Herzüber in die Kissen - Eliza Hill - E-Book

Herzüber in die Kissen E-Book

Eliza Hill

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Beschreibung

Eigentlich hat Emma mit dem Rauchen aufgehört, und eigentlich mag sie auch keine Agenten – egal ob sie nun ihren Rockstarvater betreuen oder Footballspieler zu ihren Klienten zählen. Aber all das war, bevor sie Damon Roux kennengelernt hat. Der Mann lässt sie schon bald die Wände hochgehen und bringt ihre Gefühle mächtig durcheinander. Und wäre die Sache mit der Männerwelt nicht schon kompliziert genug, drängt sich ihre Vergangenheit Stück für Stück zurück in ihr Leben.     Die vorliegende Fassung ist eine überarbeitete Version des gleichnamigen, 2015 erschienen Buches.   Im gleichen Universum wie Emma und Damons Geschichte spielen auch:   Einer wie Chicago I Einer wie Chicago II   und    Devils & Chocoholics

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Eliza Hill

Herzüber in die Kissen

Liebesroman

Für meine Leser.BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Widmung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Jana und all die anderen, die den Devils schon so lange die Treue halten.

 

 

 

Kapitel 1

 

Sintflutartig stürzt der Regen hinab. Klatscht in großen Blasen auf den Asphalt, nimmt den Schmutz dieses Tages mit sich und lässt die vielen Passanten, die zu solch später Stunde noch unterwegs sind, mit eingezogenen Köpfen und finsteren Mienen an mir vorübereilen. Keiner sieht nach rechts oder links. Sie haben keine Zeit und keinen Nerv, sich mit jemand anderem als sich selbst zu beschäftigen. Ihren eigenen Problemen. Eine missgelaunte Schar, deren Leben mir für immer verborgen bleiben wird.

Eigentlich habe ich das Rauchen aufgegeben. Schon vor Mums Tod. Doch heute Abend mache ich eine Ausnahme, während mir der Himmel über Chicago einen tröstenden Kuss aufdrückt. Die Tropfen singen ein beruhigendes Lied, als ich die Kippe aus der blauen Schachtel ziehe und die Taschen meiner Lederjacke nach dem Feuerzeug absuche. Fündig geworden lasse ich den Glimmstängel erleichtert zwischen die Lippen wandern.

Das geriffelte Reibrädchen gibt ein schabendes Geräusch von sich, bevor das Feuerzeug eine kleine Flamme präsentiert und sich die Glut in den Tabak frisst. Schwer und beruhigend flutet der blaue Qualm meine Lungen, während der Applaus wieder in meinen Ohren aufbrandet. Heute sollte ich einfach nur glücklich sein. Das war ich auch bis vor ein paar Minuten. Vollgepumpt mit Adrenalin von der Vorstellung unseres kleines Studententheaters. Aber nun ist alles anders. Ich presse die Augen zusammen.

»Sieh sie dir an. Am Tag der Hochzeit sitzen gelassen. Das schöne Kleid ist ja vollkommen ruiniert«, höre ich jemanden wispern und lege den Kopf in den Nacken, bevor ich einen weiteren Zug nehme.

»Einsperren sollte man die Männerwelt. Armes Ding. Nicht einmal eine ordentliche Jacke hat sie dabei«, wettert eine zweite Stimme. Ich öffne die Augen. Zwei ältere Damen stehen gemeinsam unter einem großen, schwarzen Regenschirm und mustern mich mit unverhohlenem Interesse.

Dass sie mit ihrer Vermutung nicht im Entferntesten recht haben, müssen sie nicht wissen. Ich streiche über das Monstrum aus weißem Tüll, das die alten Ladys für ein extravagantes Brautkleid halten.

Die beiden ziehen mit einem letzten mitleidigen Blick auf mich weiter. Ich schätze ich sehe übel aus. Meine Theaterschminke dürfte sich aufgelöst haben und der über den Knöcheln endende Saum des Kleides ist hoffnungslos verschmutzt. Von der Fee aus Peter Pan, die von hunderten kleinen und großen Händen aus ihrem Todesschlaf wach geklatscht wurde ist nichts mehr übrig.

Ich wische mir notdürftig über die Wangen. Die Worte meiner besten Freundin Billie hallen mir in den Ohren. Meine Großmutter Eden, die ich seit Jahren nicht gesprochen habe, ist gestern in ihrem Laden zusammengebrochen. Meine Finger zittern. Ich erinnere mich dunkel daran, Billie gefragt zu haben, ob sie tot sei. Angeblich ist sie es nicht. Angeblich ist sie auf dem Weg der Besserung und schon wieder Zuhause und ich wusste rein gar nichts davon.

Der Regen fällt mittlerweile in dichten Strähnen vom dunklen Himmel. Eden ist die einzige Familie, die ich neben meinem mir praktisch unbekannten Vater noch habe, und nur weil ich seit siebzehn Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen habe, heißt das nicht, dass ich glücklich darüber wäre, sie unter der Erde zu sehen. Seit meine Mutter im letzten Jahr an Leukämie gestorben ist, weiß ich, was es heißt, jemanden zu verlieren, und noch mal stehe ich das nicht durch.

Im letzten Jahr habe ich so oft daran gedacht zu ihr zu gehen. Doch ich habe es nie getan, weil ich Mum nicht hintergehen wollte. Aber Familienstreits sind reichlich sinnlos, wenn keine Familie mehr übrig ist.

Meine Hände zittern. Deshalb stehe ich hier verloren inmitten des Regens. Wenn ich es heute Abend nicht tue, werde ich es nie über mich bringen, Eden Gaellen aufzusuchen.

Ich straffe die Schultern. Ich brauche ein Taxi. Oder einen Uber. Was auch immer ich zuerst finde. Jetzt. Ich werde meine Zigarette los und greife nach meinem Telefon. 

Ich bin gerade inmitten meines mäßig laufenden Krisenmanagements als ich mit einer großen schwarzen Wand kollidiere. Mein Handy landet krachend auf dem Boden. »Autsch!«

»Haben Sie keine Augen im Kopf?«

»Tut mir leid«, entschuldige ich mich bei der Wand, während ich mein gestrandetes Handy einsammle. Es ist noch heil. »O Gott sei Dank«, entweicht es mir. Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn das jetzt auch noch kaputt gegangen wäre. Ich wische das Display am Tüll ab und drehe mich in Richtung meines Hindernisses.

In der Dunkelheit halte ich ihn im ersten Augenblick für einen Gangsterboss aus den Dreißigern. Missgelaunt und breitschultrig, mit gut sitzendem schwarzen Anzug und dazu passenden glatten Oxfords. Eine Mischung zwischen James Dean und Jensen Ackles mit unanständig attraktiven Gesichtszügen.

»Geht es dir gut?«

Die ehrlich Antwort auf diese Frage ist nein und es hilft nicht gerade, dass er mich jetzt ansieht, als sei ich aus der Irrenanstalt ausgebrochen. Was echt blöd ist, denn lägen die Dinge etwas anders, dann wäre das hier das perfekte Meet cute.

»Ich komme direkt von der Bühne«, fühle ich mich genötigt zu sagen. Denn auch wenn das hier nicht der Start für eine romantische Komödie ist, so möchte ich doch nicht als komplett wahnsinnig von diesem gut aussehenden Individuum abgestempelt werden.

»Und dann ist dir der Feenstaub ausgegangen und du hattest eine Bruchlandung? Auf mir?« Seine finstere Stimme lässt mein Herz stolpern, das heute sowieso schon zu viel von allem hatte.

»Ich habe Sie nur nicht gesehen. Ich bin ein wenig in Eile. «

Ich schätze ihn auf Ende zwanzig, vielleicht auch Anfang dreißig. »Das habe ich gemerkt.« Das Grübchen an seinem Kinn wird noch ein bisschen tiefer. »Dein Tackle war nicht übel. Unsere College Mannschaft hätte heute ein bisschen was von deinem Talent gebrauchen können.«

Ich habe keine Ahnung von College-Sport, aber ich denke er ist ein wenig zu alt dafür.  »Sind Sie Trainer?«

» Nein, leider nicht. Ich bin nur Sportagent.«

O nein. Ebenso gut hätte er mir ins Gesicht spucken können, es hätte den gleichen Effekt gehabt. Es gibt nur wenige Dinge, die ich so sehr verachte wie heuchlerische, geldgeile Agenten, für die Zuneigung nur in Zahlen ausgedrückt werden kann, und dass dieser abartig große Kerl mit dem Killerlächeln einer von ihnen ist, macht mich unfassbar wütend. Weil er mich beinahe reingelegt hätte. »Sie sind ein Seelenfresser.«

Das Versprechen an Chicagos Frauenwelt kneift seine Augen zusammen. »Das ist etwas hart, oder nicht?«

»Nein.« Ich schlucke. »Definitiv nicht.« Ich wende mich ab. Eher friert die Hölle zu, bevor ich Gefahr laufe, mich von diesen grünbraunen Augen einwickeln zu lassen, nun da ich weiß, was er ist. »Suchen Sie sich einen anständigen Job«, quetsche ich hervor und nehme erleichtert wahr, dass eines der quietschgelben Taxis auf mein hektisches Armrudern reagiert und an den Bürgersteig heranrollt.

»Du bist ein wenig verrückt, kann das sein?«, ruft mir der Seelenfresser hinterher.

»Ganz und gar nicht.« Ich angele nach der Tür des Taxis und rette mich mit einem letzten Blick auf den finsteren Fremden in den Fond des Wagens. Ein Agent ist wirklich das letzte, das ich jetzt brauchen kann.

