Hidden Creatures (Band 2) - Der Vogel der tausend Geschichten - Kiyash Monsef - E-Book

Hidden Creatures (Band 2) - Der Vogel der tausend Geschichten E-Book

Кияш Монсеф

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Beschreibung

Es war einmal und war auch nicht... So begannen die Geschichten, die Marjans Vater ihr als kleines Mädchen erzählte - Fabeln über Greifen, Einhörner und Drachen. Aber Marjan ist kein kleines Mädchen mehr. Und fantastische Kreaturen gibt es nicht. Oder etwa doch? Marjan führt ein Doppelleben: Wenn sie nicht in der Schule ist, reist sie um die Welt und kümmert sich um mystische Fabelwesen. Und das alles im Auftrag einer zwielichtigen Organisation. Dieser traut Marjan zwar nicht über den Weg, aber um kranken Kreaturen zu helfen, ist sie auf deren Netzwerk angewiesen. Doch als sie auf die Spur eines mächtigen Wesens stößt, muss Marjan eine Entscheidung treffen: Denn sollte das Geschöpf in falsche Hände geraten, könnte sich alles verändern … Band 2 der atmosphärischen Fantasy mit Elementen aus der persischen Mythologie Hidden Creatures ist ein atmosphärisches Fantasy-Abenteuerab 12 Jahren, das von der ersten Seite in die verborgene Weltder Fabelwesen entführt. Der Autor Kiyash Monsef lässt Elemente der persischenMythologie lebendig werden. Protagonistin Marjan ist eine Identifikationsfigur für alle, die Mut aufbringen müssen, sich selbst zu finden. Durchgehend spannend erzählt und voller unvorhersehbarer Wendungen. Ein Highlight für Fantasy-Leser*innen und Fans von alten Märchen und Sagen! - Fantastische Fabelwesen: Mythologie und Folklore, die verzaubert. - Spannend und emotional: Eine Geschichte voller Spannung, die bis zur letzten Seite fesselt, und gleichzeitig berührend erzählt wird. - Atemberaubende Orte: Begleite Marjan auf eine Reise, die an faszinierende Orte entführt.

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Seitenzahl: 475

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Sibley

Für Tilden

Mögen eure Herzen stets voller Abenteuer und eure Abenteuer voller Herz sein

INHALT

Der Vogel der tausend Geschichten

Die andere Sache

Die große Familie und der winzige Drache

Is. Tan. Bul.

Das Lamm im Garten

Fremdkörper

Der Teppichhändler

Der Vogel der tausend Geschichten

Der Turteltäuberich und der Wind

Nichts ist einfach

Phalaropus

Shuck

Der schnelle Weg nach Hause

Meine Waisenmädchen

Andere Faktoren

Das geflügelte Pferd von Kaschan

Wunschlos

Das Feuer in der Wüste

Ein buntes Sträußchen Alkaloide

Alles Wasser der Welt

Hallo und auf Wiedersehen

Der alte Name des Bären

Kaputte Dinge

Der Vogel der tausend Geschichten

Centro

Wir sind wegen des Vogels da

Der Wald, der wiederkehrte

Boitatá

Bin ich sicher

Alles durcheinander

Eine unendliche Ellipse

Die Prinzessin im Schloss

Heilige Schätze

Der Vogel der tausend Geschichten

Dahinter, dazwischen

Schloss Komm-und-geh-Nimmermehr

Das Ding mit den Federn

Der Vogel der tausend Geschichten

Horaltisch

Der Vogel der tausend Geschichten

DER VOGELDERTAUSEND GESCHICHTEN

ES WAR EINMAL UND WAR AUCH NICHT.

In der alten Stadt Nischapur lebten einst zwei Waisenmädchen, die jeden Morgen die Spatzen fütterten, die nachts in den Wacholderbüschen, den Zwergmispeln und Mandelbäumen schliefen.

In jenen Tagen brachten Gold, Gewürze und Seide der Stadt Reichtum. Die Straßen waren breit und eben, die Marktplätze erfüllt von emsigem Leben und die Gärten blühten üppig und dufteten nach Jasmin und Granatapfel. Aber Armut trägt überall das gleiche Gesicht und die beiden Waisenmädchen aus unserer Geschichte waren so arm, wie man es nur sein kann. Sie lebten auf der Straße, arbeiteten für ein paar wenige Groschen und harte Brotkanten, und wenn man sie nicht vertrieb, schliefen sie in Gärten.

Die Spatzen waren die einzigen Freunde der Waisenmädchen. Denn niemand in dieser großen Stadt wollte die Bürde schultern, zwei Kinder mehr versorgen zu müssen. Und dann auch noch Mädchen. Die Spatzen aber waren dankbar für die Brotkrumen und Samenkörner, auf die die Mädchen verzichteten, um sie mit ihnen zu teilen. Und eines Tages erwiesen die Spatzen den Mädchen ihre Dankbarkeit, indem sie sie die Sprache der Vögel lehrten.

»Kinder«, sagten die Spatzen. »Wir danken euch für eure Gutherzigkeit. Und wir können nicht länger mitansehen, wie ihr leidet. Ihr müsst den Bolbol-de-Hezar-Dastan finden, den Vogel der tausend Geschichten. Er weiß alles, was es zu wissen gibt, und wird euch den Weg zu euren Familien weisen.«

Weder konnten sich die Mädchen an ihre wahren Familien erinnern, noch hatten sie je davon geträumt, diese zu finden. Sie kannten vom Leben nur das elende Waisenhaus, in dem sie einander begegnet waren, und den rauen Alltag der Straßen, auf denen sie nun lebten. Aber auch wenn sie es nicht zugaben und damals vielleicht noch nicht einmal richtig begriffen, rüttelte das Lied der Spatzen an etwas tief in ihrem Inneren und weckte in ihnen die heimliche Hoffnung, vielleicht doch nicht vollkommen allein auf dieser Welt zu sein.

Und so machten sich die beiden Waisenmädchen auf die Suche nach dem Vogel der tausend Geschichten. Sie waren voller Hoffnung und Zuversicht. Weil sie mutig waren und klug und weil sie die Sprache der Vögel beherrschten und weil ihr Leben nur besser werden konnte.

Nur eines hatten die Spatzen den Mädchen nicht erzählt: Der Vogel der tausend Geschichten wurde von einer Hexe gefangen gehalten und in dem weit entfernten Schloss Komm-und-geh-Nimmermehr von einem bösartigen Riesen bewacht.

Vielleicht wussten die Spatzen nichts von der Hexe und dem Riesen und dem Schloss Komm-und-geh-Nimmermehr. Aber vielleicht wussten sie doch davon und beschlossen, diese Einzelheiten für sich zu behalten.

