9,99 €
Es war einmal und war auch nicht... So begannen die Geschichten, die Marjans Vater ihr als kleines Mädchen erzählte - Fabeln über Greifen, Einhörner und Drachen. Aber Marjan ist kein kleines Mädchen mehr. Und fantastische Kreaturen gibt es nicht. Oder etwa doch? Nach dem Mord an ihrem Vater, erbt Marjan seine geliebte Tierarztpraxis. Sie versucht alles unter einen Hut zu bringen – Schule, Freunde und die Praxis. Da taucht eine mysteriöse Frau auf und stellt Marjans Welt mit einer Enthüllung endgültig auf den Kopf: Die Fabelwesen aus den Geschichten ihres Vaters existieren tatsächlich und er hat sich im Geheimen um sie gekümmert. Nun soll Marjan seinen Platz einnehmen. Doch sie ahnt nicht, wie gefährlich diese verborgene Welt ist. Der atmosphärische Fantasy-Auftakt mit Elementen aus der persischen Mythologie Hidden Creatures ist ein atmosphärisches Fantasy-Abenteuer ab 12 Jahren, das von der ersten Seite in die verborgene Welt der Fabelwesen entführt. Der DebütautorKiyash Monsef lässt Elemente der persischen Mythologie lebendig werden. Mit Protagonistin Marjan schafft er eine Identifikationsfigur für alle, die Mut aufbringen müssen, sich selbst zu finden. Durchgehend spannend erzählt und voller unvorhersehbarer Wendungen. Der New York Times-Bestseller für alle Fantasy-Leser*innen und Fans von alten Märchen und Sagen! Der Titel ist bei Antolin gelistet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 592
Veröffentlichungsjahr: 2025
INHALT
Vom Mädchen, das ein Einhorn rettete
Die Arbeit
Die Feder des Shirdals
Kipling
Zorro
Der Fuchs mit den neun Schwänzen
Das Geheimlächeln
Alle, alle auf einmal
Zwei Welten gleichzeitig
Der einsamste Mensch der Welt
Wolfsarbeit
Die Todesfratze mit den Krallen
Der Hunger der Mantikore
Der Eingriff
Die Entflechtung
Ein seltsames kleines Herz
Die Ware
Der Falkner und der Schah
Der Splitter
Sturm über Ithaca
Das Herz des Windes
Whiskey, eine Rasierklinge und Klebstoff
Lubbock
Der Tea Shop
Der Mann, der einen Drachen kaufte
Die Entscheidung
Ein Tier mehr in der Sammlung
Die Anomalie
Ein Lied
Freiheit
Wiedergeboren als Engel
Nachbeben
Abendessen
Die Lampe des Nachtmanns
Etwas fehlt
Letzte Wünsche
KAPITEL 1
VOM MÄDCHEN, DASEIN EINHORNRETTETE
Es war einmal und war auch nicht ein Mädchen, das sich in einem Wald zwischen dem Elburs-Gebirge und dem Kaspischen Meer auf Pilzsuche begab.
Am Tag zuvor hatte es geregnet. Der Boden war feucht und weich und die Luft roch nach Erde und Moos. Es war ein guter Tag, um Pilze zu sammeln, und das Mädchen hatte ihren Korb bereits fast bis zum Rand mit Löwenmähnen und Klapperschwämmen gefüllt. Da hörte sie weit entfernt zwischen den Bäumen ein Geräusch. Es klang wie die Schmerzenslaute eines Tieres.
Es gab Leoparden in jenem Wald und auch Schakale und Braunbären. Aber das Mädchen ertrug die Vorstellung nicht, ein anderes Lebewesen leiden zu lassen. Und so begab sie sich tiefer in den Wald hinein, immer dem Wehklagen folgend, um nachzusehen, ob sie helfen konnte. Auf einer Lichtung, ein wenig abseits des Wegs, stieß sie schließlich auf den Ursprung der Laute.
Sie stammten von einem Einhorn. Und dieses Einhorn blutete und hatte Angst. Sein Bein steckte in einer Jagdfalle fest. Es war ein gewaltiges Tier, durch und durch wild. Noch nie zuvor hatte das Mädchen ein derartiges Geschöpf gesehen und sie wusste sofort, dass es etwas Besonderes war. Sie wusste zudem, dass das Einhorn nicht viel länger zu leben hätte, sobald der Jäger kam, um seine Falle zu überprüfen. Und so schluckte das Mädchen seine Angst herunter und näherte sich dem Einhorn langsam und so vorsichtig und sanft, wie sie nur konnte. Um es zu beruhigen, bot sie ihm einige der Pilze an, die sie gesammelt hatte. Und als sie schließlich glaubte, ihm ohne Gefahr nahekommen zu können, bückte sie sich und öffnete die Falle.
Das Biest schien mit seinen langen Beinen und seinem tückischen, scharfen Horn die gesamte Lichtung einzunehmen. Das Mädchen stand da wie erstarrt, zu ehrfürchtig und verängstigt, um sich zu bewegen. Das Einhorn betrachtete seine Retterin lange Zeit. Dann tat es auf seinem verletzten Bein einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, senkte seinen massigen Kopf und rammte ihr das Horn in die Brust, direkt oberhalb des Herzens.
Das Mädchen stürzte zu Boden und dabei brach ein Stück des Horns ab und blieb in ihrer Brust zurück. Das Einhorn betrachtete sie ein letztes Mal, dann machte es kehrt und verschwand vorsichtigen Schrittes zwischen den Bäumen und ward hundert Jahre lang nicht mehr gesehen.
Dem Mädchen aber, das blutete und dem der Schreck tief in den Knochen saß, gelang es mit letzter Kraft, in ihr Dorf am Waldrand zurückzukehren. Dort brach sie zusammen und wurde in ihr Bett getragen. Sie ruhte viele Tage lang. Anfangs glaubte niemand, dass sie überleben würde. Aber nach einem Tag hörte die Blutung auf. Und nach drei Tagen ging der Schmerz zurück. Die Wunde wurde langsam kleiner und immer kleiner, bis nichts mehr von ihr übrig war als eine halbmondförmige Narbe direkt über dem Herzen des Mädchens und ein kleines Stückchen vom Horn des Einhorns, das noch immer zwischen ihren Rippen steckte.
Die Zeit verging und das Mädchen wurde zur Frau. Sie heiratete und bekam Kinder. Manche von ihnen trugen bei der Geburt ein halbmondförmiges Muttermal über dem Herzen. So erging es auch einigen ihrer Kinder und den Kindern ihrer Kinder. Und auch wenn niemand es mit Sicherheit wissen kann, heißt es, dass heute noch einige der Nachkommen des Mädchens unter uns sind und dass einige von ihnen noch immer das Mal auf ihrer Haut tragen. An eben jener Stelle, an der das Einhorn das Mädchen damals durchbohrte.
Und es mag zwar stets nur im Flüsterton darüber gesprochen werden, aber es heißt, dass vielleicht, ganz vielleicht, noch ein kleines Stückchen von jenem Einhorn in ihnen steckt.
KAPITEL 2
DIE ARBEIT
Ich hätte von vornherein besser nicht am Empfang arbeiten sollen.
Tierarztpraxen sind an sich schon keine geeignete Umgebung für ungeduldige Menschen und ich war wütend auf alles und jeden im Universum. Aber Dominic machte Mittagspause und alle anderen Angestellten hatten zu tun. Und wie mein Dad gesagt hätte: Die Welt dreht sich weiter, Marjan. Sie interessiert sich nicht für unsere Gefühle. Da saß ich nun, als freundliches Gesicht unserer Praxis, und hoffte, dass das Telefon nicht klingelte und der Empfangsbereich die kommende halbe Stunde lang leer blieb, damit ich in Ruhe weiter wütend auf die ganze Welt sein konnte.
Hauptsächlich gab es zwei Gründe für meine Wut.
Der erste war die Praxis selbst. Seit inzwischen drei Wochen gehörte die West Berkeley Animal Clinic offiziell mir. Ich hatte nie darum gebeten und die erste Woche meines zweiten Highschool-Jahrs war auch nicht unbedingt der beste Zeitpunkt gewesen, um Besitzerin einer hoch verschuldeten Tierarztpraxis zu werden. Zusätzlich zur Schule, meinen Hausaufgaben und meinem eher kläglichen Sozialleben musste ich mich jetzt auch noch mit Löhnen, Miet- und Nebenkosten, Versicherungen und einem ganzen Haufen weiterer Verantwortlichkeiten herumplagen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben wollte. Unter anderem eben auch, am Empfang auszuhelfen, damit Dominic etwas zu Mittag essen konnte.
Und dann war da noch die Frage, wie es zu alldem überhaupt gekommen war.
Die Praxis hatte meinem Dad gehört. Er war Tierarzt und hatte die West Berkeley Animal Clinic besessen, solange ich denken konnte. Normalerweise legen Dads ihre Unternehmen nicht einfach in die Hände ihrer fünfzehnjährigen Töchter. Aber erstens war mein Dad nicht normal. Und zweitens hatte er gar keine Wahl gehabt.
Die Polizei war nicht sicher, wie genau er ums Leben gekommen war. Einerseits gab es keine Mordwaffe, andererseits konnte sich aber auch niemand vorstellen, wie jemand so etwas mit bloßen Händen hätte anrichten sollen. Ich hatte mitbekommen, wie einer der Sanitäter sagte, es habe ausgesehen, als wäre er mit einem Lkw zusammengeprallt. Was allerdings die Brandwunden nicht erklärte.
