Herzmuscheln - Elaine Winter - E-Book
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Herzmuscheln E-Book

Elaine Winter

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Beschreibung

Kyla will nach einer herben Enttäuschung von vorne anfangen und verwirklicht ihren Lebenstraum. Sie kauft ein Cottage an der irischen Küste, um daraus ein hübsches Guesthouse zu machen: Das Mermaid Cottage.

Noch während der Renovierung taucht der erste Gast auf, der äußerst eigenbrötlerisch ist: Ryan will vormittags absolut nicht gestört werden und nachmittags verschwindet er Hals über Kopf. Die beiden geraten wegen des Renovierungschaos ständig aneinander. Doch eines Tages bittet er Kyla um einen Gefallen: Sie soll vor seiner im Sterben liegenden Großmutter seine Verlobte spielen. Und so bekommt Kyla die Chance, hinter Ryans Fassade zu blicken ...

Alle Geschichten dieser Reihe zaubern dir den Sommer ins Herz und bringen dir den Urlaub nach Hause. Die Romane sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 398

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressum1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel

Über dieses Buch

Kyla will nach einer herben Enttäuschung von vorne anfangen und verwirklicht ihren Lebenstraum: Sie kauft ein Cottage an der irischen Küste, um daraus ein hübsches Guesthouse zu machen. Noch während der Renovierung taucht der erste Gast auf, der äußerst eigenbrötlerisch ist: Ryan will vormittags absolut nicht gestört werden und nachmittags verschwindet er Hals über Kopf. Die beiden geraten wegen des Renovierungschaos ständig aneinander. Doch eines Tages bittet er Kyla um einen Gefallen: Sie soll vor seiner im Sterben liegenden Großmutter seine Verlobte spielen. Und so bekommt Kyla die Chance, hinter Ryans Fassade zu blicken …

Über die Autorin

Elaine Winter ist ein Pseudonym der Autorin Ira Severin. Sie hat schon als Kind gerne Geschichten erfunden. Sie studierte Germanistik und Anglistik, probierte sich in verschiedenen Jobs in der Medienbranche aus und kehrte bald zum Geschichten erfinden zurück. Inzwischen ist sie seit mehr als zwanzig Jahren Autorin und hat den Spaß am Erdenken schicksalhafter Wendungen und romantischer Begegnungen bis heute nicht verloren.

Elaine Winter

Herzmuscheln

beHEARTBEAT

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © shutterstock: mythja | Ekaterina okhotnikova | Bariskina | Miny

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4220-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1. Kapitel

Der Tag, an dem Kylas neues Leben begann, war kalt und grau, und es schüttete wie aus Kübeln.

Dass ihr vor zwei Tagen erstandener Gebrauchtwagen, ein knallroter Volvo Kombi, bei jeder Unebenheit klapperte wie ein Berg leerer Konservendosen, wusste sie erst, seit sie Dublin hinter sich gelassen hatte. Auf den schmalen, gewundenen Straßen zwischen den kleinen Dörfern, die sich wie Perlen an Irlands Atlantikküste aufreihten, ließen zahlreiche Schlaglöcher das alte Auto immer empörter ächzen und scheppern.

Zum Glück funktionierten die Scheibenwischer hervorragend, sodass Kyla trotz des heftigen Regens immerhin zwei Meter Straße direkt vor ihrer Motorhaube erkennen konnte. Da der Wagen außerdem über viel Stauraum verfügte, in dem sie zukünftig die Lebensmitteleinkäufe für ihre Gäste zu transportieren gedachte, hatte sie vielleicht doch ein gar nicht so schlechtes Geschäft gemacht.

Diese Erkenntnis änderte jedoch nichts daran, dass von Minute zu Minute in ihr der Wunsch stärker wurde, auf die Bremse zu treten, zu wenden und nach Dublin zurückzufahren. Auch wenn es dort kein Leben mehr gab, in das sie hätte zurückkehren können – keinen Freund, keine beste Freundin, keinen Job, keine Wohnung. Das alles hatte sie in einem einzigen Moment verloren.

Aber immerhin kannte sie Dublin. Sie konnte dort eine neue Arbeit finden, eine Wohnung sicher auch. Jedenfalls würde sie nicht an einem fremden Ort – einem Dörfchen namens Loonhill, von dem sie bis vor zwei Wochen noch nie etwas gehört hatte – mutterseelenallein vor einer Aufgabe stehen, der sie vielleicht gar nicht gewachsen war. Sie hatte keinerlei Erfahrung damit, ein Guesthouse zu führen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, Dublin den Rücken zu kehren und im wahrsten Sinne des Wortes zu neuen Ufern aufzubrechen? Mit jedem Kilometer, den sie zurücklegte, wich die Wut, die sie dazu gebracht hatte, nackter Angst.

Als ihr Navi plötzlich verkündete, sie habe ihr Ziel erreicht, trat sie vor Schreck wohl etwas zu stark auf die Bremse: Es gab einen Ruck und ein lautes Scheppern, als hätte das alte Auto seinen Auspuff oder andere wichtige Teile verloren. Aber das interessierte Kyla nur am Rande. Angespannt versuchte sie, durch die dichten Regenschleier vor ihrer Windschutzscheibe etwas zu erkennen, sah jedoch nur schemenhaft ein paar Bäume.

Auch durchs Seitenfenster war einfach kein Haus zu sehen. Kylas Herzschlag trommelte so laut in ihren Ohren, dass sie das Prasseln des Regens auf dem Wagendach kaum noch hörte. Hatte sie ihr gesamtes Geld in ein Guesthouse am Atlantik investiert, das es gar nicht gab?

Als sich ein dunkler Schatten neben dem Wagen erhob und jemand energisch an die Scheibe klopfte, fuhr sie erschrocken zusammen. Ein Männergesicht tauchte vor dem Seitenfenster auf. Scheinbar wollte der Mann ihr etwas sagen, denn hinter dem über die Scheibe rinnenden Regen bewegte sich der Mund in dem Gesicht. Der Regen war jedoch so laut, dass Kyla kein Wort verstehen konnte. Was das wilde Gefuchtel seiner Hände zu bedeuten hatte, war ihr auch nicht ganz klar.

Egal was er von ihr wollte, das war ihre Chance: Vielleicht kannte er sich in der Gegend aus und konnte ihr sagen, ob es hier irgendwo ein Guesthouse gab, das bis vor Kurzem zum Verkauf gestanden hatte.

Sie riss so energisch die Tür auf, dass sich der Mann neben ihrem Wagen mit einem beherzten Sprung in Sicherheit bringen musste. Kaum war sie draußen, lief ihr das Wasser in den Nacken und die Augen, und sie musste sich eine Haarsträhne aus der Stirn wischen, die ihr zusätzlich die Sicht nahm. Dennoch konnte sie die Gestalt kaum erkennen, die zwar direkt vor ihr stand, aber doch durch eine Wand aus vom Himmel strömendem Wasser von ihr getrennt war. Das hinderte Kyla aber nicht daran, lebhaft auf den Fremden einzureden. Schließlich wusste sie nicht, wann sie bei diesem Wetter, das eher einem Weltuntergang ähnelte, wieder auf einen Menschen treffen würde, der ihr möglicherweise helfen konnte.

»Kennen Sie sich in diesem Dorf aus? Das hier ist doch Loonhill, oder? Genau hier soll eigentlich ein altes Guesthouse stehen. Aber ich finde es nicht.« Da ihr mittlerweile das Wasser sogar in die Ohren lief, brüllte sie mit erhobener Stimme gegen das Unwetter an.

