von daher … “, stotterte Fabian vor sich hin. Es war ihm peinlich, und das breite Grinsen seines besten Freundes machte es ihm auch nicht einfacher.

„Na, ihr Turteltauben? Wollt ihr auch ein Bierchen?“, wandte sich Dylan an die beiden und stellte, ohne auf eine Antwort zu warten, zwei Flaschen Bier vor ihre Gesichter.

Sofort nickte Tristan und bedankte sich, ehe er einen großen Schluck aus der geöffneten Flasche nahm. „Danke, Mann!“

Fabian verdrehte genervt die Augen. Er fand es jedes Mal fürchterlich, wenn Dylan anstehende, vielleicht Zukünftige von ihm unter die Lupe nahm. Bei Tristan war er skeptisch, das konnte er deutlich an dem Blick seines besten Freundes ausmachen. Aber nur, weil sie jetzt miteinander redeten, nebeneinandersaßen und er einen Drink spendiert bekommen hatte, hieß das ja nicht gleich, dass er in einer Stunde mit Tristan in die Kiste hüpfen würde. Fabian ließ Dylan kommentarlos weiter beobachten und beschloss, wieder etwas Abstand zu gewinnen. In einem Club mit seinen Freunden zu sein und mit jemandem aus seiner Schule zu flirten, war halt doch nicht das Richtige, und bei der Lautstärke konnte man sich ja auch nicht wirklich gut unterhalten.

Fabian stand von seinem Barhocker auf und verschwand dann kurzerhand mit den Worten „Ich geh mal ein bisschen tanzen.“ Er hoffte, dass ihm Tristan nicht folgen würde, was dieser zu Fabians Erleichterung auch nicht tat. Stimmte es etwa doch, was er mal gehört hatte? Dass sein Schulkollege ein ziemlicher schlechter Tänzer war? Möglich war es, Tristan war auch ansonsten manchmal etwas skurril. Fabian kämpfte sich weiter vor und begann, sich zu der Musik zu bewegen. Er liebte das und war dabei vollkommen in seinem Element. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis irgendjemand ihn antanzte, das wusste er. Er war hier zwar nicht in einem Gay Club, aber dennoch waren meist ein paar seiner Sorte da und da er recht feminin wirkte, vermuteten auch die meisten Fremden, dass er schwul war. Trauen taten sich allerdings dennoch nur die Wenigsten. Wahrscheinlich aus Angst, dass sie sich irrten und mit einer Anmache einen Streit oder Schlimmeres anzettelten.

Aber dieses Mal hatte er Glück – er wurde angetanzt, und es legten sich zwei starke Arme von hinten um seine Hüften.

Neugierig drehte sich Fabian langsam um, musterte den jungen Mann, der vor ihm stand, und zog eine Augenbraue nach oben. Das war doch mal ein Leckerbissen! Ein gut gebräunter Typ, mit ordentlich Muskeln und dunklen, kurzen Haaren, was ihm einen leicht südländischen Touch gab. Gleich viel besser gelaunt, gab er nun sein Bestes, ließ noch ein wenig seine Hüften kreisen und rieb sich an seinem Tanzpartner. Er wusste, dass das jeder der Kerle mochte und so auch dieser. Die Hände des Fremden krallten sich in seine Hüften und unterstützten Fabian in seinen Bewegungen, die geschmeidig zum Takt der Musik waren.

Als das Lied wechselte, drehte Fabian sich um, die Hände legten sich sofort wieder an seine Hüften und zogen ihn nahe heran. Fabian musste grinsen bei dem süffisanten Lächeln auf den Lippen seines Tanzpartners. Und auf einmal näherten sich diese Lippen den seinen …

Eigentlich war es ihm viel zu schnell, er wartete immer ganz gerne ein bisschen und unterhielt sich auch wenigstens fünf Minuten mit der Person, die er später küsste. Zwischen ihnen war noch nicht ein Wort gefallen und dennoch wehrte Fabian sich nicht und seufzte, als die weichen Lippen auf seine trafen. Sanft begann der Fremde ihn zu küssen und Fabian zu genießen. Allerdings wurde das kurze Zeit später unterbrochen. Dylan war zu ihnen gekommen und tippte ihm auf die Schulter. Erschrocken fuhr Fabian zusammen. Musste Dylan ihn ausgerechnet JETZT stören? Mit einem Blick deutete er dem Fremden an, gleich wiederzukommen, dann folgte er seinem besten Freund.