Es gab keine Verdächtigen, keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren. Keine DNA, keine Haare, keine Hautschuppen oder sonst irgendwas von dem Zeug, das man im Fernsehen sieht. Es gab kein Überwachungsvideo und auch kein plausibles Motiv. Es war nichts aus unserem Haus gestohlen geworden. Alles war an seinem Platz, zumindest außerhalb des Raums, in dem mein Dad gestorben war.
Das war der zweite Grund für meine Wut.
Inzwischen kam ich seit einer Woche täglich in die Praxis. Die meiste Zeit hielt ich mich in Dads altem Büro auf, das ruhig und klein war und mir Sicherheit schenkte, die ich nirgends sonst empfand. Oder ich war im OP, wo ich hinter einer Gesichtsmaske verschwinden konnte und nichts weiter zu tun hatte, als die Tiere zu streicheln und zu beruhigen. Am Empfang dagegen fühlte ich mich schutzlos wie ein Hundewelpe im Schaufenster einer Tierhandlung. Nur dass ich kein Hundewelpe war, sondern eher ein Marder. Einer mit Tollwut.
Aber außer mir war nun mal niemand da und so hatte ich mich auf Dominics Platz gesetzt, bohrte mir zur Ablenkung die Fingernägel in die Handflächen und sagte mir, dass ich schon irgendwie zurechtkommen würde. Vielleicht nicht gut – im Traum nicht –, aber … irgendwie eben. Solange ich nur mit niemandem reden musste.
Genau das sagte ich mir gerade, als sich die Eingangstür öffnete.
Die Frau marschierte grinsend und auf direktem Weg zu mir an den Empfangstisch wie eine von diesen Raketen, die fest auf ihr Ziel ausgerichtet sind. Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig. Braune Haare, Brille mit dünnem Drahtgestell, braune Augen, mit denen sie mich fixierte, kaum dass sie mich entdeckt hatte. Ein Lächeln, das mir das Gefühl gab, halb Freund, halb Beute zu sein.
Sie hatte kein Tier dabei. In einer Tierarztpraxis nie ein gutes Zeichen.
»Du musst Marjan sein«, sagte sie. »Tut mir leid mit deinem Dad.«
Und sie kannte meinen Namen. Noch schlimmer.
»Wer sind Sie?« Mit dem scharfen Unterton in meiner Stimme hätte man Knochen spalten können, aber ihr Lächeln saß weiter wie festgetackert.
»Wir kennen uns noch nicht«, erwiderte sie.
»Hat er Ihnen Geld geschuldet?«, fragte ich. »Denn dann müssen Sie sich bitte an seinen Buchhalter wenden. Ich kann Ihnen praktisch garantieren …«
Sie winkte ab, dann griff sie in ihren Jutebeutel und holte eine Visitenkarte heraus, die sie vor mir auf dem Empfangstisch ablegte. Sie war nicht beschriftet, sondern nur mit einem folierten Emblem in Bronze versehen – ein Teekessel mit einem schlangenförmig gewundenen Symbol darin. Ich wartete ab, dass mir die Frau erklärte, was ich da vor mir hatte, bis ich irgendwann begriff, dass sie wiederum darauf wartete, dass ich das Zeichen erkannte.
»Nein?«, sagte sie irgendwann.
Ich schüttelte den Kopf.
Sie lächelte wieder, aber diesmal war es ein trauriges Lächeln. »Dann hat er dir also nichts erzählt. Können wir hier irgendwo reden?«
»Worüber?«, fragte ich.
»Vieles«, antwortete sie. »Deinen Dad. Darüber, was ihm passiert ist.« Eine kurze Pause, dann: »Die Arbeit.«
Die Arbeit.
Die Art und Weise, wie sie diese beiden Worte betonte, erweckte etwas Warmes, Fremdartiges in meiner Brust zum Leben. Vielleicht war es einfach noch mehr Wut – irgendein uralter Groll, den ich schon ewig mit mir herumtrug. Aber vielleicht war es auch etwas anderes. Neugierde vielleicht.
Oder Hoffnung.
Manchmal hatte ich abgenommen, wenn sie ihn auf dem Handy anriefen. Mein Dad hasste das.
»Ist Jim Dastani da?«, fragten sie dann, was in meinen Ohren jedes Mal wieder seltsam klang. Dads Name lautete Jamsheed. »Jim« war für mich wenig mehr als eine besonders traurige Form von kultureller Selbstaufgabe, weil der Name nicht nur extrem durchschnittlich war, sondern auch kein bisschen zu meinem Vater passte. Denn dass er kein »Jim« war, sah man auf den ersten Blick.
Ich achtete stets darauf, dass die Person, die angerufen hatte, mitbekam, wie ich »DAAAAAD? Für DIIIIICH!« brüllte, weil ich das für so ziemlich den unprofessionellsten ersten Eindruck hielt, den man bei einem Kunden hinterlassen konnte. Mein Dad kam dann, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe heruntergepoltert. Wenn er sauer war, zog er immer ein Gesicht, das entfernt an ein Lächeln erinnerte, aber an eins, das ihm körperliche Schmerzen bereitete. Allerdings sollte ich fairerweise wohl dazusagen, dass mein Dad ganz häufig so wirkte, als würden ihm die einfachsten Tätigkeiten Schmerzen bereiten – Essen, Lachen, Schlafen. Was vermutlich der Grund dafür war, dass er nichts von alldem so häufig getan hatte, wie es gesund gewesen wäre.
Wenn er mir dann das Telefon aus der Hand riss, warf er mir einen strengen Blick zu, als würde ich gleich Ärger bekommen. Den bekam ich aber nie. Was sollte er schon machen? Mir Hausarrest erteilen? Wie soll man jemandem Hausarrest geben, wenn man nie da ist, um darauf zu achten, dass er auch abgesessen wird?
Danach verzog er sich immer wortlos mit seinem Handy in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und egal, wie angestrengt ich lauschte, ich bekam nie mehr zu hören als ein unverständliches Murmeln.
Die Telefonate dauerten nie sonderlich lang. Sobald sie vorbei waren, öffnete er seine Tür wieder und gab mir das Handy zurück. An diesem Punkt war er nicht mehr wütend oder auch nur genervt, weil er im Kopf längst packte, längst abreiste, längst auf dem Weg zum Flughafen oder dem Bahnhof war oder längst da, wo auch immer er hinwollte.
»Und? Wo geht’s diesmal hin?«, fragte ich dann, wenn ich einen besonders fiesen Tag hatte.
Wenn ich Glück hatte, antwortete er »Ins Warme« oder »In ein ruhiges, kleines Städtchen« oder so was in der Richtung. Mehr bekam ich nie aus ihm heraus. Und ich war mir auch nie ganz sicher, ob er wirklich mit mir redete oder nur laut überlegte, ob er die richtigen Sachen eingepackt hatte. Manchmal ignorierte er mich auch völlig, bis er seine Tasche fertig gepackt hatte.
Unser wahres Ritual begann aber erst an der Haustür. Mit der Klinke in der Hand blieb er stehen, als wäre ihm gerade etwas eingefallen, und drehte sich noch einmal um. Und ich war jedes Mal da, wartete jedes Mal auf diesen einen Augenblick.
»Marjan«, sagte er dann. »Du findest alles, was du brauchst, in …«
»Ich weiß.«
Es bestand keinerlei Notwendigkeit, die ganze Liste durchzugehen – Kreditkarte in der Küchenschublade, Bargeld in einem Umschlag neben dem Spülbecken. Notfallnummern – die richtigen, mit denen man die nächste Polizei- und Feuerwache erreichte und nicht die Highway Patrol – klebten neben der Visitenkarte unseres örtlichen Taxiunternehmens und der Nummer des Pizzalieferanten. Alles, was ich brauchte, war dort, wo es immer war.
Dann das Versprechen. »Ich bin bald wieder zurück.«
»Bald« konnte einen Tag bedeuten, aber auch eine Woche. Das erfuhr ich immer erst, wenn alles vorbei war.
Dann stellte er seine Tasche ab und umarmte mich. Ich schätze, als ich noch jünger war, umarmte ich ihn zurück. Aber wirklich erinnern kann ich mich nicht. Jedenfalls hielt er mich ein paar Sekunden lang fest und danach folgte die Entschuldigung. »Es tut mir leid. Eines Tages …«
Schon klar. Eines Tages würde ich alles verstehen.
Als ich noch ein Kind war, dachte ich, alle Tierärzte hätten solche Kunden. Wie schräg das alles war, wurde mir erst nach Moms Tod nach und nach klar. Anfangs wurde ich wütend, wenn er wegfuhr. Später wurde ich gemein. Unterstellte ihm alles Mögliche. Dass er Drogen schmuggeln würde. Oder Spion sei. Dass er irgendwo am anderen Ende des Landes eine geheime zweite Familie habe. Oder dass vielleicht ich die geheime Zweitfamilie sei.
»Das sind einfach nur Menschen, die meine Hilfe brauchen«, lautete seine ewig gleiche Antwort. Und weil ich nie erlebt hatte, dass ihm irgendwas wichtiger gewesen wäre als seine Arbeit, glaubte ich ihm.