»Was für ein Guesthouse? Ich suche kein Zimmer.« Die tiefe Männerstimme klang verblüfft. »Ist Ihnen klar, dass Sie durch Ihr plötzliches Bremsen einen Auffahrunfall verursacht haben?«

»Was für einen Unfall?« Jetzt war die Überraschung auf Kylas Seite.

»Sie haben nicht gemerkt, dass ich Ihnen eben hinten draufgefahren bin?«

»Mein Auto … Es ist ziemlich alt und scheppert eigentlich die ganze Zeit.« Ratlos sah sie zum Heck ihres Wagens, das im dichten Regen kaum zu erkennen war. Dahinter sah sie schemenhaft ein großes, dunkles Auto.

»Schön für Sie, dass es bei Ihrem Auto nicht so drauf ankommt.« Der Mann, der so groß war, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht gucken zu können, strich sich nun ebenfalls die klatschnassen Haare aus der Stirn.

»Halten Sie es für möglich, dass Sie zu dicht aufgefahren sind?« Kyla marschierte zum hinteren Ende ihres Kombis und betrachtete das Fahrzeug, das direkt dahinter stand. Es handelte sich um einen sehr, sehr großen SUV, das konnte sie sogar im Regen erkennen.

»Mir stellt sich die Frage, was dem Panzer da passiert sein soll?« Sie erschauderte, weil in diesem Augenblick ein Schwall Wasser in den Kragen ihrer Jacke lief und von dort aus den direkten Weg ihren Rücken hinunter nahm.

Wortlos beugte sich der Fremde zur vorderen Stoßstange seines Gefährts hinunter, wohl um im Scheinwerferlicht den vermeintlichen Schaden zu begutachten.

»Sieht so aus, als hätte Ihre alte Karre den kleinen Zusammenstoß gut überstanden. Jedenfalls scheint keine von den Beulen neu zu sein«, meldete er schließlich und richtete sich wieder auf. »Falls doch etwas ist, rufen sie mich an. Auf der Karte steht meine Handynummer.«

Verblüfft nahm Kyla die Visitenkarte entgegen und stopfte das nun nasse Kärtchen in ihre Jackentasche. Machte der Mann sich etwa gar keine Sorgen um seinen Wagen, sondern um ihren?

»Okay«, murmelte sie vor sich hin. »Tut mir leid, dass ich so plötzlich gebremst habe. Aber ich habe vor Kurzem ein altes Guesthouse gekauft, das angeblich genau hier stehen soll. Und weil es noch einen Interessenten gab und alles schnell gehen musste, habe ich einen Anwalt und einen Gutachter hier in der Nähe beauftragt und den Kauf von Dublin aus abgewickelt. Das hier ist die Adresse, die im Kaufvertrag steht, aber ich sehe gar kein Haus. Was mache ich denn, wenn ich Opfer von Betrügern geworden bin? Manchmal werden doch Häuser verkauft, die gar nicht existieren …«

»Vielleicht ist es das da hinten.« Der Fremde deutete mit einer Kopfbewegung vage in die Gegend.

Kyla kniff die Augen zusammen und sah an den hohen Bäumen vorbei, die direkt an der Straße standen. Zwischen den windgepeitschten Ästen war ein offen stehendes Eisentor zu erkennen. Mit angehaltenem Atem lief sie darauf zu.

Als sie die schmale, kiesbestreute Auffahrt betrat, klatschte ihr eine Windböe so viel Regen ins Gesicht, dass es sich anfühlte, als hätte jemand einen Eimer Wasser über ihr ausgeschüttet. Doch sie kümmerte sich nicht darum. Nasser konnte sie ohnehin nicht mehr werden.

Der Schein der Straßenlaternen reichte nur wenige Meter in das Grundstück hinein. Dennoch sah sie jetzt die Umrisse eines großen Gebäudes. Und da sie die Fotos, die ihr der Makler geschickt hatte, stundenlang betrachtet hatte, bildete sie sich zumindest ein, Einzelheiten zu erkennen.

Da war das tief heruntergezogene Dach über den efeubewachsenen Natursteinmauern, die in regelmäßigen Abständen von quadratischen Fenstern durchbrochen waren. Als sie näher kam, sah sie auch die Haustür, von der sie wusste, dass sie mit dunkelgrüner Farbe gestrichen war.

Ein paar Sekunden stand sie ganz still da und betrachtete das Haus. Ihr Haus! Es existierte tatsächlich! Dieser Moment brachte die Zweifel, die sie während der ganzen Fahrt quer durchs Land gespürt hatte, zumindest vorübergehend zum Schweigen. Sie spürte Neugier, Hoffnung und Tatendrang – für etwa eine Minute, dann durchfuhr sie der nächste Schreck.

Wieso fiel durch ein kleines Fenster neben der Haustür Licht? Auch in einem Zimmer in der ersten Etage brannte eine Lampe. Man hatte ihr erklärt, die bisherige Eigentümerin des Guesthouse wäre vor mehr als zwei Monaten gestorben. Es konnte doch wohl nicht sein, dass seit ihrem Tod die Beleuchtung an war?

Oder waren es vielleicht Einbrecher? Irgendwelche Vagabunden, die sich in dem vermeintlich verlassenen Gebäude häuslich niedergelassen hatten? Oder war sie doch auf Betrüger hereingefallen, die ihr etwas verkauft hatten, das überhaupt nicht zum Verkauf stand? Wie aufgescheuchte Fledermäuse huschten die Gedanken durch ihren Kopf, während ihr Herz Trommelwirbel in ihrer Brust veranstaltete.

Sie tastete in ihrer Jackentasche nach dem Schlüsselbund, das man ihr per Kurier geschickt hatte. Vielleicht passten die Schlüssel überhaupt nicht. Und falls es ihr doch gelang, damit die Tür aufzuschließen, warteten drinnen möglicherweise finstere Gestalten auf sie, die ihr ihren Besitz streitig machten wollten.

Ob der Typ mit dem Angeberschlitten noch da war? Eigentlich war er ganz freundlich gewesen. Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, sie ins Haus zu begleiten und mit ihr gemeinsam nachzusehen, warum in einem angeblich leeren Gebäude in einigen Zimmern das Licht brannte. Entschlossen eilte Kyla zurück zur Straße.

Als sie durch das schmiedeeiserne Tor trat, stand ihr Kombi im schwachen Licht der Straßenlaternen ganz allein im strömenden Regen. Der Kerl war einfach weggefahren! Für einen kurzen Moment fühlte sie sich vollkommen verlassen. Die Freude auf ihr neues Leben war erneut wie eine Seifenblase geplatzt. Es war, als hätte ihr das Schicksal gleich an ihrem ersten Tag in Loonhill klarmachen wollen, was es bedeutete, ganz von vorn anzufangen – an einem fremden Ort, ohne Freunde, ohne Verwandte und vor allem ohne einen Mann, den sie liebte und der sie unterstützte.

Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Noch vor wenigen Wochen hatte sie gedacht, sie hätte die Liebe fürs Leben längst gefunden. Dann war von einem Tag auf den anderen ihr ganzes Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt und Kyla stand vor dem Nichts. Glücklicherweise erfuhr sie wenig später, dass ihre Großtante Gwyneth ihr eine nicht unbedeutende Geldsumme vererbt hatte. Das war eindeutig ein Zeichen gewesen! Zumindest besaß sie nun die finanziellen Mittel, um ganz neu anzufangen. Anstatt sich weiter jede Nacht wegen eines verlogenen Typen die Augen auszuheulen, hatte sie sich an einen Traum erinnert, den sie fast vergessen hatte, während sie mit Gerald zusammen gewesen war.