Zu Beginn einer Reise, und ganz besonders dann, ist es manchmal besser, wenn man nichts von solchen Dingen weiß.

KAPITEL 1

DIEANDERE SACHE

Asche fiel vom Himmel.

Winzige schwebende Flocken, die von der schmutzig orangefarbenen Dunstwolke über der Stadt ausgespuckt wurden und sich lautlos auf die Straßen senkten, leiser als Federn, leichter als Schnee.

Feiner, blasser Staub setzte sich auf Windschutzscheiben, Laub und Wimpern ab. Drang in Nasen, Kehlen und Lungen.

Hundert Meilen vor Berkeley stand die Welt in Flammen. Grelle Blitze waren in trockene Bäume eingeschlagen, den Rest hatten Hitze und Wind erledigt. Jetzt brannte ein ganzer Wald und die Luft roch sauer und versengt. Und ich war auf dem Heimweg vom Baumarkt, wo ich im Auftrag meiner Freundin Malloryn mehrere Rollen blaues Malerband gekauft hatte, die sie für ihren Rauch-Abwehr-Zauber benötigte.

Als ich das Haus betrat, blinzelte ich mir die Asche aus den Wimpern und schüttelte sie mir aus dem Haar. Im Schein des Nachmittagslichts, das durch die offene Haustür fiel, schwebten die Partikel sachte auf den Boden. Hastig machte ich hinter mir zu, damit nicht mehr schlechte Luft eindrang als unbedingt nötig.

In der Küche lief Calypso-Musik und eine helle Mädchenstimme sang, untermalt von Geschirrklappern, hingebungsvoll mit.

»Was gibt’s denn heute?«, rief ich.

»Nudelsalat!«, antwortete Malloryn aus der Küche. »Grace hat mir getextet. Sie ist schon auf dem Weg. Und Carrie bringt sie auch mit.«

Ich betrat die Küche. Malloryn mit ihren hüpfenden blonden Locken und den großen schimmernden Augen vermischte in einer Schüssel kalte Nudeln mit händeweise frisch gehackter Paprika, Tiefkühlerbsen und weißen Bohnen aus der Dose. Zu ihren Füßen japste ihr Graufuchs Zorro mir zur Begrüßung zu. Seine Bernsteinaugen funkelten genauso wie Malloryns.

»Und die beiden verderben dir auch nicht deinen Zauber?«, fragte ich.

»Quatsch. Je mehr, desto besser«, sagte Malloryn. Sie gab ein paar Prisen Salz und einen großzügigen Schluck Olivenöl auf die Nudeln, rührte noch einmal um und probierte.

Ihre Locken tanzten, als sie Zorro eine Bohne anbot, der begeistert mit klickenden Pfötchen angetrabt kam und die Bohne verschlang. »Gütesiegel erteilt«, verkündete sie zufrieden. »Dann decke ich mal den Tisch.«

Malloryn war eine Hexe und sie war von zu Hause abgehauen (wobei sie selbst es lieber als »eine Pause« von ihrer Familie bezeichnete). Außerdem war sie meine Freundin und Mitbewohnerin. Sie lebte jetzt schon seit fast einem Jahr bei mir. Sie und Zorro, bei dem es sich um ihr Schutztier handelte, schliefen oben in dem Zimmer neben meinem. Während des Schuljahrs machten wir jeden Tag zusammen Hausaufgaben. Und manchmal retteten wir zusammen die Welt.

Jetzt waren Sommerferien und sie arbeitete in Vollzeit in dem Esoterikladen in Oakland, wo sie sonst immer nachmittags ausgeholfen hatte. Wenn sie nicht gerade dort war oder auf der Jagd nach Zutaten für ihre Zauber, dann war sie meistens in der Küche. Zum sechzehnten Geburtstag hatte sie mir einen Regenbogenkuchen mit fünf Schichten gebacken und mit pinkem Zuckerguss »Happy Birthday, Marjan« draufgeschrieben. Seit dem Tod meiner Mom war es das erste Mal gewesen, dass mir jemand einen Kuchen gebacken hatte. Ich war mindestens genauso überrascht über die Tränen in meinen Augen gewesen wie Malloryn. Vielleicht hatte der Kuchen deswegen so gut geschmeckt. Aber vielleicht war Malloryn auch einfach nur eine besonders gute Bäckerin.

Das Haus, in dem wir wohnten, hatte früher mal meinem Dad gehört. Jetzt war es meins. Ich war allerdings noch nicht ganz sicher, ob ich es wirklich behalten wollte. Es war auf eine stille, überwältigende Weise einsam hier. In jedem Winkel verbargen sich Erinnerungen. Der Boden knarrte. Alles war alt. Aber mir blieb kaum eine Wahl. Und neben der Schule und der anderen Sache, die Dad mir neben dem Haus hinterlassen hatte, blieb mir auch gar keine Zeit, mich nach einem neuen Zuhause umzusehen.

Und seit Malloryn da war, lebte es sich hier sowieso viel besser. Aus der Küche schwebten herrliche Gerüche durchs Haus und sie hörte Musik, die ohne jede Mühe gute Laune machte. Sie arbeitete an merkwürdigen kleinen Projekten, die den Einsatz von Kerzen, Meerglas und Kräutern erforderten und deren Sinn mir verborgen blieb. Am Ende schienen ihre Zauber zwar nie genau das zu bewirken, wozu sie gedacht waren, aber dafür verbreiteten sie Wärme und Gemütlichkeit in meinem merkwürdigen alten Haus.

Malloryn räumte den Nudelsalat in den Kühlschrank und machte sich daran, den Esszimmertisch zu decken. Ich holte mir ein sauberes Glas und füllte es mit Leitungswasser. Von der Luft draußen brannte mir die Kehle.

Viel besser war es hier drinnen allerdings auch nicht. Ich nahm einen Schluck, spülte den Aschegeschmack aus meinem Mund, spuckte aus und trank dann richtig.

Klopf, klopf, klopf-klopf

Ein Geräusch am Küchenfenster ließ mich zusammenfahren. Ein Rotkehlchen saß mit wichtigtuerisch aufgeplustertem Gefieder draußen auf dem Fensterbrett und pickte mit nervösen, abgehackten Bewegungen gegen die Scheibe.

Klopf, klopf, klopf-klopf

Sein schwarzes Knopfauge traf eine Sekunde lang meinen Blick. Der Vogel musterte mich so genau und bewusst, dass mir der Atem stockte.

»Mal?«, rief ich. »Komm mal her, das musst du dir ansehen.«

Das Rotkehlchen hielt meinen Blick noch kurz, dann sah es weg, als hätte es von jetzt auf gleich vergessen, was auch immer es mir so dringend hatte mitteilen wollen. Es breitete die Flügel aus und flog davon.