„Was soll das denn? Was ist denn los?“, maulte Fabian und strich sich mit der Hand über die Stirn. Er war jetzt schon ins Schwitzen gekommen bei dem bisschen Tanzen.

„Also erst mal muss ich sagen, dass ich es echt nicht nett finde, dass du erst einen Typen anschleppst, den dann bei UNS sitzen lässt und dir den Nächsten anlachst! Außerdem … Peter und Freddy wollen los, weil sie k.o. von der Fahrt sind. Und ich muss ehrlich zugeben, dass es mir genauso geht. Das heißt, wir wollen zurück. Willst du noch bleiben oder mitkommen? Tristan ist übrigens auch schon abgezischt, du wärst also alleine hier!“

„Jetzt schon?“, fragte Fabian etwas enttäuscht, sie waren doch erst vielleicht eine Stunde hier!

„Ja, wir sind alle fix und alle und du hast doch heute auch schon gejammert, dass du müde bist von der Anreise. Kommst du also mit, oder willst du alleine bleiben?“, wiederholte Dylan.

„Okay … Ich fahr mit euch zurück“, seufzte Fabian schließlich und holte sein Handy aus der Hosentasche. 21:43 Uhr. War die Zeit wirklich so schnell vergangen? Fabian hatte das gar nicht richtig bemerkt. War er wirklich so lange mit dem Typen eben beschäftigt gewesen? Anscheinend schon!

Er lief mit seinem Kumpel zurück zu seinen Zimmergenossen, die wirklich alle etwas erschöpft aussahen, und verließ mit ihnen den Club. Klar, es war unfair von ihm, dass er den Jungen, mit dem er eben so lange getanzt hatte, einfach so abservierte und eiskalt stehen ließ, aber er hatte keine Lust, dem jetzt zu erklären, dass seine Freunde heimgehen wollten und er mitmusste. Der Typ würde ihn doch für vollkommen von der Rolle halten und darauf konnte Fabian definitiv verzichten.

Draußen schlug ihnen die kühle Abendluft entgegen und weckte sie wieder ein Stück weit auf. Es war ziemlich frisch dafür, dass Sommer war und es den ganzen Tag recht warm gewesen war.

Fabian fröstelte leicht und fischte sich seine Zigaretten aus der Tasche. „Wartet mal, rauchen wir noch eine?“, wandte er sich an seine Freunde und versuchte, sein Feuerzeug irgendwie funktionstüchtig zu bekommen, was bei dem Wind, der immer mal wieder eine Böe schickte, nicht ganz einfach war.

„Mach das doch später auf dem Zimmer, hm? Wir haben immerhin einen Balkon, da kannst du von mir aus drei Schachteln rauchen“, murrte Peter.

„Was ist denn dir über die Leber gelaufen? Ich kann doch wohl tun und lassen, was ich will, und außerdem müssen wir sowieso erst einmal eine Bushaltestelle suchen und dann auf den Bus warten. Weiß irgendjemand, wo eine ist und mit welcher Linie wir fahren müssen?“, konterte Fabian.

„Ich bin müde und will nach Hause, okay? Und das Zeug tut deinen Lungen doch sowieso nichts Gutes“, knurrte Peter wieder und lief dann etwas vor.

„Na der hat ja eine Laune.“ Dylan schüttelte den Kopf und holte dann die Stadtkarte aus seiner Tasche. Auf der Karte waren auch die Bus- und Bahnlinien verzeichnet.

„Ha!“, stieß Fabian erfreut aus, als seine Zigarette endlich Feuer gefangen hatte, und atmete den Rauch einmal tief ein, ehe er ihn wieder in die Nacht pustete. Er blieb stehen und packte seine Schachtel wieder in den Rucksack. Als er erneut aufschaute, fiel sein Blick auf eine Gruppe Jugendlicher, die eine Person umringte, die unter einer flackernden Laterne hockte. Die Szene erregte seine Aufmerksamkeit. Waren das nicht Jahrgangsstufenkameraden von ihm? Fabian war sich nicht sicher und lief rasch ein paar Schritte auf sie zu.