Schließlich hatte Gerald ununterbrochen betont, wie toll es war, dass sie in seiner Firma als Direktionsassistentin für ihn arbeitete. Und wie wunderbar sie gemeinsam an einem Strang zogen. Allerdings hatte meistens sie gezogen, während er ein angeblich bedeutendes, wenn auch meistens nicht sonderlich ergebnisreiches Meeting nach dem anderen abhielt oder wochenlang auf Geschäftsreise war.

Er hatte sie so geschickt eingelullt, und sie war so damit beschäftigt gewesen, ihm alles recht zu machen, dass sie darüber ihre eigenen Wünsche und Träume vergessen hatte.

Das war vorbei und die Erbschaft schien ihr ein schicksalhafter Wink zu sein, ihren lang gehegten Traum vom Guesthouse am Meer wahrzumachen.

Und nun? Sollte sie die Polizei rufen, weil in ihrem Guesthouse Licht brannte? Oder die Nachbarn um Hilfe bitten? Gab es hier überhaupt Nachbarn? Wahrscheinlich machte sie sich vollkommen lächerlich, wenn sie sich wegen ein paar vergessener Lampen nicht traute, ihre eigene Haustür aufzuschließen. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, ihre Probleme allein zu lösen.

Mit einem unterdrückten Seufzer stieg Kyla in ihren Wagen, startete den Motor und fuhr durch das offene Tor die Auffahrt entlang zum Haus. Direkt vor der Haustür hielt sie an und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Im selben Moment, in dem die Scheinwerfer ihres Wagens ausgingen, erlosch das Licht im Erdgeschoss. Jetzt brannte nur noch die Lampe hinter dem Fenster im ersten Stock.

Mit zusammengekniffenen Lidern starrte Kyla das Haus an, doch nichts weiter geschah. Fast heimelig leuchtete der gelbe Lampenschein aus dem oberen Fenster in die Dunkelheit. Erneut packte sie den Schlüsselbund, umklammerte ihn fest mit der rechten Hand und stieg aus dem schützenden Wagen. Der Regen hatte nachgelassen. Es schüttete nicht mehr, sondern rieselte nur noch.

Entschlossen marschierte sie zum Haus. Unter dem kleinen Vordach vor der Haustür atmete sie noch einmal tief durch und schob dann den größten Schlüssel ins Schlüsselloch. Er glitt problemlos hinein und ließ sich leicht umdrehen. Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, dass die Tür knarren würde, doch sie schwang geräuschlos auf, als wäre sie erst vor Kurzem geölt worden. Vor ihr lag in undurchdringlicher Dunkelheit das Innere des Hauses.

Kyla stellte sich auf die Schwelle, hielt sich am Türrahmen fest, streckte den Arm weit vor und tastete an der Wand neben der Tür nach dem Lichtschalter. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihn fast sofort. An der Decke der quadratischen Diele flammte ein kleiner Kronleuchter auf. Er war hübsch – vielleicht ein bisschen zu vornehm für ein etwas heruntergekommenes Guesthouse wie dieses, aber der Kontrast hatte durchaus etwas für sich.

Mit angehaltenem Atem tat Kyla einen Schritt nach vorn und lauschte in die Stille. Hier unten war definitiv das Licht ausgeschaltet worden. Das bedeutete ohne jeden Zweifel, dass jemand im Haus war.

»Hallo?«, raunte sie und machte einen weiteren Schritt in die Diele, ohne die Haustür hinter sich zu schließen.

Natürlich bekam sie auf ihr Geflüster keine Antwort. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal, nun in fast normaler Lautstärke. Nichts. Allerdings lag das Zimmer, in dem das Licht immer noch brannte, im ersten Stock auf der anderen Seite des Hauses. Wenn der Eindringling also dort oben war und nicht im Dunkeln hinter der nächsten Tür lauerte, hat er sie wahrscheinlich nicht gehört.

Wieder zog Kyla in Erwägung, die Polizei zu rufen. In einem kleinen Dorf wie diesem gab es allerdings wahrscheinlich keine Polizeistation, sodass es ewig dauern würde, bis jemand kam. Falls die Polizei Licht in einem Haus überhaupt als Notfall ansah.

Schließlich gab es Zeitschaltuhren, mit deren Hilfe man in Abwesenheit Licht und andere Geräte automatisch ein- und ausgehen lassen konnte. Wenn sie tatsächlich einmal beide gemeinsam auf Reisen gewesen waren, hatte Gerald mithilfe dieser Dinger im ganzen Haus zahllose Lampen programmiert. Kyla war im Stillen der Meinung gewesen, dass kein potenzieller Einbrecher auf dieses Lichtspektakel hereingefallen wäre, weil niemand die ganze Nacht von einem Zimmer ins andere lief und dabei sämtliche Lampen an- und ausknipste. Aber natürlich hatte sie lieber geschwiegen, denn was Gerald auch tat, er war stets so überzeugt von sich, dass er gar nicht wissen wollte, was andere davon hielten. Was ihn natürlich nicht davon abhielt, seinen Senf überall dazuzugeben. Ganz besonders Kyla hatte er stets mitgeteilt, was sie seiner Meinung nach alles falsch machte.

Entschlossen warf sie den Kopf in den Nacken und sah im Licht der Deckenlampe, wie die Wassertropfen aus ihren nassen Haaren durch die Luft sprühten. Immerhin musste sie sich keine Gedanken mehr machen, was Gerald wohl zu ihrem Tun und Lassen sagen würde. Sie war eine selbstständige, intelligente Frau und würde die Situation ganz allein klären. Loonhill war ein friedliches, idyllisches Dorf am Meer, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie hier am Tag ihrer Ankunft einem Massenmörder begegnete, war äußerst gering.

Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und umklammerte es fest mit der linken Hand. Dann sah sie sich in der Diele nach einer Waffe um. Auf dem niedrigen Schränkchen rechts von der Tür stand ein Kerzenhalter aus Messing. Sie zog die honigfarbene Kerze heraus, legte sie vorsichtig auf die Kommode und nahm den Leuchter in die Rechte. Dann marschierte sie los.

Während sie die Treppe langsam hinaufstieg, ging ihr durch den Kopf, dass sie sich ihren ersten Gang durch das Guesthouse – ihr Guesthouse! – vollkommen anders vorgestellt hatte. In ihrer Fantasie war sie weder vollkommen durchnässt gewesen, noch hatte sie sich auf Zehenspitzen bewegt oder gar einen Kerzenhalter als Waffe durch die Luft geschwungen. In ihren Gedanken war sie neugierig und voller Freude durch ihr erstes eigenes Haus gegangen, hatte viele hübsche Details und schöne alte Möbel entdeckt und nebenbei Pläne für die Renovierung geschmiedet.

Jetzt – als sie die oberste Treppenstufe erreicht hatte – hielt sie jedoch nur Ausschau nach dem nächsten Lichtschalter oder einer verdächtigen Bewegung auf dem Flur, der nun dunkel vor ihr lag. Mit dem Fuß des Messingleuchters tippte sie gegen den Lichtschalter. Die Beleuchtung hier oben war, gelinde gesagt, dürftig. Die Wandlampen malten gelbliche Kringel auf den Boden und die Decke, alle Ecken und Winkel, Wandstücke und Türöffnungen, die außerhalb dieser Kreise lagen, blieben in Dunkelheit getaucht.

