Modehaus Haynbach – Glanzvolle Zeiten - Elaine Winter - E-Book
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Modehaus Haynbach – Glanzvolle Zeiten E-Book

Elaine Winter

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Beschreibung

Paris und München, 1953: Mabelle von Haynbach ist aufgeregt: Sie hat ihren ersten Auftritt als Mannequin in Paris. Bisher hat sie nur für ihre Schwester Viktoria - mittlerweile angesehene Designerin - Kleider vorgeführt. Beflügelt von ihren ersten Erfolgen, beschließt Mabelle, dass es an der Zeit ist, endlich ihre Großeltern kennenzulernen. Diese hatten ihrem Sohn Helmut vor langer Zeit den Rücken gekehrt - aufgrund der nicht standesgemäßen Liebe zu Mabelles Mutter Claire. Auf Schloss Haynbach wird Mabelle überraschend freundlich aufgenommen. Und sie lernt Claus kennen, einen sympathischen Handwerker, der auf dem Besitz Renovierungen durchführt. Wird eine Liebe über die Standesgrenzen ein weiteres Mal für Zwist sorgen? Als Mabelle den wahren Grund für die tiefe Kluft zwischen den Familien herausfindet, überlebt sie nur knapp einen Unfall. Trachtet ihr jemand nach dem Leben?

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

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Epilog

Leseprobe - Stürmische Zeiten

Weitere Titel der Autorin:

Das Geheimnis von Chaleran Castle

Herzmuscheln

Fräulein Nora findet die Liebe

Schneeflockenherzen

Die Töchter der Villa Weißenfels

Modehaus Haynbach – Tage voller Hoffnung

Modehaus Haynbach – Schicksalhafte Jahre

Über dieses Buch

Paris und München, 1953: Mabelle von Haynbach ist aufgeregt: Sie hat ihren ersten Auftritt als Mannequin in Paris. Bisher hat sie nur für ihre Schwester Viktoria – mittlerweile angesehene Designerin – Kleider vorgeführt. Beflügelt von ihren ersten Erfolgen, beschließt Mabelle, dass es an der Zeit ist, endlich ihre Großeltern kennenzulernen. Diese hatten ihrem Sohn Helmut vor langer Zeit den Rücken gekehrt – aufgrund der nicht standesgemäßen Liebe zu Mabelles Mutter Claire. Auf Schloss Haynbach wird Mabelle überraschend freundlich aufgenommen. Und sie lernt Claus kennen, einen sympathischen Handwerker, der auf dem Besitz Renovierungen durchführt. Wird eine Liebe über die Standesgrenzen ein weiteres Mal für Zwist sorgen? Als Mabelle den wahren Grund für die tiefe Kluft zwischen den Familien herausfindet, überlebt sie nur knapp einen Unfall. Trachtet ihr jemand nach dem Leben?

Über die Autorin

Elaine Winter ist ein Pseudonym der Autorin Ira Severin, die schon als Kind gerne Geschichten erfunden hat. Sie studierte Germanistik und Anglistik, probierte sich in verschiedenen Jobs in der Medienbranche aus und kehrte bald zum Geschichten erfinden zurück. Inzwischen ist sie seit mehr als zwanzig Jahren Autorin und hat den Spaß am Erdenken schicksalhafter Wendungen und romantischer Begegnungen bis heute nicht verloren.

ELAINE WINTER

Glanzvolle Zeiten

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: ESB Professional | PHOTOCREO Michal Bednarek | Julia Ardaran | mikolajn

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rmpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-7063-8

Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Die Whiteoak-Saga. Stürmische Zeiten« von Mazo de la Roche.

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Paris, Anfang März 1953

Mabelle von Haynbach trug ihre schönsten Schuhe, schwarze Pumps mit weißen Absätzen und einer weißen Spange über dem Spann. Leider waren sie der Mode entsprechend spitz und drückten ihre Zehen unangenehm zusammen. Wahrscheinlich hätte sie sie doch eine Nummer größer kaufen sollen, aber wer wollte schon ein Mannequin mit riesigen Füßen?

Es war Frühling in Paris, und Mabelle war so aufgeregt und glücklich, dass sie es ziemlich lange schaffte, ihre schmerzenden Füße zu ignorieren. Als sie urplötzlich das Gefühl hatte, keinen einzigen Schritt mehr tun zu können, war sie schon eine ganze Weile über die weite Grünfläche des Champ de Mars spaziert, um den Eiffelturm aus jedem nur möglichen Blickwinkel zu bewundern. Eigentlich war das berühmte Wahrzeichen von Paris nur ein riesiges Stahlgerüst, aus irgendeinem Grund fand sie es trotzdem wunderschön.

Zudem hatte Mabelle noch nie einen Himmel gesehen wie den über Paris. Der Frühlingswind hatte jedes noch so kleine Wölkchen weggeblasen, und wenn sie nach oben sah, kam sie sich vor, als befände sie sich im Inneren einer blauen Murmel.

Auch die Menschen hier erschienen ihr anders als zu Hause. Die französischen Frauen waren unbeschreiblich elegant. Sie schritten mit hoch erhobenen Köpfen und ohne jede Eile dahin. Und die Männer, die ohne Begleitung unterwegs waren, lächelten Mabelle im Vorbeigehen auf eine Weise an, die gleichzeitig herausfordernd und bewundernd wirkte. Vielleicht war das der besondere Charme, den man den Franzosen nachsagte.

Als Mabelle auf die Uhr sah, stellte sie fest, dass es höchste Zeit war, sich auf den Weg zum Atelier zu machen.

»Entschuldigung. Können Sie mir sagen, wie ich von hier aus am schnellsten in die Avenue Montaigne komme?«, wandte sie sich an ein vorbeischlenderndes Liebespaar. Die beiden hatten nur Augen füreinander und schienen sie gar nicht zu hören. Anscheinend entsprachen die Klischees über Paris als Stadt der Liebe der Wahrheit.

Seufzend holte Mabelle ihren Stadtplan hervor, faltete ihn im Wind mühsam auseinander und versuchte, sich in dem Gewirr von Straßen und Plätzen zu orientieren. Sie hatte vor ihrem Termin noch Zeit gehabt und sich deshalb zu dem kleinen Ausflug zum Eiffelturm entschlossen. Sie wusste nicht, ob sie noch die Gelegenheit haben würde, sich die Stadt anzusehen, wenn es erst einmal mit den Anproben losging. Deshalb wollte sie jede freie Minute nutzen. Noch viel wichtiger war jedoch, die berufliche Chance zu nutzen, die sich ihr hier in Paris bot. Deshalb musste sie zu ihrem ersten Termin unbedingt pünktlich erscheinen.

Ohne sich die Mühe zu machen, den Straßenplan wieder ordentlich zusammenzufalten, stopfte Mabelle ihn zurück in ihre Handtasche und lief los.

Als sie eine halbe Stunde später endlich die Avenue Montaigne erreichte, spürte sie ihre Füße kaum noch. Der Wind hatte ihre Haare zerzaust, aber ihr blieb keine Zeit mehr, sich einen Spiegel oder eine spiegelnde Schaufensterscheibe zu suchen, um das Desaster in Ordnung zu bringen. Ohnehin war sie schon ein bisschen zu spät dran. Sie hatte unterwegs mehrmals nach dem Weg fragen müssen und war dennoch zwei Mal falsch abgebogen. Jetzt war sie so in Eile, dass sie sogar der Niederlassung des berühmten Christian Dior, die wenige Häuser von ihrem Ziel entfernt lag, nur einen kurzen Blick gönnte. Ihr Traum war es, eines Tages während der Pariser Fashion Week in einem Dior-Modell über den Laufsteg zu schweben. Doch wenn sie schon bei ihrer allerersten Anprobe in Paris unangenehm auffiel, würde daraus vielleicht nie etwas werden. In ihrer Agentur hatte man ihr vor ihrer Abreise nach Paris eingeschärft, wie wichtig es für ein erfolgreiches Mannequin sei, sich an die »drei großen P« zu halten. Das bedeutete, sie musste sich stets professionell verhalten, pünktlich erscheinen und perfekt frisiert und geschminkt sein. An diesem Tag würde sie wohl kein einziges P zu bieten haben.