Kapitel 2

 

Umhüllt von Tüll stakse ich die Kiesauffahrt von Eden Gaellens Villa nach oben und suche nach meinen unerschrockenen Charakterzügen, die mich in den letzten beiden Wochen dazu gebracht haben, auf die Bühne des Studententheaters zu steigen. Das letzte Mal, als ich meiner Großmutter gegenüberstand, war ich sechs Jahre alt und hatte eine Heidenangst. Meine Mutter und sie haben sich angeschrien. Einander beschimpft. Türen wurden zugeknallt, Gläser zerbrochen, und am Ende hat meine Mutter Eden geschworen, dass sie uns nie wiedersehen würde. Weder meine Mutter noch mich, und dass Eden und ihr Sohn sich zum Teufel scheren sollten. Jetzt hier zu stehen ist also mehr als seltsam. Ich wusste immer, wo Eden wohnt. Die große steinerne Villa, deren Grundstück wahrscheinlich mehr wert ist als alles Geld, das ich jemals verdienen werde, und die von den Zedern halb verdeckt wird, war einst mein Spielplatz. Ebenso wie der weitläufige Garten, der bis hinunter zum See reicht. Doch nun fühlt sich hier alles fremd an. Siebzehn Jahre ist es her, seit Mum und ich diesen Ort verlassen und zwanzig Meilen auswärts von Chicago neu angefangen haben.

Ich grabe meine Zähne in meine Unterlippe und versuche abzuwägen, wie groß die Gefahr ist, dass Rockgott Jason Gaellen heute Abend seine Mutter besucht. Wahrscheinlich nicht sehr hoch. Immerhin behauptete die letzte Klatschzeitschrift, die ich in den Händen gehalten habe, dass er eine neue Modelfreundin hat und gerade auf Tour ist. Trotzdem dreht sich mir beinahe der Magen um beim Gedanken daran, er könnte mir plötzlich gegenüberstehen. Ich klingele, bevor ich es mir anders überlegen kann, und warte.

Es ist elf Uhr an einem Dienstagabend. Wahrscheinlich ist Eden längst im Bett und wird mein Läuten gar nicht erst gehört haben.

Ich reibe mir über meine klammen Arme. Sicherlich hat ihr der Arzt Ruhe verordnet, schießt es mir durch den Kopf, während ich die Holzmaserung der großen Haustür studiere. Ich hätte bis morgen warten sollen.

Drinnen springt Licht an, und ich trete nervös einen Schritt zurück, um demjenigen hinter dem Massivholz die Möglichkeit zu geben, mich durch den Türspion zu erkennen.

 

Für eine endlos lange Zeit passiert gar nichts, und ich glaube schon, dass die Türe verschlossen bleiben wird, als ich ein Schloss klicken hören kann.

»Großer Gott!« Eden Gaellens graue Augen sind vor Entsetzen weit aufgerissen.

»Ich bin nicht aus der Geschlossenen ausgebrochen. Ich habe in Peter Pan mitgespielt«, entkommt es mir unter ihrer Musterung, bei der ihre Miene soeben irgendwo zwischen Unglauben und Entgeisterung angekommen ist.

»Emma?« Ihre Stimme ist nur ein heiseres Flüstern.

»Ja. Ich habe von deinem Zusammenbruch gehört«, beantworte ich ihre unausgesprochene Frage.

»Woher …«

»Billie hat es mir gerade gesagt.«

Meine Großmutter und ich blicken uns an. Siebzehn Jahre habe ich sie nicht gesehen. Sie ist alt geworden. Die grauen Augen, die wir miteinander teilen, sind von Krähenfüßen umrahmt, die sie unter einer Schicht professionellem Make-up zu verstecken versucht. Aber sie wirkt gesund auf mich, und ich entspanne mich ein wenig.

»Du siehst gut aus«, bemerkt sie. »Trotz des Aufzugs.«

»Du auch.«

Es ist die Wahrheit. Edens mittlerweile vierundsechzig Jahre haben nichts an der Tatsache geändert, dass sie schon immer ein heißer Feger war, wie mein Grandpa immer sagte. Grandpa ist leider schon beinahe so lange tot, wie das Schweigen zwischen uns gedauert hat. Siebzehn lange Jahre, doch meine Grandma hat noch immer nichts von ihrem untrüglichen Stilgefühl verloren, auch wenn ihre Kurven hager geworden sind und sie nun ihr blond gefärbtes Haar in einem kurzen Bob trägt.

»Du bist also ganz plötzlich hier, weil du erfahren hast, dass ich im Krankenhaus war? Ich kann dich trösten, es war nur eine Petitesse. Meine Medikamente zur Blutverdünnung und meine Tabletten gegen meine Rückenschmerzen haben sich nicht vertragen. Nichts Dramatisches.«

»Das hat Mum auch gesagt. Und ein halbes Jahr später war sie tot.«

Eden Gaellen blinzelt. »Was sagst du da, Kind?«

»Mum ist gestorben. Letztes Jahr«, erwidere ich kurz angebunden und kann sehen, wie sie mit sich ringt, die Worte ›Es tut mir leid‹ über die Lippen zu bringen.

»Ja, ich weiß. Ich habe nicht angerufen. Aber sie hätte nicht gewollt, dass ihr auftaucht.«

»Woran ist Marille …«

»Krebs. Und nun bin ich hier. Weil wir noch nicht fertig sind.« Ich kann und will jetzt nicht über Mum sprechen, denn dann werde ich anfangen zu heulen.  

Eden reckt das spitze Kinn nach oben und funkelt mich an. Sie ist einen halben Kopf kleiner als ich. Kaum zu glauben, früher erschien sie mir überlebensgroß. »Du willst wieder Kontakt?«

»Ja.« In meinem Kleid ist mir sterbenskalt, doch ich versuche es zu ignorieren, denn Diskussionen mit Eden Gaellen erfordern Konzentration. »Ich will in mein altes Zimmer ziehen und so tun, als wären wir wieder eine Familie, bis wir es tatsächlich wieder sind.«

Eden schluckt hart, und ich bin bereit, mir notfalls die halbe Nacht hier draußen um die Ohren zu schlagen, um sie dazu zu kriegen, mich einzulassen.

»Komm rein.« Sie nimmt mir den Wind aus den Segeln, als sie einfach zur Seite tritt. Ich bin sprachlos. Dass Eden nachgeben würde, habe ich nicht erwartet.

»Ich bin alt, aber nicht dumm, Emma. Ich weiß, was es dich gekostet haben muss, hier aufzutauchen.« Sie streckt den Arm nach mir aus, und ich wische mir fahrig über die Wange, ehe ich ihrer Einladung folge.

In Edens Schatten die Treppe nach oben zu meinem alten Kinderzimmer zu steigen erinnert mich daran, wie ich das letzte Mal von meiner Mutter hier heruntergezerrt wurde. Ich habe das Klappern des Koffers noch im Ohr und das Geräusch der berstenden Blumenvase, die Mum in ihrem Zorn über das Geländer geworfen hat.

Die wenigen ausgesuchten Bilder an den Wänden und der singende Holzfußboden sind ebenfalls gleich geblieben. Meine Sicht verschwimmt. Es ist, als würde ich durch ein Museum wandern, das meine Kindheit konserviert hat, und ich zögere kurz, bevor ich Eden in mein altes Reich folge, in dem noch immer Kuscheltiere und Puppen regieren und dessen Wände noch immer in dem schrecklichen Pinkton erstrahlen, auf den ich einst bestanden habe.

»Dein Zimmer ist noch so, wie du es verlassen hast.« Edens Hand findet meinen Arm, und ich kann nicht mehr atmen. Sie hat es so gelassen. Alles. So, als wäre sie der festen Überzeugung gewesen, dass ich irgendwann wiederkomme. Mein Kinn bebt.

Ich höre Eden neben mir aufschluchzen. Und dann liegen wir uns plötzlich in den Armen, so fest aneinandergepresst wie zwei Ertrinkende.

»Es tut mir so leid.« Ich weiß nicht, ob Eden mich versteht, denn meine Zähne schlagen so heftig aufeinander, dass jede Artikulation schwierig ist.

Ich klammere mich an sie. All die Briefe von ihr, die ich verbrannt habe, all die Einladungen, die ich mit Rücksicht auf Mum und aus Angst, mein Vater könnte bei ihr herumlungern, ausgeschlagen habe, all das bahnt sich seinen Weg über meine Lippen.

»Schon gut«, kann ich sie murmeln hören. »Ist schon gut.«

Eden riecht nach Vanille und Sommerregen, und ich kralle meine Finger in ihr korallrotes Kostüm, weil ich nicht glauben kann, dass sie tatsächlich hier ist. Dass ich wieder hier bin. Das Gefühl absoluter Einsamkeit an letztem Weihnachten. Mein erstes Weihnachten ohne Mum. Das aufgewärmte Essen vom Chinesen, das schlechte Fernsehprogramm und die endlose Leere der Wohnung, all das drückt nun nach oben und schnürt mir die Kehle zu. Ich hätte schon vor einem Jahr hier sein können, aber das war ich nicht.

Ein Jahr lang habe ich mich gefühlt, als hätte mich die Welt vergessen. So oft war ich kurz davor, Eden anzurufen, aber mein Stolz war zu groß. Eher wäre ich an meiner Trauer erstickt, als zum Hörer zu greifen. Bis heute Abend.