»Was gibt’s?«, fragte Malloryn, die mit einem Löffel in der Hand aus dem Wohnzimmer gekommen war.

»Da war ein Vogel«, sagte ich. »Er hat gegen das Fenster geklopft. Es kam mir so vor, als würde er mich direkt ansehen.«

Ich drückte das Gesicht an die Scheibe, um zu erkennen, wohin er flog, aber er war längst über den Dächern verschwunden.

»Wahrscheinlich will er nur raus aus dem Rauch«, mutmaßte Malloryn. »Die Wolken verwirren die Vögel. Ich hab gehört, dass manchmal ganze Schwärme vom Himmel fallen. Sie sterben einfach vor Erschöpfung, weil sie nicht mehr wissen, wo sie landen sollen.« Traurig sah sie zum Fenster, dann auf den Löffel in ihrer Hand, der sie daran erinnerte, dass einen Raum weiter noch eine unerledigte Aufgabe auf sie wartete.

Ich sah ihr nach, dann schaute ich noch einmal durchs Fenster. Aus Gründen, die ich selbst nicht ganz verstand, rechnete ein Teil von mir fest damit, dass dieser kleine Vogel, dem doch der ganze Himmel offenstand, noch einmal zurückkommen würde, um mit dem Schnabel gegen mein ungeputztes Fenster zu klopfen.

Während ich hinausstarrte, wurde mir klar, dass ich mich Malloryn gegenüber unklar ausgedrückt hatte.

Ich hatte nämlich nicht einfach das Gefühl gehabt, dass mich der Vogel ansah. Sondern dass er extra gekommen war, um mich zu sehen.

Zehn Minuten später traf Grace ein. Sie stellte ihren klapprigen Kombi, den wir liebevoll den »Blauwal« nannten, vor meinem Haus ab und ich zog sie hastig nach drinnen, damit die Tür nicht so lange offen stand.

Grace gab einen übertriebenen Würgelaut von sich.

»Wo ist Carrie?«, fragte ich.

»Ehrlich, ich hab’s versucht, Mar«, antwortete Grace. »Sie wollte nicht. Sie macht zwar nur einen Onlinekurs, aber du weißt ja, wie sie ist.«

Oh ja. Ich wusste, wie Carrie war: neurotisch und leistungsorientiert in allem, was sie anpackte. Manchmal war ihre Art liebenswürdig und manchmal rettete sie uns mit ihren detaillierten Unterrichtsprotokollen echt den Arsch. Aber manchmal war sie einfach nervtötend.

Malloryn bot ihr eine Rolle Kreppband an, aber Grace hob nur die Hand, in der sie bereits eine Rolle hielt.

»Ich hab mein eigenes mitgebracht«, sagte sie. Ihre Eltern hatten einen Baumarkt.

»Klebt die Fensterränder ab«, wies uns Malloryn an. »Das Zeug muss überallhin, wo Lücken sein könnten.«

»Ich mein’s ja nicht böse, Mal, aber bist du sicher, dass das ein richtiger Zauber ist?«, fragte ich.

»Wenn es funktioniert, ja.« Sie zwinkerte mir zu und zog mit einem Knistern einen langen Streifen Malerband von der Rolle, riss ihn ab und klatschte ihn an eins der Fenster. »Abrakadabra.«

»Nimm dir als Nächstes doch bitte mein Haus vor«, sagte Grace. Dann zückte sie ihre Rolle und machte sich ebenfalls an die Arbeit, wobei ihr Kopf im Takt von Malloryns Calypso-Musik wippte.

Zwischen Grace, Mal und mir bestand eine besondere Verbindung. Malloryn bezeichnete uns manchmal als Hexenzirkel. Vielleicht hatte sie recht damit. Malloryn besaß das Talent, in allem und jedem Magie zu entdecken.

Grace und sie wussten mehr über mich als irgendwer sonst. Wenn ich mit ihnen beiden zusammen war, musste ich meine Geheimnisse nicht ganz so eisern hüten wie sonst. Ich konnte mich entspannen und egal, was wir machten – Hexenbedarfshopping, Hausaufgaben, alte Fenster abkleben, um Rauch abzuwehren –, irgendwie fühlte es sich immer so an, als hätten wir eine kleine Nische jenseits der Zeit gefunden.

Und wenn diese Momente dann vorbei waren und eine von uns gehen musste, kam uns das Ende jedes Mal ein kleines bisschen zu plötzlich vor.

Eine Stunde später hatten wir den Großteil der Fenster im Erdgeschoss abgeklebt und Grace nahm sich einen Nachschlag Nudelsalat. Malloryn war oben und versiegelte ihre Zimmerfenster und ich verschloss gerade die Kaminöffnung mit einem Stück Pappe, als es an der Tür klopfte.

Klopf, klopf, klopf-klopf

Es war ein kurzes, scharfes Pochen – vier schnelle, effiziente Schläge, die die karibischen Klänge der Musik übertönten und uns alle drei aus unserer Kreppband-Trance rissen.

»Hast du noch jemanden eingeladen?«, fragte Grace.

Ich stand auf und ging zur Tür. Malloryn kam zum Treppenabsatz und bedeutete Zorro mit einem Schnalzen, sich im hinteren Schlafzimmer zu verstecken. Grace warf mir einen langen, wachsamen Blick zu.

»Alles in Ordnung, G«, sagte ich, worauf sie nur skeptisch die Stirn runzelte. Ich schob sie in Richtung Küche, wo man sie von der Tür aus nicht sehen konnte. Nach einem weiteren Moment besorgten Schweigens zog sie sich kopfschüttelnd in den hinteren Bereich des Hauses zurück. Dann stand ich allein im Flur.

Und öffnete die Tür.

Draußen stand ein Mann um die fünfzig mit rundem Kopf und beginnender Glatze. Er trug einen hellen Anzug.

»Karl«, sagte ich.

»Marjan«, erwiderte er mit leichtem niederländischem Akzent. Direkt vor der Einfahrt wartete ein Wagen mit laufendem Motor auf ihn.

»Jetzt sofort?«, fragte ich.

Karl nickte.

DIEGROSSE FAMILIEUNDDERWINZIGE DRACHE

ES WAR EINMAL UND WAR AUCH NICHT eine große Familie, die viele Generationen lang einen winzigen Drachen in einem eisernen Teekessel hielt.

Der Drache war immer schon winzig gewesen, und soweit bekannt war, hatte er immer schon in dem Teekessel gelebt. Die Familie dagegen war nicht immer schon groß gewesen. Sie war noch nicht einmal immer schon eine Familie gewesen. Anfangs hatte es nur einen jungen Mann gegeben, der seine letzten Münzen für einen eisernen Teekessel ausgab, weil er glaubte, er könnte damit sein Schicksal zum Besseren wenden.