Im Laufschritt stürmte Mabelle in das Gebäude, in dem das Atelier de mode Luc Guérin untergebracht war. Bisher kannte man sie dort nur von den Fotos, über die sie für die Modenschau gebucht worden war. Nun würde sie wahrscheinlich den guten Eindruck zunichtemachen, den ihre Bilder offenbar hinterlassen hatten. Man würde sich über sie beschweren und einen Ersatz für sie fordern, ihre Agentur würde sie hinauswerfen, und sie würde weder bei Guérin noch bei Dior oder bei sonst irgendjemandem jemals an einer großen Modenschau teilnehmen dürfen.

Außer natürlich bei Viktoria, was aber nicht zählte, da sie, Mabelle, die kleine Schwester der Inhaberin des Modehauses Haynbach war. Es war demütigend, nur in München Kleider vorführen zu dürfen. Wenn sie gleich ihre erste Buchung in Paris vermasselte, würde sie sich wohl früher oder später einen anderen Beruf suchen müssen.

Das Problem war nur, dass sie keine andere Arbeit wollte. Sie liebte es, schöne Kleider vorzuführen und sich bewundern zu lassen. Und sie wusste, dass sie es gut konnte. Die Frauen, die sie in den teuren Modellen sahen, wollten sein wie sie, aussehen wie sie, sich bewegen wie sie. Und sie glaubten, das würden sie erreichen, indem sie sich das Kleid kauften, das Mabelle für die Modenschau auf den Leib geschneidert worden war. So hatte es seit ihrem ersten Auftritt in den Kreationen ihrer Schwester funktioniert, und so würde es wahrscheinlich auch in den großen Pariser Ateliers funktionieren. Wenn sie heute und in den kommenden Tagen nicht vollkommen versagte.

Mabelle lief an den Vorführ- und Empfangsräumen im Erdgeschoss vorbei, stürmte die Treppe hinauf und riss die Tür auf, die laut einem kleinen Schild zum Atelier führte. Sie hatte erwartet, zunächst in einen Flur zu kommen, von dem mehrere Türen abgingen. So war es in Viktorias Modehaus. Sie hoffte auch auf einen Spiegel, in dem sie auf die Schnelle ihre Frisur überprüfen konnte. Zu ihrem Entsetzen fand sie sich jedoch sofort in einem großen Raum wieder, in dem mehrere Frauen emsig herumliefen oder an Zuschneidetischen und Schneiderpuppen beschäftigt waren. In der Mitte stand eine junge Frau auf einem kleinen Podest. Bei ihrem Anblick kam Mabelle sich gleich noch zerzauster vor.

Soeben warf die Schönheit auf dem weißen Betonblock das schimmernde schwarze Haar nach hinten. Die üppige Mähne bildete einen interessanten Kontrast zu ihrer hellen Haut und den glänzenden hellgrauen Augen. Sie sah einfach umwerfend aus. Wie sie da stand, hätte man sie in jedem Märchenbuch als Schneewittchen abbilden können.

»Mabelle von Haynbach?« Eine Frau um die vierzig im weißen Kittel, und mit einem Stecknadelkissen am Handgelenk musterte sie streng.

Mabelle strich sich nervös die Haare glatt, obwohl sie es damit wahrscheinlich noch schlimmer machte. Dann nickte sie und öffnete den Mund zu einer Entschuldigung. Doch die Frau im Kittel war schneller.

»Sie sind zu spät. Monsieur Guérin wird ungehalten sein. Mit Antoinette ist er schon durch.« Sie deutete auf die schwarzhaarige Schönheit auf dem Podest, die ein dunkelblaues Cocktailkleid mit funkelnden Stickereien am Gürtel und am Ausschnitt trug.

»Ich … bin fremd in Paris und habe mich verlaufen. Meine Schuhe sind neu, und ich finde sie auch ganz hübsch, aber sie sind vorne so eng, dass meine Füße ganz taub sind …« Lautes Gelächter unterbrach sie. Es kam nicht nur vom Schneewittchen namens Antoinette, sondern auch von sämtlichen Näherinnen im Raum.

Mabelle biss sich auf die Unterlippe. Sie musste sich endlich abgewöhnen, einfach draufloszureden. Schließlich war sie hier nicht mehr im Atelier ihrer Schwester, wo jeder sie kannte und mochte.

»Ich bin Maguerite Chizaine, Première d‹ Atelier«, stellte die Direktrice sich vor, wohl damit die Neue gleich wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Ihr Blick war so streng, dass Mabelle fast einen Knicks gemacht hätte. Aber nur fast. Stattdessen kräuselte sie die Lippen und pustete sich eine ihrer blonden Locken aus der Stirn.

»Es tut mir leid, dass ich zu spät komme, Mademoiselle Chizaine«, sagte sie mit fester Stimme. »Man sagte mir, Monsieur Guérin würde heute entscheiden, welche Kleider ich bei der Schau vorführen soll.«

»Ich glaube nicht, dass Monsieur Guérin heute noch Zeit für dich hat.« Antoinette sprang vom Podest, ohne auf die Näherin zu achten, die zu ihren Füßen hockte und offensichtlich noch nicht mit dem Abstecken des Saums fertig war. »Mir hat er wunderschöne Modelle zugewiesen. Fünf Stück.«

Schneewittchen drehte sich um die eigene Achse, sodass sich der weite Rock in einen schimmernden Teller verwandelte. Dabei lösten sich einige Stecknadeln aus dem Saum und rieselten mit leisem Klicken zu Boden. Aber das schien Antoinette nicht zu kümmern.

»Sehr schön«, sagte Mabelle verwirrt. »Ich nehme an, es sind genug Kleider für uns alle da, sonst wären wir nicht gebucht worden.«

Mabelles Konkurrentin zuckte mit den schneeweißen Schultern. »Wer weiß. Monsieur hat mich erst in letzter Minute für seine Schau entdeckt. Er fand, dass ich perfekt zu seinen Modellen passe.«

»Antoinette ist meine Nichte. Mein Patenkind.« Mit einem stolzen Lächeln legte Mademoiselle Chizaine den Arm um das schwarzhaarige Mannequin, das sie um einen halben Kopf überragte. »Es ist ihr erstes Mal auf dem Laufsteg. Und gleich bei einer so wichtigen Schau! Sie hat eine große Zukunft vor sich.«

»Monsieur Guérin hat mit meiner Agentur einen Vertrag abgeschlossen«, erklärte Mabelle mit unbewegter Miene. »Also sollte ich für das Geld, das er ohnehin bezahlen muss, etwas tun. Zum Beispiel Kleider vorführen.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass in Ihrem Vertrag auch etwas von pünktlichem Erscheinen steht.« Mademoiselle Chizaine verzog den Mund zur Andeutung eines schiefen Lächelns. »Möglicherweise erwartet Monsieur zudem, dass Sie so etwas wie eine Frisur besitzen.«

Mabelle unterdrückte ein wütendes Schnauben. »Hier bin ich. Und Sie werden staunen, was ich mithilfe eines Kamms erreiche. Wenn Sie also bitte …«

In diesem Moment öffnete sich im Hintergrund des Ateliers eine Tür, und Luc Guérin trat ein. Mabelle erkannte ihn sofort. Sie hatte sein Foto in zahlreichen Zeitschriften gesehen, da er als neuer Stern am Pariser Modehimmel galt. Mit seinen kaum dreißig Jahren, den dunklen Haaren und der schlanken Statur war er ein ausgesprochen gut aussehender Mann. Allerdings war Mabelle überrascht, wie klein er war. Wenn ihn zum Abschluss der Schau die Mannequins in ihren hohen Absätzen umringen würden, würden die meisten von ihnen ihn um einige Zentimeter überragen.