Meine Großmutter mustert mein Gesicht, ehe ihre schlanken, von den ersten Altersflecken bedeckten Finger über meine Wangen fahren. »Du bist wirklich zu Hause. Ich kann nicht fassen, dass du zu Hause bist.«

»Sag es nur nicht Jason«, wispere ich. »Das ist meine einzige Bedingung.«

Eden nickt langsam. »Okay.«

Kapitel 3

 

Trotz Edens und meiner tränenreichen Begrüßung fühle ich mich in den Tagen nach meinem Einzug immer noch wie ein Fremdkörper in ihrem Haus. Mein altes Zimmer, das ich mit Hilfe von Edens Hausmädchen ausgeräumt und gestrichen habe, verliert das schale Gefühl einer verlorenen Kindheit, aber zu Hause fühle ich mich nicht, und ich frage mich, ob ich es je wieder tun werde, während ich die letzten Kisten mit Klamotten aus Mums und meiner alten Wohnung am Montagmorgen in meinen weiß lackierten Kleiderschrank einsortiere, den Eden und ich am Samstag auf einer Auktion ihres Kulturvereins erstanden haben.

Ich fahre über mein ruiniertes Tinkerbell-Kostüm, das schon seit letztem Mittwoch auf der Couch Platz gefunden hat. Ein Glücksbringer, den ich eigentlich längst wegwerfen wollte. Aber irgendwie bringe ich das nicht über mich. Es hat mich hergebracht.

»Emma? Ich bin auf Arbeit! Viel Spaß an der Uni!«, kann ich meine Großmutter von unten rufen hören und sehe erschrocken auf den roten Wecker neben dem Bett.

Die rote Leuchtanzeige lässt mich auffahren. »Kacke!«, entkommt es mir entsetzt. »Das darf doch nicht wahr sein!«

Bereits zu meiner ersten Vorlesung in Anorganischer Chemie im neuen Semester zu spät zu kommen, war absolut nicht mein Plan. Ich hatte den guten Vorsatz, in diesem Frühjahr richtig ranzuklotzen.

Sich des Nachts zu fragen, ob und wann mein Erzeuger bei Eden in der Tür steht, ist nicht gerade schlaffördernd, und ich erwische mich dabei, wie meine Aufmerksamkeit von den PowerPoint-Folien abschweift, hin zu den schlecht gewischten Tafeln, über das schwarzweiße Periodensystem hin zu meinen Kommilitonen, die unserem Dozenten mehr oder minder interessiert zuhören. Mein Blick findet den alten, überdimensionalen Heizkörper, auf den irgendein Witzbold seine Mütze geworfen hat, die dort schon vor Weihnachten herumlag. Es ist zu warm hier drin, und ich wünschte, unser Dozent würde endlich aufhören von den Kursanforderungen zu sprechen, sondern die Kreide in die Hand nehmen und mein Hirn dazu zwingen, sich einzuschalten. Die monotone Stimme des Professors im Ohr, gähne ich hinter vorgehaltener Hand, während Billie das erste Blatt ihres Blockes mit Herzchen füllt.

Meine Augen jucken, und ich lasse meinen Blick weiter über den gut gefüllten Stufensaal treiben.

»Emma? Wie lange willst du Brandon Bexton noch anstarren?«

»Mh?« Aus meinem Sekundenschlaf erwachend, in den mich die warme Luft und die angenehm unaufgeregte Stimme unseres Dozenten befördert haben, blinzele ich und fahre erschrocken auf, als ich dem leeren Blick meines Kommilitonen begegne, der am anderen Ende der Sitzreihe mit offenen Augen schläft.

»Das war unheimlich. Ihr habt euch fünf Minuten lang angesehen, ohne es zu merken.« Meine beste Freundin lässt ihren Kuli klicken und winkt meinem Starropfer zu.

Brandon Bexton, der unter seiner Lederjacke einen dunkelblauen Kapuzenpulli trägt, erwacht durch Billies Winken nun ebenfalls aus seinem Vorlesungsschlaf, und ich schlucke hart.

»Peinlich.« Ich seufze leise, während er missmutig die trainierten Arme vor der Brust verschränkt und die Augen schließt. Ich frage mich, wie ich so lange in seine Richtung starren konnte, ohne ihn zu bemerken. Mit seinen dunkelbraunen Haaren, dem finsteren Gesichtsausdruck und seinen beeindruckenden Ausmaßen ist er niemand, den man leicht übersehen kann.

»Ach, Bexton ist es doch wohl gewohnt, von Mädels angeschmachtet zu werden. Seinem Daddy gehören immerhin die Devils und die ELX Corporation.« Billie lehnt sich ein wenig weiter zu mir herüber, ganz so, als würde sie mir ein wohlgehütetes Geheimnis verraten.

»Auch wenn ich letztes Jahr nicht gerade fokussiert war, habe ich keine dreiundzwanzig Jahre unter einem Stein gelebt.« Ich seufze. Natürlich weiß ich, wer Brandon Bexton ist. Seiner Familie gehört halb Chicago, und der tödliche Unfall seiner Schwester vor knapp zehn Jahren, bei dem sein Bruder am Steuer saß, ging durch alle Medien. Das habe selbst ich mitbekommen, die immer einen großen Bogen um die Klatschpresse macht.

»Gefällt er dir?« Billie lehnt sich noch ein wenig weiter zu mir herüber.

»Wieso? Willst du mich in den Verruf bringen, reichen Erben hinterherzusteigen?«, stelle ich die Gegenfrage, während ich Bexton weiter mustere. Er hat noch nie mit mir gesprochen, aber allein das, was ich von ihm weiß, reicht aus, um nicht seine Nähe zu suchen.

Billie schiebt sich ihre langen schwarzen Haare über die Schulter und grinst vergnügt. »Ich finde, es ist an der Zeit, dass du wieder aufs Pferd steigst. Also im übertragenen Sinne.«

»Ich werde mich keinem Kerl an den Hals werfen, nur weil er mich etwas länger ansieht«, wehre ich mich und bin mir nicht sicher, weshalb ich bei meinen Worten den Sportagenten von letzter Woche vor meinem inneren Auge sehe. Vielleicht weil er einfach nur unsagbar heiß war.

Billie, deren exotischer Schönheit schon mehr als einer unserer Kommilitonen auf den Leim gegangen ist, schürzt ihre sorgfältig angemalten Lippen. »Sei keine Spielverderberin.«

»Bin ich nicht.«

Sie gibt ein entnervtes Stöhnen von sich. »Du hast über ein Jahr Winterschlaf gehalten. Es wird Zeit, dass du wieder aus deiner Sozialstarre erwach…«

Ich werde unsanft in die Seite gepiekt und drehe mich zu dem Kommilitonen um, der rechts neben mir sitzt und hektisch nach vorne nickt.

»Die Damen! Langweile ich Sie? Wenn Sie Ihr Wochenende besprechen wollen, dann würde ich Sie doch bitten, dass draußen zu tun!«, fährt uns unser Dozent an.

In meiner bisherigen Unilaufbahn wurde ich noch nie von einem Dozenten ermahnt, geschweige denn angeschrien, und ich senke betreten den Kopf. »Verzeihung.«

»Das will ich hoffen.« Dr. Johann Black knallt sein Skript auf die schwarze Steinplatte des fest installierten Tisches, der ihm als Pult dient. »Ruhe jetzt.«

Ich sinke in meinem Stuhl zusammen. Mein erster Tag zurück an der University of Chicago entwickelt sich langsam aber sicher zu einem Alptraum.

»Und wir sind berühmt.« Billie scheint sich nicht an der Aufmerksamkeit zu stören, die uns noch immer durch unsere Kommilitonen zuteilwird, während meine Ohren prickeln. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie sich gerade rot verfärben.

 

»Unser Dozent ist nicht sehr nachtragend. Du kennst ihn doch. Mach dir keine Gedanken«, meint Billie über die lärmende Menge hinweg, die nach der Vorlesung auf den Gang stürmt.

»Hoffen wir‘s.« Ich lächele und versuche das Verlangen nach einer Zigarette zu ignorieren, während wir gemeinsam mit unseren Kommilitonen aus dem Vorlesungssaal strömen und uns auf den Weg zu unserer dringend benötigten ersten Dosis Koffein machen.

Die Sonne strahlt aus einem blauen Aprilhimmel, als wir aus dem Gebäude treten, das noch aus der Zeit vor der Wende zum vorherigen Jahrhundert stammt und vor dessenZinnen die ersten Bäume blühen. Der kurze Weg an der Biologie vorbei zu unserem Lieblingscafé The Mug of Being, dessen Name bereits so oft gewechselt hat wie Billies Meinung zum Thema Tattoos.

»Weißt du eigentlich, dass es Parasiten gibt, die als Zwischenwirt eine Ameise nutzen?«, möchte Billie von mir ohne jeglichen Zusammenhang wissen, als ich durch die Türe vom Mug trete. »Nachdem die Ameise den Schneckenschleim gefressen hat, in dem sie sich befinden, nisten sie sich in ihrer Leber ein, und ein einziger wandert ins Gehirn der Ameise, das er dann übernimmt und die Ameise so dazu bringt, sich am Ende eines Grashalms festzubeißen und darauf zu warten, dass sie von irgendeinem Wiederkäuer gefressen wird.«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«, will ich verwirrt wissen und kämpfe mich an der Kaffeeausgabe vorbei zu einem der letzten freien Tische.