Danach sagte er immer: »Ich hab dich lieb.«
Bis heute weiß ich nicht wirklich, was er damit meinte. Weil er das immer nur sagte, wenn er ging.
Zum Abschluss kam noch der letzte Blick. Den, bei dem ich mir vorkam wie ein Tier auf dem OP-Tisch. Als würde er krampfhaft versuchen, den Tumor zu finden, die Infektion, den Wurm in meinem Auge. Dann der kleine, schicksalsergebene Seufzer. Als wäre er außerstande, das, was er entdeckt hatte, wieder in Ordnung bringen zu können.
So ließ er mich zurück. Jedes Mal, seit ich zehn Jahre alt war. Mutterseelenallein und ohne zu wissen, was mit mir nicht stimmte.
Und so ließ er mich am Ende auch zurück, als er für immer ging.
Das war die Arbeit.
Ich überredete Dr.Paulson, mir kurz ihre Tierarzthelferin auszuleihen, damit sie die Rezeption übernahm. Dann führte ich die Frau nach hinten ins Büro meines Dads und schloss die Tür hinter uns.
Das Büro war eigentlich nicht für Besprechungen gedacht. Es war zu klein, der Schreibtisch zu groß. Es gab ausreichend Platz für zwei Personen – solange eine davon auf dem Boden hockte, so wie ich es früher, als Dad noch lebte, immer gemacht hatte. Aber so eine Art Besprechung war das hier nicht. Deshalb rückten wir unsere Stühle am Tisch herum, um ein halbwegs passables Arrangement zu finden, das es uns beiden ermöglichte, zu sitzen und uns dabei ansehen zu können, ohne dabei von einem Bücherregal oder einer Wand eingequetscht zu werden. Währenddessen hatte ich die ganze Zeit über das seltsame Gefühl, Dad würde uns im Weg herumstehen und uns mal hierhin, mal dorthin drängen, um es uns zusätzlich schwer zu machen. Was natürlich Unsinn war.
Irgendwann hatten wir eine Position gefunden, in der wir sitzen konnten, ohne dass sich unsere Knie berührten.
Die Frau legte eine offene Hand auf den Tisch und sah mich lächelnd an. »Darf ich mal deine Hand sehen?«, fragte sie.
Ich hatte zwar keine Ahnung, was genau sie vorhaben könnte, aber sie fragte mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ich meine Hand, ohne weiter darüber nachzudenken, mit der offenen Handfläche nach oben in ihre legte. So schnell, dass mir keine Zeit zum Protestieren blieb, piekte sie eine Nadel in meine rechte Zeigefingerspitze und drückte eine winzige rote Blutperle aus der Einstichwunde.
»Aua!«, rief ich. »Scheiße, was soll das?«
Als ich versuchte, meine Hand wegzuziehen, bemerkte ich, wie eisern ihr Griff geworden war.
»Nur einen Moment noch«, sagte sie ganz ruhig. »Es gibt keinen Grund zur Besorgnis.« Sie tupfte das Blut mit einem dünnen Papierstreifen weg, den sie anschließend zwischen uns auf den Tisch legte. Dann ließ sie meine Hand wieder los und ich beobachtete, wie sich das Blut auf dem Papier ausbreitete. »Hast du schon mal von der hyrkanischen Blutlinie gehört?«, fragte sie.
»Ähm, haben Sie schon mal davon gehört, dass man fragt, bevor man jemanden mit einem spitzen Gegenstand piekt? Was sollte das?«
»Die Nadel war steril«, antwortete sie. »Versprochen.« Sie hob den Teststreifen ans Licht. Ganz sicher war ich zwar nicht, aber es wirkte so, als würde an den Stellen, die mit meinem Blut getränkt waren, eine Art Muster zum Vorschein kommen. Die Frau lächelte vor sich hin. Es war ein erleichtertes, zufriedenes Lächeln. »Tut mir leid, aber es musste sein«, fuhr sie fort. »Wird nie wieder vorkommen. Also, was die hyrkanische Blutlinie betrifft – schon mal davon gehört?«
Nein, der Begriff »hyrkanische Blutlinie« war mir neu.
»Dann ist wohl davon auszugehen, dass du gar nichts weißt«, sagte die Frau. »Entsprechend wird dich das, was ich dir gleich erzählen werde, ziemlich überraschen.«
Sie öffnete ihre Tasche und holte einen braunen Umschlag heraus, den sie mir über die Tischfläche hinschob.
»Du musst nach England fliegen«, fuhr sie fort. »Und zwar heute noch.«
»Wie bitte?«, erwiderte ich.
»Es ist bereits alles bezahlt und gebucht. Es gab nur noch Tickets für die erste Klasse, aber ich dachte mir, das wird dir wohl kaum etwas ausmachen.«
»Soll das ein Witz sein?« Die Frau sah allerdings nicht so aus, als würde sie scherzen. »Wer sind Sie? Und was ist diese hyrkanische Blutlinie?«
Sie ging nicht weiter auf meine Fragen ein. »Ein Mann namens Simon Stoddard wird dich am Flughafen abholen und mit dir zu einem Anwesen in den Midlands fahren. So weit alles verstanden?«
»Klar«, antwortete ich. »Ich fliege ans andere Ende der Welt, wo mich irgendein Typ, den ich nicht kenne, an einen Ort bringt, von dem ich noch nie gehört habe. Und dann?«
»Dann wird man dich zu einem Tier bringen«, erklärte sie. »Es ist krank. Und es braucht deine Hilfe.«
»Aber Sie wissen schon, dass ich keine Tierärztin bin, oder? Ich bin fünfzehn.«
»Natürlich weiß ich das. Aber es handelt sich auch um kein gewöhnliches Tier. Es geht um einen Greif.«
»Einen Greif?« Ich musterte sie und achtete auf ein Anzeichen dafür, dass es sich um einen besonders ausgeklügelten Scherz handelte. Aber sie bedachte mich nur weiter mit diesem kaum merklichen Lächeln, das an ihrem Gesicht festgetackert zu sein schien. Irgendwann griff ich nach dem Umschlag und öffnete ihn. Wie versprochen enthielt er ein Flugticket erster Klasse – und ein Bündel englischer Banknoten in Bonbonfarben.
Beides wirkte ausgesprochen echt.
»Ein Greif«, wiederholte ich. »Was soll ich denn bitte mit einem Greif anstellen?«
»Ihn kennenlernen. Ihn untersuchen. Eine Empfehlung abgeben«, erwiderte sie. »Das ist alles. Dann fliegst du zurück.«
»Eine Empfehlung?«
»Wenn du dort bist, wirst du alles verstehen.«
»Wer sind Sie?«, fragte ich noch einmal. »Was soll das alles?«
Sie nahm die Brille ab, klappte sie zusammen und legte sie auf den Tisch.
»Das«, sagte sie, »ist die Arbeit.«
»Warum sollte ich Ihnen glauben? Warum sollte ich irgendwas von alldem glauben?«
»Weil ich dir vielleicht dabei helfen kann herauszufinden, wer deinen Dad ermordet hat. Aber dafür musst du mir vertrauen.« Ihr Gesichtsausdruck, der eben noch amüsiert gewirkt hatte, wurde auf einmal ernst. »Ich weiß nicht, wer es war«, beantwortete sie mir die Frage, die ich gar nicht laut gestellt hatte. »Aber ich möchte es gern herausfinden. Ich möchte dir helfen. Wir möchten dir helfen.«
»Und wer ist wir?«
Sie setzte sich auf und legte die Hände auf den Tisch. »Hat er jemals Ithaca erwähnt?«
»Ithaca?«
»Ich weiß, du hast es gerade schwer. Und ich weiß, dass du viele Fragen hast. Aber im Augenblick ist es besser so. Wenn du zurück bist, können wir uns länger unterhalten.«
»Wer hat denn gesagt, dass ich überhaupt fahre? Ich muss mich um die Praxis kümmern. Und ich muss zur Schule.«
»Natürlich musst du das«, entgegnete sie. Und damit erhob sie sich zum Gehen, was vermutlich dramatisch gewirkt hätte, wäre es hier drinnen nicht so eng gewesen. Sie nickte in Richtung Umschlag, dessen Inhalt ausgebreitet vor mir auf dem Tisch lag. »Behalte das, nur für den Fall, dass du es dir doch noch anders überlegst.«
Dann drehte sie sich um und verließ den Raum. Theoretisch musste ich mich wirklich um die Praxis kümmern. Andererseits war ich ziemlich sicher, dass wir den Laden innerhalb der nächsten Monate sowieso dichtmachen mussten. Wenn ich mir die Zahlen ansah, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie wir je über die Runden gekommen waren. Selbst Dominic, der sich seit mindestens zwei Jahren mit unverbesserlichem Optimismus um den Papierkram kümmerte, erinnerte mich zunehmend an einen alten Hund aus dem Tierheim, der jede Hoffnung auf ein neues Zuhause aufgegeben hatte.
Und die Schule? Tja. Seit Dads Tod war ich nicht mehr hingegangen. Und ich freute mich auch nicht sonderlich auf meine Rückkehr. Ich konnte es nicht brauchen, von der gesamten Klasse angestarrt zu werden, während alle überlegten, was man zu dem Mädchen mit dem ermordeten Vater am besten sagte.
Trotzdem schob ich die Sachen, die die Frau zurückgelassen hatte, zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag. Es fiel mir leichter, vernünftig zu bleiben, solange ich nicht einen Haufen Geld und ein Flugticket erster Klasse vor mir hatte. Ich stand auf und kehrte in die Lobby zurück.