Nach ein paar Schritten durch den Raum blieb er neben einer der Näherinnen stehen. Er nahm ihr den glänzenden schwarzen Taft aus der Hand, hielt ihn vor sich in die Luft und betrachtete die Naht, an der sie arbeitete. Dann reichte er ihr das Stück wieder, sagte leise etwas zu ihr und wandte sich einer Schneiderpuppe zu, an der die einzelnen Teile einer Tweedjacke mit Stecknadeln in Form gebracht worden waren. Auch dieses Stück betrachtete er so konzentriert, als gäbe es nichts auf der Welt, das seine Aufmerksamkeit mehr fesseln konnte als diese Jacke.

Die Näherinnen, die vorher munter geplaudert und gelacht hatten, waren bei seinem Eintreten verstummt und beugten sich nun tief über ihre Arbeit. Mademoiselle Chizaine stand da wie erstarrt. Antoinette sprang auf das Podest, und die zuständige Näherin hockte sich eilig wieder neben den Betonblock.

Zu Antoinettes offensichtlicher Enttäuschung ging Guérin an ihr vorbei, ohne ihr auch nur einen Blick zu schenken. Mabelle konnte einen Anflug von Schadenfreude nicht unterdrücken.

Als Luc Guérin schließlich vor ihr stehen blieb und ihr interessiert ins Gesicht sah, spürte sie, dass sie errötete. Warum hatte sie sich nicht die Zeit genommen, vor irgendeinem Schaufenster ihre Haare in Ordnung zu bringen? Auf die ein, zwei Minuten wäre es auch nicht mehr angekommen.

»Sehr hübsch«, stellte Guérin fest. Offenbar hielt er es nicht für nötig, ein neues Mannequin zu begrüßen, das soeben aus Deutschland angereist war.

Mabelle straffte die Schultern und schob das Kinn vor, als der Couturier um sie herumging und sie von allen Seiten betrachtete.

»Charmant«, sagte er, nachdem er sie zum zweiten Mal umrundet hatte. »Eine kühle Blonde mit den Augen einer Prinzessin.«

»In zehn Minuten kommt Madame de Cossonier zur Anprobe. Sie besteht darauf, dass Monsieur wie immer persönlich anwesend ist«, meldete sich die Direktrice zu Wort. »Also müssen wir Mademoiselle Mabelle für morgen zur ersten Anprobe bestellen. Heute war sie mehr als zehn Minuten zu spät.«

Petze, dachte Mabelle und verzog keine Miene.

»Madame de Cossonier.« Guérin runzelte die Stirn und erweckte den Anschein, als sei er über die Aussicht auf diesen Besuch nicht sonderlich glücklich.

»Sie bringt uns durch ihre Stellung in der Gesellschaft viele neue Kundinnen. Und sie hat dieses Jahr schon mehrere Abendkleider und zwei Kostüme bestellt«, erklärte Mademoiselle Chizaine eifrig.

»Ich weiß. Trotzdem wird sie für einige Minuten mit Ihnen vorliebnehmen müssen, Mademoiselle. Und Sie, Antoinette, ziehen das Kleid da aus. Ich möchte es an Mabelle sehen.« Guérin schnippte mit den Fingern.

»Aber es ist schon auf meine Länge abgesteckt«, protestierte Antoinette und warf Mabelle einen tödlichen Blick zu. Als sie sich Monsieur Guérin zuwandte, hatte sie ihre vollen Lippen zur Andeutung eines Schmollmunds verzogen.

Schüppchen hatte Mabelles Familie die vorgeschobene Unterlippe genannt, die auch sie als Kind stets gezeigt hatte, wenn sie ihren Willen nicht bekam. Aber dann waren schwere Zeiten gekommen. Ihr Vater, der seiner blond gelockten Jüngsten jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte, war im letzten Kriegsjahr eingezogen worden und an der Front gefallen. Ihre Mutter war in ihrer tiefen Trauer versunken und kaum noch ansprechbar gewesen. Deshalb hatte Viktoria als ältere der Schwestern notgedrungen in der Familie die Verantwortung übernehmen müssen. Und sie war mit einem Schmollmündchen nicht zu beeindrucken gewesen. Doch auch so wäre es Mabelle in Zeiten, in denen Brot knapp und ein Stück Stoff eine Kostbarkeit war, nicht mehr in den Sinn gekommen, das Trotzköpfchen zu markieren. Deshalb betrachtete sie Antoinette mit leiser Verachtung und wandte dann gelangweilt den Blick ab.

Guérin interessierte es offensichtlich nicht im Geringsten, was Antoinette von seinem Plan hielt. Er wandte ihr den Rücken zu und betrachtete Mabelle erneut aufmerksam.

Sie hielt die Luft an und wartete gespannt, was jetzt geschehen würde.

»Blau«, sagte er in die angespannte Stille hinein. »Mabelle wird alle blauen Kleider aus der Kollektion tragen. Und das rote Abendkleid.«

»Aber das blaue Cocktailkleid haben Sie schon Antoinette zugeteilt, ebenso wie das rote Abendkleid«, protestierte Mademoiselle Chizaine. Hinter dem Paravent, wohin Antoinette geflüchtet war, erklang ein erstickter Laut.

»Auch das rote Abendkleid«, bekräftigte Guérin. »An Mabelle wird es besser zur Geltung kommen. Stecken Sie heute noch die Modelle an ihr ab, Mademoiselle Chizaine, dann sehe ich sie mir morgen an ihr an. Ich bin nahezu sicher, sie wird sie exakt so tragen, wie sie getragen werden müssen.«

Damit drehte Guérin sich um und verschwand durch die Tür, durch die er gekommen war.

Sofort setzte das Getuschel wieder ein, das während seiner Anwesenheit einer Stille gewichen war, in der man wahrscheinlich eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören. Wenn jemand gewagt hätte, eine fallen zu lassen.

Antoinette schoss wutschnaubend hinter dem Paravent hervor. Sie trug ein kurzes weißes Unterkleid, hielt das kostbare Cocktailkleid in einer Hand und fuchtelte wild damit herum.

»Ich lass mir das nicht wegnehmen!«, rief sie mit schriller Stimme.

Mabelle unterdrückte einen Seufzer und machte sich darauf gefasst, dass ihre Zeit in Paris nicht die reine Freude sein würde.

2

Villa Rabenfels, Starnberger See, Anfang März 1953

»Nicht, Sylvie. Lass das!«, rief Viktoria Louisa von Haynbach ihrer sechsjährigen Nichte zu, als diese sich neben einem der niedrigen Schränkchen auf die Zehenspitzen stellte und die Arme hochreckte.

Zu spät! Ein lautes Klirren hallte durch den Salon der Villa Rabenfels, als die Kristallvase zu Boden fiel und in unzählige Scherben zerbrach.