»Hallo? Ist hier jemand?« Obwohl ihr Herz immer noch viel zu schnell schlug, gelang es ihr, fast energisch zu klingen.

Der Flur war sehr lang, was angesichts der Tatsache, dass es im ersten Stock acht Gästezimmer, eine Wäschekammer, einen Abstellraum und mehrere Bäder gab, nicht erstaunlich war.

Schritt für Schritt, den Arm mit dem Kerzenhalter waagerecht ausgestreckt, mit der Linken das Handy so fest umklammernd, dass die Kanten sich schmerzhaft in ihre Handflächen bohrten, tastete sie sich vorwärts. Vor jeder der geschlossenen Türen blieb sie stehen und starrte auf den unteren Spalt. Wenn in einem Zimmer Licht brannte, musste man das trotz der Schwelle von außen sehen – oder etwa nicht?

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, vor der sie gerade stand, und eine Gestalt schwang mit hocherhobener Hand eine Art Schwert direkt vor ihr durch die Luft. Kyla dachte für einen Moment, sie würde gleich ohnmächtig werden. Oder enthauptet.

2. Kapitel

»Aaaah!«, brüllte die Gestalt und fuchtelte weiter wild mit ihrem Schwert herum.

Kyla kreischte und schwenkte ihren Leuchter durch die Luft, während sie gleichzeitig mit der anderen Hand versuchte, über ihr Smartphone Hilfe zu rufen.

»Wer sind Sie?«, schrie der Eindringling und wich zu Kylas Erleichterung einen Schritt zurück.

»Was haben Sie hier zu suchen?«, konterte sie energisch. Wenn hier jemand das Recht hatte, Fragen zu stellen, dann war das ja wohl sie.

»Das frag ich Sie! Legen Sie das da mal weg!«

»Was?«, erkundigte Kyla sich irritiert.

»Das, womit Sie da rumfuchteln. Und kommen Sie ins Licht, damit ich Sie besser seh’n kann.«

»Ich denke nicht dran!« Sie hob den Kerzenhalter bedrohlich noch ein wenig höher, um ihm deutlich zu machen, dass er ihr in ihrem eigenen Haus gar nichts zu sagen hatte. »Legen Sie erst mal Ihr Ding da weg!« Kyla nickte in Richtung des schwertartigen Etwas.

Zu ihrer Überraschung ließ der Kerl tatsächlich seinen Arm sinken. Obwohl sein Scheitel auf Höhe ihres Kinns war, handelte es sich eindeutig um einen Mann. Einen ziemlich alten Mann.

»Was ist das überhaupt? Ein Schwert?«

»So was Ähnliches«, brummte er unfreundlich. »Jetz’ Sie.«

Kyla überlegte nur kurz, dann senkte sie den Kerzenhalter, packte dafür aber ihr Handy ein wenig fester.

»Jetz’ ins Licht!«, kommandierte ihr Gegner und machte selber zwei Schritte zur Seite. Er stand nun direkt unter einer der Wandfunzeln, die sie als eine ihrer ersten Handlungen in diesem Haus durch vernünftige Lampen ersetzen würde, wie sie sich in diesem Moment schwor. Immerhin reichte das schwache Licht, um zu erkennen, dass er mindestens siebzig Jahre alt war – wenn nicht sogar älter.

Augenblicklich entspannte Kyla sich ein wenig. Wenn es hart auf hart kam, würde sie mit ihm fertigwerden, solange er seine Waffe nicht ins Spiel brachte.

»Darf ich mal?« Sie wollte nach dem Schwert greifen, doch sofort wich er zurück.

»Erst wenn Sie mir sagen, was Sie hier zu suchen ham.«

»Ich bin die neue Eigentümerin«, erklärte Kyla und konnte nicht verhindern, dass selbst in dieser absurden Situation ein gewisser Stolz in ihrer Stimme mitschwang. »Ich habe vergangene Woche den Kaufvertrag für dieses Guesthouse unterschrieben, und jetzt bin ich hier.«

»Sie sind das?« Misstrauisch betrachtete der alte Mann sie aus zusammengekniffenen Augen. »Sie sind doch noch viel zu jung.«

»Darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich denke schon, dass ich alt genug bin, ein Guesthouse zu führen.« Sie stockte, als ihr auffiel, dass sie diesem Eindringling keinerlei Erklärungen schuldig war.

»Maureen war dreiundsiebzig«, erklärte er streng. »Sie konnte ein Guesthouse führen.«

»Mag sein. Und ich bin achtundzwanzig.« Langsam wurde Kyla ungeduldig.

»Außerdem sind Sie klatschnass.« Kritisch ließ er seinen Blick an ihr entlangwandern.

»Das weiß ich selbst. Deshalb möchte ich mein Gepäck aus dem Auto holen, eine heiße Dusche nehmen und mir trockene Sachen anziehen. Es wäre nett, wenn Sie mein Haus verließen.«

»Ich geh nich’. Ich wohn hier.« Er legte den Kopf ein wenig schief und sah sie herausfordernd an. Im gelblichen Licht wirkten seine grauen Augen hell wie Nebel.

»Aber das Guesthouse ist seit Monaten geschlossen, hat man mir gesagt. Schließlich ist Mrs Shawn tot, und deshalb kann hier niemand …«

»Ich wohn hier seit drei Jahren. Is’ mein Zuhause.« Er deutete auf die offene Tür hinter seinem Rücken.

Kyla unterdrückte einen Seufzer. »Wenn Sie versprechen, mir Ihre Waffe zu geben und sich die ganze Nacht ruhig in Ihrem Zimmer aufzuhalten, können Sie bis morgen früh bleiben. Dann klären wir die Sache.«

»Da gibt es nix zu klären«, beharrte der alte Mann und reagierte nicht, als Kyla ihm die Hand entgegenstreckte, um sein Schwert in Empfang zu nehmen.

»Darüber reden wir morgen. Jetzt ist mir kalt, ich bin nass und hungrig und will ins Bett.«

»Maureens Wohnung is’ oben«, erklärte ihr der Alte erstaunlich hilfsbereit, wahrscheinlich um sie loszuwerden. »Da woll’n Sie ja wahrscheinlich einziehen.« Okay, das mit der Hilfsbereitschaft hatte Kyla wieder gestrichen. Das klang eher so, als würde er es als Unverschämtheit betrachten, wenn sie als neue Eigentümerin des Guesthouse die Dachwohnung bewohnte.

»Ich weiß, dass oben eine Wohnung ist, und selbstverständlich werde ich dort einziehen!« Sie packte den Schwertgriff in seiner Hand und nahm ihm mit einem Ruck die Waffe ab. Erst als sie das vermeintliche Schwert in der Hand hielt, erkannte sie, dass es sich um einen Schürhaken handelte. Was auch nicht sonderlich beruhigend war.

»Ich weiß nich’ mal, wie Sie heißen«, mäkelte der Alte.

»Sie haben sich mir auch nicht vorgestellt.« Kyla wandte sich der Treppe zu, um endlich ihre Sachen ins Haus zu holen.

»Oben geht übrigens das warme Wasser nich’. Wird also nix mit der Dusche«, teilte er ihr noch fröhlich mit.

Sie tat ihm nicht den Gefallen, auf seine Worte zu reagieren, sondern ging einfach weiter.