An der Wand hing ein Foto von meinem Dad. Dr.Paulson hatte es nach seinem Tod dort aufgehängt. Vorher hatte sie gefragt, ob das für mich in Ordnung sei. Es war dasselbe Bild, das er überall verwendete – auf seiner Webseite und in den ganzen Broschüren, die die Pharmakonzerne kostenlos für uns druckten. Ich hatte es schon hundertmal gesehen. Er trug seinen weißen Kittel, darunter ein hellblaues Hemd. Sein Gesicht war lang und dünn und hatte das helle, warme Braun von Kastanienholz. Sein Ausdruck war ernst, er schaute wie die Leute auf den ganz alten Fotos, die noch nie vorher fotografiert worden waren – die Augenbrauen zusammengezogen, der Mund zu einer strengen Linie verzogen, das dichte schwarze Haar aus dem Gesicht gekämmt, der Blick aus seinen dunklen Augen finster, aber weich umrahmt von langen, zarten Wimpern. Jamsheed Dastani – ein gebildeter, kluger Mann. Ein Mann des Mitgefühls. Ein Mann, in dessen kundige Hände man guten Gewissens sein Haustier legen konnte.
Die Illusion war ziemlich überzeugend. Aber wenn man genauer hinsah, merkte man, dass seine Augen nicht ins Bild passten. Sein Blick wirkte schwer und gehetzt. Es waren die Augen einer verlorenen Seele. Das Geheimnis hinter dem Bild – ein Geheimnis, das man nur ergründen konnte, wenn man das Foto so wie ich Hunderte Male ganz genau betrachtet hatte – bestand darin, dass er nicht wirklich in die Kamera sah. Sein Gesicht hatte zwar den richtigen Winkel und die Blickrichtung stimmte beinahe exakt, sodass man fast nicht anders konnte, als ihm auf den Leim zu gehen. Aber in Wahrheit sah er auf einen Punkt in weiter Ferne und sein Blick war so traurig, wie er es immer zu Dads Lebzeiten gewesen war.
Ich betrachtete das Foto. Es forderte meine Aufmerksamkeit, als hätte es sich gerade geräuspert. Als hätte es mir etwas zu sagen. Doch natürlich blieb es stumm. Mein Dad blickte aus dem Rahmen auf Dinge, die in weiter Ferne lagen. Dinge, über die er nie gesprochen hatte.
Mir war klar, wie unglaublich leichtsinnig es wäre, in ein Flugzeug ans andere Ende der Welt zu steigen, um dort weiter zu einem geheimnisvollen Ort zu reisen und eine Kreatur, die gar nicht existierte, medizinisch zu versorgen, wofür ich gar nicht qualifiziert war. Kein vernünftig denkender Mensch hätte sich auf etwas dermaßen Gefährliches und Dummes eingelassen.
Ich sah Dads Foto so lange an, bis ich es nicht mehr aushielt. Das hier war alles seine Schuld. Die Praxis, die letztlich nichts weiter war als reine Zeit- und Geldverschwendung und die jetzt offiziell mein Problem war: seine Schuld. Die fremde Frau und ihr abwegiger Auftrag: seine Schuld. Die Tatsache, dass ich trotzdem in Erwägung zog, ihn anzunehmen: seine Schuld.
Dass er eines Nachmittags in seinem eigenen Haus von irgendjemandem ermordet worden war: seine Schuld.
Ich kehrte zu Untersuchungsraum 1 zurück, wo Dr.Paulson gerade mit einem Patienten beschäftigt war. Nachdem ich leise geklopft hatte, öffnete ich die Tür einen Spaltbreit.
»Was gibt’s?«, fragte Dr.Paulson.
Ich hatte sie immer schon gemocht. Sie war direkt, aber trotzdem mitfühlend. Sie war unsere Vogelspezialistin, und obwohl sie alle Tiere liebte, schlug ihr Herz vor allem für diejenigen mit Federn. Sie besaß ein Paar Unzertrennliche – kleine afrikanische Papageien mit starker Paarbindung –, die sie Tristan und Isolde genannt hatte, dazu einen Graupapagei, der jedes Mal, wenn sie ihn mit ins Büro brachte, mit manischer Begeisterung T.S.Eliot und Emily Dickinson zitierte. Auf ihrem Schreibtisch lag stets ein Handbuch über Vögel und an den Wänden hingen zwei gerahmte Drucke aus Audubon’s Birds of North America. Manchmal erinnerte sie mich sogar selbst an einen Vogel – an einen von den geduldigen, ruhigen und zielgerichteten. Einen Reiher vielleicht. Sie war groß und schmal und ernst, aber daran lag es nicht. Es war eher ihre Ruhe, die etwas von den Jagdvogelarten hatte, die zu vollkommener Reglosigkeit erstarren und eins mit ihrer Umgebung werden können, während sie ihrer Beute auflauern. Genau so erschien sie mir in diesem Moment. In Habachtstellung, auf der Suche nach Informationen.
»Ich glaube, ich gehe jetzt besser nach Hause, Dr.P«, sagte ich.
Das war die Lösung: Ich würde heimgehen und mir alles noch mal gründlich durch den Kopf gehen lassen. Und dabei würde ich zu dem eindeutigen Schluss kommen, dass es vollkommen unverantwortlich und leichtsinnig wäre, in ein Flugzeug nach England zu steigen, ohne eine Ahnung zu haben, was mich dort erwartete.
»Ich bin mir sicher, dass wir ohne dich zurechtkommen«, antwortete Dr.P. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Klar«, log ich. »Alles bestens. Ich muss mich nur ein bisschen ausruhen.«
Und aufhören, darüber zu fantasieren, wie ich einmal um die halbe Welt fliege.
»Du solltest gut auf dich aufpassen«, sagte Dr.Paulson.
»Oh, und es kann sein, dass ich mir ein paar Tage freinehme.«
Halt, Moment mal! Hatte ich das gerade wirklich gesagt?
»Natürlich«, sagte sie. »Wenn es dir hilft.«
»Danke, Dr.P.«
Vermutlich hatte ich ein seltsames Gesicht gezogen. Jedenfalls kam mir schon die Vorstellung, ein normales Gesicht zu machen, unendlich mühselig vor.
»Marjan?«, hakte sie nach. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Ja, ehrlich«, antwortete ich. »Mir geht’s gut.« Auch wenn ich selbst merkte, dass ich nicht so klang.
»Falls du jemals reden willst, weißt du ja, wo du mich findest.«
Es wirkte eher so, als würde sie reden wollen, was dazu führte, dass ich noch viel weniger reden wollte. Das Letzte, was ich gerade hören wollte, war, wie jemand anders den Tod meines Vaters verarbeitete.
»Danke«, antwortete ich. »Aber ich habe keinen Redebedarf.«
Ehe sie noch mehr sagen konnte, verließ ich das Behandlungszimmer und machte die Tür hinter mir zu. Vor Dads Foto blieb ich noch einmal stehen und versuchte, mich so davorzustellen, dass er mir wirklich in die Augen sah. Aber egal, wie ich meinen Kopf neigte und drehte, er schaute immer haarscharf an mir vorbei.
»Falls ich sterbe«, sagte ich zu dem Bild, »ist das allein deine Schuld.«
Ich ging wirklich nach Hause. Der Teil war also nicht gelogen gewesen.
Zu Hause, das war ein fünfzig Jahre altes, gipsverputztes Haus in einem Wohngebiet im Norden von Berkeley. Von der Straße aus gesehen, bestand es aus einer schmucklosen grauen Wand mit zwei Fenstern, einer betonierten Veranda und einer Tür unter einer Straßenlaterne, die an einem Telefonmasten hing, und einem Ahorn, der aus einem viereckigen Loch im Gehweg wuchs. In der Einfahrt stand Dads Honda Civic. Unten an den Scheibenwischern hatte sich trockenes Laub gesammelt. Seit seinem Tod war der Wagen nicht mehr benutzt worden.
Ich trug gerade mein Fahrrad die paar Stufen auf die Veranda hoch, da hörte ich hinter mir jemanden meinen Namen sagen.
»Marjan, wie geht’s dir, Schatz?«, fragte eine warme Stimme in fürsorglichem Ton. Sie gehörte meiner Nachbarin Francesca Wix, die die Vormundschaft für mich übernommen hatte. Sie war eine wuselige Frau, die zusammen mit einer wechselnden Belegschaft aus Pflegehunden, die mein Vater kostenlos behandelt hatte, und einer beeindruckenden Sammlung an Liebesromanen in einem kleinen, alten Haus wohnte, das sie von ihrem Großvater geerbt hatte. Hinter ihrem Haus befand sich ein Garten, in dem das ganze Jahr über Obst und Gemüse wuchsen. Sie war knapp zehn Zentimeter kleiner als ich, aber ihre kräftige Stimme – gestählt durch Jahre des gewaltlosen Protests –, machte den Größenunterschied mehr als wett. Sie trug leuchtend bunte, ausladende Ponchos mit afrikanischen Webmustern und eine riesige runde Brille, durch die ihre Augen aussahen, als würden sie ihr jeden Moment aus dem Kopf ploppen. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, Protestschilder zu malen oder am Telefon Wahlwerbung zu betreiben, arbeitete sie in einer anarchistischen Buchhandlung. Ich war noch nie dort gewesen, fragte mich aber, ob sie wohl eine Abteilung für Liebesromane hatten.
