Herzbeschirmt - Selma Polat-Menke - E-Book

Herzbeschirmt E-Book

Selma Polat-Menke

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Beschreibung

Sie möchten Kinder und Jugendliche mit Achtsamkeit vertraut machen? Sie dabei begleiten, eine freundliche, mitfühlende Haltung sich selbst, anderen und der Natur gegenüber zu erlernen? Herzbeschirmt ist ein praxiserprobtes Achtsamkeitsprogramm. Es ermöglicht Kindern und Jugendlichen, ihren Weg zur Achtsamkeit zu finden durch Stille, Musik, Malen, Bewegung, szenisches Spiel und mehr. Lehrende unterstützt es in der Vermittlung von: Achtsamkeit, Selbstmitgefühl, Mitgefühl, Positiver Neuroplastizität Umgang mit Stress Selbstregulation und innerer Stabilität Fokussierung und Präsenz Freundlichkeit und Wohlwollen achtsamem Konsum und Umweltschutz In diesem Buch finden Sie: Das gesamte Herzbeschirmt-Curriculum Stundenverläufe Meditationen und Übungen Das Herzbeschirmt-Lied Theoretisches Hintergrundwissen Indem Sie den herzbeschirmenden Weg weitergeben, erschließen Sie jungen Menschen Ressourcen und stärken ihre Resilienz. Und es führt Sie selbst tiefer in Zufriedenheit und Verbundenheit.

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Selma Polat-Menke

Herzbeschirmt

Achtsamkeit, Selbstmitgefühl, Mitgefühl und Positives kultivieren

Ein Programm für Kinder und Jugendliche in der Schule

Arbor Verlag

Freiburg im Breisgau

Das Herz gleicht einem Garten.Es kann Mitgefühl oder Angst, Ärger oder Liebe wachsen lassen.Welchen Samen willst du darin pflanzen?

Jack Kornfield

Für meine Töchter Esra und Rabea

© 2023 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2023

Lektorat: Judith Mark, Freiburg

Titelfoto: ©2023 freepik.com

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de, mit Grafiken von Christine Ladewig

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-409-6

Vorbemerkung

In diesem Buch finden Sie eine Einführung, theoretisches Hintergrundwissen, Didaktik, Methodik und das Curriculum zum Herzbeschirmt-Programm.

Wenn Sie daran interessiert sind, das Herzbeschirmt-Programm in die Praxis umzusetzen, sollten Sie zunächst einen Achtsamkeitskurs wie MBSR, MSC, MCP besuchen und eine eigene Achtsamkeitspraxis etablieren. Denn Achtsamkeit ist nicht etwas, was wir tun, sondern was wir sind. Wenn Sie selbst gelernt haben, achtsam zu sein, wird dies schon unweigerlich Einfluss auf Ihre Präsenz und Tätigkeit als Lehrende:r haben.

Auf dieser Basis können Sie dann das Herzbeschirmt-Lehrenden-Training durchlaufen, das vorausgesetzt wird, um Kindern oder Jugendlichen das Herzbeschirmt-Programm zu vermitteln.

Der Schullehrer und Achtsamkeitstrainer Kevin Hawkins hat den Aufbau so auf den Punkt gebracht:

Achtsam seinAchtsam unterrichtenAchtsamkeit unterrichten.

Weitere Informationen und Fortbildungstermine finden Sie unter: www.herzbeschirmt.de.

Vorwort

Pandemie, Klimakrise und Kriegswirren haben die Weltordnung aus den Angeln gehoben, der Generationenvertrag gerät ins Wanken. Kinder und Jugendliche tragen die Folgen: Verunsicherung, Depressivität und psychische Beeinträchtigungen durchziehen die Jahrgänge. Die Schule hinkt nach: Das Curriculum des Alltags hat den offiziellen Lehrplan bereits überholt! Lehrkräfte sind oft überfordert und leiden selbst unter den Auswirkungen disruptiver Erfahrungen.

Selma Polat-Menke gibt Lehrkräften als Kompass ein wirkmächtiges Achtsamkeitscurriculum zur Neubelebung ihres beruflichen Alltags an die Hand, das an Rick Hansons Dreischritt »Lass sein! Lass los! Lass rein!« angelehnt ist. Mit dem von ihr entwickelten Herzbeschirmt-Programm führt sie vor Augen, wie klug eingesetzte Aktivitäten und Übungen in der Gestaltung von Lernsituationen tiefgreifende Erfahrungsprozesse in Gang zu setzen vermögen. Damit sollen Mädchen und Jungen das bekommen, was sie auf ihrem Lebensweg benötigen, um mit emotionalen Herausforderungen weise, mutig und hilfreich umgehen zu lernen, anstatt an ihnen zu zerbrechen.

Auf der anregenden Reise durch ihre Landschaft aus Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und Positivem Kultivieren teilt die Autorin ihre eigenen Erfahrungen: einerseits die beglückenden Momente, die sie aus den Resonanzbeziehungen mit den Kindern und Jugendlichen schöpft, andererseits aber auch die Zweifel und Ängste, die sich einstellen, wenn man gängige Unterrichtsmuster verlässt und neue Erfahrungsräume erkundet. Diese Offenheit ist eine Einladung, das Achtsamkeitscurriculum selbst mitzugestalten, um junge Menschen aufzurichten statt zu unterrichten – ganz im Sinne der zwei Dinge, die Kinder nach Goethe bekommen sollten: Wurzeln und Flügel.