»Zombies.« Billie hält eine Zeitschrift nach oben, auf der in großen Lettern die heißesten Filme dieses Frühjahrs angekündigt werden, bebildert mit einem sehr unlebendig aussehenden Etwas.  »Leberegel sind die einzige Idee, die ich habe, wie so etwas wie ein Zombie entstehen kann.«

Billie ist manchmal ein wandelnder Widerspruch. Beinahe einen Kopf größer als ich selbst und mit Modelmaßen gesegnet, kümmert sie sich die meiste Zeit um ihr Aussehen und tut so, als ob sie nichts weiter interessieren würde als der Inhalt des nächsten Modemagazins, nur um plötzlich von Hirnwürmern und willenlosen Ameisen zu sprechen.

Ich lasse meine Tasche auf den ausladenden Holztisch sinken und schäle mich aus meinem grünen Parka. »Wenn es so weit ist und du deinen ersten kleinen Zombie gezüchtet hast, lass es mich wissen. Dann verkaufe ich den Impfstoff dagegen.«

Billie lässt sich auf einen der alten Stühle fallen, die aussehen, als wären sie ein Überbleibsel aus den Fünfzigern. »Werde ich, Ems. Du weißt doch, dass ich, wenn, dann nur mit dir gemeinsam die Weltherrschaft an mich reiße.« Sie grinst und sieht sich im dunkel getäfelten Café um, an dessen Pool-Tischen schon reichlich Betrieb herrscht. »Wie läuft eigentlich das Zusammenleben mit deiner Grandma? Hast du endlich all deine Klamotten ausgepackt?«

»Heute Morgen, ja.« Mir entkommt ein tiefes Seufzen. Billie und ich sind bereits seit dem Kindergarten befreundet, und sie kennt mich besser als irgendjemand sonst auf der Welt. »Zwischen Eden und mir läuft’s ganz gut. Über meinen Erzeuger reden wir nicht und auch nicht über den Rest. Wir versuchen einfach nur im Jetzt zu leben.«

Billie legt ihre Stirn in Falten, und ich kann mir ausmalen, was ihr alles auf der Zunge liegt, auch ohne dass sie es ausspricht. Den großen Elefanten mit der Gitarre im Raum zu ignorieren, ebenso wie seinen Dompteur, ist etwas, das ich schon seit siebzehn Jahren schaffe. Zugegebenermaßen mal mehr, mal minder erfolgreich. Und dank des wohl attraktivsten Seelenverkäufers Chicagos, dem ich vor einer Woche über den Weg gelaufen bin, und meiner neuen Wohnsituation kochen die Erinnerungen an damals wieder hoch.

»Hast du wenigstens wieder mit dem Rauchen aufgehört, wenn du schon nicht darüber reden willst?

»Jein. Ich habe mir keine selbst gekauft.«

»Ems.« Billie fährt sich durch ihr langes Haar und funkelt mich vorwurfsvoll an. »Komm schon!«

»Ich weiß. Es sind Sargnägel«, murmele ich und weiche dem vorwurfsvollen Blick meiner gesundheitsfanatischen Freundin aus, nur um einen breit lächelnden Kerl in ›senfgelber‹ Strickjacke, die sich auf das Unvorteilhafteste mit seinen rotblonden Haaren beißt, auf uns zukommen zu sehen, zwei Becher Kaffee in der Hand. Ich habe ihn und seine beeindruckende Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen schon ein paarmal im letzten Jahr in unseren Kursen bemerkt, doch gesprochen haben wir nie. »Hey Mädels, sind die zwei Plätze neben euch noch frei?«

»Sicher.« Ich bin mehr als froh, Billies Plädoyer an meine Vernunft zu entkommen. »Setz dich.«

»Cool.« Der Rothaarige stellt seine Kaffees auf dem Tisch ab. »Du warst doch gerade auch in der Anorganischen-Chemie-Vorlesung, oder? Ich dachte, ich sage mal Hallo.« Seine Nase ist krumm, ganz so, als wäre sie schon ein paarmal mit Mühe und Not wieder zusammengeflickt worden. »Ihr seid die, die angeschrien wurden.«

»Ja.«

Sein Grinsen wird breit. »Wusst‘ ich’s doch. Ich bin Mitch Jennings.«

»Emma Gaellen. Das ist Billie.«

»Erfreut, die Damen, sehr erfreut.« Er dreht sich zur Kaffeeausgabe um. »Ich hab schon Kaffee, Don!«

Ich frage mich kurz, wen er mit dieser Aussage meint, bevor ich Brandon Bexton entdecke, der sich groß und breitschultrig durch die Studentenschar schiebt.

Mitch deutet auf seinen Begleiter.

»Ihr beide habt euch ja vorhin schon ausgiebig beäugt, aber nur für den Fall, dass ihr euch noch nicht kennt: Das ist Don. Emma, Don, Don, Emma«, übernimmt er großzügig die Vorstellung, als Brandon Bexton an den Tisch tritt.

»Hey«, begrüßen Brandon und ich uns einsilbig. Er ist einer dieser Kerle, die einem eine Gänsehaut über den Rücken jagen, und ich meine mich daran zu erinnern, dass eines der Mädchen aus meiner alten Laborgruppe sagte, er hätte sie im Bett beinahe zermalmt.

»Mach es dir nicht zu bequem, Mitch. Wir müssen noch in die Bibliothek, und vorher will ich noch eine rauchen.«

»Ja ja.« Mitch lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Mach mal langsam. Ich bin nicht mehr der Jüngste.« Er runzelt die Stirn und zieht die Nase kraus, bis sein Gesicht dem eines Klingonen ähnelt.

»Ich kann nichts dafür, dass du dich vorher in ein Lateinstudium geworfen hast.« Brandon greift nach dem zweiten Kaffee auf dem Tisch und nimmt einen großen Schluck.

»Jetzt bin ich ja gebeutelt und habe den Geisteswissenschaften abgeschworen.« Mitch schenkt mir ein gewinnendes Lächeln. »Und wie könnte ich auch nicht. Immerhin bin ich schon in meiner ersten Woche hier als Biochemie-Student an meinen Blutsbrüdern Don und Nero hängen geblieben.«

Brandon verdreht die Augen, und ich komme nicht umhin, festzustellen, dass er wohl nicht der gesprächige Typ ist. Eine Eigenschaft, die ich zu schätzen weiß.

»Hast du auch schon vorher was studiert?«, hakt Billie an Brandon gewandt nach, offensichtlich bestrebt, sich die Chance, mit einem Milliardärsspross zu flirten, nicht entgehen zu lassen.

Er knirscht mit den Zähnen, und ich kann meinen Magen krampfen spüren. Seine Pupillen bohren sich in Billies.  »Klar habe ich das. Drogenkonsum.«

»Du hast Drogen genommen?«, entkommt es mir, bevor ich es verhindern kann.

Brandon blinzelt und unterbricht damit seine bedrohliche Musterung Billies, um seine Aufmerksamkeit mir zuzuwenden.

»Jetzt tu nicht so, als wüsstest du es nicht. Ganz Chicago weiß das«, fährt er mich an, und ich zucke vor der Schärfe in seinen Worten zurück. »Aber ich bin kein verfluchtes Tier im Zoo! Also hör auf, mich anzustarren, als wäre ich eines!«

»Das habe ich nicht.« Seine Wut trifft mich. Tiefer als ich zugeben will. Ich kenne dieses Gefühl, die ganze Welt niederringen zu müssen, weil sie einen ansehen, als wäre man das bemitleidenswerteste Wesen diesseits und jenseits des Atlantiks. »Ich habe vorhin einfach nur Löcher in die Luft gestarrt.«

In Brandons Wange zuckt ein Muskel, und ich warte auf seinen nächsten Ausbruch, von dem ich mir sicher bin, dass er bald kommt.

Mitch klopft auf den Tisch.

»Mädels, es hat mich gefreut, aber wir gehen jetzt wohl besser«, verabschiedet er sich mit einem entschuldigenden Lächeln und nimmt seine Tasse mit sich.

Ich sehe Brandon dabei zu, wie er eine Schneise durch die Kaffeeschlange schlägt.

»Der ist ja total durchgeknallt.« Billie atmet lautstark aus. »Ich dachte, er springt mir gleich an die Kehle.Die können mir alle viel erzählen, dass der seit einem Jahr clean sein soll. So reagiert doch niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat.«

Ich schlucke, weil ich erst letzte Woche einen ähnlichen Spontanausbruch vor diesem Sportagenten hatte. »Er hat sicher seine Gründe.«

»Dann sollte er die schleunigst klären«, meint Billie unversöhnlich. »Und bis dahin hole ich uns beiden mal einen Kaffee.«

Kapitel 4

 

Ich starre auf die Kränze, die hinten in der Werkstatt von Edens Blumenladen hängen, und umfasse die Gießkanne in meinen Händen etwas fester. Weiße Rosen, Lilien, Gedichte und Liebesbekundungen. Sie erinnern mich an die Auswahl, die neben Mums Grab aufgestellt war, obgleich die bei Weitem nicht so opulent war wie diese hier. Nicht, dass es mich interessiert hatte. Ich lag in Billies Armen und in denen ihrer Mutter und war gezwungen, den Worten dieses Priesters zu lauschen und einem schlecht vorgetragenen Gedicht von Walt Whitman. Mum lag tot in ihrem Sarg, in Klamotten, von denen ich im Nachhinein glaube, dass sie sie gehasst hätte.

»Emma? Alles in Ordnung?«, möchte Eden von mir wissen, während sie die Stängel eines Rosenstraußes kürzt. Ihre Finger wandern geschickt von Stängel zu Stängel, ohne dass sie den Blick von mir nimmt. Bei meinem Talent hätte ich spätestens jetzt meinen Daumen verloren.