Sie hatte die Vormundschaft für mich freiwillig übernommen. Einerseits weil sie das Gefühl hatte, meinem Dad wegen der jahrelangen kostenlosen Betreuung ihrer Tiere etwas schuldig zu sein. Aber auch, weil sie einfach zu dem Schlag Leute zählte, die sich freiwillig für Dinge melden.
An dem Tag, an dem die Zusage vom Gericht gekommen war, hatte sie uns Empanadas und mexikanische Coca-Cola besorgt und mir ihre Regeln erklärt.
»Trauer ist was Merkwürdiges«, hatte sie gesagt. »Solange es dir hilft, tu, was du nicht lassen kannst. Du brauchst mir nichts davon zu erzählen und mich auch nicht um Erlaubnis bitten. Aber«, an dieser Stelle hatte sie eine Pause gemacht, um sich einen Krümel von der Wange zu wischen, und schlug einen ernsteren Ton an, »keine Drogen.«
Meistens war sie zu sehr mit ihren Hunden, ihren Pflanzen und ihrer Anarchie beschäftigt, um mich großartig zu bevormundschaften. Aber sie hatte unterzeichnet, was zu unterzeichnen war, und stellte mir hin und wieder etwas zu essen auf die Türschwelle. Davon abgesehen hielt sie sich aus meinem Leben raus und beschränkte sich darauf, jedes Mal, wenn wir uns über den Weg liefen, nachzufragen, ob ich zurechtkomme. Und mich daran zu erinnern, keine Drogen zu nehmen.
»Mir geht’s gut«, versicherte ich ihr.
»Du bist früh zu Hause«, sagte sie und schob sich die Brille hoch, sodass sie auf ihrem kurz geschorenen Afro saß.
»Ich bin müde.« Genau, das war alles. Ich war einfach nur müde. Und ganz sicher nicht drauf und dran, etwas extrem Dämliches zu tun.
»Brauchst du irgendwas?«
Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Es gab zwar vieles, was ich brauchte, aber nichts, was mir Francesca Wix geben konnte.
Winkend und mit einem gezwungenen Lächeln ließ ich sie am Fuß der Treppe stehen und trug mein Fahrrad ins Haus.
Drinnen war es genauso trostlos, wie es das Haus von außen vermuten ließ: eine kleine Küche mit einem in die Jahre gekommenen Elektroherd und einem laut brummenden Kühlschrank, der vermutlich einen Verstoß gegen das Übereinkommen von Paris darstellte. Ein Wohnzimmer, in dem so gut wie nie gewohnt wurde. Und ein dunkler erster Stock mit zwei Schlafzimmern, einem Bad und einem Gästezimmer, das mit Kartons voller Sachen zugestellt war, die wir nie benutzt hatten.
Ich bin nur ein ganz gewöhnliches Mädchen, das heute ein bisschen früher nach Hause gekommen ist als sonst. Die Tatsache, dass ich meinen Rucksack komplett ausräumte, um ihn anschließend wieder neu zu packen – mit Kleidung, Waschsachen, meinem Pass (bislang unbenutzt) –, hatte nichts zu bedeuten. Ehrlich, hier gibt’s nichts zu sehen.
Sie hatten Dad in seinem Schlafzimmer gefunden. Jemand hatte den Notruf gewählt und dann aufgelegt. Die Haustür hatte offen gestanden.
Am ersten Tag war das ganze Haus mit Absperrband versiegelt gewesen. Die Polizei war ein und aus gegangen, hatte Beweismittel gesucht und gesichert. Dann hatten sie ihre Sachen gepackt, mir eine Liste der Gegenstände, die sie mitnahmen, in die Hand gedrückt und die Tür zu Dads Schlafzimmer geschlossen. Anschließend waren sie verschwunden.
Seitdem hatte ich die Tür nicht mehr geöffnet.
Nun blieb ich vor ihr stehen. Sie erinnerte mich daran, wie mein Dad zu seinen Lebzeiten gewesen war: verschlossen, still. Voller düsterer und vermutlich unschöner Geheimnisse, um die ich bislang einen Bogen hatte machen können.
Am liebsten hätte ich sie nie wieder geöffnet.
Und gleichzeitig hätte ich sie am liebsten eingetreten.
In meinen Ohren rauschte das Blut und mein Herz hämmerte. Meine Füße brannten darauf, sich zu bewegen. Mein ganzer Körper schien unter Strom zu stehen, vibrierte vor unbeantworteten Fragen und ungestilltem Hunger. Ich hatte meinen Rucksack in der einen Hand und das Flugticket in der anderen. Was machte ich hier eigentlich?
Die folgenden Stunden zogen an mir vorbei wie ein Film.
Von der Autofahrt zum Flughafen, die ich in stummer Fassungslosigkeit darüber, wie es so weit hatte kommen können, hinten in einem Mini-Shuttle verbrachte, bis hin zu der Tatsache, dass es sich bei dem Stückchen Papier in meiner Hand tatsächlich um ein Flugticket handelte – und dann auch noch für die erste Klasse. Die Ereignisse zogen mich tiefer und tiefer in eine Art Fiebertraum, der wie in Zeitlupe ablief. Bis ich schließlich im Flugzeug saß und zusah, wie sich die Türen schlossen und die Welt, die ich zu kennen glaubte, unter dem Fenster davonzog.
Ich hatte keine Ahnung, wohin ich unterwegs war und was man dort von mir erwartete. Wusste nicht, wie ich mich vorbereiten sollte. Ob Vorbereitungen überhaupt etwas gebracht hätten. Auf einmal wünschte ich, während meines Gesprächs mit der mysteriösen Frau mehr Fragen gestellt zu haben. Oder meine Fragen beharrlicher wiederholt zu haben, bis sie mir Antworten darauf gab. Ein Greif? Hatte sie das wirklich gesagt? Oder hatte ich mich verhört? Und weshalb überhaupt ich? Von welchem Nutzen konnte ich schon sein? Und dann auch noch für einen Greif?
Und für jede Frage, die ich ihr gern gestellt hätte, gab es hundert, die ich meinem Dad hätte stellen wollen. Sie summten und wisperten in meinen Ohren, meinem Kopf, meinem Herzen, Tag für Tag, rund um die Uhr. Sie machten mich wütend und die Wut machte mich müde. Wenn ich nicht zumindest versuchte, Antworten zu finden, würden sie vermutlich bis ans Ende meiner Tage weitersummen und -wispern. Was bedeutete, dass ich vermutlich bis ans Ende meiner Tage wütend bleiben würde.
Irgendwo über der Hudson Bay siegte die Müdigkeit über die Wut und die Seltsamkeit der Gesamtsituation und ich schlief ein. Ich träumte von einer Geschichte, die mir mein Dad erzählt hatte, als ich noch klein war.
KAPITEL 3
DIE FEDERDES SHIRDALS
Es war einmal und war auch nicht ein junger Nomade, der zu der Jahreszeit, in der das Gras stirbt und der Wind über die Ebenen fegt, in den weiten Steppen des alten Skythiens ein seltsames und bemitleidenswertes Geschöpf fand, das sich unter einem Felsvorsprung zusammengerollt hatte.
Das kleine Lebewesen ähnelte keinem anderen, das der junge Mann je gesehen hatte. Es hatte dunkles Fell und den Leib einer Katze, aber Schnabel, Klauen und Schwingen eines Raubvogels. Es war geschwächt und zitterte vor Kälte. Durch sein Fell waren die Rippen zu erkennen. Hätte der junge Mann es nicht gefunden – es wäre sicherlich gestorben. Aber er nahm es mit sich, wickelte es in eine Decke und trug es zu seinem Lager, wo er es am wärmenden Feuer niederlegte.
Der junge Mann entstammte einem armen Nomadenstamm, der eine kleine Schafherde hielt. Aus der Wolle webten sie Teppiche, die sie weiter im Süden bei den großen Handelskarawanen gegen andere Güter eintauschten. Sie waren der Gnade der Wölfe und des Wetters ausgeliefert und sonderlich gnädig waren weder die einen noch das andere. Ihr Leben war hart und niemals hatten sie von irgendetwas genug. Sie konnten es sich kaum leisten, ein weiteres Maul zu stopfen. Und so kam es, dass die Stammesältesten dem jungen Mann befahlen, die Kreatur wieder auszusetzen, die er an ihr warmes Feuer gebracht hatte.
Doch der junge Mann hörte nicht auf sie, sondern fütterte das Geschöpf mit seinem eigenen Anteil am Essen und gab ihm einen Schlafplatz im Zelt seiner Familie.
In dieser Nacht schlief die Kreatur mit vollem Bauch auf einem Teppich aus warmer Wolle. Am nächsten Tag befahlen die Ältesten dem jungen Mann erneut, das Geschöpf auszusetzen. Und wieder reagierte er, indem er sein Essen mit dem Wesen teilte und ihm ein Bett auf dem Teppich in seinem Zelt bereitete.
Am dritten Tag war das Geschöpf stark genug, um seine Flügel auszubreiten und zu fliegen. Der junge Mann war schwach vor Hunger und hatte nicht die Kraft, es aufzuhalten. Und so schwang es sich in den Himmel hinauf und verschwand. Zurück blieb nur eine einzelne Feder.