Und so kam es tatsächlich. Der Besitz des Drachen kam mit einer Aufgabe und führte den jungen Mann zu Menschen, die ihn brauchten. Er öffnete ihm die Augen für eine Welt voller verborgener Kreaturen und für die Menschen, die sich dieser Kreaturen annahmen. Der Drache half den wundersamsten Geschöpfen, ein Zuhause bei Menschen zu finden, die sie an ihrer Seite brauchten. Denn das war die Gabe des Drachen: jene zu erkennen, die würdig waren. Und als aus dem jungen Mann ein alter Mann geworden war und er zum letzten Mal den Teekessel absetzte, befand er sich in Gesellschaft seiner vielen Kinder und Enkelkinder, die ihn allesamt liebten und seine Aufgabe zu ihrer eigenen gemacht hatten.

Der Drache suchte weiterhin würdige Gefährten für die außergewöhnlichsten Kreaturen dieser Welt. Aber es war fortan die Aufgabe der Familie, Kreatur und Gefährten anschließend zusammenzuführen. Viele Generationen lang erfüllte die Familie die Wünsche des Drachen und schützte das wundersame Netz aus Menschen und Kreaturen, das alle Kulturen und Lebensweisen umspannte. Die Familie leistete gute Arbeit und wurde dafür angemessen entlohnt. Vielleicht nicht immer so reichlich, wie es möglich gewesen wäre. Denn ein König oder ein Papst hätte ihnen für ihre Dienste sicherlich weitaus größere Reichtümer bieten können als ein Schmied. Doch Könige und Päpste sind häufig nicht die besten Gefährten für unglaubliche Kreaturen – das würde der winzige Drache jederzeit bestätigen. Und so wurden von der Familie häufig gewaltige Vermögen zugunsten bescheidener Spenden abgelehnt. Aber der Lohn reichte stets, um ihre Truhen zu füllen und ihren Mitgliedern ein, wenn schon nicht stets glückliches, so doch zumindest sicheres Leben zu ermöglichen.

Aber Familien verändern sich, insbesondere dann, wenn immer wieder gewaltige Reichtümer unberührt an ihnen vorüberziehen. Selbst die gutherzigste Familie kann nur eine gewisse Zeit lang das Richtige tun, bis sie schließlich anfängt, den Willen der Welt auf die Probe zu stellen. Irgendwann, viele Generationen nach dem Ableben des jungen Mannes, der den eisernen Teekessel als Erster in seinen zitternden Händen gehalten hatte, dämmerte der Familie, dass der Drache in besagtem Teekessel ausgesprochen wenig dagegen auszurichten vermochte, wenn man beschloss, seine Wünsche zu ignorieren.

Würde das Schicksal dieser Welt denn wirklich darunter leiden, wenn ein Hippogryph nicht bei einem Bahnarbeiter unterkam, sondern bei einem Eisenbahnmagnaten? Wenn ein Wyvern nicht an den Müllerburschen verkauft wurde, sondern an den Monarchen?

Noch muss sich zeigen, ob sie die Welt zu einem schlechteren Ort gemacht hat, diese Familie, die so meisterlich die hohe Kunst beherrscht, Entschuldigungen für ihre eigene Gier zu finden.

Doch irgendwo in ihren Reihen hielt sich ein reines Herz. Denn eines Tages ließ eine von ihnen den Drachen frei. Sie tat es aus Trotz, doch auch aus Erbarmen. Und aus Hoffnung – der Hoffnung, dass diese Familie, die vom rechten Weg abgekommen war, vielleicht noch einen ganz neuen Weg einschlagen konnte.

Aber Gier ist klebrig und hinterlässt hartnäckige Flecken. Sie sickert in die Seele wie Teer in Kleidung. Und diese Familie hatte sich zu lange in ihrer Gier gesuhlt, um sie jemals wieder ganz abwaschen zu können. Ohne die Führung des Drachen hatten sie nur noch ein offenes Ohr für die Stimme ihres eigenen Hungers.

Und wer sollte sie aufhalten? Sie waren reich, besaßen ein unvergleichliches Wissen über die gefangenen Kreaturen dieser Welt – sie hatten Macht.

Und so wurde aus diesem Akt der Hoffnung letztlich ein finsteres neues Vermächtnis geboren: das Erbe eines leeren Teekessels und leerer Herzen.

KAPITEL 2

IS. TAN. BUL.

Einen Moment, ja?«, sagte ich. »Warte kurz. Draußen.« Ich schloss die Tür, erstens wegen der schlechten Luft, zweitens weil sich dahinter die eine Welt befand und hier drin die andere und es mir ein dringendes Bedürfnis war, die beiden strikt voneinander zu trennen. Malloryn und Grace wussten, dass ich nicht allein arbeitete. Und ich ging davon aus, dass beide ahnten, dass meine Auftraggeber nicht die ehrenwertesten Menschen auf diesem Planeten waren. Aber bisher waren sie niemals einem von ihnen begegnet, und wenn es nach mir ging, würde das auch so bleiben.

Meine Notfalltasche lag unten in meinem Schrank, genau dort, wo ich sie nach meiner letzten Reise deponiert hatte. Darin befanden sich mein Reisepass, Wechselklamotten und etwas Bargeld. Ich rannte nach oben, schnappte mir die Tasche und wollte gleich zurück nach unten.

Malloryn aber stand noch immer am oberen Treppenabsatz und warf mir einen langen Blick zu.

»Ich halte dich auf dem Laufenden«, sagte ich.

»Warte kurz«, antwortete sie und verschwand kurz in ihrem Zimmer. Als sie wiederkam, hielt sie etwas in der Hand. »Halt mir mal dein Handgelenk hin.«

Ich streckte den Arm aus und sie öffnete die Hand. Darin lag ein Stück hellblaues Seidenband, das sie mir ums Handgelenk wickelte. »Zum Schutz«, sagte sie. »Wie das Kreppband, nur für Gefahren.«

Sie zog den Knoten fest. Aber ich fühlte mich genauso wie vorher.

Unten im Erdgeschoss erwartete mich Grace. Sie stand zwischen mir und der Haustür. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich wilde Entschlossenheit ab. »Keiner zwingt dich, mit solchen dubiosen Gestalten zusammenzuarbeiten.« Sie warf einen misstrauischen Blick zur Tür.

»Anders geht es leider nicht«, antwortete ich. Das war die Wahrheit und dafür hätte ich auch mehrere Gründe liefern können. Aber Grace hatte einen Ausdruck in den Augen, bei dem man unwillkürlich an sich zweifelte, selbst wenn man eigentlich genau wusste, dass man recht hatte.