»Ja«, lüge ich und lasse meinen Blick über das herrliche Chaos in der Werkstatt gleiten, in der ein halbes Dutzend Floristinnen arbeiten. »Ich brauche nur noch die Trittleiter.«

»Im Schrank, neben dem Waschbecken, Liebes«, antwortet eine der Floristinnen, die mir schon letzte Woche ein paarmal aus der Patsche geholfen hat, als ich versucht habe, Eden ein wenig in ihrem Laden zu helfen.

Eden, die in einem Dickicht aus abgeschnittenen Blättern und Stängelüberresten steht, lächelt, als ich mit der vollen Gießkanne und der kleinen Leiter an ihr vorbei in den Verkaufsraum wanke und beginne die Topfpflanzen zu gießen. Früher habe ich das ständig getan, und Eden heute nach dem miesen Unitag auf der Arbeit zu besuchen zu können, ist einfach schön.

Der altbekannte Duft von Blüten und feuchter Erde durchströmt den Raum, als ich mit der zweiten Kanne Wasser das Efeu und die anderen Schlingpflanzen wässere, die in Blumenampeln von der Decke hängen.

Ich schiebe meine Trittleiter ein paar Meter weiter und frage mich, ob es nicht vielleicht klüger gewesen wäre, die Gießkanne nur zur Hälfte zu füllen, denn ich kann meine Muskeln bereits protestieren spüren.

Nachdem ich den Stand der Leiter überprüft habe, klettere ich mitsamt der Kanne hinauf und will mich gerade zur nächsten Blumenampel hinüberbeugen, als die Ladentür aufgerissen wird und mein Untergrund ins Wanken gerät.

Ich strauchele. Meine Gießkanne kollidiert lautstark mit dem Boden, und ich packe mich haltsuchend am Leitergriff fest.

»Was zur Hölle«, entkommt es mir vollkommen neben der Spur. Ich glaube, ich habe mir meine Seite gezerrt.

»Große Güte, bist du okay?«

Das darf nicht wahr sein. Vor mir steht der Sportagent von letzter Woche, und ich bemerke, dass ich seine Schuhe eingeweicht habe, während mein Magen noch mit den Nachwehen meines Beinaheunfalls kämpft.

»Sorry für das Wasserbad«, quetsche ich hervor. „Keine Absicht.“ Ich kann mich nicht rühren. Er sieht noch so gut aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn nochmal zu Gesicht bekomme. Manchmal ist Chicago ein Dorf und heute bin ich nicht sauer darüber.

Er ist wirklich groß. Trotz meiner erhöhten Position ist sein Gesicht kaum mehr eine Handspanne von mir entfernt, und mein Körper prickelt von seiner Nähe. Jetzt, da ich ihn zum ersten Mal ohne Jackett und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln sehe, werden mir die Ausmaße dieses Mannes klar. Die breiten Schultern, die durchtrainierte Gestalt, die in Jeans und Hemd steckt. Er könnte direkt aus einer Studienzeichnung da Vincis gekrochen sein.

»Ich bin hier, um einen Strauß abzuholen. Kannst du mir da behilflich sein, oder bedienst du keine Sportagenten?« Seinen Mund umspielt ein Lächeln, das das Grübchen an seinem Kinn wieder auftauchen lässt.

»Ich arbeite hier nicht«, schnappe ich, entnervt davon dass er den furchtbarsten Job der Welt hat. Wieso kann er nicht einfach Steuerberater oder ein stink normaler Anwalt sein?

Er legt seine Stirn in Falten. »Du arbeitest hier nicht«, wiederholt er meine Aussage. »Das ist auf mehreren Ebenen beunruhigend. Vor allem aber, weil du keinen Versicherungsschutz hast und dir offenbar dein Flugpulver ausgegangen ist.«

Im Neonlicht des Ladens sind seine Augen beinahe flaschengrün.

»Versuch es an der Verkaufstheke«, schaffe ich es, heiser hervorzubringen, ohne auf seine Worte einzugehen. Vor allem, weil er nach Ambra und einer überbordenden Prise Mann riecht, die meine Hormone Tango tanzen lässt. Die Biologie ist in diesem Falle nicht mein Freund. Ganz und gar nicht. Meinen Rezeptoren gefällt viel zu gut, was sie wahrnehmen, und ich wünschte, mein Gehirn hätte die Macht, einfach die Reißleine zu ziehen. Mein Herz poltert unruhig unter seiner Musterung, und ich ärgere mich über das laute Summen meiner Synapsen. Mein Körper sollte in seiner Gegenwart nicht so kribbeln. Es ist Verrat auf höchster Stufe.

»Emma? Geht’s dir gut?«, unterbricht Eden meine Selbstkasteiung. Sie kommt auf mich zugeeilt, das Messer, mit dem sie die Blumen geschnitten hat, noch immer in der Hand.

»Mir geht’s gut.« Ich kann ihr dabei zusehen, wie sie sich die messerfreie Hand aufs Brustbein legt und erleichtert durchatmet.

»Ich dachte, du wärst durchs Schaufenster gefallen.«

»Nein, nein, alles gut«, winke ich ab. „Hier ist nur ein Kunde, der einen Strauß abholen will.“

 

 

»Eden.« Der unverschämt attraktive Sportagent macht einen großen Schritt über die Wasserpfütze am Boden, und ich kann meine Großmutter stocken sehen, ehe sich ihr gesamtes Gesicht erhellt.

»Damon, wie schön Sie zu sehen.«

»Ebenfalls. Ich habe leider fast das nicht hier arbeitende Personal zu Fall gebracht. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach.«

Er heißt Damon? Passend für einen Seelenverkäufer.

»Ich besitze nur eine Enkeltochter, Damon. Ich würde es wirklich vorziehen, wenn Sie ganz bleibt.“

Damons Lächeln ist ein wenig zu breit, als er sich zu mir dreht. »Eine Gaellen, mh? Das hätte mir auffallen können.«

Irgendetwas in seiner Stimme lässt mich das Kinn recken und zu ihm hochsehen. Ich bin mir nicht sicher, ob seine Erwiderung eine Beleidigung oder ein Kompliment war, doch mein Stolz verbietet es mir, ihn das zu fragen.

»Ich frage mal besser nicht, was Sie damit andeuten wollen und hole einfach den Strauß.« Eden lächelt amüsiert.

Damon schiebt die Hände in die Hosentaschen und ich kann nicht fassen, dass dieser Kerl mit meiner Großmutter flirtet. Zumindest glaube ich, dass er das tut. Und mit mir. Irgendwie. Wenn ich denn darauf eingehen würde. Andererseits macht er auf mich auch den Eindruck, als würde ihm das mit dem Flirten gar nicht so richtig auffallen. So als wäre er einfach nur Charmebolzen aller erster Güte.

»Deine Großmutter hat dich noch nie erwähnt.«

»Ich war eine Zeit lang weg.« Ich zucke mit den Schultern.

Damon hat keine Gelegenheit mir zu antworten, da Eden bereits mit seinem Strauß zurückkommt.

»Was sagen Sie Damon? Geht der so in Ordnung?« Eden hält hinter der Kasse einen Bouquet voller Frühjahrsblüher in die Höhe.

»Perfekt. Da wird sich jemand freuen«, erwidert der Agent ihr und lässt mich einfach stehen, um sein Portmonee zu zücken, Eden seine Kreditkarte zu reichen und unsere Unterhaltung damit offiziell zu beenden. Und weil ich mir dumm vorkomme, ihn noch weiter anzusehen, während er sich mit Eden unterhält, schnappe ich mir meine Gießkanne und klappere die noch fehlenden Töpfe im hinteren Teil des Ladens ab.

Weshalb ich auch seinen Abgang verpasse. Ich erwische nur einen letzten Blick auf seinen Hinterkopf, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Und leider ist der so perfekt, wie der Rest von ihm.

»Was für ein Arschloch.«

»Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Jede Woche darf ich seinen Bettbekanntschaften mindestens einen ›Nichts-für-ungut-Strauß‹ zukommen lassen. Nicht, dass ich mich beschweren würde, so viel Geld wie wir durch ihn verdienen, aber dich wollte ich nicht mit so einem Strauß trösten müssen.«

Ich gebe ein abfälliges Schnauben von mir. »Keine Sorge, Grandma. Da besteht keine Gefahr.«

Ihre grauen Augen verengen sich misstrauisch.

»Was denn? Ich hasse Agenten«, verteidige ich mich, weil sie mir nicht zu glauben scheint.

»Gut«, sagt sie schließlich und lächelt. »Playboys wie er sind zwar nett anzusehen, aber man lässt besser die Finger von ihnen. Ich kümmere mich nur noch kurz um die Bestellung für meinen Kulturverein, dann können wir los. Bist du schon mit dem Gießen fertig?«

Offenbar ist das Thema Damon beendet. »Noch nicht ganz.«

»Gut, gut. Dann habe ich ja noch kurz Zeit, meine Blumenbestellungen zu machen.«

 

Kapitel 5

 

»Wann fährst du nach Hause, Grandma?«

Eden sieht von ihren Papieren auf und schiebt ihre schmale Lesebrille mit dem Zeigefinger nach oben. Sie seufzt schwer. »Gib mir gerade noch Zeit, meine Rechnungen abzuheften.«

Ihr Büro hat sich kaum verändert. Es ist von zu vielen Aktenschränken zugestellt, und das vergitterte Fenster, das in Richtung des Hinterhofes zeigt, ist noch immer von dem gleichen fürchterlichen Lamellenvorhang verdeckt, der schon in meinen Kindertagen dort hing und noch aus einer Zeit stammen muss, als das Rauchen in geschlossenen Räumen gestattet war.