„Alter, was soll der Scheiß?! Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst, du Spast? Hast du keine Augen im Kopf?“, meckerte ein Kerl, den Fabian als Jason aus seiner Jahrgangsstufe erkannte. Der Typ war dafür berüchtigt, öfters mal auszuteilen und gerade eben wollte er das wohl schon wieder, wie es aussah. Bei ihm waren noch drei weitere Jungs aus seiner Jahrgangsstufe, Jim, Paul und Martin – und ein Fremder.

„Jetzt reg dich nicht auf, ich hab mich doch schon entschuldigt! Kann doch mal passieren, wenn man es eilig hat!“, versuchte der Fremde Fabians Schulkollegen zu beruhigen, aber Pustekuchen … Jason brüllte los, schubste den Fremden auf den Boden und stapfte dann wutentbrannt davon.

Einen Moment sah Fabian den Jungs noch hinterher, dann ging er auf den Fremden zu, der auf dem Boden sitzen blieb, sich aber den Dreck von der Hose klopfte. Stumm hielt er dem Jungen seine Hand hin. Fragend sah der Fremde, der Hopperklamotten trug, auf und runzelte die Stirn.

„Was wird das?“, fragte er skeptisch nach.

Fabian legte die Stirn in Falten.

„Ähm … ich will dir aufhelfen?“ Was war das denn für eine Frage? Wenn einer auf dem Boden saß und der andere ihm eine Hand hinhielt, war es doch klar, was er vorhatte! Na ja, komischer Typ halt. Der Fremde mit den schulterlangen blonden Haaren nickte und nahm die noch immer hingehaltene Hand an, ließ sich hochziehen und putzte sich im Stehen letztendlich auch noch den restlichen Dreck von der Hose, wobei allerdings auf einem Bein immer mehr rote Flecken auftauchten.

„Blutest du? Hast du dich verletzt?“, fragte Fabian besorgt und nahm die anscheinend verletzte Hand in seine. Vielleicht mochte er gerade ein wenig aufdringlich wirken, allerdings war er einfach ein hilfsbereiter Mensch. Und er konnte es nicht leiden, wenn Leute runtergemacht oder sogar verletzt wurden.

„Ist egal, nur ein kleiner Kratzer! Da hat nur irgendein Idiot anscheinend …“ Der Typ stoppte und zischte auf, als Fabian ein Taschentuch auf die offene Wunde drückte.

„Danke!“

„Komm mal mit, dahinten sind Bänke.“ Fabian zog den Unbekannten mit sich zu eben genanntem Ort und zwang ihn, sich hinzusetzen, dann fischte er aus seinem Rucksack ein kleines Täschchen heraus.

„Was haben die denn gemacht? Hatten die ein Messer dabei?“, fragte Fabian besorgt und tupfte mit dem Taschentuch das Blut immer wieder vorsichtig weg.

„Hab in Glasscherben gegriffen, als mich der eine da auf den Boden geschubst hat“, nuschelte der Fremde und staunte nicht schlecht, als Fabian Desinfektionsmittel und ein großes Pflaster auspackte.

„Falls du dich jetzt fragst, warum ich das mit mir herumschleppe – ich hatte Phasen, da war ich ziemlich unbeholfen und seitdem hab ich das halt dabei, falls ich mich mal wieder verletze.“ Fabian lachte über den verdatterten Blick.

„Okay … Danke. Wie heißt du, wenn ich fragen darf?“

„Fabian und du?“

„Mike … Was macht jemand wie du um diese Zeit, hier? Du scheinst nicht einer von diesen Typen zu sein, die nachts durch die Straßen ziehen und sich die Birne zusaufen. Du siehst ja, was passieren kann!“, sagte Mike und beobachtete, wie seine Hand verarztet wurde.

„Ich war mit Freunden in dem Club dahinten und … scheiße! Die wissen ja gar nicht, wo ich bin! Ich bin einfach weggerannt, als ich gesehen hab, was hier los war!“ Fabian schlug sich leicht gegen die Stirn.

„Ruf sie halt an? Oder, wenn du willst, kann ich dich auch nach Hause begleiten. Das wäre das Mindeste, immerhin hilfst du mir“, sagte Mike und erntete einen verwirrten Blick.