*

Als Kyla in den frühen Morgenstunden erwachte, hatte das Rauschen des Regens aufgehört. Durch einen Schlitz zwischen den Gardinen vor dem Erkerfenster fiel helles Licht ins Zimmer.

Sie richtete sich auf dem dicken Kissen auf, schlug das klumpige Federbett zurück und krabbelte mühsam aus der Kuhle in der Mitte der Matratze.

Während sie überlegte, wo sie am schnellsten eine neue Matratze, Kissen und eine leichte Steppdecke herbekam, ging sie barfuß zum Fenster und zog die Gardine mit dem bunten Blumenmuster zurück. Sie öffnete das Fenster weit, um frische Luft hereinzulassen, und wollte sich schon abwenden, als sie mitten in der Bewegung erstarrte.

Der Ausblick, der sich ihr von hier oben bot, war … atemberaubend. Er war tatsächlich so, wie sie ihn sich erträumt hätte, wenn sie während der vergangenen Wochen vor lauter Umzugsvorbereitungen überhaupt zum Träumen gekommen wäre. Gepackt hatte sie nicht viel. Nur zwei große Koffer mit ihrer Kleidung. Möbel besaß sie kaum, nachdem sie zwei Jahre in Geralds Villa gewohnt hatte, wo jedes Möbelstück, jeder Teppich und jedes Bild an der Wand ihm gehörten. Da er eine angesagte Innenarchitektin beauftragt hatte, musste jede unbedarfte Veränderung des gehobenen Einrichtungsstils vermieden werden. Selbst ihre geliebte Yuccapalme hatte sie bei ihrem Einzug weggeben müssen.

Dennoch gab es vor ihrem Aufbruch nach Connemara eine Menge zu tun. Sie hatte vorübergehend in einem billigen Hotelzimmer Unterschlupf gefunden. Von dort aus verkaufte und verschenkte sie von dem bisschen, das ihr persönlicher Besitz war, alles, was nicht in einen Kombi passte. Nebenbei musste sie den Kauf des Guesthouse organisieren – und zwischendurch immer wieder darüber nachdenken, wie sie auf einen Kerl wie Gerald hatte hereinfallen können.

Nun aber war sie in Loonhill, stand in ihrer eigenen kleinen Wohnung in ihrem eigenen Guesthouse und blickte hinab auf eine wunderschöne Landschaft. Das Erkerfenster lag über einem gepflasterten Sitzplatz, der in eine bunt blühende Wiese überging, welche bei einem blau gestrichenen Zaun endete. Hinter dem Zaun fiel der Felsen, auf dem das Guesthouse thronte, steil zum Strand hin ab, aber sie wusste aus dem Exposé des Maklers, dass es eine schmale Treppe gab, die unten im Sand endete.

Und dann erstreckte sich da unten bis zum Horizont der Atlantik – an diesem Morgen zartblau mit kleinen weißen Schaumkrönchen. Ganz in der Ferne, dort wo zarter Dunst über dem Wasser lag, ging das Meer in den Himmel über, der fast den gleichen Farbton hatte wie das Wasser.

Kyla atmete tief ein und schmeckte das Salz in der reinen, kühlen Morgenluft. In Dublin hatte sie zwar auch nicht allzu weit vom Meer entfernt gelebt, aber das war etwas anderes gewesen. Hier waren es von ihrem Bett bis zum Saum des Wassers nur ungefähr fünfzig Meter und fünfzig Stufen, vielleicht auch sechzig oder siebzig. Und um sie herum toste nicht der Verkehr, sondern sie hörte nur den Wind, das Rauschen der Wellen und den Schrei einer Möwe.

Widerstrebend wandte sie sich vom Fenster ab und ging in das altmodische Bad der kleinen Dachwohnung. Tatsächlich gab es kein warmes Wasser, wie sie am Abend zu ihrem Kummer festgestellt hatte. Das lag wohl daran, dass der riesige, altmodische Boiler in der Ecke sich weder mit gutem Zureden noch mit gezielten Fußtritten zur Arbeit bewegen ließ. Folglich hatte sie auf die geplante Dusche verzichten und stattdessen mit einer Katzenwäsche vorliebnehmen müssen. Wäre auf der Gästeetage nicht der alte Mann herumgegeistert, hätte sie es dort in einem der Bäder versucht, aber das hatte sie nicht gewagt. Möglicherweise gab es noch mehr Schürhaken im Haus, und er hatte sich inzwischen überlegt, dass er sie hier nicht dulden würde. Ein bisschen verrückt war er ihr schon erschienen.

Sie warf sich mit beiden Händen etwas kaltes Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und schlüpfte in einen warmen Pullover und ein Paar Jeans, die sie aus ihrem noch nicht ausgepackten Koffer nahm. Die nassen Sachen vom Abend lagen zum Trocknen über einem Holzstuhl in der Ecke des Schlafzimmers und fühlten sich immer noch feucht an.

Dann marschierte sie entschlossen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Von den Grundrissskizzen wusste sie, dass dort die Küche mitsamt Vorratsraum, das große Speisezimmer mit Sitzecke und angrenzender Terrasse, ein Büro, ein Bad und zwei weitere Gästezimmer lagen.

Unten in der Diele sah sie sich zum ersten Mal bei Tageslicht aufmerksam um. Abgesehen davon, dass die Wände neu gestrichen werden mussten und sie sofort den hässlichen Teppich entfernen würde, der die schönen alten Holzdielen verdeckte, gefiel ihr der Raum. Insbesondere die gut erhaltenen antiken Möbel und die Garderobennische aus dunklem Holz mit den vielen Messinghaken trafen ihren Geschmack. Es gab sogar ein paar Sessel um einen niedrigen Tisch wie in einer Hotellobby.

Als Nächstes stieß Kyla die Tür zum Speisezimmer auf, die seitlich von der Sitzecke lag. Der Raum wirkte mit den fünf kleinen Tischen, den steifen Holzstühlen und ein paar tristen Stoffblumen auf dem Fensterbrett nicht sonderlich einladend. Aber das würde sich leicht ändern lassen. Immerhin gefiel ihr die Polstermöbelgruppe im hinteren Teil des Zimmers. Das hätte sie ganz genauso gemacht.

Die restlichen Möbel waren auch in Ordnung, man musste sie nur mit hübschen Tischdecken, bunten Kissen, frischen Blumen und einigen hellen, modernen Lampen aufpeppen. Überhaupt brauchte das ganze Haus mehr Licht.

Sie drehte sich einmal um sich selbst, kniff dabei die Augen zusammen und konnte es schon fast vor sich sehen. Zum Glück war von der Erbschaft noch etwas Geld übrig, um die dringendsten Renovierungsarbeiten durchführen zu lassen. Für ein paar Gegenstände, die die Zimmer wohnlicher machten, sollte es auch noch reichen – wenn sie sich auf das Nötigste beschränkte.

Ob es auch noch für warmes Wasser in ihrer Wohnung genügen würde, wagte sie allerdings zu bezweifeln. Notfalls musste sie vorerst eines der Gästebäder benutzen. Wenn erst einmal alle Zimmer belegt waren, würden ihre Einnahmen auch für die nicht ganz so notwendigen Arbeiten ausreichen – und für warmes Wasser in ihrem eigenen Bad.

Langsam ging sie durch das Speisezimmer und sah sich die Bilder an den Wänden an. Es handelte sich um kleine, nichtssagende Landschaftsgemälde, die sie unbedingt durch Fotos in lebhaften Farben ersetzen wollte. Dann stand sie vor der großen Glastür, die nach draußen führte.