»Du hast hier nichts verändert.«

»Hier drin sah es schon zuzeiten deines Urgroßvaters so aus wie jetzt. Wieso sollte ich verändern, was siebzig Jahre gute Dienste geleistet hat?«

Ich schenke ihr ein Lächeln, bevor ich mich auf den Ohrensessel mit dem abgenutzten Samtbezug sinken lasse, der direkt neben der Tür steht. Meine Großmutter ist sentimental. Das erschüttert mein Weltbild nun doch etwas.

Eden klappt den überfüllten Ordner zu, der vor ihr auf dem Schreibtisch liegt, und steht auf, um ihn in eine der winzigen Lücken im Regal zu quetschen. »Ist an der Uni alles gut gelaufen?«

»Schon, mir ist heute nur etwas richtig …« Ich unterbreche mich, weil mein Handy losplärrt. »Oh entschuldige, das ist sicher Billie«, erkläre ich mit zerknirschtem Gesichtsausdruck.

»Sag mal, sitzt du auf deinen Ohren?«, dringt auch schon die vorwurfsvolle Stimme meiner besten  Freundin durchs Telefon, kaum dass ich meine Feststellung kundgetan habe.

»Eden und ich haben gerade über unser Abendessen gesprochen. Möchtest du vielleicht nachher auch bei uns zum Essen vorbeikommen?«

Billie schweigt verdächtig lang. »Wovon reden wir hier? Lieferdienst oder selbstgekocht?«

»Grandma und ich wollten heute Abend das Lasagne-Rezept ihrer Schwiegermutter ausprobieren.«

»Mum und ich gehen einkaufen«, redet sie sich heraus. »Aber ich kann so gegen neun da sein. Nachdem Eden und du versucht haben zu kochen.«

»Du traust mir wohl gar nichts zu.«

»Ems. Ich traue dir eine Menge zu. Ich traue dir zu, dass du Arien singst, Leute aus brennenden Hochhäusern ziehst, zum Mond fliegst und dir zehn Zigaretten in den Mund steckst. Gleichzeitig. Aber du kannst nicht kochen, und es wäre wirklich besser, wenn du das einsehen würdest.«

»Ach, hör auf zu meckern und sei einfach gegen neun da«, beende ich Billies unnötigen Hinweis darauf, dass Edens und mein Versuch, heute Abend gemeinsam zu kochen, eine Ausrede dafür ist, mehr Zeit miteinander zu verbringen, in der Hoffnung, so etwas wie Normalität heraufzubeschwören.

»‘Kay.« Billie seufzt schwer. »Aber nur, weil du darauf bestehst.«

 

Im Nachhinein betrachtet hätte ich Billie sagen sollen, dass sie zwei Stunden früher und mit einer Tüte vom Chinesen hätte auftauchen sollen, denn Eden und ich starren auf den vollkommen verbrannten Käse in der Auflaufform.

»Ich bin die schlechteste Hausfrau aller Zeiten«, stößt sie unglücklich aus. »Das beweist es mal wieder.«

»Ach was.« Ich greife nach der Gabel, die neben dem Herd auf der Anrichte liegt, und steche beherzt in die Lasagne. »Wir kratzen das obendrauf ein wenig ab, und dann kann man es prima essen. Du wirst sehen.« Mit einem beherzten Bissen schiebe ich mir ein Stück in den Mund. »Siehst du, richtig le…« Ich spucke das total versalzene und verwürzte Essen in die Spüle und angle nach der Wasserflasche, die zu meinem Unglück gar nicht schnell genug aufgehen kann. In diesem Augenblick kann ich nicht sagen, wie sehr ich Billies Weitsicht, ein Essen bei Eden abgelehnt zu haben, beneide.

Ich stürze die halbe Flasche hinunter und schüttle mich.

»Ich nehme an, das können wir wegschmeißen?«

»Bitte«, würge ich. »Wie konnte das so fürchterlich danebengehen? Wir haben doch nach Rezept gekocht?« Nicht nur meine Großmutter ist eine bescheidene Köchin, auch ich habe in einer Küche nichts zu suchen.

Sie zuckt mit den Schultern, bevor sie sich die Topflappen über die Hände streift und unser desaströses Mahl in die Mülltonne befördert, ohne sich die Mühe zu machen, die Auflaufform von ihrem Inhalt zu trennen. »Ich habe dir gesagt, wir sollten es vorher probieren.«

»Wir haben uns ans Rezept gehalten. Vielleicht wollte deine Schwiegermutter dich umbringen, indem du dich selbst vergiften solltest?«, übergehe ich ihren Einwand.

»Zuzutrauen wäre es dieser Frau«, gibt Eden zu. »Aber noch mal werde ich mir nicht die Mühe machen zu kochen.« Sie hebt die Hände und deutet auf die völlig chaotische Küche, die wir in unserem Versuch, etwas halbwegs Vernünftiges auf die Beine zu stellen, total verdreckt haben.

»Und was machen wir jetzt?«, hake ich nach.

»Wir könnten essen gehen.«

»Oder wir könnten etwas bestellen.«

Sie runzelt die Stirn. »Ich mag keines dieser Fastfood-Gerichte.«

»Es werden nicht nur Fastfood-Gerichte geliefert.«

Eden scheint nicht überzeugt.

»Okay, das schreit regelrecht danach, dir das Gegenteil zu beweisen. Gib mir zwei Minuten.«

»Ich gebe dir sogar länger Zeit. Dann kann ich mich nämlich um die liegen gebliebene Arbeit auf meinem Schreibtisch kümmern.«

»Okay«, flöte ich fröhlich, während ich Billies Nummer wähle und sie darum bitte, etwas Essbares auf dem Weg zu uns aufzutreiben.

»Das hättet ihr auch einfacher haben können. Indem du auf mich gehört hättest«, schlägt mir Billies amüsierte Stimme entgegen, als ich ihr schließlich den Grund meines Anrufes verrate. »Nimm es mir nicht übel, Ems, aber die letzte Suppe, die du mir vorgesetzt hast, liegt mir noch heute schwer im Magen.«

»So schlecht war die doch gar nicht.«

»Oh, Ems …« Sie seufzt, als wäre ich ein Kind, das sie mit seiner Naivität in den Wahnsinn treiben würde. »Ich bin einer halben Stunde da. Fangt nicht ohne mich an.«

Billie trifft zusammen mit einem Haufen Tüten voller Essen ein. Sie ist auf Hochglanz poliert. Ihr schwarzes Haar glänzt wie ein Vorhang aus schwerer Seide, der ihr glatt über die Schultern fällt. Die langen Beine stecken in mörderisch hohen Stiefeln, und ihr Rock ist so kurz bemessen, dass er als Gürtel durchgehen könnte. Und ich erinnere mich unwillkürlich an Matts Aussage, Billie könne ›Barbies böse Zwillingsschwester‹ sein.

»Da bist du ja!«, bemerke ich mit einem breiten Grinsen und nehme ihr die schwere Tüte ab, ehe ich sie umarme. »Danke für die Lieferung.«

»Klar, übrigens schöne Grüße von meiner Mum. Sie sagt, du sollst dich mal wieder blicken lassen. Sie weiß schon gar nicht mehr, wie du aussiehst.« Billies Mutter Padma, eine Vollblutinderin mit dem Hang zu stinkreichen Ehemännern, hat erst letzte Woche drei Stunden mit mir verbracht, weil sie für Billie ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk gesucht hat. Ganz ernst nehmen kann ich deshalb den Kommentar nicht. Meine beste Freundin schält sich derweil aus ihrem kurzen Mantel und wirft ihn auf den Korbsessel, der neben der Garderobe steht. »Hier hat sich nichts verändert«, stellt sie fest.

Sie dreht sich auf den Fußballen und schüttelt ihre lange Mähne. »Deine Großmutter hat einfach Stil.«

»Ja«, sage ich schlicht. Es ist eine Tatsache. Die antiken Möbel und die warmen Farben an den Wänden geben der weitläufigen Villa einen südländischen Charme. »Wie viele Leute hast du eigentlich noch eingeladen, um an unserem Essen teilzunehmen? Wir drei werden nicht einmal die Hälfte schaffen.«

»Wenn noch etwas übrig ist, nehme ich es mit nach Hause und verfüttere es an meinen Stiefvater. Mum macht gerade wieder eine ihrer Diäten und nötigt die ganze Familie mitzumachen.«

Da Billies Stiefvater ungefähr die Ausmaße eines Zwergwals hat, kann ich Padmas Idee, ihre gesamte Familie an ihrer Diät teilhaben zu lassen, durchaus nachvollziehen.

»Er kauft mir vor lauter Dankbarkeit sicher die neue Louis-Vuitton-Tasche, die ich mir am Samstag ausgesucht habe.«

»Du bist unmöglich.«

»Ich kann nichts dafür, dass mir das Geld nur so aus den Fingern fließt. Hast du eine Ahnung, was ich für den Frisör und meine Behandlung bei der Kosmetikerin bezahlen durfte? Eine Frechheit war das.« Sie reckt vor Empörung bebend ihr Kinn nach oben und deutet auf ihren perfekten Teint. »Vierhundert Dollar dafür, dass sie mir die Haut abgezogen haben. Vierhundert Dollar! Und meine Poren sieht man immer noch!«

»Für das Geld hättest du dir in manchen Ländern eine neue Haut überziehen lassen können.«

»Ganz genau. Das habe ich ihnen auch gesagt.« Sie setzt sich in Bewegung, um mir in die Küche zu folgen.

»Du siehst trotzdem sehr gut aus. Auch wenn dein Hautbild zu wünschen übriglässt«, schmunzele ich.