»Keine Heldentaten, Mar«, sagte sie.

»Keine Ahnung, was Helden überhaupt sein sollen«, erwiderte ich eine Spur zu beiläufig.

Grace funkelte mich herausfordernd an, ohne mir Platz zu machen. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie mich nicht gehen lassen würde, bis ich ihr ehrlich geantwortet hatte. »Keine Sorge, G«, versicherte ich ihr schließlich. »Ich bleibe nicht lange weg.«

»Das will ich hoffen.« Ihre Antwort war Anklage, Schuldspruch und Urteil zugleich.

Das Verbrechen: Ich verließ die Stadt mit Fremden, die zweifelhafte Absichten hegten, würde sie an einen fernen Ort begleiten und dort aller Wahrscheinlichkeit nach gefährliche Dinge tun müssen.

Die Opfer: alle Menschen, denen ich etwas bedeutete. Ich selbst eingeschlossen.

Ich spürte alle Augen im Haus auf mir ruhen. Aber ich hatte keine Ahnung, was ich Grace erzählen sollte. Oder Malloryn. Also wich ich ihren Blicken einfach aus und ging verlegen und mit heftigen Schuldgefühlen zur Tür.

Karl hatte sich nicht vom Fleck gerührt und zog ein leicht gelangweiltes Gesicht. Doch gerade, als ich durch die Tür gehen wollte, landete eine Hand auf meiner Schulter und zog mich zurück nach drinnen. Wieder stand Grace zwischen mir und dem Ort, an den ich eigentlich wollte. Mit zitternden Händen hielt sie Karl Zettel und Stift entgegen.

»Was soll das?«, fragte Karl. »Wer bist du?«

»Ihre Freundin«, antwortete sie angespannt. »Und das hier ist ein Vertrag. Sie werden ihn unterzeichnen.«

»So etwas unterschreibe ich doch nicht.« Karl wirkte verwirrt und fast schon ein bisschen beleidigt, was ich irgendwie lustig fand.

»Dann kann meine Freundin Sie leider nicht begleiten«, sagte Grace. Sie wedelte ihm mit Zettel und Stift praktisch direkt vor dem Gesicht herum und funkelte ihn dabei aufgebracht an.

»Und was steht in diesem Vertrag?« Er riss ihr die Sachen aus der Hand und überflog mit misstrauischer Miene den Text auf dem Zettel.

»Dass Sie Marjan um jeden Preis beschützen werden und wohlbehalten wieder nach Hause bringen. Wenn Sie nicht unterschreiben, kommt sie nicht mit.«

»Wie lange schleppst du diesen Vertrag schon mit dir rum?«, flüsterte ich.

»Klappe, Mar.« Grace durchbohrte Karl mit ihrem unerbittlichen, vernichtenden Blick.

»Das ist doch gar nicht rechtskräftig«, protestierte Karl aufgebracht. »Es gibt keinen Notar, keine Zeugen. Eine einzige Farce ist das!«

»Mir egal«, entgegnete Grace ungerührt. »Unterschreiben Sie.«

Karl sah zwischen dem Papier und Grace hin und her, dann gab er mit einem weiteren tiefen Seufzer nach, kritzelte seine Unterschrift unten auf die Seite und drückte Grace den Vertrag sichtlich genervt wieder in die Hand.

»Jetzt kommen wir zu spät«, sagte er an mich gerichtet, dann machte er kehrt und marschierte zurück zu seinem Wagen.

»Danke«, flüsterte ich Grace zu. Es kam von Herzen, auch wenn ich nicht hätte benennen können, wofür genau ich ihr eigentlich dankbar war.

Grace sah Karl finster hinterher. »Der Typ gefällt mir nicht. Das alles hier gefällt mir nicht.«

»Ich muss los«, sagte ich. »Jemand braucht meine Hilfe. Er bringt mich hin. So machen wir das immer, alles ist gut.«

»Versprich mir nur eins«, antwortete Grace. »Wenn du vor der Wahl zwischen der richtigen und der ungefährlichen Entscheidung stehst … nimm die ungefährliche.«

Dann musterte sie mich schweigend und so durchdringend, als könnte sie mich durch reine Gedankenkraft dazu zwingen, ihr mein Wort zu geben.

»Okay«, sagte ich. »Ich versprech’s.«

Zufrieden richtete Grace ihren finsteren Blick wieder auf Karl, während ich meine Tasche schulterte und die Treppe nach unten zum Gehweg nahm, wo der Wagen wartete.

»Sie ist eine gute Freundin«, bemerkte Karl leise, als ich näher kam.

»Ja«, antwortete ich. »Das ist sie.«

»Was Freunde betrifft, musst du vorsichtig sein«, fuhr er fort.

»Inwiefern?«, fragte ich.

Aber Karl schüttelte nur den Kopf, um mir zu bedeuten, dass er nichts weiter dazu sagen würde.

Ich schaute zurück zu Grace, die allein in meiner Haustür stand. Sie schien nicht damit gerechnet zu haben, dass ich mich noch einmal nach ihr umsehen würde. Denn einen Moment lang wirkte sie nicht kämpferisch und knallhart. Ihre Schultern hingen und ihr Blick erschien besorgt. Aber als sie merkte, dass ich sie beobachtete, richtete sie sich hastig auf und setzte wieder ihre Kämpfermiene auf.

Keine Heldentaten.

Karl räusperte sich mit leiser Ungeduld. Dann deutete er ins dunkle Wageninnere. Ich nickte Grace kaum merklich zu, dann stieg ich ein. Die Tür fiel hinter mir zu. Karl umrundete den Wagen und stieg auf der anderen Seite ein.

»Wo fahren wir hin?«, fragte ich.

»Istanbul«, sagte er.

Istanbul.

Das Wort pochte die gesamte stille Fahrt zum Flughafen über von innen gegen meinen Schädel. Karl manövrierte mich zügig durch die Sicherheitskontrolle und weiter zum Gate, wo wir uns setzten und schwiegen, wie schon die ganze Zeit über. Als unsere Plätze aufgerufen wurden – einmal Fenster, einmal Gang mit einem leeren Sitz dazwischen –, stiegen wir wortlos ins Flugzeug, setzten uns wortlos, hoben wortlos ab.

Karl betreute mich bei meinen Aufträgen. Er war Niederländer und hatte den Job im Frühling übernommen. Ich hatte den Eindruck, dass er seine Sache gut machte, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich ihn mochte. Er war stocksteif und humorlos und hatte ungefähr so viel Charisma wie eine Packung Toastbrot. Er war so durchschnittlich, dass man ihn auf den ersten Blick vermutlich sogar übersehen hätte, wenn man ganz gezielt nach ihm suchte. Abgesehen vom Austausch zu meinen Anweisungen und den wichtigsten Informationen wechselten wir kaum ein Wort. Er las gern verstaubte alte Bücher über düstere historische Themen. Darüber hinaus bestand seine einzige Beschäftigung darin, mich nicht aus den Augen zu lassen.