»Ich wollte nur an den Rosen schnuppern!« In Sylvies blauen Augen schimmerten Tränen. Ihre vorgeschobene Unterlippe zitterte. Es war unglaublich, wie sehr sie in manchen Momenten ihrer Mutter glich. Sylvie würde einmal genauso schön werden wie Mabelle. Und sie war jetzt schon genauso lebhaft und voller Ideen.

Natürlich hatte der Lärm den Säugling geweckt, der an Viktorias Schulter geschlummert hatte. Die kleine Christine riss die dunklen Augen auf, öffnete das Mündchen noch weiter und brüllte los. Sofort stimmte Sylvie lautstark ein.

»Bitte, Sylvie. Hör du wenigstens mit dem Geschrei auf«, flehte Viktoria, während sie durch sanftes Wiegen in ihren Armen versuchte, ihre sechs Monate alte Tochter zu beruhigen. Gleichzeitig ging sie zur Klingel neben der Tür und läutete.

Wilma Krukowski erschien innerhalb einer Minute. Obwohl sie ein schwarzes Kleid und eine kleine weiße Schürze trug, entsprach sie nicht dem Bild, das man sich gemeinhin von einem Hausmädchen machte. Sie war mittleren Alters, trug ihre angegrauten Haare in einer schulterlangen Wasserwelle à la Rita Hayworth, für die sie schwärmte, und zwängte ihre kräftige Figur in enge Korsetts, um ihrem Vorbild aus Hollywood nachzueifern. Trotz ihres leichten Spleens war Wilma ein Schatz. Sie arbeitete nun seit knapp zwei Jahren in der Villa Rabenfels, und die Bewohner wussten nicht mehr, wie sie vorher ohne sie zurechtgekommen waren.

»Ich hole einen Besen und einen Aufwischlappen«, sagte sie mit unbewegter Miene, als sie die Bescherung am Boden sah. Mit ihrer kräftigen Stimme übertönte sie mühelos die beiden Mädchen, die immer noch aus Leibeskräften schrien.

»Vielen Dank, Wilma.« Viktoria tätschelte sanft, jedoch ohne jeden Erfolg, Christines Rücken. »Ist Katrin noch nicht da? Sie hätte eigentlich um drei Uhr hier sein sollen. Ich habe einen Termin im Modehaus. Es geht um die erste Anprobe einer wichtigen Kundin. Langsam wird es Zeit, dass ich mich auf den Weg mache.«

»Soll ich die Kinder …?« Wilma, die schon fast an der Tür war, kam zurück und ging auf Sylvie zu, die prompt noch lauter schrie. Sie hatte Angst vor dem resoluten Hausmädchen.

»Das ist nicht nötig. Sie haben wirklich schon genug Arbeit. Vielen Dank«, rief Viktoria in das anhaltende Gebrüll. »Wie geht es meiner Mutter? Ich habe vorhin in ihr Zimmer geschaut. Die Vorhänge waren zugezogen, und sie schien zu schlafen.«

Wilma verzog besorgt das Gesicht. »Ich habe ihr das Frühstück und das Mittagessen ans Bett gebracht, aber sie hat wieder nur ganz wenig gegessen. Seit sie von der Reise zurück ist, hat sie überhaupt keinen Appetit mehr.«

»Es war wirklich keine gute Idee, in Russland nach dem Grab meines Vaters zu suchen, aber es ist uns ja leider nicht gelungen, sie davon abzubringen.«

Unvermittelt waren die beiden Mädchen fast gleichzeitig still. Vielleicht, weil sich niemand mehr um ihr Gebrüll gekümmert hatte.

Viktoria atmete auf und wandte sich wieder Wilma zu. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich so gut um unsere Mutter kümmern. Ich würde gern selbst mehr für sie da sein, aber die Arbeit im Modehaus und die Kinder … Jetzt, wo meine Schwester in Paris ist, braucht Sylvie mehr Zuwendung. Und wir müssen damit rechnen, dass ihre Mutter in Zukunft noch sehr viel häufiger unterwegs sein wird.«

Als Mabelle ihre Karriere als Mannequin begonnen hatte, schien alles wunderbar geregelt. Da Sylvies Vater buchstäblich am Verlobungstag abhandengekommen war, lebte das Kind seit seiner Geburt zusammen mit seiner Mutter Mabelle in der Villa Rabenfels. Da Mabelles Fast-Verlobter verschwiegen hatte, dass er bereits verheiratet war, erschien seine Abwesenheit der Familie nicht als Verlust. Auch Sylvie vermisste offenbar nichts. Wenn sie sich von starken Männerarmen durch die Luft schwenken lassen wollte, hatte sie ihren Onkel Richard, Viktorias und Mabelles Bruder, der ebenfalls in der Villa lebte. Und ihre Großmutter Claire war von Anfang an wie eine zweite Mutter für Sylvie gewesen. Mabelle war bei ihrer Geburt noch so jung gewesen, dass sie mit dem Säugling viel Hilfe gebraucht hatte. Außerdem hatte sie ihr Abitur nachgeholt und später als Hausmannequin für Viktoria gearbeitet.

Es schien also nichts dagegenzusprechen, dass Claire sich weiterhin um Sylvie kümmerte, während Mabelle auch auf internationalen Laufstegen Modellkleidern ihren ganz besonderen Charme verlieh.

Aber dann begann Claire wieder und wieder davon zu reden, dass sich bald zum dreißigsten Mal der Tag jährte, an dem sie ihrem Mann das Jawort gegeben hatte. Helmut hatte sich in die französische Näherin Claire Lefevre verliebt, die in das Schloss seiner Eltern gekommen war, um für seine Mutter, die Gräfin, Kleider zu nähen. Gegen den Willen seiner Eltern hatte Helmut an dieser Liebe festgehalten. Er war mit Claire geflohen und hatte sie geheiratet. Erst nach langer Irrfahrt hatten sie bei Helmuts Patenonkel, dem Freiherrn Ludwig von Eggenhof, in der Villa Rabenfels ein neues Zuhause gefunden.

Mit der Geschichte dieser großen Liebe, die sich gegen alle Widerstände durchgesetzt hatte, waren die drei Kinder des Paares – Richard, Viktoria und Mabelle – aufgewachsen. Und sie hatte miterleben müssen, wie ihre Mutter am Tod ihres geliebten Mannes fast zerbrochen war. Die Liebe ihrer Kinder und die Geburt ihres ersten Enkelkinds hatten Claire aus der schweren Depression herausgeholfen. Aber dann nahte jener dreißigste Hochzeitstag, und Claire hatte viele Stunden ein verblichenes Foto angestarrt. Es zeigte die Bestattung des im Kampf gefallenen Offiziers Helmut von Haynbach in Russland. Wieder und wieder hatte Claire davon gesprochen, dass sie die Erde berühren wollte, die ihren Mann bedeckte.

Wer hätte sie aufhalten sollen? Immerhin bestand die Hoffnung, dass Claire von der Reise nach Russland getröstet und gestärkt zurückkommen würde.

Doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Claire hatte das Grab ihres Mannes nicht gefunden und war noch bedrückter zurückgekehrt, als sie aufgebrochen war. Nichts schien sie mehr zu interessieren, und weder ihre erwachsenen Kinder noch ihre beiden Enkel konnten sie aufmuntern. Wie in den Monaten nach Helmuts Tod verbrachte sie ganze Tage im Bett. Und wenn sie ausnahmsweise an einer Mahlzeit teilnahm, aß sie kaum etwas und saß wie ein Geist, mit weit aufgerissenen Augen in eine unbekannte Ferne blickend, am Tisch.