In behutsamer Begleitung hilft die Autorin bei der Erkundung neuer Territorien jenseits von Sprache, denn bei seelischen Leiden fehlt sie uns oft. Sie sensibilisiert für das Wahrnehmen leiblicher Äußerungen innerer Prozesse und warnt davor, eigene Gefühle als hilflose Helfer auf Kinder und Jugendliche zu übertragen. Über ihre offene, gütige, nicht urteilende Haltung eröffnet sie Zugänge zur Schatzkammer des Wohlbefindens. So können die Schritte klein sein, wenn die Gedanken groß sind: etwa, den Weg zum Klassenraum als Gehmeditation zu nutzen, die Klasse bewusst zu betreten und in der Wahrnehmung der einzelnen Menschen im Raum Resonanz zu zeigen sowie nach dem »Guten Morgen« innezuhalten und nicht gleich mit dem Unterrichtsstoff zu beginnen.

Die vielfältigen Aktivitäten und Unterrichtsentwürfe lassen sich nicht methodisch nach der Vorgabe eines »So geht’s!« umsetzen. Vielmehr begleitet die Autorin behutsam den Weg von der Erfahrung des »Achtsam-Seins« über das »Achtsam-Unterrichten« zum angestrebten Ziel des »Achtsamkeit-Unterrichtens«. Dieser Dreischritt markiert auch den Werdegang der Autorin, den sie biografisch als Balanceakt zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und persönlichen Einschränkungen schildert. Der Befreiungsprozess vom »Seinlassen« über das »Loslassen« zum »Reinlassen« bildet das Fundament ihres Programms.

Für die bevorstehende Reise in die Welt der Achtsamkeit wünsche ich Ihnen nicht nur, dass Sie als Lesende vom reichen Erfahrungsschatz der Autorin für Ihren Unterricht profitieren, sondern sich auch in Ihrem Inneren von den ausgelösten Gedanken, Gefühlen und Resonanzen berühren lassen, um dadurch eine neue Qualität in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen zu gewinnen.

Prof. Dr. Michael Schratz Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung Universität Innsbruck

Einleitung

Was löst der Begriff »Herzbeschirmt« bei Ihnen aus? Welche Assoziationen entstehen dazu? Welche inneren Bilder steigen auf? Welche Körperreaktionen löst der Begriff in Ihnen aus? Welche Gefühle entstehen, welche Stimmung?

Vielleicht entsteht ein Lächeln, ein Gefühl der Geborgenheit, ein Wohlgefühl oder die Sehnsucht danach? Vielleicht finden Sie den Begriff etwas kitschig? Oder einfach schön? Oder etwas ganz anderes?

Auf der Suche nach Möglichkeiten, Achtsamkeit in meinen Unterricht zu integrieren, las ich in dem Buch des Lehrers, Schulleiters und Achtsamkeitslehrers Kevin Hawkins »Achtsame Lehrer – achtsame Schule« und gelangte zu der Stelle, an der er das chinesische Schriftzeichen für Achtsamkeit erläutert:

Das chinesische Schriftzeichen für »Achtsamkeit« (…) ist ein Piktogramm, welches den »gegenwärtigen Augenblick« darstellt, der das Symbol für »Herz« beschirmt (das Zeichen wird manchmal mit »Herzgeist« übersetzt.) [1]

Sofort entstand vor meinem inneren Auge das Bild eines Herzens mit einem Schirm darüber, das ich auf einen Zettel skizzierte und auf dessen Grundlage dieses Logo entstand:

Viel ist und wird über den Begriff »Achtsamkeit« geschrieben, und es gibt auch einige Bilder im Zusammenhang mit Achtsamkeit, wie »die zwei Flügel der Achtsamkeit«. Ich finde das Bild des beschirmten Herzens deshalb so eindrücklich, weil es auch die Wirkung von Achtsamkeit klar verdeutlicht: Ein Herz, das beschirmt ist, evoziert das Bild eines Menschen, der geborgen und behütet ist. Das ist ein starkes Bild in Zeiten, in denen nicht nur Kinder und Jugendliche eine große Sehnsucht nach Sicherheit, Verbundenheit und Zufriedenheit haben. Auch Erwachsenen bieten der Begriff »Herzbeschirmt« und das Symbol dazu Vorstellungen und Gefühle, die sie bei dem Begriff »Achtsamkeit« allein nicht unmittelbar haben.

Der Begriff »Achtsamkeit« mag für diejenigen, die deren Wirkung noch nicht erfahren haben, mittlerweile abgedroschen klingen durch seine vielfache Wiederholung in den Medien und durch die Werbung für so vieles. Dazu kommt noch die Bedeutung des Wortes Achtsamkeit im Deutschen, die auf »Aufmerksamkeit, wachsam sein« reduziert ist. Aufmerksamkeit, Gewahrsein, Präsentsein sind aber nur ein Teil dessen, was die Lebenshaltung der Achtsamkeit ausmacht – der erste Flügel der Achtsamkeit. Der zweite Flügel ist die herzbeschirmende Antwort auf das, was wahrgenommen wird. Jon Kabat-Zinn, der Begründer des bekanntesten Achtsamkeitsprogramms MBSR, Mindfulness based stress reduction, betont:

In den meisten asiatischen Sprachen ist das Wort für Kopf (mind) und Herz dasselbe. Wenn man also im Englischen Achtsamkeit (mindfulness) hört, sollte man gleichzeitig auch Herz (heartfulness) darunter verstehen. So, wie wir das Wort Achtsamkeit im Englischen in MBSR verwenden, ist es nicht getrennt von der Domäne des Herzens. Achtsamkeit selbst ist die Verkörperung von Güte sowie Mitgefühl und zusammen mit der Meditation wird es ein radikaler Akt der Vernunft und der Liebe.[2]

Unter Mindfulness ist also immer auch Heartfulness zu verstehen! Kevin Hawkins beschreibt es so:

»Herzlichkeit« – zu lernen, sich seinen Erfahrungen und anderen Menschen auf eine offene, gütige, nicht urteilende Art zuzuwenden – steht im Mittelpunkt des Trainings achtsamen Gewahrseins.[3]

Dies steckt auch in dem Begriff, dem Kursprogramm sowie der Lebenshaltung »Herzbeschirmt«. Das vorliegende Buch lädt Sie auf die herzbeschirmende Entdeckungsreise ein!