»Du auch, Ems. O wow, was ist denn hier passiert? Gab es Verletzte auf diesem Schlachtfeld?« Billie verharrt in der Tür zur Küche, wo noch immer die Töpfe und Schüsseln von unserem Kochversuch stehen.

»Bis jetzt nicht. Aber wenn du weiter über unsere Kochkünste lästerst, kann ich für nichts garantieren.«

Ich hieve die Tüte mit dem dampfenden Essen auf die Anrichte und packe die Gerichte auf die Arbeitsplatte.

»Wie viel bekommst du?«

»Ach, das ist mein Einzugsgeschenk«, wehrt Billie ab und lächelt.

»Danke dir.«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin stolz auf dich. Du bist wirklich hier. Eden und du habt versucht, euch beim Kochen zu vergiften. Ist wirklich fast so wie früher.«

»Ich kann auch noch nicht so ganz fassen, dass ich wieder hier bin.«

»Hey Emma, kann es sein, dass es geklingelt hat? Ist das Essen etwa schon … Hallo, das … Billie? Oh wow bist du … groß geworden«, unterbricht sich meine Großmutter mitten im Satz. »Ich wusste nicht, dass du vorbeikommen willst.«

»Na, aber sicher doch. Immerhin habe ich gehört, dass ihr am Verhungern seid.« Meine beste Freundin schmunzelt tiefenentspannt, während Eden Billies Outfit mit einem kritischen Blick von oben bis unten mustert. Ich schätze, für jemanden, der in einer Zeit aufgewachsen ist, als man nicht mal im Bett so wenig getragen hat, sind Billies offenherzige Outfits eine echte Zumutung.

»Gehst du heute Abend noch weg?«, hakt Eden nach.

»Nein«, erwidert Billie ihr mit einem Zahnpastawerbelächeln. »Ich bin nur hier, um euer Überleben zu sichern.«

»Das ist sehr freundlich von dir«, sagt Eden, Billies Rocksaum fixierend.

 

Eden ist ein Workaholic. Anders kann ich es nicht beschreiben. Gerade sitzen wir noch über dem Dessert, als sie plötzlich aufspringt, um noch einen wichtigen Anruf zu tätigen.

»Gott, mir ist schlecht«, stoße ich hervor, als ich versuche, mir einen weiteren Löffel des Nachtischs in meinen vollen Magen zu quetschen. Ich lasse mein Besteck sinken. »So gut habe ich schon ewig nicht mehr gegessen. Wo hast du diesen Italiener aufgetrieben?«

»Das bleibt mein persönliches Geheimnis.«

»Frechheit.«

Billie grinst, bevor sie ihr Kinn auf die Hände stützt und mich eindringlich ansieht. »Jetzt, da Eden weg ist, kannst du loslegen mit den Neuigkeiten. Dein Theaterkollege hat mich gefragt, weshalb du nicht zum Vorsprechen fürs neue Stück gekommen bist.«

»Ich habe keine Lust auf Männer im Wald. Zumindest nicht genug, um all meine freien Abende damit zu verschwenden.«

»Es liegt also nicht an John, der dieses Semester auch nicht mehr mitspielt?«

»Nein. Und ich wollte nichts von John. Nicht wirklich.«

»Aber ihr seid das gesamte Semester umeinander geschlichen.«

»Er ist nicht wirklich mein Typ Mann.«

»Ach?«

»Ja. Das Schlimme ist, dass ich heute einen umwerfend gutaussehenden Kerl getroffen habe, der von der Optik genau mein Fall wäre.«

»Aber?«

»Er ist Sportagent. Du weißt, wie ich zu Agenten stehe.«

»O, komm doch endlich über diese alberne Allergie gegen Agenten hinweg! Sie steht nur deinem Spaß im Weg.«

»Mit Playboys und Agenten kann man keinen Spaß haben. Sie brechen einem nur das Herz.«

Billie schiebt eine Hand unter ihr Kinn. »Nicht, wenn du’s ihnen zuerst brichst. So einfach ist das.«

Kapitel 6

 

Da Billie und ich uns verabredet haben, am nächsten Abend wegzugehen, tausche ich am nächsten Morgen entgegen jeden besseren Wissens meine Chucks gegen High Heels. Ein dummer Fehler. Denn die Gitter, die sie aufgrund der aktuellen Bauarbeiten über die einspurig befahrbare Straße und den Gehweg gelegt haben, sind alles andere als pfennigabsatzgeeignet, und so stakse ich vom Parkplatz im Schneckentempo in Richtung Chemie-Fakultät.

Gerade schaffe ich es durch das efeubewachsene Tor, hinter dem sich der alte Campus erstreckt, als hinter mir ein Motor aufheult und ich vor Schreck beinahe zu Boden gehe. Aber anstatt mich Auge in Auge mit einem Monstertruck wiederzufinden, kommt neben mir nur eine Harley Davidson zum Stehen, deren ohrenbetäubender Lärm vom Hall der Unterführung verursacht wird.

»Steig auf, ich nehme dich mit. Das kann man sich ja nicht ansehen«, höre ich den Fahrer sagen, dessen gewaltige Ausmaße verdächtige Ähnlichkeit mit denen von Brandon Bexton aufweisen, der mir gestern so eindrucksvoll um die Ohren geflogen ist.

»Brandon?«

»Ich komm zu spät zu meiner Vorlesung. Also steig jetzt auf oder lass es bleiben«, brummt es aus dem schwarzen Helm.

»Okay«, bringe ich verdattert hervor. Einen rettenden Ast kann ich durchaus erkennen, wenn er mir ins Gesicht geschleudert wird.

Wie in Trance gehe ich zu ihm hinüber und steige hinter ihm auf. Dabei stütze ich mich an seinem Rücken ab. Seine breiten Schultern sind warm und die Muskeln darunter so hart, dass es ist, als würde ich auf Tuchfühlung mit einer Statue gehen.

Er riecht nach Rauch, und seine Lederjacke gibt ein widerspenstiges Knarzen von sich, als er seine Maschine über den Hof jagt und dabei ein paar aufgeschreckt zur Seite springende Studenten umrundet. Schließlich parkt er direkt vor dem Haupteingang der Fakultät und lässt mich absteigen.

»Danke.«

»Schon gut«, brummt er, während er sich den Helm vom Kopf zieht.

Er fährt sich durch sein kurzes Haar, bevor er die Ledertasche öffnet, die er über die Schulter geschnallt hat, und seinen Schlüssel darin verstaut. »Du solltest dich in Bewegung setzen, sonst kommen wir doch noch zu spät.«

Sich nicht darum kümmernd, dass er hier bestimmt nicht parken darf, hält er auf die Treppe zu, und ich folge ihm leicht überfordert. Gestern wurde ich noch von ihm angepflaumt.

Er öffnet die schwere Holztür, vor der noch ein paar Studenten stehen und uns mit neugierigen Blicken bedenken. Zu meinem Erstaunen lässt er mich als Erste durch die Tür gehen.

»Danke«, meine ich perplex.

»Mh«, grollt er nur und begleitet mich schweigend in unseren Hörsaal. »Man sieht sich«, verabschiedet er sich, kaum dass wir durch die offene Flügeltür getreten sind und er Mitch entdeckt.

 

Die Vorlesungen und Seminare ziehen sich dahin. Billie und ich entscheiden uns gegen halb sechs, dass noch Zeit für eine Kaffeepause ist, bevor wir einen Happen essen gehen und dann Chicagos Nachtleben unsicher machen.

Mitch lässt sich auf den Stuhl neben mich fallen und gibt ein tiefes Seufzen von sich. »Hey Mädels.«

»Du hörst dich an, als hättest du schwerste Arbeit verrichtet«, sage ich grinsend und greife nach meiner Kaffeetasse.

»Das habe ich auch. Ich habe aufgepasst. Anders als ihr beide, die ihr euch so laut unterhalten habt, dass es der ganze Hörsaal mitbekommen hat.«

»Haben wir gar nicht«, schnappt Billie. »Das waren Méron und Shirley, die Emma und mich überreden wollten, in ihre Lerngruppe zu kommen.«

Mitch gibt ein Schnauben von sich. »Wenn überhaupt kommt ihr beide in unsere. Die ist viel cooler. Don und ich sind kompetent.«

Mitchs offensichtlicher Versuch, mich mit der Aussicht zu locken, Don Bexton öfter über den Weg zu laufen, ist süß. »Wenn ihr wollt, kann ich euch auch mal unseren Arbeitsraum zeigen. Don müsste auch gleich da sein, der wollte nur kurz in die Bibliothek.«

»Ich weiß nicht.« An Billie scheint sein Charme gänzlich verloren zu sein. Sie stützt den Kopf auf den Handrücken und gähnt.

»Wieso nicht? Wir beißen nicht. Und wir haben bequeme Sofas.«

»Du hast mich soeben erfolgreich geködert. Wenn ihr auch noch einen anständigen Kaffeeautomaten in der Nähe habt, verkaufe ich euch meine Seele.«

»Haben wir.« Mitch präsentiert mir die Zahnlücke zwischen seinen Schneidezähnen, offenbar sehr zufrieden mit sich. »Ich werde dir sobald wie möglich einen Vertrag zukommen lassen, in dem wir das mit der Seele noch mal genauer regeln.«

»Vielleicht solltest du dieses Angebot noch mal überdenken. Mitch kommt auf eine Menge dummer Ideen.« Ein langer, hagerer Typ lässt sich neben Mitch auf die Tischkante fallen und grinst mich breit an. Seine dunklen Augen haben die Farbe schwarzen Kaffees, die dank seiner straff am Kopf entlanggeflochtenen Rastazöpfe noch größer erscheinen. Irgendwas an seinem Gesicht ist seltsam, doch ich kann nicht genau sagen, was es ist.