So oft Sylvie es auch versuchte, sie konnte ihre Großmutter nicht mehr dazu bewegen, mit ihr in den Park zu gehen, wie sie es früher oft getan hatten. Und da Viktoria nun, ein halbes Jahr nach der Geburt ihrer Tochter wieder regelmäßig neue Modelle für ihre Kollektion entwarf und ein bis zwei Mal in der Woche in der Münchner Niederlassung ihres Modehauses Kundinnen empfing, mussten sie ein Kindermädchen einstellen.

Katrin war eine junge Frau aus dem Dorf. Sie liebte die Kinder, und die Kinder liebten sie. Leider hatte sie einen Fehler: Sie war unpünktlich, und Viktoria saß nicht zum ersten Mal wie auf heißen Kohlen, weil sie einen Termin mit einer Kundin hatte und Katrin nicht zur vereinbarten Zeit auftauchte.

Zwar gab es außer dem Hausmädchen Wilma noch die Köchin Agnes, doch die kam nur stundenweise, um die Mahlzeiten zuzubereiten. Und das zweite Hausmädchen Franzi, eine Siebzehnjährige aus dem Dorf, hatte vor ihrem eigenen Schatten Angst. Sie konnte sich nicht fünf Minuten lang gegen Sylvies Dickkopf durchsetzen. Also musste sie auf Katrin warten, wenn sie nicht erneut Sylvies Geschrei provozieren wollte, indem sie erklärte, sie werde sie mit Wilma alleinlassen, vor der Sylvie sich nun einmal fürchtete.

Als das Kindermädchen endlich kam, hatte Wilma längst die Scherben aufgefegt, das Blumenwasser aufgewischt und den zerzausten Strauß in eine andere Vase gestellt. Unter Katrins Aufsicht würde Sylvie nicht wieder versuchen, an den Blüten zu schnuppern und die Vase herunterwerfen, dessen war sich Viktoria sicher. Im Gegensatz zu ihr versuchte Katrin aber auch nicht, nebenbei Entwürfe für Abend- und Cocktailkleider zu zeichnen und sich zu überlegen, wie das neue Kostüm für Frau Geheimrat Klüssmeyer am besten die figürlichen Schwachpunkte der Dame kaschieren könnte.

»Ich bin spät dran«, rief Viktoria hektisch und drückte Katrin ihre kleine Tochter in den Arm.

Als Christine prompt wieder anfing zu schreien, hatte Viktoria ein schlechtes Gewissen. Sie liebte ihre Arbeit, und sie hatte zu hart für ihren Erfolg gekämpft, um ihn jetzt aufzugeben. Zudem war es ein wunderbares Gefühl, durch ein individuell entworfenes Kleidungsstück die Schönheit einer Frau zum Leuchten zu bringen. Denn wenn Viktoria eines inzwischen begriffen hatte, dann, dass jede Frau etwas Reizvolles an sich hatte, selbst wenn man es in manchen Fällen auf den ersten Blick nicht sah. Mal waren es die Augen, mal war es eine anmutige Nackenlinie. Dann war es ihre Aufgabe, dies durch Farbe, Stoffbeschaffenheit und Schnitt zu unterstreichen.

Viktoria liebte aber auch ihre kleine Familie über alle Maßen und verbrachte so viel Zeit wie möglich mit ihrem Mann Lukas und ihrer Tochter.

»Ich bin gegen sieben Uhr wieder da und möchte Christine selbst ins Bett bringen. Zusammen mit meinem Mann«, erklärte sie Katrin, die ihr mit dem Säugling auf dem Arm zur Garderobe gefolgt war. Sylvie trottete lammfromm hinter dem Kindermädchen her. Katrin besaß irgendein geheimes Zaubermittel, mit dem sie ansonsten äußerst lebhafte und höchst eigensinnige Kinder in anschmiegsame, leicht zu führende Wesen verwandelte. Auch Christine hatte längst aufgehört zu schreien. Viktoria konnte also beruhigt gehen.

Sie setzt sich das runde Hütchen, das zu ihrer neuen Kollektion gehörte, leicht schräg auf den Kopf. Vor dem Spiegel zupfte sie den kleinen Schleier zurecht, der gerade eben den oberen Teil ihrer Stirn bedeckte, und zog die weißen Handschuhe an, ohne die eine Dame in diesen Zeiten nicht das Haus verließ.

»Seid brav, ihr Süßen.« Sie hauchte Christine einen Kuss auf die Wange, die so weich und rosig wie ein Pfirsich war, strich Sylvie über die blonden Locken und eilte durch die Haustür und die Freitreppe hinunter zu ihrem Wagen, der in der Einfahrt stand.

Ihr Vater hatte früher einen Chauffeur beschäftigt, aber ihr Bruder Richard und sie fuhren selbst. Jeder von ihnen besaß einen eigenen Wagen, und Viktoria war stolz auf ihren silberfarbenen Porsche 356. Mit dem wendigen Sportwagen war sie innerhalb weniger Minuten in der Näherei am Stadtrand von Starnberg. Dort arbeitete sie an den meisten Wochentagen in ihrem Atelier.

Doch auch ihr Münchner Modehaus, um das sich in ihrer Abwesenheit eine zuverlässige Direktrice kümmerte, erreichte sie mit dem Wagen schnell und bequem. Dort, um die Ecke der Maximilianstraße, empfing sie die meisten ihrer Kundinnen. Ein fest angestelltes Hausmannequin präsentierte die Modelle für die Damen oder die Einkäufer und Einkäuferinnen der stetig mehr werdenden Modegeschäfte, die Viktorias Kollektionen führten. Sobald Christine etwas älter war, würde sie den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit wieder nach München verlegen. So war es bereits vor der Geburt ihrer Tochter gewesen.

An diesem Nachmittag musste Viktoria nicht nach München. Sie hatte einen Termin mit einer Stammkundin aus Starnberg vereinbart. Sie parkte ihren Wagen vor der Hemdennäherei Haynbach, wo sie in einem flachen Anbau ebenfalls ein kleines Atelier und einen Vorführraum besaß. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie erleichtert fest, dass ihr noch knapp zehn Minuten blieben, bis die Kundin eintreffen würde.

Sie eilte zum Nebenflügel, schloss auf, durchquerte mit klappernden Absätzen den Empfangsraum und ging schnellen Schrittes weiter zur Näherei. Schon durch die geschlossene Tür hörte sie das emsige Summen den mittlerweile mehr als fünfzig Maschinen.

Es gab drei Bänder, an denen die Teile, die aus der Zuschneiderei kamen, zusammengenäht, versäubert und zum Schluss mit Knopflöchern und Knöpfen versehen wurden. Anschließend wanderten die fertigen Hemden in die Bügelei, wo sie geglättet und nach dem Auskühlen zusammengelegt und verpackt wurden.

Louise, Viktorias Großmutter, die vor fast dreißig Jahren gemeinsam mit ihrer Tochter Claire den Grundstein für die später so erfolgreiche Marke Haynbach-Hemden gelegt hatte, kam Viktoria am Eingang zur Näherei entgegen. Sie war inzwischen Mitte sechzig, was man ihr allerdings nicht ansah. Ihr Gang war aufrecht, und sie bewegte sich mit sicheren, raschen Schritten durch die Räume.