Mein Weg mit Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und dem Kultivieren des Positiven

Wer die Wirkung der Trias Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und Kultivieren des Positiven, die Herzbeschirmt zugrunde liegt, in seinem Leben erfahren hat, den hat diese Erfahrung meist nachhaltig verändert. So ging es auch mir. Tatsächlich habe ich die Schritte, die Kevin Hawkins nachdrücklich empfiehlt, durchlaufen, bevor ich sein schon erwähntes Buch kannte: »Achtsam sein – Achtsam unterrichten – Achtsamkeit unterrichten«.[4]

Vom Kinderzimmer …

Als ich Mutter wurde, erlebte ich den Stress der Mehrfachbelastung von Familie, Beruf, eigenen Bedürfnissen, Ansprüchen und Zielen. Die Fürsorge und Verantwortung für unsere zwei kleinen geliebten Kinder nahmen meine Zeit, mein Herz und meinen Geist voll in Beschlag. Der Wunsch, alles richtig und gut, ja bestens für sie zu machen, paarte sich mit dem Hang zum Perfektionismus. Der trat aber auch auf die Bühne beim Thema Beruf, Promotion, die es noch zu beenden galt, Haushalt und Ernährung. Die Kinder waren abends genauso erschöpft von ihrem Tag wie mein Mann und ich. Ich verspürte eine große Sehnsucht nach Ruhe und Zeit für mich selbst, zumindest in den letzten Stunden des Tages hatte ich nur noch wenig zu geben. Das alles zehrte an mir. Immer drängender stellte sich mir die Frage: Wie will ich mit mir, den anderen und den Anforderungen des Alltags und des Berufs umgehen?

Der Weg führte mich 2014 nach einem Gespräch mit einer Freundin, die von ihrem Achtsamkeitsseminar schwärmte, selbst in ein solches Seminar, einen Mindful based stress reduction (MBSR)-Kurs nach Jon Kabat-Zinn. Die Haltung zu und die Art des Umgangs mit Menschen und mit den Widerfahrnissen des Lebens, die mein Achtsamkeitslehrer uns im Kurs vorlebte, machten mich immer neugieriger auf die Lebenshaltung »Achtsamkeit«. Das warf mich im positiven Sinne aus der Bahn, denn es war sehr anders als die übliche Art und Weise, dem Leben zu begegnen, die ich kannte. Durch dieses lebendige Vorbild der achtsamen Lebenshaltung blieb ich motiviert, mich den Achtsamkeitsübungen zu widmen, auch wenn sie mir nicht leichtfielen.

Denn es kostete mich am Anfang große Überwindung, mich hinzulegen und zum Beispiel einen Bodyscan zu machen, wo es doch noch so viel zu tun gab, die To-do-Liste noch so lang war. Mein innerer Kritiker kam dadurch nur noch mehr zum Vorschein: Es kam mir egoistisch vor, mir diese Zeit zu nehmen. Überhaupt verstand ich nicht, was diese Übung bringen sollte. Es gelang mir natürlich auch nicht, über einen ganzen Bodyscan, also eine Dreiviertelstunde lang, fokussiert zu sein. Wie schnell mein Geist abschweifte! Wie oft ich einschlief! »Was für ein Versagen!«, rief mir mein innerer Kritiker zu.

Die innere Haltung, mir selbst eine gute Freundin zu sein und mir Mitgefühl zu schenken, entwickelte sich erst langsam. Zu sehr war das Leistungsethos in mir verwurzelt. Aber es weichte nach und nach auf, so wie mein Herz weicher und verständnisvoller für mich und andere wurde. Dabei hatte ich das große Glück, eine weitere erfahrene Achtsamkeits­trainerin kennenzulernen, die diesen Aspekt der Achtsamkeit betonte. Sie führte mich schon an Inhalte des Selbstmitgefühls-Programms heran, bevor ich es überhaupt kannte: an die Haltung und die Meditation der liebevollen Güte sowie die Pause mit Selbstmitgefühl, die ich einige Jahre später in einem MSC-Kurs, einem Mindful-Self-Compassion-Kurs nach Kristin Neff und Christopher Germer vertiefte.

Eher aus der Not geboren, begann ich mich während meines MBSR-Kurses abends nach der Gutenachtgeschichte zwischen den Betten meiner Kinder auf den Boden zu setzen und meine Meditationsübung zu praktizieren. Denn meistens wollten die Mädchen noch nicht einschlafen und mich nicht gehen lassen. Regelmäßig begann ich innerlich zu kochen vor Wut und zu hadern: »Warum ist das so mühsam? Warum können sie nicht einfach einschlafen? Wann habe ich mal endlich einmal Ruhe? Habe ich als Mutter überhaupt das Recht, auch mal was nur für mich zu tun?« Fast schon trotzig startete ich den Versuch, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, damit Zeit zu sparen und sowohl den Kindern als auch mir selbst gerecht zu werden. Was eigentlich einer Zeitersparnis dienen sollte, führte zu einer großen Veränderung in mir selbst, unserem Familienleben sowie meinem Unterrichten.