„Ähm … ja … mal sehen, aber eigentlich ist das doch selbstverständlich, dass man anderen Leuten hilft. Wenn man selbst verletzt ist, will man ja auch nicht einfach liegen gelassen werden. Geht das mit deiner Hand so?“ Fabian klebte das Pflaster vorsichtig über die Wunde und drückte es am Rand an, damit es besser hielt. Er verstand nicht, warum Mike so komisch reagiert hatte, nur, weil er ihm half. Neugierig musterte er den Jungen vor sich, der nur wenig älter als er zu sein schien. Okay, schwach wirkte er nicht, aber gegen vier Gegner hatte er auch keine Chance gehabt. Er fand das Verhalten seiner Mitschüler einfach nur armselig und feige!

„So und jetzt?“, fragte Fabian mehr sich als sein Gegenüber, welcher dennoch die Schultern zuckte. Stumm holte er sein Handy aus der Hosentasche und versuchte seine Freunde anzurufen. Und fünf Minuten später verfluchte er sie alle! Wie vorhin schon waren Freddy und Peter nicht zu erreichen und Dylan, der sich darüber ausgelassen hatte, hatte nun selbst sein Handy ausgeschaltet. Oder er hatte keinen Empfang.

„Verdammt!“, fluchte er und stemmte seine Hände in die Hüften. „Hast du eine Ahnung wie ich zum … oh verflucht, wie heißt das Ding überhaupt?“ Stirnrunzelnd dachte Fabian nach, aber ihm fiel der Name seiner Unterkunft partout nicht ein! „Die Straße weiß ich auch nicht …“, jammerte er weiter. Er wollte nicht rumjammern, aber ihn pisste es gerade mehr als ein bisschen an, mitten in Hamburg zu hocken und keinen Plan zu haben, wie er „nach Hause“ kam. Das konnte doch nicht wahr sein! Ein Blick auf die Uhr ließ Fabian noch einmal schwer schlucken. Es war 22:45 Uhr … Er würde es nie rechtzeitig zurückschaffen, und um 23 Uhr schlossen die das Gebäude ab, wegen der blöden Nachtruhe! Würde er später kommen und jemand musste aufschließen, würde er höllischen Ärger kriegen! Da blieb ihm eigentlich nichts anderes übrig, als erst morgen früh zurückzugehen und sich heimlich hineinzuschleichen. Und das, wo er jetzt schon müde war.

„Weißt du“, begann Fabian zögerlich und spielte nervös mit seinen Händen. Er kam sich ein bisschen seltsam vor.

Aufmerksam musterte Mike ihn.

„Du kannst mich vielleicht nicht dahin bringen, aber … könnte ich vielleicht die Nacht irgendwie bei dir pennen? Ich weiß, das klingt bekloppt, wir kennen uns gar nicht und jetzt fragt ein Fremder, ob er bei dir schlafen kann. Aber ich kann heute nicht mehr in diese Jugendherberge. Und ich bin voll müde! Weißt du, ich komme eigentlich aus München und bin nur auf Jahrgangsstufenfahrt hier …“ Ja, es klang dumm, wirklich, denn wer würde schon einen Fremden mit sich nach Hause nehmen? Dazu klang die „Ausrede“, nicht mehr zurückzukönnen, auch noch mehr als billig. Dieser Mike musste ihn für einen aus dem Irrenhaus halten.

Nervös blickte Mike zur Seite und schüttelte dann sachte den Kopf. „Nein, entschuldige, das geht nicht! Ich kann dich nicht mit nach Hause nehmen, aber wenn du willst … kann ich ja bei dir blieben bis morgen früh! Also damit du nicht alleine bist. Man hat ja gerade gesehen, was um die Uhrzeit hier draußen passieren kann! Ich bin ohnehin erstaunt, dass du mich angesprochen hast. Danke noch mal. Also, ich kann die Nacht hier bleiben, könntest dich ja auf die Bank hier setzen und schlafen, aber mit zu mir … nach Hause nehmen kann ich dich nicht.“

4.

Gut, es war verständlich, dass Mike ihm nicht traute, aber dass er ihm deshalb anbot, hier bei ihm sitzen zu bleiben? So etwas hatte Fabian ja wirklich noch nie gehört! Eigentlich könnte es ihm doch egal sein, was aus ihm wurde, oder nicht?

„Danke, aber du musst nicht hier bleiben, du wirst ja wahrscheinlich auch müde sein, oder?“, stammelte Fabian, doch sein Gegenüber schüttelte den Kopf.