Von den vielen Jahrzehnten, in denen sie, teilweise bei schlechter Beleuchtung, mit winzigen Stichen feinste Abendkleider und elegante Kostüme per Hand genäht hatte, waren jedoch ihre Augen schwach geworden. Selbst mithilfe dicker Brillengläser, die sie nun bei der Arbeit tragen musste, sah sie nicht mehr so gut wie früher. Dennoch half sie häufig in der Näherei aus. Vor allem, wenn ein großer Auftrag zu erledigen war, konnte Richard nicht auf ihre Hilfe verzichten.

Immer noch erkannte Louise auf den ersten Blick, wenn eines der Hemden auf dem Bügel, auf den es zum Auskühlen gehängt worden war, nicht richtig fiel. Und die Erfahrung sagte ihr in solchen Fällen, welche der Nähte aufgetrennt werden musste, weil sie schief war oder der Stoff beim Zusammennähen nicht straff gezogen worden war.

»Hallo, Vicky«, begrüßte sie ihre Enkelin und wedelte dabei mit einem Auftragszettel durch die Luft. »Ich muss nur eben … Hier stimmt etwas nicht. Wir sehen uns heute Abend beim Essen.« Damit verschwand sie in Richtung Büro.

Lächelnd sah Viktoria ihrer Großmutter hinterher. Nicht einmal Richard, Viktorias Bruder, der die Näherei durchaus kompetent leitete, bewahrte so mühelos den Überblick wie Louise. Sie wusste stets genau, wie viele Hemden von einer Partie schon genäht worden waren und von welcher Farbe und Größe noch wie viel Stück fehlten, um einen Auftrag komplett auszuführen.

Viktoria war auf dem Weg ins Lager, wo sie nachsehen wollte, ob der Ballen Seide, den sie bestellt hatte, wie versprochen am Vormittag eingetroffen war. Sie wollte diesen Stoff bei dem anstehenden Termin der Kundin präsentieren.

Schon als sie sich der geschlossenen Tür des Lagers näherte, hörte sie die aufgeregten Stimmen von Frieda und Richard. Seufzend drückte Viktoria die Klinke herunter. »Was gibt es denn schon wieder für ein Problem?«

Die Streithähne unterbrachen ihre Auseinandersetzung und wandten Viktoria gleichzeitig die Köpfe zu.

»Die Unterlagen sind falsch abgelegt«, antwortete Richard.

»Die Stoffballen sind falsch in die Regale eingeordnet. Wenn die Lieferung kommt, muss das überwacht werden«, sagte Frieda in anklagendem Ton.

»Um welchen Stoff geht es?«, fragte Viktoria.

Beide deuteten gleichzeitig auf einen Ballen dunkelblauen Samt, der aus einem der Regalfächer herausragte.

»Ihr streitet wegen eines einzigen Ballens?« Viktoria verdrehte die Augen. »Vielleicht hat Herr Kruppke ihn versehentlich in das falsche Fach geschoben. Was auch einem zuverlässigen Lageristen passieren kann. Oder eine der Näherinnen hat ihn zurückgebracht und wusste nicht, wo er hingehört.«

»Aber es ist typisch …«

»Trotzdem meine ich …«

In ihrem Widerspruch waren Frieda und Richard sich einig. Was aber keine Rolle spielte, weil sie gleichzeitig redeten und einander nicht zuhörten. Sie wollten sich streiten und liebten es, sich gegenseitig die Schuld an jedem noch so winzigen Fehler zu geben, wie er zwangsläufig im Alltagsgeschäft passierte.

»Schluss jetzt«, rief Viktoria. »Ihr seid schrecklich. Und das alles nur, weil …«

Sie zögerte. Sollte sie aussprechen, was mittlerweile selbst die Näherinnen wussten?

Frieda und Richard starrten sie abwartend an. Konnte es sein, dass diesen beiden als Einzigen nicht klar war, aus welchem Grund sie die ganze Zeit stritten?

Viktoria musste an die Zeit denken, als sie aussichtslos in Lukas verliebt gewesen war, damals dem Mann ihrer Freundin Annedore. Wie oft war sie ihm gegenüber schroff und abwehrend gewesen. Sie wollte ihre Gefühle nicht verraten und vor allem verhindern, dass etwas Verbotenes zwischen Lukas und ihr passierte.

»Misch dich gefälligst nicht ein«, riss Richard sie aus ihren Gedanken. »Wir reden über einen falsch eingeordneten Stoffballen. Das musst du uns nicht erklären.«

»Es geht ganz offensichtlich nicht nur um einen Stoffballen. Und ihr verbreitet eine angespannte Stimmung in der Firma. Das geht uns alle an«, konterte Viktoria.

Unvermittelt brach Frieda in Tränen aus. »Viktoria hat recht«, schluchzte sie. »Wir streiten ständig über Kleinigkeiten, weil … Ich weiß ja auch nicht. Und jetzt sollen wir auch noch schuld sein, wenn in der ganzen Firma schlechte Stimmung herrscht. Das ist … Das ist … schrecklich.«

Sie zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres weißen Kittels, fuhr sich damit ziellos im Gesicht herum, schnäuzte sich kräftig die Nase und stürmte aus dem Lager.

Viktoria und Richard sahen ihr verblüfft nach.

»Bist du jetzt zufrieden?«, fauchte Viktoria ihren Bruder an.

Als sie Richard anschaute, erschrak sie. Er war leichenblass.

»Nein«, flüsterte er. »Das wollte ich auf keinen Fall. So schlimm ist die Sache nun auch wieder nicht. Es ist schließlich nur ein Stoffballen.«

»Das sage ich ja! Geh ihr hinterher und entschuldige dich. Ihr mögt euch doch eigentlich. Und trotzdem streitest du dauernd mit ihr. Das ist … absurd! Und es gibt absolut keinen Grund für dieses seltsame Verhalten.« Zornig sah Viktoria ihren Bruder an.

Richards Blick huschte unruhig durch den Lagerraum, suchte Halt an dicken Ballen von Samt- und Baumwollstoffen, wanderte zur Tür und zu den schmalen, vergitterten Fenstern dicht unter der Decke. Dann schaute er wieder Viktoria an.

»Ich habe sehr wohl meine Gründe«, sagte er schließlich leise und fuhr sich mit der Hand über die Narbe in seiner Wange, die ihm als Andenken an seinen Fronteinsatz im Krieg geblieben war.

»Du bist mein Bruder, und ich liebe dich, Richard. Aber das ist absolut albern. Sprich mit Frieda. Entschuldige dich, und gib dir Mühe, nicht dauernd mit ihr zu streiten. Das kann doch nicht so schwer sein.« Auffordernd deutete Viktoria auf die Tür, durch die Frieda verschwunden war.

»Du bist meine Schwester, und ich liebe dich, Viktoria«, wiederholte Richard fast die Worte, die sie kurz zuvor zu ihm gesagt hatte. »Aber wie ich mit den Angestellten der Näherei umgehe, musst du schon mir überlassen.«

»Frieda ist nicht irgendeine Angestellte«, protestierte Viktoria. »Schließlich wurde sie als siebzehnjähriges Flüchtlingsmädchen bei uns in der Villa einquartiert und hat viele Jahre wie eine Schwester bei uns gelebt. Wir haben ihr das Nähen beigebracht, und heute ist sie die Beste unserer Näherinnen. Trotzdem hast du nichts Besseres zu tun, als sie wegen einer Kleinigkeit derart anzugehen, dass sie in Tränen ausbricht. Das arme Mädchen.«

»Das mag ja alles sein. Aber auch wenn sie früher mal bei uns in der Villa gelebt hat, muss sie den Stoff dort hinlegen, wo er hingehört. Und das werde ich ihr sagen, wenn es nötig ist. Misch dich gefälligst nicht in meinen Aufgabenbereich ein.« Mit einem Ruck wandte Richard sich um und verließ das Lager.