Während ich nämlich so zwischen den Kinderbetten auf meinem Kissen saß, akzeptierte, dass es so war, wie es war, breitete sich eine Stille und Ruhe in mir und um mich herum aus, die ich sonst nicht mit Worten herzustellen vermochte, weder bei meinen Kindern noch in mir selbst. Äußerer und innerer Aufruhr begannen sich zu legen: Ich war entspannter denn je um diese Zeit, und meine Mädchen schliefen schneller denn je ein. Ich hatte das Gefühl, wertvollen inneren Freiraum für mich und gleichzeitig für die Familie gewonnen zu haben durch das Meditieren – äußerlich also durch Nichtstun. Ich war den ersten Schritt als »Gärtnerin im Garten meines Geistes«[5] gegangen – ein wirkmächtiges Bild für Meditation, das mir bei dem Neuropsychologen und Achtsamkeitslehrer Rick Hanson begegnet ist: Beobachte! Lass sein! Das faszinierte, beschwingte und motivierte mich sehr. Ich war neugierig geworden und fragte mich: Wie kann man mit Kindern Achtsamkeit praktizieren?

»Still sitzen wie ein Frosch« von Eline Snel[6] war dann meine erste Lektüre zum Thema Achtsamkeit mit Kindern. Ich probierte Meditationen von der CD mit den Kindern aus und vor dem Einschlafen die Klangschale anzuschlagen und die Kinder beim Vergehen des Tons langsam ihre Hand runternehmen zu lassen. Sie liebten dieses Ritual sehr, bei dem wieder eine Stille in unseren Abend trat, die aber noch einmal eine neue Qualität bekam. Die Kinder und ich praktizierten aktiv zusammen!

Gleichzeitig hatte für mich eine Zeit der inneren Arbeit begonnen, die alles auf den Kopf stellte. Es benötigte Zeit, um bestimmte Weisheiten der Achtsamkeitslehre zu begreifen. Glaubte ich vorher, Gedanken und Gefühlen immer Raum geben und auf sie reagieren zu müssen, so wurde mir mehr und mehr klar, dass dies nicht der Fall ist. Ein Aha-Erlebnis hatte ich zum Beispiel mitten in einem Gespräch, als mir klar wurde, was ich im Achtsamkeitskurs gelernt, aber bis dahin nicht verstanden hatte: Du musst nicht alles glauben, was du denkst. Du darfst den Gedanken und die Reaktion darauf einfach vorbeiziehen lassen.

Diese Entdeckung, nicht gleich auf alles, was mir in mir selbst oder von außen begegnet, reagieren zu müssen, verschaffte mir eine größere Gelassenheit und ein Mehr an Spielraum. Es gibt andere Möglichkeiten, mit Gedanken umzugehen, als ihnen nachzujagen und sich in sie verstricken zu lassen, bis man ein Knäuel aus Sorgen und Ängsten ist, oder sich im Lösen von Problemen und Planen zu drehen. Und es gibt einen anderen Umgang mit Gefühlen, als sie zu ignorieren, sie nicht zuzulassen oder nur noch von ihnen bestimmt zu werden. Weisere, herzbeschirmendere Wege durch den achtsamen und mitfühlenden Umgang mit Gedanken und Gefühlen, die zu mehr innerem und äußerem Frieden führen, wie zum Beispiel das Beobachten oder das Unkrautjäten, also Loslassen, im Garten des Geistes.

Nach und nach bereicherten weitere Achtsamkeitspraktiken unser Familienleben. Ich hatte ja schon viel mit der Praxis des Selbstmitgefühls durch Lektüre und CDs gearbeitet und meditiert. Mir in schwierigen Momenten wie eine beste Freundin die Hand beruhigend auf den Herzraum zu legen und mit einer freundlichen Stimme wohlwollend mit mir zu sprechen, das praktizierte ich schon lange. Dann besuchte ich einen Mindful Selfcompassion-Kurs, durch den die Praxis des Selbstmitgefühls noch tiefer in mein Leben und damit auch in das Leben meiner Familie und meines Umfeldes kam. Einerseits indirekt, durch meinen Umgang mit mir selbst, der ja Auswirkungen auf meinen Umgang mit anderen hatte. Aber auch direkt, indem ich meine Kinder dazu ermutigte, sich in für sie belastenden Situationen eine Hand auf ihr Herz zu legen und sich tröstend und ermutigend beizustehen. Ich bin auch für sie da, an ihrer Seite und umarme, tröste sie. Doch es gibt Situationen, gerade auch wenn Kinder größer werden, da suchen sie nicht mehr nur Halt bei uns Eltern, sondern ringen um Halt in sich selbst. Wenn wir Kinder und Jugendliche so begleiten, dass wir sie in einen mitfühlenden Kontakt mit sich selbst bringen, sodass sie herzbeschirmend mit sich umgehen können, geben wir ihnen Wurzeln und Flügel.