Er war ein entfernter Verwandter seines Vorgängers (über den wir niemals ein Wort verloren) und aller weiteren Personen, die in unserer Branche arbeiteten – mit Ausnahme von mir. Seine Familie war groß und dubios und hatte haufenweise Geld und haufenweise Geheimnisse. Sie nannten sich die Fells und sie mochten mich nicht. Allerdings brauchten sie mich, um ihren Besitz zu schützen. Und ich brauchte sie umgekehrt auch, weil sie mir dabei halfen, die Menschen zu finden, die mich wirklich brauchten. Deine Familie und unsere, wir bilden ein gemeinsames Ökosystem, hatte Karl einmal gesagt und dabei seine Finger miteinander verschränkt, was vermutlich zeigen sollte, wie lückenlos und gleichberechtigt wir uns seiner Meinung nach ineinanderfügten.

Irgendwo hatte er schon recht. Wir bildeten tatsächlich eine Art Ökosystem. Aber wir fügten uns weder lückenlos zusammen, noch waren wir auch nur im Entferntesten gleichberechtigt. Die Fells hatten das ganze Geld, die gesamte Macht und die zwingend notwendigen Verbindungen. Ich dagegen hatte eigentlich nur eins: keine andere Wahl, als ihnen zu helfen. Weil ich nur auf diese Weise tun konnte, was ich musste. Karl und seine Familie interessierten sich letztlich nur für Macht und Einfluss. Für sich selbst und ihre eigene sichere Zukunft.

Ist es falsch, ihnen zu helfen?

Die Frage saß in meinem Kopf wie ein stacheliger Fisch tief am Meeresgrund, den man besser nur aus der Ferne betrachtete, weil seine Stacheln mit Gift gefüllt waren.

Und da waren wir also. Ohne zu reden, ohne einander zu vertrauen. Und doch versuchten wir, jeder aus eigenen Gründen, gemeinsam die Arbeit zu verrichten.

Auf halber Flugstrecke wandte ich mich an Karl und räusperte mich vernehmlich. Er sah von seinem Buch auf, das offenbar vom Alltag in mittelalterlichen Dörfern handelte, und musterte mich argwöhnisch.

»Kannst du mir mehr über den Patienten erzählen?«, fragte ich.

Er zögerte kurz. Schien zu versuchen, meine Absichten abzuschätzen.

»Nur damit ich nicht vollkommen unvorbereitet an die Sache herangehe«, fügte ich hinzu.

»Es gibt irgendein Problem mit der Atmung«, antwortete er nach längerem Schweigen.

»Ah«, erwiderte ich. Ich hätte es dabei belassen sollen, aber Karl wirkte so überheblich, dass ich nicht anders konnte, als weiterzubohren. »Probleme mit der Atmung sind natürlich ein Unding, was? Ich meine, so ein Problem mit der Atmung senkt den Verkaufspreis doch bestimmt um zwanzig Prozent, oder?«

Karl stierte mich finster an.

»Was?«, fragte ich. »Sag bloß, darum geht es diesmal gar nicht. Sag bloß, ihr interessiert euch wirklich für …« Fast wäre mir das Wort »Tier« herausgerutscht, aber es gab da ein paar Regeln, die ich nicht brechen durfte. Also beendete ich den Satz mit: »… den Patienten.«

»Deine Aufgabe ist einzig und allein der Patient«, erwiderte Karl. »Alles andere hat dich nicht zu interessieren.«

»Gibt es einen Käufer?«, fragte ich.

»Nein.«

Und damit widmete er sich wieder seiner Lektüre. Er schien zufrieden zu sein, dass er das letzte Wort behalten hatte. Doch ich räusperte mich erneut. Er versuchte, mich zu ignorieren, aber nach einer Weile runzelte er die Stirn und klappte das Buch zu.

»Ja, Marjan?«, sagte er mit mühsam unterdrückter Ungeduld, die mir eine heimliche fiese Freude bereitete.

»Habe ich noch ein bisschen Zeit, wenn wir fertig sind?«, fragte ich. »Um mir die Stadt anzusehen und so?«

»Warum fragst du?« Karl warf mir einen misstrauischen Blick zu.

»Ach.« Ich bemühte mich, beiläufig zu klingen. »Ich war einfach noch nie in Istanbul. Und da dachte ich, eigentlich würde ich mir gern anschauen, wie dort …«, ich sah rasch zu seinem Buchcover, »… der Alltag so aussieht.«

Er zog ein Gesicht, als hätte er in etwas Saures gebissen, wie immer, wenn er nachdachte. Am Ende gab er einen seiner resignierten Seufzer von sich. »Mal sehen, wie die Arbeit läuft«, sagte er nur, dann klappte er stirnrunzelnd sein Buch wieder auf.

Es war nur ein winziger Hoffnungsschimmer, dem ich hinterherjagte. Ein Name, den mein Onkel Hamid einmal erwähnt hatte, als ich mich nach der Generation vor meinem Vater erkundigt hatte – irgendein entfernter Cousin, der den Iran verlassen hatte, woraufhin die Familie ihn aus dem Blick verloren hatte. Eine Adresse, von der niemand wusste, ob sie noch aktuell war, weil auf die Briefe, die man dorthin schickte, nie eine Antwort kam. Keine Versprechungen, keine Garantien – nicht mehr als ein vages »Vielleicht« in einer Stadt, die zu besuchen ich bis jetzt eigentlich nicht vorgehabt hatte.

Istanbul.

Is. Tan. Bul.

Klopf, klopf, klopf-klopf

Bei der Landung durchflogen wir einen Flickenteppich aus Wolken. Der glitzernde Bosporus und die schimmernde Hagia Sophia glitten an den Scheiben vorbei, dann schob Karl auch schon ein Lesezeichen zwischen die Seiten seines Buchs. Kurz darauf passierten wir zügig den Zoll (hier und da waren die Fells durchaus ganz nützlich) und nahmen ein Taxi. Wenig später schloss ich die Tür zu einem kleinen, aber zweckdienlichen Hotelzimmer in Zentrumsnähe auf, ließ mich aufs Bett fallen und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen wurden wir in aller Frühe im Hotel abgeholt. Der Typ war nur ein bisschen älter als ich und hatte dunkle Locken, wachsame braune Augen und eine ausdruckslose, zurückhaltende Mimik. Er begrüßte uns mit einer stummen Verbeugung und brachte uns zu einem Taxi, das er für uns gerufen hatte. Es war nicht das erste Mal, dass uns ein einheimischer Assistent zur Verfügung gestellt wurde. Meistens passierte das in Gegenden, in denen weder Karl noch ich die jeweilige Sprache beherrschten. Alle Assistenten waren mehr oder weniger gewesen wie dieser: still und diskret. Sie stellten sich nicht vor und stellten auch keine Fragen. Sahen einem nicht einmal in die Augen. Nahmen kaum mehr Raum ein als ein Schatten.