Der Anblick verschlug ihr fast die Sprache. Das würde sie auf keinen Fall ändern! Auf der großen, teilweise überdachten Terrasse standen in kleinen Gruppen Korbsessel und Tischchen. Alles wirkte so einladend, dass sie am liebsten dort draußen gefrühstückt hätte. Nach dem heftigen Regen in der Nacht war es aber sicher an diesem frühen Junimorgen in Connemara noch ein bisschen zu kühl und zu feucht dafür.

»Maureen is’ jeden Morgen um halb sechs aufgestanden, um für ihre Gäste Tee zu kochen. Jetz’ is’ es schon nach sieben.« Die heisere Altmännerstimme, die unvermittelt von der Tür zur Eingangshalle her kam, ließ Kyla herumfahren.

»Ihnen auch einen guten Morgen«, grüßte sie mit strengem Blick. »Es sind keine Gäste da, für die ich Frühstück machen müsste. Außerdem wird es bei mir erst ab acht Uhr Frühstück geben. Auf besonderen Wunsch auch früher. Aber ich gehe davon aus, dass die Leute hier Urlaub machen wollen.«

Der alte Mann, dem sie freundlicherweise für die vergangene Nacht Asyl gewährt hatte, stieß sich vom Türrahmen ab, durchquerte den Raum und blieb vor ihr stehen.

»Ich bin Rupert Romney«, stellte er sich vor. Offenbar hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, zu dem sogar rudimentäre Höflichkeiten gehörten. Nachdem er derart über sich hinausgewachsen war, sah er Kyla erwartungsvoll an.

Aus der Nähe konnte sie jede einzelne der zahllosen Falten erkennen, die seine gebräunte Gesichtshaut durchzogen und rings um die Augen ein feines Gitter bildeten. Er trug einen grauen, zerzausten Bart, und auf seinem Kopf wuchs spärliches Stoppelhaar.

Sie räusperte sich und hielt ihm die Hand hin. »Kyla O’Kelley.«

Seine Finger fühlten sich rau und trocken an, doch sein Händedruck war für sein fortgeschrittenes Alter erstaunlich kräftig. Es dauerte eine Weile, bis er sie wieder losließ.

»Hier in Loonhill gibt es doch sicher einen Gasthof, der Zimmer vermietet«, schlug Kyla in heiterem Ton vor. »Oder Sie könnten …«

»Es gibt ’nen Gasthof. Aber da will ich nich’ hin«, unterbrach er sie. »Als meine Alberta starb, bin ich hier eingezogen. Das hat sie so abgemacht mit Maureen. Hier is’ jetz’ mein Zuhause. Ich geh hier nich’ weg.«

Kyla lachte nervös auf. »Aber das Haus gehört jetzt mir. Ich werde alle Gästezimmer renovieren lassen, auch das, in dem Sie wohnen.«

Rupert zuckte mit den Schultern. »Hab ich nix gegen. Ich helf dabei.«

»Es muss doch jemanden geben, zu dem Sie ziehen können! Haben Sie Kinder? Irgendwelche anderen Verwandten?« Nervös trat Kyla von einem Fuß auf den anderen. Sie musste diesen alten Mann loswerden, auch wenn er ihr ein bisschen leidtat. Wenn sie erst einmal die Gästezimmer renoviert hatte, würde er den Preis, den sie sich vorstellte, wahrscheinlich ohnehin nicht zahlen können. Und die Vorstellung, jemanden zu beherbergen, der ihr sagte, wann sie für ihre Gäste Tee kochen sollte, gefiel ihr auch nicht sonderlich.

»Mein Zuhause is’ hier«, wiederholte er hartnäckig.

Sie unterdrückte einen Seufzer. »Ich fürchte, wenn ich alles habe herrichten lassen, werden Sie sich ein Zimmer hier nicht mehr leisten können.«

»Kann schon sein. Aber wenn Sie mich loswerden woll’n, müssen Sie mich umbringen und dann an den Füßen hier rausschleifen.« Energisch schob er das Kinn vor und starrte ihr kampfeslustig in die Augen.

»Ich könnte die Polizei rufen«, schlug sie vor.

»Könn’ Sie machen. Aber die kenn ich schon viel länger als Sie. Und die wissen auch, dass ich hier wohn und nirgendwo anders.«

»Aber es ist mein Haus.« Kyla wusste nicht, wie oft sie das noch wiederholen sollte.

»Und ich wohn hier«, erklärte Rupert Romney und entblößte sein gelbliches Gebiss. Das Lächeln wirkte jedoch eher verzweifelt als freundlich.

»Wenn es sein muss, können Sie noch ein paar Tage bleiben, bis Sie etwas anderes gefunden haben. Aber höchstens eine Woche.« Kyla wusste, dass es taktisch unklug war nachzugeben, aber der alte Mann tat ihr leid. Notfalls würde sie sich persönlich nach einer anderen Unterkunft für ihn umsehen.

»Gut!« Er nickte zufrieden. »Wann fangen wir mit der Renovierung an? Ich hab Maureen schon oft gesagt, dass wir ein bisschen Farbe brauchen und vielleicht ’nen neuen Teppich für die Diele. Aber sie hat immer gesagt, was für sie gut genug is’, is’ auch gut genug für ihre Gäste.« Er nickte nachdrücklich. »Geld für so was hatte sie auch nich’.«

»Ich werde Handwerker beauftragen. Sie haben mit den Renovierungsarbeiten nichts zu tun«, erklärte Kyla streng. »Und einen neuen Teppich für die Diele gibt es schon gar nicht. Dazu sind die alten Holzdielen viel zu schön. Die werden abgeschliffen und poliert. Fertig.«

»Das hätte Maureen nich’ gefallen.« Er runzelte die Stirn. »Aber die ist nich’ mehr da, nich’ wahr?«

»So ist es!« Ohne ein weiteres Wort drehte Kyla sich um. Ein kurzer Spaziergang am Meer würde sie hoffentlich ein bisschen beruhigen.

Bevor sie hinunter zum Strand ging, schaute sie sich das Haus von außen an. Es sah genauso aus wie auf den Fotos. Sie mochte den Efeu, die Mauern aus Naturstein und das dunkelrote Ziegeldach. Was sie sofort ändern musste, war das Schild über dem Eingang. Es war aus Blech, leicht angerostet und teilte dem Besucher in schlichten schwarzen Buchstaben mit, dass er vor der Tür eines Guesthouse stand. Sie musste möglichst schnell einen klangvollen Namen finden, der die Gäste anlockte und ihre Fantasie anregte.

Sie öffnete die Pforte im Zaun und lief die Treppe hinunter zum Strand. Dabei zählte sie die Stufen. Es waren genau achtundsechzig. Atemlos kam sie unten an, streifte die Schuhe ab und ging barfuß über den Sand zum Meer, bis sie das kühle Wasser an ihren Füßen und Knöcheln spürte. Es störte sie nicht, dass der Saum ihrer Jeans nass wurde.

Tief in ihrer Kehle lauerte ein glückliches Lachen, und sie konnte nicht anders, als den Kopf in den Nacken zu legen, um dieses Lachen hinauf in den blauen Himmel zu schicken. Obwohl eine Menge Arbeit auf sie wartete, bis das Guesthouse so aussehen würde, wie sie es sich vorstellte, wusste sie in diesem Moment, dass sie alles richtig gemacht hatte. Den Rest würde sie auch noch in den Griff bekommen: den alten Mann, der dort wohnte und behauptete, sie könne ihn nur loswerden, indem sie ihn umbrachte, und die Ungewissheit, ob es ihr gelingen würde, von den Einnahmen aus der Zimmervermietung zu leben. Denn dies hier war ein wunderschönes Fleckchen Erde. Sie hatte sich auf den ersten Blick verliebt. In Connemara, in das Meer und in ein altes Haus auf einem Felsen hoch über dem Strand.