Eindrücklich war für mich auch das Erlebnis, als die Landschulheimfahrt meiner Tochter in der Grundschule bevorstand. Sie freute sich einerseits sehr darauf, andererseits gab es da auch Sorgen und Bedenken, Anspannung und natürlich Aufregung. Sie kam zu mir und berichtete von all dem. Ich ermutigte sie, sich hinzusetzen und ihr »Haus der Gefühle« zu malen, das sie schon kannte – in sich zu horchen, was mit den Gefühlen geschieht, wenn sie mitfühlend eingeladen werden einzutreten, statt dass ihnen die Tür vor der Nase zugeknallt wird. Es dauerte einige Zeit, dann kam sie lächelnd und sichtlich gelöst mit ihrem Bild zu mir: »Schau, Mama, da sitzen die Angst und ich auf dem Sofa, essen Chips und schauen Fernsehen.« Nicht nur ihr war es leichter ums Herz, sondern auch mir. Ich wusste sie gestärkt durch diese Praxis des Selbstmitgefühls, mit der sie sich jederzeit unabhängig von mir aufrichten konnte.

Eine weitere wichtige Lektüre war für mich das Buch »Wir Eltern sind auch nur Menschen« des Arztes, Psychotherapeuten und Achtsamkeitslehrers Jörg Mangold.[7] Sein Gesamtkonzept aus Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und Positivem Kultivieren, das er in seinem Elternkurs zusammengestellt hat, traf bei mir einen Nerv und wurde Vorbild meines Herzbeschirmt-Programms. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl praktizierte ich schon. Neu hinzu kam das Konzept der Positiven Neuroplastizität, das Kultivieren des Positiven nach Rick Hanson. Ich kam damit zwar nicht zum ersten Mal in Berührung, jedoch fiel es jetzt erst auf fruchtbaren Boden, war ich jetzt erst wirklich offen und bereit dafür, es auch aktiv anzuwenden und zu einer inneren Haltung auszubauen.

Mit dem Kultivieren des Positiven kam der dritte Schritt als Gärtnerin im Garten meines Geistes hinzu: das Blumenpflanzen. Die Praxisübung »Fünf Atemzüge Glück« erweiterte unser Familienritual. Ich weiß ganz genau – nein, ich spüre ganz genau, wie sich dieser Moment anfühlte, als wir einen Waldspaziergang machten und ich mit meiner Tochter an der Hand stehen blieb, um »Fünf Atemzüge Glück« durchzuführen: Was sehen wir gerade? Welche Töne hören wir gerade? Welchen Duft riechen wir? Welche Körperempfindungen sind da? So fühlt sich Glück in allen Facetten in mir an! Ich kann dieses Lächeln jederzeit in mir abrufen und meine Tochter auch. Es ist ein verbindender Moment, der uns nicht nur in diesem Augenblick genährt hat. Durch Achtsamkeit innehalten, wenn wir beglückt sind, den Moment tief in uns verankern, füllt unsere Schatzkammer des Wohlbefindens, auf die wir jederzeit zurückgreifen können.

Abends kam das Ritual »Fünf Finger Dank« hinzu: Jedes Familienmitglied zählt auf, was es im Laufe des Tages an Momenten erlebt hat, die beglückend waren. Dadurch, dass wir jeden Abend über die beglückenden Momente des Tages – am besten durch »Fünf Atemzüge Glück« ­verstärkt – sprachen, wurde unser Blick im Alltag immer mehr geschärft für das Positive, das Nährende, das, wofür wir dankbar waren. Dieser Blick lässt uns erfüllter, wertschätzender auch für Kleinigkeiten sein und macht uns somit glücklicher. Das lässt sich neurologisch erklären, so wie es Rick Hanson in seiner Forschung offenlegt, zeigt sich aber auch einfach im Alltag, zum Beispiel in einem positiveren Blick auf die Ereignisse des Lebens und einem leichteren, weil zufriedeneren Einschlafen.

Durch meine eigene Achtsamkeitspraxis und die Achtsamkeitsübungen, die ich mit meinen Kindern praktizierte, änderte sich also nach und nach der Umgang mit mir selbst, meiner Familie, meinen Freunden. Und die Achtsamkeit machte auch vor der Schultür nicht Halt, sondern veränderte die Art meines Unterrichtens sowie den Umgang mit meinen Schüler:innen.

… ins Klassenzimmer

Zunächst trainierte ich, bewusster durchs Leben und somit auch durch den Schulalltag zu gehen: Ich begann zum Beispiel, die Schritte zum Unterrichtsraum achtsam wahrzunehmen, wie bei der Gehmeditation. Auch checkte ich kurz bei mir selbst, meinem »Dreieck der Erfahrungen«, ein und sah nach, wie es in mir aussah: Körperempfindungen, Gedanken, Gefühle. Was davon kann ich vor der Tür lassen (Lass los!), was davon ist akzeptierend und mitfühlend da sein zu lassen (Lass sein!)? Diese Bewusstheit über mich selbst lässt mich klarer auf mich blicken und auch für mich sorgen, was auch bedeutet, für die Schüler:innen zu sorgen: Wo ist heute meine persönliche Grenze? Ist sie weit oder eng gesteckt? Welche Bedürfnisse sind da? Wo gibt es Fallstricke, in die ich tappen und dadurch unangemessen reagieren könnte?

Dem Betreten des Raums schenkte ich eine größere Aufmerksamkeit, um bewusst in der Klasse anzukommen und nicht in Gedanken noch bei etwas anderem zu hängen. Ich wollte so offen und präsent wie möglich für die Schülerinnen und Schüler sein. Beim Begrüßen ließ ich den Blick schweifen, um jede und jeden sowie die Stimmung in der Klasse bewusster wahrzunehmen, statt schon an den anstehenden Einstieg in den Unterrichtsstoff zu denken.

Während Stillarbeitsphasen versuchte ich immer wieder bewusst ans Fenster zu treten, meinen Blick schweifen zu lassen, etwas Schönes zu entdecken (Lass rein!), in mich hineinzuhorchen und einen Atemzug bewusst zu nehmen. So erfrischt wandte ich mich wieder der Klasse zu.