Wir fuhren eine breite Allee voller Geschäfte entlang. Die Buchstaben auf den Schildern über den Schaufenstern erschienen mir vertraut, aber bis auf das Wort »Burger« über einer Art Schawarma-Bude konnte ich ihnen keinen Sinn abgewinnen. Sie hatten zu viele Akzente und Sonderzeichen, außerdem kam mir die Reihenfolge der Buchstaben irgendwie falsch vor. Worte endeten zu plötzlich oder waren zu lang. Oder sie bildeten Laute, die mich an das bisschen Persisch erinnerten, das ich beherrschte, obwohl ich natürlich nicht wissen konnte, ob ich die Buchstaben in meinem Kopf überhaupt richtig aussprach.

Vor einem Café standen Tische, die vom Summen angeregter Gespräche umgeben waren. Auf den Gehwegen wimmelte es von Männern in T-Shirts und Polohemden und Frauen mit Kopftuch und langen Tuniken oder Jeansjacken und Sonnenbrillen. Wir fuhren einen kleinen Hügel hoch, wo der Asphalt Kopfsteinpflaster wich. Dann bogen wir in einen schmalen, schattigen Hof ein und hielten.

»Ehe wir weitergehen, legst du dir bitte die Augenbinde an«, sagte Karl zu dem Assistenten.

Doğan Özgener war Anfang dreißig und hatte eine traurige, verlotterte Ausstrahlung. Alles an ihm – von seinem ungekämmten dunklen Haar über die buschigen Augenbrauen und den struppigen Bart bis zu der zerknitterten Kleidung und seinen langen, feinen Wimpern, die mich an die meines Dads erinnerten – zeugte von Einsamkeit und tief verwurzelten Sorgen. Trotzdem begrüßte er uns mit einem freundlichen Lächeln, bat uns ins Haus und bot uns Tee an.

Doğan wohnte allein in einer dunklen kleinen Erdgeschosswohnung, die bis unter die Decke vollgerümpelt war. Wie er uns erzählte, wohnten seine Eltern in der Wohnung darüber. Überall stapelten sich Bücher, Schallplatten, klobige alte Fernseher und Computerteile. Die kleine Küchenzeile quoll über von Töpfen und Pfannen – viel mehr, als man in einem Ein-Personen-Haushalt brauchte. Auf einer schmalen Herdplatte standen zwei Teekessel aus Metall, wobei der kleinere auf dem größeren ruhte. Doğan brachte jedem von uns Teetasse und Untertasse aus Glas und bat uns, an einem kleinen Tisch an der Wand Platz zu nehmen, der eigentlich nicht groß genug für uns alle war.

»Stark oder schwach?«, übersetzte der Assistent. Seine Worte waren in den leeren Raum zwischen uns gerichtet, weil ihm die Binde immer noch fest um die Augen gewickelt war. Es schien ihm nichts auszumachen, sie zu tragen.

Karl bat um einen starken Tee und ich fragte, ob ich mittel bekommen könnte. Doğan verschwand in der Küche und kam einen Augenblick später mit einem Teekessel in jeder Hand zurück. Aus dem kleineren Kessel füllte er unsere Tassen. Der Tee hatte die Farbe von Zedernholz und verströmte einen rauchigen Geruch, der sich zur Decke schlängelte und die gesamte Wohnung füllte. In meine Tasse gab er noch einen Schluck heißes Wasser aus dem größeren Kessel, sodass mein Tee einen orangeroten Bernsteinton annahm.

Während wir tranken, erzählte Doğan.

»Er sagt, es befindet sich hinten im Garten«, übersetzte unser Assistent. »Er sagt, er hätte immer das Gefühl gehabt, es wäre seine Aufgabe, es zu versorgen.«

»Das kommt häufig vor«, bemerkte ich.

»Er sagt, es sei vor drei Jahren aufgetaucht«, übersetzte der Assistent weiter. Sein Tonfall war ruhig und präzise. »Seinen Eltern gefällt das nicht. Sie finden es nicht richtig, dass er sich darum kümmert, statt sich eine Frau zu suchen – eine neue Frau. Sie wollen Enkel. Aber …«

Doğan verstummte und der Assistent mit ihm.

»Dann waren Sie also schon einmal verheiratet?«, fragte ich.

»Es war ein Fehler«, übersetzte der Assistent. »Er sagt, er hätte einen Fehler gemacht. Es hat böse geendet.«

Doğans Blick wanderte in die Ferne, und was für Geister er dort auch sehen mochte, er schüttelte den Kopf.

Ich konnte ein Stückchen vom Hinterhof erkennen. Es handelte sich um einen bescheidenen kleinen, schattigen Garten mit ein paar Sträuchern, der von allen Seiten von den Wänden der umliegenden Wohnhäuser eingefasst war. Nichts daran schien ungewöhnlich zu sein.

»Sie haben eine Menge Sachen«, bemerkte ich.

»Zu viel«, übersetzte der Assistent Doğans reumütige Worte. »Er sagt, er kann sich nicht trennen. Für ihn hat jeder Gegenstand eine Bedeutung.«

Doğan stand auf und zog wahllos eins der eselsohrigen Bücher aus einem Regal.

»Das Buch hier«, erzählte der Assistent, »hat er während seiner Studienzeit gelesen. Es war ein Geschenk von einem Freund – einem guten Freund, den er schon lange nicht mehr gesehen hat. Aber wenn er dieses Buch hier ansieht, kann er das Lächeln seines Freundes wieder vor sich sehen. Er fühlt sich dann jünger und ist glücklicher, so wie damals. Wenn er dieses Buch wegwirft, dann verschwindet damit auch jener Moment und der dazugehörige Teil von ihm würde sterben.« Doğan zuckte mit den Schultern und stellte das Buch zurück an seinen Platz.

»Und so ist es mit allem hier«, schloss der Assistent.

Einen Moment lang sagte niemand ein Wort. Da waren der Raum und die Gegenstände darin und die Erinnerungen, die an ihnen hafteten, und alles fühlte sich schwer und still an.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Freund draußen im Hof«, sagte ich.