Viktoria sah ihrem Bruder fassungslos hinterher. Erinnerte er sich nicht an die schüchterne Frieda, die ihn nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft ständig mit großen Augen angestarrt hatte? Damals war sie eindeutig in Richard verliebt gewesen, während er sie kaum bemerkt hatte. Irgendwann war das schmale Flüchtlingsmädchen Richard dann doch aufgefallen, und Viktoria hätte schwören können, dass er sie mochte. Aber warum nur stritten sich die beiden jetzt dauernd?

Viktoria fand den am Vormittag gelieferten Stoff und trug den Ballen in den Vorführraum. Unterwegs fragte sie sich, ob Richard sich ihre Worte zu Herzen nehmen und sich bei Frieda entschuldigen würde. Sie hatte da so ihre Zweifel.

3

Atelier de mode Luc Guérin, Avenue Montaigne, Paris, März 1953

Aus den Augenwinkeln sah Mabelle, wie auf dem Stuhl neben ihr Guérins Hausmannequin Gigi die langen, wohlgeformten Beine übereinanderschlug und sich entspannt zurücklehnte. Zumindest äußerlich hatte es den Anschein, dass Gigi von den vier Mannequins, die an Luc Guérins Modenschau teilnehmen sollten, am gelassensten war.

Mabelle bemühte sich, ebenso entspannt zu sein wie die junge Frau mit den kupferroten Haaren, den strahlend grünen Augen und dem cremefarbenen Teint. Doch Gigi besaß eindeutig einen Heimvorteil. Sie kannte sich in Guérins Haus ebenso gut aus wie Mabelle im Modeatelier ihrer Schwester Viktoria.

»Glaubst du, Monsieur Guérin begutachtet uns heute noch in den Kleidern, wenn alles fertig angepasst ist?« Mabelle sah ihre erfahrenere Kollegin fragend von der Seite an.

Sie saßen beide in einer Ecke des Ateliers und warteten auf ihre Anprobe. Nachdem Guérin ihnen die Kleider zugeteilt hatte, die sie bei der Schau tragen sollten, wurden die Modelle an die Körpermaße der einzelnen Mannequins angepasst. An diesem Nachmittag sollten die Kleider nach den Änderungen zum ersten Mal anprobiert werden.

Mabelle war kein vollkommener Neuling. Sie hatte im Modehaus ihrer Schwester schon an mehreren Modenschauen teilgenommen und über ihre Agentur bisher drei Aufträge in anderen Münchner Ateliers erhalten. Aber das hier war Paris. Und obwohl sie sich immer wieder sagte, dass es schließlich keinen Unterschied machte, in welcher Stadt sie Kleider vorführte, war sie auch drei Tage nach ihrer Ankunft in der französischen Hauptstadt noch immer schrecklich aufgeregt. In der vergangenen Nacht hatte sie sich bis lange nach Mitternacht ruhelos in dem schmalen Bett in ihrem Pensionszimmer herumgewälzt. Wenn das so weiterginge, würde sie am Tag der Schau mit tiefen Schatten unter den Augen herumlaufen.

»Sie sind dran, Mabelle.« Die unfreundliche Stimme von Mademoiselle Chizaine klang, als würde sie sie zum Gang aufs Schafott einladen. Die Direktrice schnippte mit den Fingern und deutete auf den Paravent, hinter dem sich die Mannequins umzogen. Die Kleider für Mabelle hingen schon an der Metallstange, die seitlich davon angebracht war.

Mabelle sprang so hastig auf, dass sie fast über ihre eigenen Füße stolperte, was Mademoiselle Chizaine zu einem spöttischen Lachen veranlasste. »Sehr graziös. Das wird Monsieur freuen.«

Mabelle ignorierte sie und schritt langsam und mit leicht schwingenden Hüften zum Paravent. Sie wusste, sie konnte laufen, fast schweben. Und sie konnte die Kleider so präsentieren, dass die Zuschauer die Modelle ebenso liebten, wie sie selbst in die kostbaren Kleider verliebt war. Sie hatte großen Erfolg bei Viktorias Modenschauen gehabt. Warum sollte sie nicht auch hier in Paris reüssieren? Ein Laufsteg war ein Laufsteg und ein Kleid ein Kleid. Das musste sie sich nur immer wieder sagen.

Ohne die Direktrice eines Blickes zu würdigen, verschwand sie hinter dem Paravent.

»Schnell, wenn’s geht«, drängelte Mademoiselle Chizaine.

Nun, umziehen konnte Mabelle sich in Windeseile. Das hatte sie schon während ihrer Schulzeit gelernt, weil sie morgens immer erst in letzter Minute aufgestanden war. Und natürlich hatte sie diese Fähigkeit während der Zeit im Modehaus Haynbach noch weiter perfektioniert.

Sie schlüpfte aus ihrem perlgrauen Kleid mit den dunkelblauen Paspeln. Es war eines von Viktorias Modellen, das sie Mabelle speziell für ihre Reise nach Paris geschenkt hatte.

»Schlicht und elegant«, hatte ihre Schwester gesagt. »Niemand wird dir vorwerfen können, dass du aufgetakelt zu den Anproben kommst. Trotzdem hebt dieses Kleid all deine Vorzüge hervor. Nach dem Blau habe ich lange gesucht. Es ist exakt der Farbton deiner Augen.«

Sorgfältig legte Mabelle das Kleid über die obere Kante des Paravents und griff nach dem Cocktailkleid, das vorn auf der Stange hing. Sie warf es sich so geschickt über den Kopf, dass sich kein Härchen ihrer Frisur auch nur verschob.

Der Mode entsprechend trug Mabelle ein leichtes Korsett, das ihre runden, festen Brüste und ihre schlanke Taille betonte. Sie zog sich das Kleid über die Schultern und hielt erschrocken inne, als es leise knirschte.

»Was war das?«, rief Mademoiselle Chizaine von der anderen Seite des Paravents.

»Ich weiß nicht. Ich bekomme das Kleid nicht über die Brust.« Mit einem Wust aus Stoff um den Hals verrenkte Mabelle sich vor dem Standspiegel, konnte aber nicht herausfinden, wieso das extra für sie geänderte Modell nicht passte.

Die Direktrice kam hinter den Paravent und lief wie ein Hund, der ein Wild aufgespürt hat, um Mabelle herum.

»Sie haben das teure Kleid zerrissen. Das wird Monsieur gar nicht freuen«, rief sie mit funkelnden Augen. Dabei erweckte sie den Eindruck, als würde dieses Unglück sie nicht sonderlich betrüben.

»Aber es ist viel zu eng«, beklagte sich Mabelle.

»Dann haben Sie zugenommen. Schließlich wurde das Kleid exakt auf Ihre Maße geändert. Ziehen Sie es wieder aus.« Ohne jede Rücksicht auf Mabelles Frisur zerrte Mademoiselle Chizaine das Kleid wieder nach oben.

»Kann ich jetzt endlich eines von den Kleidern an Mabelle sehen?«

Mabelle zuckte zusammen, als sie Luc Guérins Stimme hörte.

»Hierbleiben«, zischte Mademoiselle Chizaine sie an und stürmte mit dem Cocktailkleid über dem Arm hinter dem Paravent hervor. Mabelle blieb in ihrem weißen Korsett zurück und horchte mit klopfendem Herzen, was draußen vor sich ging.