Tag für Tag suchte der junge Mann den Himmel nach einer Spur der Kreatur ab und Tag für Tag sah er seine Hoffnungen enttäuscht. Schon bald nahte der Winter, der Boden gefror und es wurde Zeit für den Stamm, in die wärmeren Lande im Süden zu ziehen. Der junge Mann trauerte, denn er war sicher, das kleine Geschöpf niemals wiederzusehen.
Der Winter war hart in jenem Jahr. Es kamen weniger Handelskarawanen als üblich vorbei und manchmal vergingen Wochen, bis die nächste kam. Die Tauschgeschäfte mit den Teppichen brachten dem Stamm nicht genug ein und in den Flüssen floss nur wenig Wasser. Für die Schafe gab es kaum etwas zu fressen und für die Stammesmitglieder kaum etwas zu essen.
Doch eines Tages sah der junge Mann eine vertraute Gestalt über den Himmel segeln und folgte ihr. Sie führte ihn zu einer plätschernden Quelle, die inmitten einer geschützten grünen Oase lag. Und so kam es, dass der junge Mann und sein Stamm den restlichen Winter über genügend Wasser und die Schafe genügend Gras und Büsche hatten, um sich satt zu fressen. Auch wenn der Tauschhandel weiterhin nur schleppend voranging, mangelte es ihnen an nichts.
Als der Frühling kam, zog der Stamm zurück in die Steppen auf den Hochebenen im Norden. Ihre Herde fraß sich an dem saftigen Gras, das in jenem Jahr wuchs, fett und rund. Da schlugen eines Nachts die Wölfe zu und rissen zehn Schafe.
In der darauffolgenden Nacht wachten die Männer und Jungen des Stammes besonders achtsam über die Herde. Keine Wölfe kamen. Aber inmitten der Nacht hörten sie ein schreckliches Geräusch durch die Dunkelheit hallen. Am Morgen entdeckten sie fünf Wölfe, die zerfleischt worden waren. Fortan ließen die Wölfe ihre Herde in Frieden.
Als sich ihr Sommer im Norden seinem Ende zuneigte, gingen dem Stamm die Vorräte aus. Und nachdem sie so viele Schafe an die Wölfe verloren hatten, konnten sie es sich nicht mehr leisten, ein weiteres von ihnen zu schlachten. Sie stellten zwar Fallen für Hasen und Federwild auf, doch diese blieben leer. Verzweifelt schickte der Stamm seine Jäger in die Steppen hinaus, doch Tag für Tag kehrten sie mit leeren Händen zurück.
Die Stammesmitglieder begannen, die Reise nach Süden zu fürchten. Ohne Vorräte würden sicherlich einige von ihnen auf dem Weg verhungern. Doch wenn sie blieben, wo sie waren, erwartete sie ein bitterkalter Winter. Ihnen blieb keine Wahl: Sie mussten den Versuch wagen, in den Süden zu ziehen.
Am Abend vor ihrem Aufbruch vernahmen sie erschrocken das Flattern gewaltiger Flügel über ihnen.
Es bestand kein Zweifel, dass es sich bei der Kreatur, die aus dem Himmel zu ihnen herabflog, um einen Greif handelte – einen Shirdal, wie die alten Perser ihn nannten. In jeder Klaue hielt er eine frisch erlegte Antilope. Der Greif landete inmitten des Nomadenlagers und legte seine Geschenke vor den Füßen des jungen Mannes ab, der ihn einst gerettet hatte.
Die Nomaden überlebten jenen Winter und noch viele weitere danach. Der junge Mann wurde zu ihrem Stammesoberhaupt, und obgleich ihr Leben auch unter seiner Führung längst nicht leicht war, erschien es vielen doch etwas weniger hart. Als er viele Winter später sein Amt an seine Nachfolgerin weitergab, überreichte er ihr auch die Feder des Shirdals. Und auch sie gab die Feder eines Tages an das nächste Oberhaupt weiter und dieses wiederum an das nächste. Bis niemand mehr mit Bestimmtheit sagen konnte, ob es sich um eine Adlerfeder handelte oder um eine Geierfeder oder womöglich um eine Shirdalfeder. Niemand wusste mehr, ob die Geschichte über den jungen Mann wahr war oder nur ein Märchen, das man sich in langen Nächten am Lagerfeuer erzählte. Eins aber war den Stammesmitgliedern gewiss: dass es Dinge gab, die wahr und gleichzeitig nicht wahr sein können, und dass eine Geschichte ein Faden ist, der mit der Welt verwoben werden kann, bis sie so fest wird wie ein Teppich unter unseren Füßen. Und so hüteten sie die Feder und die Geschichte, die mit ihr einherging, und reichten beides von Generation zu Generation weiter.
Und irgendwo am Rand all der Teppiche, die sie webten, verborgen in den Mustern und unsichtbar für jeden, der nicht ganz genau hinsah, fand sich stets ein Bild des Shirdals.
KAPITEL 4
KIPLING
An einem nebligen grauen Morgen landeten wir unter einer niedrigen, platten Wolkendecke am Flughafen London Heathrow. Die Septemberluft war kühl und ich schlug meinen Jackenkragen hoch.
Zitternd ging ich zur Passkontrolle, wo mir der Grenzbeamte trotz meines unsicher gestammelten Erklärungsversuchs für meinen Aufenthalt (Familienfreunde, Nachname »Griffon«) einen Stempel in den Pass drückte.
Der Ankunftsbereich war voller Menschen und alle hatten es eilig. Eilig, ihre Familien zu begrüßen, eilig, in ein Taxi zu steigen, eilig, einen Zug oder Bus zu erwischen. Es kam mir vor, als würde ich mitten in einem reißenden Fluss stehen, an der tiefsten Stelle. Mein Herz hämmerte los. Was machte ich hier eigentlich? Ich konnte doch unmöglich einen ganzen Ozean, einen kompletten Kontinent weit weg von allem sein, was mir vertraut war! Mir konnte hier sonst was zustoßen und niemand würde je davon erfahren. Ich konnte für immer verschwinden und niemand würde je auf die Idee kommen, hier nach mir zu suchen.
Ich sah mich zu der Tür zum Sicherheitsbereich um, die sich hinter mir schloss, und fragte mich, ob ich mich vielleicht besser noch durchquetschen sollte, zurück ins Flugzeug, zurück nach Hause.
»Du musst Marjan sein.«
Der Mann war ungefähr in Dads Alter. Er hatte ein zartes Gesicht, eine schlanke Statur, leuchtend blaue Augen und Haut, die aussah, als würde sie verbrennen, sobald sie mit einer stärkeren Lichtquelle als Kerzenschein in Kontakt kam. Sein Tweed-Jackett und die braune Stoffhose hätten vermutlich altmodisch gewirkt, wären sie nicht eindeutig maßgeschneidert gewesen.
Ich zögerte. Sollte ich lügen? Nein, keine Ahnung, von wem Sie reden. Sie müssen das falsche völlig überforderte Mädchen erwischt haben.
Aber obwohl ich mich einsam und allein fühlte und keinen Grund hatte, diesem Fremden über den Weg zu trauen, erkannte ich etwas in seinem Blick, das mir vertraut war: Besorgnis, die sich in den Furchen seines schmalen Gesichts gesammelt hatte. Dieselbe Art von Besorgnis, die ich auch an Dad jedes Mal beobachtet hatte, wenn er mich ansah, ehe er sich von mir verabschiedete. Und da wusste ich, dass ich diesem Mann vertrauen konnte. Er brauchte Hilfe und aus irgendeinem Grund glaubte er, sie von mir bekommen zu können.
Auf einmal fühlten sich die Wände des Schweigens, die mein Dad um sein Leben errichtet hatte, dünner an als je zuvor. Fast glaubte ich, hören zu können, wie sich die Geheimnisse, die er all die Jahre über gehütet hatte, einen Weg ans Tageslicht zu bahnen versuchten. Ich musste es endlich wissen. Ich musste herausfinden, was das alles zu bedeuten hatte.
»Ja, die bin ich«, antwortete ich.
»Mein Name ist Simon Stoddard«, sagte der Mann. »Es freut mich, dass du gekommen bist.«
Vor dem Ausgang wartete ein schwarzer Mercedes auf uns. Der Fahrer stieg aus und hielt uns die Tür auf.
Meine Instinkte warnten mich mit schrillenden Sirenen. Ein unbekanntes Auto, ein unbekannter Mann, ein unbekanntes Land und das alles wegen einer unbekannten Frau mit einem Umschlag voll Geld. Ich blieb so ruckartig stehen, dass Simon fast gegen mich geprallt wäre.
»Es tut mir leid«, sagte ich zu ihm. »Aber ich kenne Sie doch gar nicht. Und ihn auch nicht. Ich weiß nicht mal, wo wir hinfahren. Ich … ich …«
Simon wirkte so verlegen, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam. »Oh weh«, sagte er. »Was habe ich mir nur dabei gedacht? Das alles muss einen furchtbaren Eindruck auf dich machen. Wie wäre es, wenn wir lieber ein Taxi nehmen, das nachher auf dich wartet, bis du fertig bist? Würdest du dich damit wohler fühlen?«
Er bedeutete seinem Chauffeur wegzufahren und winkte ein schwarzes Taxi heran, ließ mich als Erstes einsteigen und nahm dann auf der Sitzbank gegenüber von mir Platz. Die Fahrerkabine war durch eine Scheibe von uns getrennt, aber es gab einen Knopf, den man drücken konnte, um per Lautsprecher mit dem Fahrer zu kommunizieren. Simon nannte eine Adresse und schaltete den Lautsprecher wieder aus, als wir losfuhren.