Was sich durch dies alles veränderte?

Meine Reaktionen und meine Aktionen. Denn wenn ich bewusster für mich und mein Umfeld bin, wenn ich für mich und mein Wohlbefinden sorge, dann bin ich offener und achtsamer für andere, also auch meine Schüler:innen. Ganz natürlich ergeben sich daraus andere Interaktionen, eine andere Kommunikation, die herzbeschirmender ist. Die Beziehung zu mir und zu anderen erhält eine andere Qualität. Die herzbeschirmende Haltung kommt also allen zugute – auch dem Unterrichtsstoff. Denn in solch einer Atmosphäre, einem Miteinander lässt sich anders lernen.

Den nächsten Schritt ging ich während meiner Ausbildung zur Achtsamkeitslehrerin: Einerseits dachte ich mir, warum ich nur mit Erwachsenen arbeiten sollte, wo ich doch täglich Kindern und Jugendlichen begegnete, die das Achtsamkeitstraining auch unterstützen kann. Ich kannte mittlerweile durch Lektüre Achtsamkeitsprogramme für Schulen und fragte mich: Warum nicht einfach mal Achtsamkeitsübungen im Unterricht ausprobieren? In der Ausbildung lernte ich Achtsamkeitsmeditationen anzuleiten. Damit stieg mein Selbstvertrauen, diese auch im Klassenzimmer anzuwenden.

Aber natürlich gab es auch Zweifel und Ängste: Würden mich nun alle für eine esoterisch angehauchte Lehrerin halten? Was, wenn viele lachten oder zumindest kicherten, wenn ich den Gong anschlug? Das würde mich persönlich sicherlich anfassen, bedeutet mir diese Stilleminute persönlich doch so viel. Ich fühlte mich verwundbarer als sonst in meiner Rolle als Lehrerin. Wollte ich das wirklich? War das gut für mich?

Von Jahr zu Jahr haben diese Zweifel nachgelassen, weil ich in vielen Evaluationen so viel positive Resonanz durch die Schülerinnen und Schüler erfahren habe. Ich bin ihnen sehr dankbar für ihre Offenheit und ihren Mut, sich der Stille auszusetzen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Tatsächlich war ein immer größerer Widerstand in mir gewachsen, einfach in die Klasse zu gehen und nach einem »Guten Morgen« mit dem Unterrichtsstoff zu beginnen. Es fühlte sich immer weniger »richtig« an, nicht mehr »angemessen«. Ich wollte so nicht starten – auch aus reiner Selbstfürsorge. Ich sehnte mich nach einer Atempause, nach einem kurzen Moment der Stille – in mir und auch um mich herum.

Ich wollte noch mehr in Ruhe – nach den Eindrücken von zu Hause, den Begegnungen mit Kolleg:innen im Lehrerzimmer und den Informationen, die es dort immer gibt, nach Gesprächen auf dem Gang und den Eindrücken aus dem vorangegangenen Unterricht mit anderen Schüler:innen – ankommen bei mir, um noch ein Stück offener und präsenter zu werden für die Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Klasse.

Ich wollte auch den Schülerinnen und Schülern Raum geben, um mit allem, was sie innerlich mitbringen – wie familiäre Geschichten, Eindrücke aus Kontakten mit Mitschüler:innen und Kolleg:innen aus vorangegangenem Unterricht und der Pause, die Gefühle und Gedanken unterschiedlichster Art hinterlassen –, anzukommen bei sich, im Raum, der Stimmung in der Klasse und bei mir.

Ich sehnte mich auch nach mehr Stille um mich herum, die sich ganz natürlich einstellt und nicht durch ständiges Ermahnen und Reglementieren autoritär hergestellt werden muss. Meine Hoffnung war, dass die Wirkung, die eine Klangschale bei mir und meinen Kindern zu Hause hatte, sich auch ins Klassenzimmer übertragen ließe.

So war es auch, und zwar mehr noch, als ich mir vorstellen konnte.

Warum das so ist?

Bis ins Letzte werde ich das nicht ergründen und erklären können. Und das möchte ich auch gar nicht, denn Worte bleiben immer unzulänglich, und gegenüber den Menschen, die sich in die Stille und ins Schweigen begeben, empfinde ich es als übergriffig. Ich weiß nicht genau, was in ihnen vorgeht. Aber eins weiß ich: Diese Minute, die wir schweigend gemeinsam dem verklingenden Ton lauschen, hat viel mit Wertschätzung zu tun. Wertschätzung gegenüber der Tatsache, dass wir Menschen sind, die ihre eigene Geschichte mitbringen. Wertschätzung dafür, dass wir Menschen mit Gefühlen sind, die nicht einfach für 90 Minuten weggesperrt werden können. Diese Minute hilft, bei sich selbst anzukommen und dadurch gleichzeitig offen zu werden für die Menschen um sich herum sowie für das Unterrichtsthema. Dass dies so ist, haben mir meine Schülerinnen und Schüler über Jahre in mehreren Evaluationen pro Schuljahr bestätigt. Es ist und bleibt für mich ein kleines Wunder, was der Klang einer Klangschale, eine kurze Meditation zu Unterrichtsbeginn vermag. Und dieses Wunder mag ich nicht mehr missen in meinem Berufsalltag, auch wenn es mich zu Beginn eines neuen Schuljahrs vor einer neuen Klasse immer wieder Überwindung kostet, die Klangschale auszupacken. Aber das Grummeln in meinem Bauch verfliegt schnell, weil ich gelernt habe, zu vertrauen. Und weil ich meinen Weg gefunden habe, Achtsamkeitsübungen so einzuführen, dass die Schüler:innen offen und neugierig werden. Das war ein Weg mit Bruchlandungen, mit Hinfallen, Aufstehen und Weitermachen.