3. Kapitel

Als Kyla eine gute halbe Stunde später zum Haus zurückkehrte, war sie so hungrig, dass sie beschloss, ihre Lebensmitteleinkäufe auf später zu verschieben und im Dorf etwas zu essen. Im Dorfgasthaus bekam sie hoffentlich so etwas wie ein Frühstück. Abends hatte sie vor dem Schlafengehen nur eine halbe Tüte Erdnüsse aus ihrer eisernen Reserve gegessen.

Sie ging durch die gläserne Terrassentür ins Haus, um ihr Portemonnaie zu holen. Im Speiseraum saß zu ihrer Überraschung Rupert an einem der Fenstertische und sah ihr erwartungsvoll entgegen. Er hatte Teller, Tassen und Bestecke für zwei Personen gedeckt, dazwischen standen eine kleine Platte mit geröstetem Toast, Butter, Marmelade und Käse, eine Teekanne und ein Milchkännchen.

»Hunger?«, erkundigte er sich, und sein Lächeln war so breit, dass seine Augen fast zwischen den Fältchen verschwanden, die sie umgaben.

Als hätte er die Frage gehört, knurrte Kylas Magen in diesem Moment so laut, dass sich jede Antwort erübrigte. Dennoch blieb sie schweigend in der Tür stehen. Wahrscheinlich war es ein ziemlich ungeschickter Schachzug, sich von Rupert zum Frühstück einladen zu lassen.

»Ich kann auch Rühreier machen«, bot er angesichts ihres Zögerns an.

»Nicht nötig«, murmelte sie und ließ sich widerstrebend auf dem freien Stuhl nieder. »Es ist nett, dass Sie mir etwas zu essen anbieten. Ich bin noch nicht zum Einkaufen gekommen.«

»Es ist noch genug für die ganze Woche da. Auch Eier, Bacon und Würstchen.« Er füllte ihre Tasse mit Tee und schob ihr das Brot hin.

»Danke.« Sie nahm sich eine Scheibe Toast, bestrich sie mit Butter und Marmelade und biss hungrig hinein. Schweigend verschlang sie den ersten Toast und griff nach einem zweiten. Dabei mied sie Ruperts Blick. Sie wusste auch so, dass er ihr höchst zufrieden beim Essen zusah.

Nachdem sie Butter auf dem nächsten Toast verteilt und eine Scheibe Käse daraufgelegt hatte, räusperte sie sich und schaute nun doch mutig zu ihrem Gegenüber. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar für das Frühstück. Dass wir heute gemeinsam essen, heißt aber nicht …«

Als sie sah, dass seine hellen Augen dunkel wurden wie der Himmel kurz vor einem Gewitterregen, stockte sie. Sie tat Menschen nicht gern weh, und im Grunde gefiel es ihr schon nicht, wenn sie in einer Situation war, in der sie die Macht dazu besaß.

»Ich will nirgendwo anders hin. Hier is’ mein Zuhause«, erklärte Rupert mit energischer Stimme, die ein kleines bisschen zitterte. Dabei rührte er unablässig in seiner schon fast leeren Tasse.

»Ich verstehe Sie wirklich, Rupert.« Plötzlich sah sie vor sich, wie der alte Mann sie morgens um sechs aus dem Bett zerrt, damit sie für ihre Gäste Frühstück machte. Während genau diese Gäste mindestens bis acht Uhr schliefen, weil sie schließlich im Urlaub waren.

Sie holte tief Luft und fuhr fort: »… aber Sie müssen auch mich verstehen. Ich werde das Haus vollkommen umgestalten und …«

»Grün wär ’ne schöne Farbe für dies’ Zimmer«, unterbrach er sie und schenkte ihr Tee nach. »So ’ne Art Apfelgrün oder vielleicht auch Pfefferminzgrün. Ein bisschen heller als das Gras draußen. Auf keinen Fall Erbsengrün, das wär zu dunkel.«

Verblüfft starrte sie ihn an. »Sind Sie so was wie ein Farbexperte?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich hab Augen im Kopf.«

Für Rupert schien es ganz normal zu sein, ein Dutzend verschiedene Grüntöne benennen zu können. Er grinste sie nur an, zuckte mit den Schultern und steckte sich das letzte Viertel einer Toastscheibe in den Mund.

Obwohl sie eigentlich noch nicht satt war, stand Kyla auf und schob ihren Stuhl unter den Tisch.

»Ich fahre dann mal ins Dorf und erledige meine Einkäufe.« Erst als der Satz heraus war, fiel ihr ein, dass es ihren ungebetenen Gast nichts anging, wann sie kam und ging und aus welchem Grund sie das Haus verließ.

Rupert nickte mit ernster Miene. »Wenn Sie schon im Dorf sind … Jack is’ ’n guter Maler. Wohnt gleich neben dem Friedhof.«

»Ich hatte nicht vor …« Sie stockte, nickte ihm zu und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Erst als sie bereits die Wagentür aufgeschlossen hatte, beschloss sie, ihre Einkäufe lieber zu Fuß zu erledigen. Das Guesthouse lag am Dorfrand, aber bis zum Lebensmittelladen an der Hauptstraße, die sie am Vorabend bei Dunkelheit und strömendem Regen mit dem Auto entlanggefahren war, konnten es zu Fuß nicht mehr als fünfzehn Minuten sein. Auf diese Weise würde sie Loonhill gleich ein wenig besser kennenlernen.

Schon in Dublin hatte sie bei Internetrecherchen herausgefunden, dass es im Zentrum des Dorfes außer einer Kirche und einem Gasthaus einen kleinen Lebensmittelmarkt, eine Buchhandlung, eine Apotheke und einen praktischen Arzt gab. Wenn das Guesthouse erst einmal ausgebucht war und sie für zehn oder mehr Gäste Frühstück zubereiten musste, würde es sich lohnen, in einen großen Supermarkt ins etwa fünfzehn Kilometer entfernte Galway zu fahren. Vorerst kam sie wahrscheinlich mit dem aus, was sie hier im Ort kaufen konnte.

In einiger Entfernung sah Kyla die Spitze des Kirchturms in den klaren Himmel ragen und marschierte auf der schmalen Straße darauf zu. Dabei kam sie an hübschen Cottages in blühenden Gärten vorbei. Fast alle Häuschen trugen romantische Pflanzennamen, die auf Holztafeln über den rot, blau oder grün gestrichenen Türen zu lesen waren. Es gab Rosen- und Hortensienliebhaber, Nussbaum- und Ginsterfreunde, und ein Hausbesitzer hatte sein Heim nach der gelben Trollblume benannt. Genista Cottage klang hübsch, ebenso wie Hydrangia House. Aber das war ja nun schon vergeben.

Ob sie für das Guesthouse auch einen Pflanzennamen wählen sollte? Gedankenverloren legte sie den restlichen Weg in die Dorfmitte zurück. Soweit sie sich erinnerte, lag der kleine Lebensmittelladen vom Guesthouse aus gesehen hinter der Kirche.