»Man hat dir wohl nicht viel erzählt«, bemerkte er in sanftem Ton, während wir eine schnurgerade Autobahn Richtung Norden entlangglitten. Draußen zog der Stadtrand von London an uns vorbei, während Simon anfing, mir eine Geschichte zu erzählen.
Der Greif war bereits seit dreihundert Jahren Teil seiner Familie. Ein Vorfahre von Simon namens Aloysius Stoddard, der auf einem Handelsschiff zur See gefahren war, hatte ihn aus einem verlassenen Nest nahe Aleppo, das damals noch Teil des Osmanischen Reichs gewesen war, gerettet, als er noch ein Junges gewesen war. »Er muss der Kleinste aus seinem Wurf gewesen und von der Mutter verlassen worden sein«, sagte Simon.
Von diesem Tag an hatte in der Familie Stoddard niemand mehr eine Kindheit ohne die sanfte Gegenwart des Greifs erlebt. Aloysius, ein Mann von bescheidener Herkunft, wurde vom englischen König persönlich zum Ritter geschlagen. Der Wohlstand der Familie vermehrte sich auf stete und achtbare Weise. Alle Nachfahren waren außerdem mit Schönheit, Intelligenz und Mitgefühl gesegnet.
Wir fuhren von der Autobahn ab und bogen in eine kleinere Straße ein, die zu beiden Seiten von grünen Hecken gesäumt war. Weiter weg konnte ich Schafe wie weiße Tupfen auf einer flachen Hügellandschaft erkennen. Steinmauern, die Jahrhunderte alt sein mussten, markierten die Grundstücksgrenzen. Etwas von der Straße versetzt, wachten Bauernhöfe und Herrenhäuser über die Landschaft. Pferde trabten auf schlammigen Koppeln herum.
Ob mein Dad Ähnliches erlebt hatte? Ob er in fremden Autos durch fremde Landschaften gefahren worden war? Während ich durch die Fenster die Welt vorbeiziehen sah, fühlte ich mich ihm einen Augenblick lang näher. Wäre er nicht gestorben, hätte er jetzt hier gesessen. Das Bild, wie mein Dad an meiner Stelle in diesem Taxi saß, ließ unerwartet meine Wut wieder aufflackern. Wäre er noch da gewesen, hätte ich jetzt allein zu Hause gesessen, mich von Erdnussbuttersandwiches ernährt und allen vorgespielt, dass es mir bestens ging.
Ich sah zu Simon hinüber, der den Blick ebenfalls nach draußen gerichtet hatte.
»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte ich.
»Durch eine uralte, aber bewährte Methode«, antwortete er. »Wenn Kipling krank ist, hissen wir eine besondere Flagge auf dem Haus.«
»Kipling ist der Greif?«
Simon nickte.
»Sie hissen also eine Flagge. Und was dann?«
Er sah mich an, als sollte das ein Witz sein.
»Na ja, und dann … kommt ihr«, sagte er. »Es werden ein paar Nachrichten weitergegeben, alles über Mittelsleute natürlich, keine Namen. Ich weiß nicht, wer das alles arrangiert. Und es interessiert mich auch nicht. Das Einzige, was mich interessiert, ist Kipling.«
»Ich weiß überhaupt nicht, was Sie von mir erwarten«, bemerkte ich.
»Kipling geht es nicht gut«, erwiderte Simon. »Mir ist bewusst, dass du noch unerfahren bist. Aber nach allem, was ich weiß, könnte es trotzdem gut sein, dass du ihm helfen kannst.« Er drückte auf den Knopf und sagte: »Hier bitte nach links.«
Wir bogen in eine noch schmalere Straße ein, über der die Kronen hoher Birken ein dichtes Blätterdach bildeten. Unter den Reifen knirschte Schotter.
»Hier beginnen unsere Ländereien«, erklärte Simon.
Die Straße wand sich um eine Kurve und führte weiter über eine Holzbrücke, die sich über einen plätschernden Bach spannte. Der Wald schien immer dichter zu werden. Farne und Brombeergestrüpp wucherten von der Uferböschung bis hinauf zwischen die schlanken Birkenstämme. Die Luft roch nach Herbst und Regen.
»Ist das alles Ihr Land?«
»Ja, wir besitzen hier an die zweihundert Morgen Waldgebiet«, sagte Simon. »Früher diente es der Fuchs- und Moorhuhnjagd. Aber heute jagen wir nicht mehr, mit Ausnahme von Kipling natürlich. Kipling tut, was ihm beliebt.«
Dann endete der Wald ganz plötzlich und gab den Blick auf ein gigantisches Herrenhaus aus rotbraunem Sandstein mit Giebeldach frei. Es war mit wildem Wein bewachsen und wurde zu einer Seite von sorgsam gepflegten Gärten und zur anderen von einem großen Teich mit Seerosen flankiert. Der Taxifahrer hielt vor dem Haupteingang, einer riesigen Holztür aus lackierter Eiche mit einem gewaltigen Messingklopfer in der Mitte. Wir stiegen aus.
»Hier … Hier wohnen Sie?«, fragte ich Simon. Der Nachmittag war noch immer grau und kühl und ich schauderte.
Simon lachte auf. »Mir geht es manchmal nicht anders. Meine Familie kann sich wirklich mehr als glücklich schätzen.«
Er ging die Treppe hoch, griff den Türknauf mit beiden Händen und drehte ihn. Mit einem dumpfen Laut glitt ein schwerer Riegel zurück. Er schwang die Tür auf und bedeutete mir einzutreten. Am Ende eines langen Gangs verströmte der Empfangssaal des Familiensitzes der Stoddards einen höhlenartigen, warmen Schimmer. Die Wände um mich herum waren mit Mahagoni vertäfelt und mit gemütlichen Wandlampen aus gelbem Milchglas geschmückt. Ein Paisley-Teppich mit einem Muster in Creme und Burgunderrot erstreckte sich über die gesamte Länge des gewaltigen Raums. Durch mehrere riesige Fenster auf einer Seite fiel schwaches Tageslicht herein. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Kamin aus grob gehauenem Stein, in dem ein loderndes Feuer knisterte und knackte. Darum herum hingen Familienporträts vergangener Generationen.
Und in der Mitte des Saals lag der Greif.
»Kipling?«, fragte Simon ins flackernde Dämmerlicht. »Sagst du unserem Gast Hallo?«
Kipling hatte seine gigantischen Flügel halb um seinen Körper gewickelt. Seine Hinterläufe, die er eng an den Brustkorb gezogen hatte, endeten in Wildkatzenpranken und sein Fell hatte die sandbraune Färbung eines Löwen. Seine Vorderläufe waren anmutige Klauen, die er überkreuzt hatte.
Als Simon näher kam, hob Kipling den Kopf kaum merklich vom Boden und klapperte einmal mit dem Schnabel. Dann rieb er sanft seinen gefiederten Kopf an Simons ausgestreckter Hand. Sein Katzenschwanz klopfte auf den Teppich. Simon kniete sich neben Kipling und flüsterte ihm etwas in sein Federkleid. Dann kraulte er dem Greif den Kopf und stand wieder auf.
»Marjan Dastani«, sagte er. »Darf ich vorstellen? Kipling.«
Einen Moment lang setzte mein Gehirn einfach aus. Ich hatte keine Angst, empfand keine Ehrfurcht – in mir herrschte nichts als Leere. Da war nur ein einziger Gedanke, mehr konnte mein Kopf nicht verarbeiten.
Greife existieren wirklich.
Langsam ordnete sich die Welt in meinem Kopf neu. Ich war immer noch Marjan Dastani. Ich ging immer noch auf die Highschool. Meine beiden besten Freundinnen hießen immer noch Carrie Finch und Grace Yee. Mein Dad war immer noch tot und ich befand mich immer noch in England. Alles blieb unverändert – bis auf die Tatsache, dass es Greife gab.
Und wie es aussah, war es meine Aufgabe, diesen hier zu untersuchen.
Kipling musterte mich argwöhnisch und breitete langsam die Flügel aus, bis sie den Raum beinahe von einem Ende bis zum anderen füllten. Mühsam erhob er sich und stemmte sich auf die Beine. Sein gefiederter Kopf mit dem Adlerschnabel war von einer beeindruckenden, löwenähnlichen Mähne umgeben, doch er ließ ihn hängen. Er suchte mit den Klauen Halt am Teppich, sodass sich seine Krallen tief in das verschlungene Muster gruben. Ob in dem Muster Shirdale versteckt sind?
Es waren Krallen, mit denen er mich mühelos hätte zerfetzen können. Ich war ihm wehrlos ausgeliefert, angewiesen auf sein Wohlwollen. Also tat ich, was mein Dad immer getan hatte, wenn er sich fremden Tieren näherte: Ich hielt Kipling meine leeren Hände hin, um zu zeigen, dass ich nichts zu verbergen hatte, und senkte den Blick, um Kipling zu verstehen zu geben, dass ich seine Dominanz anerkannte.