Meine Überlegungen gingen weiter: Wie wäre es, wenn auch die Kinder und Jugendlichen Gärtnerinnen und Gärtner im Garten ihres Geistes werden würden? Wenn sie beobachtend sein ließen, was nicht zu ändern ist, und sich mit Mitgefühl halten könnten? Wenn sie Unkraut jätend loslassen könnten, was ihnen nicht guttut und sie daran hindert, offen und präsent zu sein? Wenn sie Blumen pflanzend aufmerksam für das sein könnten, was ihnen guttut? Was wäre das für ein Miteinander und für ein Lernen?

Ich ging zu meinem Schulleiter und fragte, ob ich eine Achtsamkeits-AG anbieten dürfte. Die Kompetenz dazu brachte ich ja durch meine Ausbildung zur MBSR-Lehrerin mit. Ich hatte viele wissenschaftliche Fakten zur Wirkung von Achtsamkeit im Gepäck, und Achtsamkeit war und ist ja auch ein Modewort und somit in aller Munde. Als ich den Inhalt der AG noch etwas näher erläuterte, gab es beim Wort Selfcompassion zunächst Irritation und die Vermutung, ich hätte mich versprochen: »Sie meinen wohl Compassion!?«

Diese Reaktion ist nicht weiter verwunderlich, denn einerseits ist »Selbstmitgefühl« kein gängiger Begriff und erinnert zunächst einmal an »Selbstmitleid«. Und andererseits ist die Haltung des Mitgefühls mit sich selbst noch fremd in unserer Gesellschaft. Wir können uns schlicht nicht vorstellen, was damit gemeint ist. Der Begriff ist quasi inhaltsleer, und es wird versucht, sich ihm mithilfe ähnlicher Begriffe wie »Selbstliebe« oder »Selbstfürsorge« oder eben »Selbstmitleid« zu nähern. Ich hatte diese Reaktion schon geahnt, war aber damals noch nicht mutig genug, den deutschen Begriff »Selbstmitgefühl« zu verwenden, sondern hatte mich hinter dem englischen Wort verstecken wollen. Nach einigen Erläuterungen und wissenschaftlichen Fakten hatte ich die Zusage zur AG. Jetzt brauchte ich nur noch Teilnehmer:innen.

Die Schülerinnen und Schüler kommen meist in meine AG, nachdem sie die Wirkung der Achtsamkeitsübungen in meinem Unterricht erfahren haben und erstaunt darüber sind. Ihre Neugier und wohl auch ihre Sehnsucht sind geweckt, Vertrauen hergestellt.

Meine erste AG war eine mit Oberstufenschüler:innen. Wir hatten einen »StressFREI!-Tag« extra für die Oberstufe an unserer Schule angeboten, der von dem zuständigen Kollegen für Gesundheitsprävention organisiert war. Vor allen Dingen Oberstufenschülerinnen und -schüler, die kurz vor ihren Abiturprüfungen standen, kamen in den Kurs. Sie fühlten sich überfordert, gestresst durch die Bewältigung des Stoffs, ihre Emotionen und Gedanken. Dass sie sich anderthalb Stunden Zeit für die Achtsamkeits-AG nahmen, zeigte ihre Not. Denn Zeit hatten sie eigentlich ganz und gar nicht. Im Verlauf des Kurses fiel immer wieder der Satz: »Warum hat uns das keiner früher beigebracht?« Das macht mich heute noch betroffen und treibt mich gleichzeitig an, mich weiter für Achtsamkeit in der Schule einzusetzen.

Besonders berührt hat mich die Anekdote, die mir die Abiturient:innen von ihrer Abifahrt nach Spanien berichteten: Als der Bus nach langer Fahrt mitten in der Nacht auf einem Parkplatz für eine kurze Pause anhielt, stellten sich die AG-Schülerinnen und -Schüler Arm in Arm im Kreis auf, schlossen die Augen und legten von sich aus eine achtsame Pause ein, ganz so, wie wir es in der AG taten (nur ohne einander im Arm zu halten). Kein Lehrer hat sie dazu aufgefordert, keine Lehrerin hat sie dabei angeleitet. Das war die nachhaltig transformierende Wirkung ihrer Achtsamkeitserfahrung. Mich motiviert diese Geschichte, den Schatz der Achtsamkeit mit jungen Menschen zu teilen und zu leben.

Erfahrungen in meiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zum Thema Achtsamkeit sind: Die jungen Menschen wünschen sich, dass wir Eltern, Lehrer:innen und das Bildungssystem ihnen Raum dafür geben, die in ihnen angelegte Achtsamkeit weiterentwickeln zu können. Sie sind keine Trichter, in die der Lernstoff Stunde um Stunde hineinfließen kann. Erst wenn wir uns um ihre Herzen kümmern und sie befähigen, mit ihren Gedanken umzugehen, werden sie offen für die Inhalte.

Achtsamkeitspraxis im Schulalltag ist eine Wertschätzung der Kinder und Jugendlichen. Und eine Wertschätzung der Menschen, die vor ihnen stehen: der Lehrenden. Und auch eine Wertschätzung des Themas, das vermittelt werden soll.