»So ein Quatsch. Lass dir nichts einreden, Ems. Und überhaupt, was hast du schon wieder mit deinen Augenbrauen gemacht, Nero?«

Jetzt, da Mitch es anspricht, sehe ich es auch. Das ist es, was mich gestört hat an seinem ansonsten attraktiven Gesicht.

»Was wohl?«, knirscht Mitchs Kumpel.

»Sonst noch irgendetwas im Labor kaputtgegangen oder hast du den Feuerzauber nur auf dich allein beschränkt?«

»Danke der Nachfrage. Und ja, ich habe es geschafft, nur meine Augenbrauen zu versengen. Hat gestunken wie Sau, weshalb ich sie dann heute Morgen einfach abrasiert habe.«

Mitch gibt ein Prusten von sich. »Du bist der Knaller, Nero.«

»Du mich auch«, brummt er, ehe er sich uns zuwendet. »Ich bin übrigens Nero, oder Noah. Wie ihr wollt. Und ihr seid?«

»Das ist Billie, und ich bin Emma.«

Er grinst. Dabei graben sich Grübchen in seine Wangen. Schelmische, süße Grübchen, die in mir das Bedürfnis wecken, ihm in die rasierten Wangen zu kneifen. »Emma, hm? Ich habe schon von dir gehört. Hast Don beinahe an die Decke gehen lassen.«

»Nicht mit Absicht«, fühle ich mich genötigt zu sagen.

Nero zuckt mit den breiten Schultern und zieht sich einen der leeren Stühle des Nachbartisches heran, um sich neben Mitch sinken zu lassen und seine langen Gliedmaßen unter dem Tisch zu verstauen. »Du hast es ja überlebt.«

»Wieso hätte sie das nicht überleben sollen? Ich bin kein Massenmörder.« Brandons Stimme kommt von direkt hinter mir. Noch bevor ich mich umdrehen kann, knallt ein dicker Wälzer vor mir auf die Tischplatte. Halliday Physik. »Hier ist das Buch, das du wolltest, Mitch.«

Der stöhnt. »Don, du machst deinen ersten Eindruck bestimmt nicht besser, wenn du mit Büchern um dich wirfst.«

»Emmas Kopf war einen Meter davon entfernt. Das nächste Mal kannst du dir dein Buch selbst ausleihen, wenn du mir auch noch lange Vorträge hältst.«

»Wie auch immer. Danke fürs Mitbringen. Ich bin gerade dabei, die Mädels zu überreden, mit uns eine Lerngruppe zu machen.«

Nero wirft mir einen eindringlichen Blick zu, und ich kann mich zurückgrinsen spüren. Elendige Grübchen.

»Mh.« Nicht einmal ein ganzes Wort ist Brandon diese Neuigkeit wert. Stattdessen wechselt er das Thema. »Gehen wir nachher zum Training, Nero?«

»Weiß nicht. Eigentlich habe ich keine Zeit. Mum wollte mit meiner Schwester und mir essen gehen. Ihr Geburtstag, du weißt schon.«

»Hast du mittlerweile wenigstens ein Geschenk?«, will Mitch von ihm wissen.

Nero zuckt mit den Schultern. »Ich dachte an Blumen.«

»Das heißt also, ich darf unseren Trainer schon wieder vertrösten?« Brandon hört sich genervt an, und sein Kumpel fährt sich leicht verlegen über den Kopf.

»Ja.«

»Grandios. So werden wir die nächsten Spiele nie gewinnen.«

»Ist doch nur ein Spiel. Ist doch egal, ob ihr gewinnt oder verliert. Solange euch Basketball Spaß macht.«

»So was kann auch nur von dir kommen, Mitch.« Brandon schnaubt, und Nero nickt grimmig.

»Es gibt wirklich Spannenderes, als einem orangenen Ball hinterherzurennen«, kontert er. Zustimmend nicke ich. Wo er recht hat, hat er recht.

»Mit dir rede ich doch gar nicht mehr«, lässt Brandon hören. »Ich finde auch, dass es interessantere Dinge gibt, als sich mit Händen und Füßen zu verprügeln.«

Mitch wuschelt sich durch seine Haare. »Ich mache Thai-Boxen, müsst ihr wissen.«

»Du solltest ihn mal nach den Wettkämpfen sehen. Nach seinem letzten Kampf sah er aus wie eine Aubergine.«

»Mein Gegner hat mir die Nase gebrochen«, erklärt Mitch ganz nonchalant. »Mal wieder. Zum Glück heile ich recht schnell.«

»Lass dir nichts einreden, Emma. Zwei Wochen hat es gedauert, bis er von Auberginen- auf Gurkenfarben gewechselt ist«, meint Nero mit einem Grinsen und öffnet seinen dunkelblauen, zweireihigen Wollmantel. Er trägt ein quietschgelbes Shirt darunter, das in schwarzen Lettern Sitzpogo verkündet und über seiner sehnigen Brust spannt.

»Na danke.« Mitch schnaubt. »Wer läuft hier denn ohne Augenbrauen herum. Du oder ich?«

»Wenn ihr beide so weitermacht, stopfe ich euch in Paillettenkleider und melde euch bei der Wahl zur Miss America an«, beendet Brandon Neros und Mitchs Geplänkel.

»So was Intelligentes wie mich haben die da sicher noch nie gehabt«, schiebt Mitch kaltschnäuzig hinterher, offenbar wenig beeindruckt von der Drohung seines Kumpels.

Billies Magen gibt ein lautes Knurren von sich, was die die Jungs in ihrer Diskussion innehalten lässt.

»Wow. Da hat jemand Hunger.« Neros Grübchen werden noch ein bisschen tiefer.

»Habe ich.« Billie sieht auf ihre Armbanduhr. »Ist auch schon etwas her, seit ich das letzte Mal gegessen habe. Hat jemand eine Empfehlung, wo man gut essen kann?«

»Im 29.« Don verschränkt die Arme vor der Brust. »Ist ein ziemlich guter Mexikaner und einer der Lieblingsläden meines Bruders und seiner Kumpels.«

Billie, die genauso erstaunt wie ich ist, von Don Bexton eine Restaurantempfehlung zu bekommen, nickt andächtig. »Danke. Dann probieren Emma und ich den mal aus.«

»Was ist jetzt mit der Lerngruppe?«, will Mitch wissen.

»Ich bin dabei. Emma auch.« Billie schenkt Don einen Blick, der alle möglichen unanständigen Dinge verspricht, bevor sie aufsteht. »Und danke für die Empfehlung. Man sieht sich morgen, Jungs. Nero, hat mich gefreut.«

Brandon wirft mir einen dunklen Blick zu, als Billie mich mit sich hochzieht, und zuckt mit den Schultern. »Bye.«

Das 29 ist bereits brechend voll, als Billie und ich gegen halb acht dort ankommen, und ich wünschte, ich hätte mir ein wenig mehr Mühe gegeben, mich zu stylen, während wir der Bedienung durch das volle Lokal folgen. Wir kämpfen uns zwischen zwei Tischen hindurch, an denen ausschließlich Männer sitzen. Ich schenke ihnen ein entschuldigendes Lächeln, als unsere Empfangsdame eines ihrer Jacketts von den Stuhllehnen reißt, und hebe es auf.

»Sorry Jungs.«

»Kein Problem«, höre ich einen von ihnen erwidern, bevor ich mich beeile, der viel zu schnellen Dame hinterherzukommen. Ich überwinde gerade die drei Stufen, die in den rückwärtigen Teil des Restaurants führen, als ich links von mir einen Tisch ausmache, an dem sich ein mir mittlerweile sehr bekannter Agent mit einer sehr hübschen Frau unterhält. Manchmal ist Chicago wirklich ein winziges Dorf. Ein Dorf, dessen prominentester Einwohner mir direkt in die Augen guckt.

»Du schon wieder«, entkommt es mir, während die Begleitung des Agenten lustlos von ihrem grünen Salat aufsieht.

»Verfolgst du mich?« Damon scheint nicht weniger erstaunt über unser erneutes Treffen als ich selbst. Mit grünbraunen Augen mustert er mein Gesicht kritisch, und kurz frage ich mich, weshalb ich ihn angesprochen habe. Dann erst erinnere ich mich daran, dass er mich etwas gefragt hat.

»Natürlich.« Als ob ich es nötig hätte, einen Agentenarsch wie ihn zu verfolgen. »Nun, ich will dich nicht weiter aufhalten. Sieht so aus, als würde meine Grandma mal wieder gutes Geld verdienen.«

Seine Begleitung macht nicht den Eindruck, als würde sie meinen Gedankengängen folgen können. Kann man wahrscheinlich auch nicht, wenn man keine Ahnung von den vielen Kerben in seinem Bettpfosten hat. Jede Woche mindestens ein Nichts-für-ungut-Strauß, hallt die Stimme meiner Grandma in meinem Kopf wieder.

»Ich fürchte ich verstehe nicht ganz.« Damon legt den Kopf schief, und ich werfe einen letzten Blick auf das arme Wesen an seinem Tisch. Sie hat dieses typische Modelgesicht. Ebenmäßige Züge, tolle Haut, umwerfende Wangenknochen, und ich komme mir ein wenig wie ein plumper Zwerg vor in meinen ausgewaschenen Jeans, die nur von einem breiten Gürtel an Ort und Stelle gehalten werden.