Es dauerte kurz, dann gab Kipling ein unbeeindrucktes Schnüffeln von sich. Danach schien er in sich zusammenzufallen. Er schloss die Augen, zog den Hals zurück und klappte die Flügel ein. Seine Brust dehnte sich und zog sich dann gemeinsam mit seinem restlichen Körper zu einer harten, festen Kugel zusammen, bis plötzlich ein würgender Hustenanfall aus ihm herausbrach, der den Tiefen seiner Lunge zu entspringen schien. Er flatterte hilflos mit den Schwingen, stieß gegen die hohe Decke und den Boden. Seine Brust hob und senkte sich heftig. Sein ganzer Körper wand sich bebend.
Als der Anfall vorüber war, zitterten Kipling die Beine. Er konnte sein Gewicht nicht länger halten und sank zurück auf den Boden, wo er erschöpft liegen blieb.
Auf einmal sah ich vor mir kein Geschöpf mehr, das es eigentlich nicht geben sollte, sondern ein Tier wie jedes andere. Ein Tier, wie wir es Tag für Tag in der Praxis behandelten. Ein Tier, das Hilfe brauchte.
Langsam, Schritt für Schritt, trat ich näher. Kipling beobachtete mich mit müdem, halbherzigem Interesse. Er verströmte den schuppigen Geruch von Sittichen, vermengt mit dem frischen Duft von Harz und Tannennadeln. Aber darunter war noch etwas Intensiveres, Kraftvolleres, das ich nicht richtig einordnen konnte.
Ich warf Simon einen Blick zu. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich kannte diesen Moment. Es war der, in dem von mir erwartet wurde, dass ich etwas sagte. Ich stellte mir vor, was mein Dad jetzt getan hätte. Wie er selbstsicher und gelassen kluge Dinge von sich gegeben oder zumindest kluge Fragen gestellt hätte.
Aber was sollte ich schon sagen? Ich hatte keine Ahnung von Greifen. Ich war nicht mein Dad. Ich war ja noch nicht mal Tierärztin! Ich hätte nie herkommen sollen.
Auch Kipling wirkte skeptisch. Er beobachtete mich mit gelangweilter Aussichtslosigkeit, die auch nicht abbrach, als er von einem erneuten, diesmal leichteren Hustenanfall geschüttelt wurde. Seine Zweifel an mir waren seltsam tröstlich. Simon hoffte auf Ergebnisse, auf Antworten. Aber Kipling hatte keinerlei Erwartungen an mich. Entsprechend konnte ich ihn auch nicht enttäuschen.
Aus der Nähe erkannte ich mehrere kahle Stellen in seinem Gefieder. Sein Fell wuchs ungleichmäßig dicht und erinnerte an einen alten Teppich. Seine Augen waren von einem Film überzogen und an den Rändern verkrustet. Ich streckte die Hand aus und strich ihm über das Gefieder am Hals bis zum Widerrist, wo es in Fell überging.
Anfangs war es kaum mehr als ein Prickeln in meinen Fingerspitzen, ungefähr so, als würde ich einen alten Fernsehbildschirm berühren. Doch dann breitete sich das Gefühl blitzartig in meinem gesamten Arm aus, füllte meine Brust und strahlte von dort aus in meinen restlichen Körper ab, bis ich nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Und es wurde stärker. Ein Rauschen füllte meine Ohren. Ich stand da wie angewurzelt, unfähig, mich zu rühren.
Dann platzte die Blase, und das Prickeln verschwand. An seine Stelle trat eine Vielzahl anderer Gefühle, die alle gleichzeitig auf mich einprasselten. Ich versuchte, sie zu entwirren.
Im Vordergrund spürte ich eine ungezähmte, sture Willenskraft, die sich anfühlte, als würde ich mich in einen starken Wind lehnen. Direkt dahinter eine melancholische Sehnsucht, die meinen Blick einen Moment lang zum Himmel hinter den Fenstern lenkte. Und dazu eine bittere, allgemeine Frustration, als hätte die Welt zu viele Ecken und Kanten und keinen ausreichend großen Raum.
Aber keins dieser Gefühle war so stark wie der Schmerz.
Er pulsierte in meiner Lunge, meinem Bauch, in jedem Schlag meines Herzens. Etwas Schweres legte sich um meine Rippen, wand sich um meine Wirbelsäule. Drückte zu. Ich schmeckte brennende Säure, fühlte mich krank. Ich war ohne Aussicht auf Hoffnung und zu schwach, um dagegen anzukämpfen. Jeder Sinneseindruck – jeder Laut, jeder Atemzug, jede Berührung – bedeutete Schmerz.
Ich zog meine Hand zurück und die Gefühle verpufften. Einen Moment lang glaubte ich, mich in einem hellen, engen Raum – zu hell, zu eng – zu befinden. Alles war still. Alles zerbrach um mich herum.
Dann fühlte ich plötzlich nichts mehr und die Welt kippte zur Seite.
Simon fing mich im Sturz auf und legte mich sachte auf dem Boden ab. Einen Moment später drückte mir jemand sanft ein Glas Wasser in die Hand. Aus einem Gewirr brauner Locken heraus musterte mich jemand, der viel jünger war als Simon, mit besorgten blauen Augen.
»Sebastian?«, fragte Simon irgendwo hinter mir. »Was machst du hier?« Die blauen Augen zuckten kurz hoch zu einem Punkt irgendwo über meiner Schulter, dann richteten sie sich wieder auf mich.
»Tante Chelsea meinte, er sei krank«, sagte der Junge namens Sebastian.
»Das war ja nicht anders zu erwarten«, seufzte Simon.
»Und? Hat sie recht?«
»Das versuchen wir gerade herauszufinden.«
»Wie geht es dir?«
Ich brauchte kurz, um zu begreifen, dass die Sebastian-Stimme jetzt mit mir redete. Ich wollte antworten, aber meine Kehle war wie ausgedörrt. So hastig, als wollte ich eine plötzlich entstandene Leere in mir füllen, trank ich das Glas leer und verschluckte mich prompt.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Sebastian. Danach wollte er noch etwas anderes sagen.
Doch das war der Moment, in dem ich das Bewusstsein verlor.
Eines Morgens hatten wir gestritten, Dad und ich. Er war gerade von irgendwo zurückgekehrt und seine Laune war im Keller gewesen. Ich schätze mal, die Reise war nicht gut verlaufen. Ich war dreizehn.
Alles fing damit an, dass die Waffeln aus dem Toaster noch kalt waren.
»Bäh«, sagte ich und schob den Teller weg.
»Dann mach sie in Zukunft doch einfach selbst«, antwortete Dad und nahm einen großen Schluck Kaffee aus seinem Becher. »Oder du kannst was von meinem Frühstück haben.«
Er saß vor einem Teller mit Feta, Radieschen und Fladenbrot. Ich gehe davon aus, dass er schon wusste, wie meine Antwort lauten würde.
»Igitt«, sagte ich. »Wer isst denn bitte Radieschen zum Frühstück?« Ich hätte es dabei belassen können, aber ich war wütend. »Warum machst du uns nie was Richtiges zu essen?«
»Das hier ist richtiges Essen«, entgegnete er. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das ist deine Kultur, Marjan.«
Meine Mom war zwar Amerikanerin gewesen, der iranischen Kultur aber mit deutlich mehr Enthusiasmus begegnet als Dad. Nach ihrem Tod hatte er kaum mehr davon gesprochen. Und wenn, dann fühlte es sich immer so an, als würde er eigentlich gar nicht mit mir darüber reden. Als wäre da noch ein zweites Gespräch, das nur in seinem Kopf stattfand. Ich glaube, er führte es seit dem Tag, an dem sie starb. Und ich glaube, er führte es ohne Unterlass. Nur dass er es normalerweise für sich behielt. Aber ganz selten mal rutschte ihm etwas heraus. Dann klang seine Stimme immer ein wenig anders und meine Brust zog sich jedes Mal schmerzhaft zusammen. Ein Gefühl, als wäre ich besser nicht da gewesen. Als hätte ich heimlich ein Erwachsenengespräch belauscht, bei dem es um Dinge ging, die ich lieber nicht gewusst hätte, die ich aber nie wieder vergessen konnte. Und das machte mich jedes Mal wieder wütend.
»Meine Kultur sind Waffeln«, sagte ich. »Getoastete Waffeln, keine kalten. Und das da …«, ich deutete mit dem Kopf auf sein Frühstück, »… ist doch noch nicht mal wirklich deine Kultur, Jim.«
Mein Dad reagierte nicht mit Wut. Er schrie nicht herum, verlor nicht die Beherrschung. Aber seine Stimme nahm diesen scharfen, kalten, hohlen Tonfall an und fühlte sich an wie eine Injektionsnadel, die auf der Suche nach einer geeigneten Vene in die Haut drang. Sie tat weh, diese Stimme, und gleichzeitig weckte sie mein Mitgefühl für ihn. Wenn er so war, kam es mir vor, als könnte ich mitten in ihn hineinsehen.
»Die Welt dreht sich nicht allein um dich, Marjan«, sagte er. Sein Englisch war perfekt, bis auf den leichten Akzent, der aus »allein« ein »ollein« und aus dem »sich« ein »sisch« machte. »Das Leben ist dir nichts schuldig. Und schon gar keine Erklärungen.«
Dann widmete er sich wieder seinem Kaffee und sagte kein Wort mehr. Ich toastete mir die Waffeln selbst, bis sie angekokelt waren. Sie schmeckten fürchterlich und ich war den ganzen Tag lang wütend.