Über vier Jahre lang habe ich zum Thema Achtsamkeit mit Kindern und Jugendlichen gelesen und mich weitergebildet. Ich war mal mehr und mal weniger zufrieden mit dem, was ich dort angeboten bekam. Ich habe im Klassenzimmer und in meiner AG verschiedene Übungen in unterschiedlichen Reihenfolgen ausprobiert, habe Enttäuschungen erlebt und Höhenflüge. Das vorliegende Herzbeschirmt-Programm ist das Ergebnis dessen, was ich als Best Practice für mich herausgefiltert habe.

»Bildung des Geistes ohne Bildung des Herzens ist gar keine Bildung«, das wusste schon Aristoteles. Mögen mehr und mehr junge Menschen auf ihrem Weg des inneren Wachstums Unterstützung finden. Möge »Herzbeschirmt« dazu beitragen.

Anforderungen an Kinder und Jugendliche heute Herausforderungen für das Bildungssystem

Wenn ich zu Beginn eines neuen Schuljahres vor einer neuen Klasse stehe, stelle ich folgende Frage: »Wie gut könnt ihr euch konzentrieren?« Nur sehr wenige Daumen zeigen dann nach oben, die meisten zeigen zur Seite oder gar nach unten. Erleichterung macht sich breit, wenn die Schülerinnen und Schüler sehen, dass es den anderen ähnlich geht.

Meine nächste Frage lautet: »Wer hat euch beigebracht, wie das geht: sich zu konzentrieren?« Schon weniger zögerlich schallt es mir entgegen: »Keiner!« Und dann beginnt eine Diskussion über die Frage: »Was bedeutet Konzentration?« Dass Anspannung und Entspannung zur Konzentration gehören, ist den wenigsten bewusst. Momente der Konzentration, die kennt jedoch jeder, denn jeder hat kürzere oder längere Augenblicke des völligen Versunkenseins in eine Tätigkeit erlebt, das ist jedem ganz natürlich innewohnend. Meistens geschieht das bei Tätigkeiten, die uns leichtfallen und angenehm sind, uns Spaß machen. Wie aber umgehen mit fordernden Tätigkeiten, die keine Freude bereiten, eine Last sind? Hier stehen uns schwierige Gefühle und belastende Gedanken im Weg, die uns aus der inneren Balance schmeißen in einen inneren Schneesturm aus Gedanken und Gefühlen. Gründe für solche inneren Stürme bietet unsere Zeit reichlich: die Klimakrise, die Coronakrise und das sehr präsente Leid anderer Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen, Migration sowie ihre Folgen für Wirtschaft und Stabilität. Kinder und Jugendliche müssen mit vielerlei Sorgen und Belastungen aufwachsen in der VUCA-Welt. Das Akronym VUCA setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der englischen Wörter volatility (Volatilität/Flüchtigkeit), uncertainty (Ungewissheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Ambiguität) zusammen. Dabei steht der Ausdruck stellvertretend für die zunehmende Dynamik und Eigenschaften der digitalisierten Welt. Nichts ist sicher außer dem Wandel, und der vollzieht sich heute schneller denn je. All das führt zu existenziellen Fragen und Ängsten, die enorme Herausforderungen für junge Menschen darstellen.

Zugleich sind sie mit dem Optimierungswahn unserer Zeit konfrontiert: Der Leistungsdruck durch das Schulsystem lastet auf ihnen. Die Shell-Studie von 2019 spricht von einer »schichtübergreifend hohe(n) Leistungsethik«.[8] Der Optimierungsdruck des eigenen äußeren Erscheinungsbildes ist durch den ständigen Vergleich mit anderen in den sozialen Medien enorm. Und das alles geschieht in der ohnehin oft fragilen Phase des Heranwachsens.

Wie geht es den Kindern und Jugendlichen mit all dem, wie gehen sie mit diesen äußeren Stürmen, die innere Stürme nach sich ziehen, um? Um das herauszufinden, stelle ich die Fragen: »Was stresst euch? Und wie geht ihr damit um?«

Die Antworten haben sich in den letzten Jahren, ja Monaten drastisch erweitert, weil die äußeren Stürme stärker geworden sind. Noch vor wenigen Jahren wurden in erster Linie die dauernde Erreichbarkeit, zwischenmenschliche Probleme, Schulstress und Leistungsoptimierung genannt. Schüler:innen berichteten von dem Stress, den ihnen der ­Leistungsdruck und die eigenen Erwartungen an sich selbst machen. Stress ist ein Zustand, der die Kinder und Jugendlichen ja schon längst im Griff hat und dessen Symptomatik sich deutlich in den Klassenzimmern zeigt. Die Sinus-Studie berichtet, dass Teenager aus allen lebensweltlichen Gruppen vor allem dann zufrieden seien, wenn sie neben der Zeit mit Freundinnen und Freunden noch freie Zeit für sich allein hätten, in der sie tatsächlich »gar nichts tun«, nur bei sich seien und »chillen« könnten. Diese Zeit sei der Gegenpol zum oftmals als stressig empfundenen Schulalltag.[9] Das Selbstbild leidet enorm unter dem Optimierungsdruck. In meinen Kursen bin ich Schülerinnen und Schülern begegnet mit Wünschen und Selbstbildern wie diesen:

Ich mag mich selbst nicht. (9 Jahre alt)

Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, was ich gut kann. (13 Jahre alt)

Ich möchte mir wieder erlauben, glücklich zu sein. (17 Jahre alt)

Was kann das Bildungssystem, was kann der Schulalltag dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche sich selbst wertschätzen, sich selbst vertrauen, sich selbst gut kennen und sich auch mit ihren Schwächen annehmen und mögen?