Als jemand sie forsch am Ärmel zupfte, blieb sie überrascht stehen. Der alte Mann, der sie breit angrinste, besaß oben nur einen Schneidezahn. Ebenso spärlich war es um seine Haarpracht bestellt, die aus einer schmalen schneeweißen Haarsträhne in der Mitte seines Schädels bestand.

»Ich bin Jack!«

»Kyla«, erwiderte sie automatisch und sah ihn fragend an.

Er wartete, worauf auch immer. Sie ebenfalls.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, erkundigte sie sich nach einer Weile.

»Ich kenn Sie nich’. Also sind Sie die neue Besitzerin vom Guesthouse. Und Sie brauchen Hilfe«, stellte er bedächtig fest. »Rupert sagt, Sie woll’n Ihr Speisezimmer apfelgrün streichen lassen. Vielleicht auch eher in so ’nem Pfefferminzton oder ’n bisschen heller.«

»Äh … Eigentlich bin ich mir überhaupt noch nicht sicher, ob das Speisezimmer grün sein soll. Rupert scheint zwar auf Grün zu stehen, aber das entscheide immer noch ich.«

»Rupert hat mich angerufen und mir gesagt, dass Sie ’nen Maler brauchen«, teilte Jack ihr mit und zückte zu ihrer Verblüffung ein silbern blitzendes Smartphone, auf dem er offenbar Ruperts Anruf entgegengenommen hatte. »Ich kann so was. Wände bemalen und so.«

»Das glaube ich gern, trotzdem …« Sie wusste nicht weiter und sah sich hilfesuchend um. Dabei fiel ihr Blick auf den Laden direkt neben dem Friedhof, dessen Grabsteine rings um die kleine Dorfkirche aufragten. Es handelte sich um eine Buchhandlung, die hier irgendwie nicht hinpasste, wenn man bedachte, dass es in Loonhill ansonsten nur Läden für den notwendigsten Bedarf des täglichen Lebens gab. Wozu man Bücher aber wahrscheinlich auch zählen konnte.

»Entschuldigen Sie bitte, Jack. Ich muss ganz dringend etwas besorgen. Ein Buch über …« Hastig stürzte sie auf die Tür von Joanna’s Paradise zu.

Der Laden war klein und wunderschön. Die Regale an allen vier Wänden reichten vom Boden bis unter die Decke in etwa drei Meter Höhe und waren vollgestopft mit Taschenbüchern und gebundenen Büchern, dicken und dünnen Bänden, großen und kleinen Formaten. Die bunten Buchrücken verliehen dem engen Raum etwas Lebendiges, das jeden Eintretenden sofort auf das neugierig machen musste, was sich hinter den Farben und Buchstaben verbarg. Jedenfalls ging es Kyla so. Am liebsten hätte sie sich ein paar Bücher ausgesucht, sich auf das kleine rote Sofa in der Ecke gesetzt und wäre in einer spannenden Geschichte versunken. Auf diese Weise müsste sie sich nicht mit aufdringlichen alten Männern, Wandfarben, klangvollen Namen für ein Guesthouse und den unzähligen anderen Dingen beschäftigen, die momentan auf sie einstürzten.

»Kann ich Ihnen helfen? Sie sind nicht von hier, nicht wahr?«

Zwischen den vielen Büchern tauchte wie aus dem Nichts eine junge Frau etwa in Kylas Alter auf. Sie trug einen bunten, handgestrickten Pullover, einen knielangen Rock aus dickem braunem Wollstoff und hohe braune Lederstiefel. Ihre Kleidung passte nicht zu dem sonnigen Tag draußen, aber hier drinnen war es ziemlich kühl.

Kyla schüttelte den Kopf und nickte gleich darauf. »Ja und nein. Ich bin gestern in Loonhill angekommen, und wenn alles gut geht, werde ich bleiben. Also bin ich wohl doch irgendwie von hier. Ich habe das Guesthouse am Ortsrand gekauft.«

»Wie schön!« Die Buchhändlerin streckte ihr die Hand hin, und als Kyla danach griff, wurde ihr Arm so heftig auf und ab bewegt, dass sie sich zwar einigermaßen durchgeschüttelt, aber auch herzlich willkommen geheißen fühlte.

»Ich bin Kyla O’Kelley«, stellte Kyla sich vor.

»Joanna Whelan. Ich bin seit fast acht Jahren die Besitzerin dieser Buchhandlung. Viele Leute finden es verwunderlich, dass ich ausgerechnet hier meinen Laden aufgemacht habe. Aber ich wollte immer eine Buchhandlung haben, dieses Haus habe ich günstig bekommen, also …« Sie zuckte mit den Achseln, lächelte und zwinkerte Kyla zu.

»So gesehen wollte ich auch immer ein Guesthouse haben.« Kyla verzog ihren Mund ebenfalls zu einem Lächeln. »Allerdings hätte ich nie gedacht, dass ich diesen Traum jemals verwirklichen kann. Und jetzt … bin ich hier.«

»Sie haben Maureens Guesthouse gekauft«, schloss Joanna messerscharf.

Kyla nickte und zögerte. Dann beschloss sie, dass die Gelegenheit günstig war. Joanna kannte sich wahrscheinlich in Loonhill bestens aus, wenn sie ihren Buchladen hier seit acht Jahren betrieb. Möglicherweise war sie sogar im Dorf geboren.

»Ich dachte, das Guesthouse würde leer stehen, sodass ich es renovieren kann, bevor ich die ersten Gäste aufnehme. Aber jetzt …«

»Rupert«, unterbrach Joanna sie mit einem verständnisvollen Lächeln.

»Rupert«, bestätigte Kyla und unterdrückte einen Seufzer.

Joanna zog Kyla zu der kleinen Couch, drückte sie darauf nieder, goss ihr aus der auf einem Stövchen bereitstehenden Kanne Tee ein und setzte sich dann auf den Sessel schräg gegenüber. Von dort aus sah sie Kyla abwartend an und vermittelte dabei den Eindruck, als hätte sie alle Zeit der Welt. Was angesichts der fehlenden Kundschaft in ihrem kleinen Laden möglicherweise sogar der Fall war.

»Er weigert sich auszuziehen«, sagte Kyla schließlich, nachdem sie an ihrem Tee genippt hatte. »Er hat sogar gesagt, wenn ich ihn loswerden will, muss ich ihn umbringen. Das meint er natürlich nicht ernst, aber ich weiß trotzdem nicht, was ich machen soll.«

»Wenn Sie ihn rauswerfen – ich fürchte, das wäre eine ziemliche Katastrophe für ihn«, stellte Joanna fest. »Rupert hat vor ungefähr drei Jahren seine Frau verloren. Nachdem er Alberta begraben hatte, zog er ziemlich bald ins Guesthouse. Alberta war mit Maureen befreundet, und ich glaube, die beiden Frauen haben abgemacht, dass Rupert nach Albertas Tod bei Maureen leben soll. Er wirkte glücklich dort, als hätte er ein neues Leben begonnen. Jetzt noch mal von vorn anfangen – das schafft er nicht.«

»Aber er könnte in sein eigenes Haus zurückkehren«, schlug Kyla hoffnungsvoll vor. »Das ist doch eine vertraute Umgebung für ihn. Oder wohnt dort jetzt jemand anders?«

Joanna zuckte mit den Achseln. »Das Haus steht leer. Ist nicht so leicht, hier Mieter zu finden. Vielleicht hat Rupert auch gar keine gesucht. Keine Ahnung. Aber wir wissen doch beide, dass es nicht allein darum geht, ein Dach über dem Kopf zu haben, nicht wahr?«