»Es tut mir leid, Monsieur«, flötete auf der anderen Seite des Paravents die Direktrice. »Die Schwierigkeiten mit Mabelle gehen weiter. Jetzt hat sie das teure Cocktailkleid zerrissen. Vielleicht ist es doch besser, wenn Antoinette …«

Wenn sie es nicht schon längst geahnt hätte, wäre Mabelle spätestens in diesem Moment klar geworden, dass sich jemand an dem Modell zu schaffen gemacht hatte. Plötzlich sah sie rot. Was für eine Gemeinheit! Sie stürmte wutschnaubend hinter dem Wandschirm hervor.

»Es tut mir wirklich leid«, sprudelte sie los. »Ich habe noch niemals ein Kleid beim Anziehen zerrissen. Da stimmt etwas nicht. Es ist eindeutig zu eng.«

Erst als sie den amüsierten Blick des Modeschöpfers bemerkte, wurde Mabelle bewusst, dass sie barfuß und im Korsett dastand. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf den Kopf in den Nacken. Als Couturier war Luc Guérin den Umgang mit leicht bekleideten Damen gewohnt.

»Das ist doch wirklich … Ziehen Sie sich gefälligst etwas über! Und reden Sie nicht über Dinge, von denen Sie nichts verstehen. Das Kleid kann gar nicht zu eng sein.« Die Direktrice packte sie am Arm, wohl in der Absicht, sie wieder hinter den Paravent zu befördern, aber Monsieur Guérin gebot ihr mit einer Handbewegung Einhalt.

»Die Haare«, sagte er und lächelte strahlend. »Mabelle sieht wirklich zauberhaft aus. Noch besser als gestern. Ich möchte, dass die Mannequins bei der Schau exakt so frisiert sind wie sie.«

Instinktiv zuckten Mabelles Finger in Richtung ihres Kopfs. Das konnte doch nur ein Scherz sein. Durch die grobe Art und Weise, in der Mademoiselle Chizaine ihr das Kleid über den Kopf gezogen hatte, waren die blonden Wellen, die sie heute Morgen so sorgfältig frisiert hatte, vollkommen zerzaust.

»Nicht!« Luc Guérin drückte ihren Arm nach unten.

»Sie wollen, dass die Mannequins ungekämmt über den Laufsteg gehen?« Mademoiselle Chizaine strich verwirrt über ihre Haare, die sie zu einer strengen Banane hochgesteckt trug.

»Ich möchte, dass die Mannequins aussehen wie Mabelle. Frisch und natürlich und nicht mit diesen einbetonierten Frisuren.«

Die Direktrice seufzte demonstrativ, sagte aber nichts.

Inzwischen hatte Mabelle sich einen leichten Mantel übergeworfen, der auf einem Stuhl in der Nähe lag. Wenigstens stand sie nun nicht mehr im Korsett da.

»Was sollen wir mit dem Kleid machen?«, wechselte Mademoiselle Chizaine das Thema.

»Bringen Sie es in Ordnung, sodass es passt. Was denn sonst?« Luc Guérin schüttelte angesichts dieser Frage den Kopf.

»Da es für Mademoiselle Mabelle zu eng ist, passt es Antoinette sicher gut, und wir könnten …«

»Dieses Kleid trägt Mabelle. Und zwar bereits in einer halben Stunde, wenn der Fotograf kommt. Also beeilen Sie sich!«

»Fotograf?« Die Direktrice sah ihn verwirrt an.

Luc Guérin zuckte mit den Schultern. »Er wird ein Foto für die Broschüre machen. Die mit der Liste und der Beschreibung der Modelle, die den Gästen der Schau überreicht werden soll. Für dieses Foto habe ich Mabelle in dem mitternachtsblauen Cocktailkleid ausgewählt. Das Kleid sollte also schleunigst in Ordnung gebracht werden.« Guérin schickte sich an, das Atelier zu verlassen. Nach ein paar Schritten hielt er jedoch inne und drehte sich noch einmal um. »Wir machen die Fotos auf der Dachterrasse«, verkündete er und wandte sich erneut der Tür zu.

»Das wird unangenehm in dem schulterfreien Kleid«, stellte Mademoiselle Chizaine erfreut fest, während sie sich mit dem Cocktailkleid in der Hand zum Nähen niedersetzte. »Wir haben kaum zehn Grad und einen kalten Wind. Da oben zieht es sogar im Hochsommer kräftig.«

»Tut mir leid. Aber ich möchte den Wind in den Haaren und den Kontrast zu der Abendgarderobe.« Diese Bemerkung richtete Guérin wieder an Mabelle.

Die lächelte betont fröhlich. »Ich bin in einer Villa auf einem Hügel über dem Starnberger See aufgewachsen. Da wehte auch immer ein kühler Wind. Im Sommer ist es schön, im Winter weniger. Es gab ein paar Jahre, in denen wir nur ein oder zwei Zimmer im Haus heizen konnten. Ich bin also abgehärtet.«

»Villa«, murmelte die Direktrice so leise vor sich hin, dass Guérin sie wahrscheinlich von dort, wo er stand, nicht hören konnte. »Verwöhntes Gör.«

»Nehmen Sie ruhig meinen Mantel mit nach oben, dann können Sie ihn in den Pausen überziehen und sich etwas aufwärmen.« Grinsend deutete Guérin auf den Trenchcoat, den Mabelle über ihrem Korsett trug.

»Das ist ihrer?« Erschrocken ließ Mabelle den Mantel von ihren Schultern gleiten, durchquerte barfuß, wie sie war, den Raum und gab ihn Guérin. »Vielen Dank. Aber ich habe selber einen Mantel. Ich wollte wirklich nicht …«

Wortlos nahm Guérin ihr den Mantel ab, wandte sich um und verschwand. Verlegen sah Mabelle ihm nach und musste schon wieder an die drei P der Mannequins denken. Das mit dem professionellen Verhalten hatte hier in Paris bisher nur bedingt geklappt. Was dort oben auf der Dachterrasse bei Fotoaufnahmen auf sie zukommen würde, wusste sie auch nicht. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich nicht allzu ungeschickt anstellen würde.

Unschlüssig schaute sie sich um. Wenn sie in einer halben Stunde oben auf dem Dach sein sollte, lohnte es wahrscheinlich nicht, sich noch einmal ihr eigenes Kleid anzuziehen. Aber es war kalt und außerdem peinlich, die ganze Zeit in Unterwäsche herumzustehen.

Mademoiselle Chizaine saß an einem der Arbeitstische und machte sich mit verbissener Miene an dem Cocktailkleid zu schaffen. Die Naht, die so auffallend leicht gerissen war, hatte sie garantiert präpariert, um behaupten zu können, dass Mabelle nicht in das wunderschöne Modellkleid passte.

Gigi sprang auf, nahm Mabelles Mantel vom Garderobenhaken neben der Tür und brachte ihn ihr. Dankbar schlüpfte Mabelle in die Ärmel aus leichtem Wollstoff.

»Komm mit. Wir kümmern uns um dein Gesicht«, wisperte Gigi mit einem Seitenblick in Richtung der Direktrice. »Die ist erst mal beschäftigt. Geschieht ihr recht.«

»Danke. Das ist sehr nett von dir.« Erleichtert folgte Mabelle der Rothaarigen einen Flur entlang und eine Treppe hinunter in einen langen, schmalen Raum. Hier waren an der Wand mehrere Spiegel angebracht, vor denen jeweils ein kleiner Tisch mit verschiedenen Schminkdöschen, Lippenstiften, Pinseln und Tüchern stand. Die Kleiderständer an den jeweiligen Plätzen waren leer.