„Nein, das geht, ich bin eher ein Nachtschwärmer und alleine lassen will ich dich jetzt nur ungern. Wenn ich könnte, würde ich dich wirklich mit zu mir nehmen, aber das geht leider nicht“, erklärte er.

Fabian war verwirrt, verstand nicht, warum der Junge sich jetzt die Mühe machte. Er könnte doch feiern gehen oder Freunde treffen und mit denen irgendwas unternehmen? Stattdessen wollte er hier sitzen bleiben und ihm beim Schlafen zusehen? Das ergab irgendwie keinen richtigen Sinn.

„Gut“, murmelte Fabian etwas verunsichert und setzte sich neben Mike, kramte wieder in seiner Tasche herum und packte eine Mineralwasserflasche und zwei Müsliriegel aus. Einen davon hielt er Mike unter die Nase. Der schaute ihn an, als würde Fabian ihm gerade eine Pistole vor die Nase halten.

„Probier mal, ist lecker“, sagte Fabian daraufhin und trank einen Schluck aus seiner Flasche. Mike nahm den Riegel entgegen und musterte diesen, als wäre er irgendetwas Außerirdisches.

„Es ist essbar, das kannst du mir glauben! Ist eine neue Sorte, die schmeckt echt lecker!“ Fabian lachte und trank noch mal aus seiner Flasche.

Skeptisch packte Mike den Riegel aus und knabberte zaghaft daran. Als er allerdings merkte, dass der Riegel schmeckte, gab er ein „Hmmm!“ von sich und biss richtig ab. Ja, das war mal was anderes, als das ständige Obst und Gemüse, was er fast ausschließlich aß.

„Ja, nicht wahr? Kannst noch einen haben, wenn du möchtest!“ Fabian grinste und hielt seinem Banknachbarn einen weiteren Riegel hin, der auch gleich entgegen genommen wurde.

„Hast du da ein ganzes Überlebensprogramm drin?“ Mike sah neugierig in den Rucksack und konnte tatsächlich einen guten Blick erhaschen. Ja, der Junge hatte da wirklich so einiges drin.

Eine halbe Stunde später saßen die beiden stumm auf der Bank und blickten vor sich hin. In Fabians Bauch lauerte eine unangenehme Aufregung, die ihn immer wieder nervös zappeln ließ. Er hatte Angst, dass sein Fehlen doch irgendwie auffliegen und er Ärger bekommen würde. Er wollte keinen Streit, der würde aber unweigerlich kommen, wenn seine Eltern erfuhren, dass er eine ganze Nacht „alleine“ in Hamburg war und wie ein Obdachloser auf einer Bank gehockt hatte … Er gähnte und seine Augen fielen immer wieder zu, was sein neuer Bekannter wohl bemerkte.

„Du kannst dich hinlegen, wenn du willst! Ich pass auf, dass keiner kommt und dich ausraubt!“, bot er abermals an, und dieses Mal musste Fabian sich eingestehen, dass es wirklich verführerisch klang. Etwas zögerlich legte er seinen Rucksack etwas anders hin und machte es sich, so gut er es eben auf einer harten Bank konnte, gemütlich. Die Tasche benutzte er dabei als Kopfkissen und schaute etwas planlos auf den leicht spröden Asphalt. Er fragte sich, wie er morgen in die Herberge kommen sollte. Er wusste zwar, wie die Straße aussah, in die er musste, aber nicht, wie sie hieß. Wann war denn die Nachtruhe zu Ende? Und wie sollte er reinkommen, ohne, dass er von irgendjemandem gesehen wurde?

Er hatte jetzt schon die Nase voll. Ihm war kalt, er war müde und die Bank war verdammt unbequem.

„Alles okay?“, murmelte Mike auf einmal.

„Ja, passt schon“, hauchte er dann, „Mir ist nur ein bisschen kalt.“

Mike stand auf und zog sich seine Weste aus, legte diese Fabian über die Schultern.

Fabian seufzte und kuschelte sich etwas in den wärmenden Stoff.

„Danke, aber wenn dir kalt ist, dann nimm sie dir bitte wieder, ja?“ Er sah zu Mike auf, der etwas abwesend auf seine verletzte Hand schaute.

„Tut’s noch sehr weh?“

„Hm? Was? Nein, ich spür die Wunde eigentlich schon fast nicht mehr.“