DAS LAMMIM GARTEN

ES WAR EINMAL UND WAR AUCH NICHT ein Gärtner, der für einen großen Fürsten arbeitete. Eines Tages entdeckte er in einer abgelegenen Ecke des Gartens ein ungewöhnliches Pflänzchen. Zunächst wollte er es herausreißen, so wie er es mit Unkraut für gewöhnlich zu tun pflegte. Aber als er die Hand an diesen Spross legte, spürte er, dass etwas daran anders war. Diese Pflanze war etwas Besonderes.

Da der Fürst niemals einen Fuß in diesen Winkel des Gartens setzte, beschloss der Gärtner, den Spross wachsen zu lassen, um herauszufinden, was daraus werden würde. Denn Hand aufs Herz: Der Fürst war zwar kein übler Herr, dennoch blieb er ein Fürst und der Gärtner sein Diener, dessen Leben und Wirken allein dem Fürsten gehörte. Und dieses eine Mal wollte der Gärtner etwas nur für sich besitzen.

Er pflegte den Spross Tag für Tag, so wie alle anderen Pflanzen auch, und Tag für Tag wuchs der Spross und wurde bald dick und holzig. Seine Wurzeln breiteten sich unter der Erde aus und ihm wuchsen Blätter. Zweige entstanden und bildeten schließlich einen Busch, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Denn er hatte die Form eines Lamms samt Kopf und Gesicht, Körper und Beinen, alles festgewachsen an dem Stamm, bei dem es sich einst um den winzigen Spross gehandelt hatte.

Und dann hob das Lamm zur Überraschung des Gärtners eines Tages den Kopf. Es sah ihm in die Augen und setzte langsam ein wackeliges Beinchen vor das andere, einmal um den Stamm herum.

Es war nicht schwer, das Lamm zu verstecken. Der Fürst war ein vielbeschäftigter Mann und besuchte seinen Garten nur selten. Und wenn er es tat, dann betrat er nie den abgelegenen Winkel, in dem das seltsame Lamm Wurzeln geschlagen hatte. Aber um sicherzustellen, dass niemand das Lamm entdeckte, veränderte der Gärtner die Bepflanzung des Gartens, sodass es von überall aus vor Blicken geschützt war. Nun musste man sich zwischen zwei dornigen Rosenbüschen hindurchschieben, um die kleine Kreatur zu entdecken, die in langsamen, müden Kreisen um ihren Stamm herumlief, der sie mit dem Boden verwurzelte, und das Gras zu seinen Füßen und das Heu und den Hafer fraß, die der Gärtner ihr brachte. Das Lamm war in Sicherheit und das Geheimnis des Gärtners war gehütet und vielleicht hätte er sich damit zufriedengeben sollen.

Aber manchmal, wenn er sich um die kleine Kreatur kümmerte und ihr in ihre seltsamen Augen sah, glaubte er, darin Schmerz und Sehnsucht zu erkennen. So wie sich der Gärtner nach etwas gesehnt hatte, das ihm allein gehörte, so sehnte sich das Lamm seiner Meinung nach nach einem Platz jenseits der Gartenmauern.

Und so beschloss der Gärtner, dass er dem Lamm helfen würde. Denn die Kreatur mochte zwar ein sicheres Leben führen, aber glücklich wirkte sie nicht.

Eines Nachts betrat er mit einer Säge den Garten, um den Stamm des Lamms zu durchtrennen, der inzwischen ausgetrocknet war und fast so hart wie Holz. Doch dann kam ihm ein Gedanke. Wenn er den Stamm durchtrennte, war das Lamm frei. Wenn das Lamm aber frei war, könnte er nicht mehr für seine Sicherheit sorgen. Was, wenn es davonlief und den Garten und ihn für immer verließ? Was, wenn ihm etwas zustieß oder es ganz von dieser Erde verschwand?

Also legte er die Säge weg und schmiedete einen neuen Plan.

In der darauffolgenden Nacht verließ er mit einer Schaufel den Garten und suchte im nahen Wald nach einer Stelle, die ihn an den Winkel im Garten erinnerte, in dem das Lamm lebte. Dann grub er ein Loch, das groß genug war für die Wurzeln des Lamms. Anschließend kehrte er in den Garten zurück und grub das Lamm aus. Er hob es aus dem Boden, legte sich den Stamm über die eine und den Wurzelballen über die andere Schulter und trug es durchs Gartentor in den Wald hinein bis zu dem Ort, den er ausgesucht hatte. Dort setzte er die Wurzeln vorsichtig und sanft mit der Liebe eines Vaters in ihre neue Heimat und bedeckte sie mit Erde. Dann ging er nach Hause und legte sich schlafen. Er war sicher, das Richtige getan zu haben.

Am nächsten Tag kehrte er mit einer Handvoll Heu und Hafer in den Wald zurück. Die Augen des Lamms strahlten vor Begeisterung über die Wunder der großen, weiten Welt. Aber es lief langsam und fraß nur widerwillig. Doch der Gärtner glaubte weiterhin, recht daran getan zu haben, dem Lamm ein neues Zuhause geschenkt zu haben, und kehrte in den Garten zurück, um seinen Verpflichtungen gegenüber dem Fürsten nachzukommen.

Als er am darauffolgenden Tag in den Wald kam, leuchteten die Augen des Lamms sogar noch heller. Aber es fraß noch weniger und zog seine Kreise noch langsamer. Dennoch beschloss der Gärtner, Geduld zu bewahren. Er fütterte das Lamm, wie er es immer tat, und gab ihm Wasser. Dann kehrte er in den Garten zurück.

Am dritten Tag ging der Gärtner wieder zum neuen Zuhause des Lamms. Doch als er den Wald betrat, war das Lamm bereits tot. Seine Wurzeln waren in dieser unbekannten Erde verkümmert.

KAPITEL 3

FREMDKÖRPER

Das Lamm in Doğans Garten bestand aus einem Gewirr aus Ranken und Blättern, die sich um einen lammförmigen Rahmen aus Zweigen gewunden hatten. Auf wundersame Weise schien es dazu in der Lage zu sein, sich langsam und unter Mühen zu bewegen. Das wollige Fell bestand aus Moos oder Flechten, die das Astgewirr bedeckten. Und sogar ein paar blasspinke Blüten sprossen hier und da aus dem Grün. Nur die Hufe – kleine Fortsätze aus Holz mit der grünlich braunen Farbe junger Triebe – waren nackt.

Als Doğan uns zur Hintertür brachte, sah das Lamm vom Rasen auf, um uns zu betrachten. Seine Ohren bestanden aus breiten Blättern, die aus seinem länglichen, dreieckigen Schädel ragten, der aus eng gewundenen Ästen bestand. An der unteren Spitze des Dreiecks mahlte ein maulartiges Gewirr aus Zweigen langsam ein kleines Grasbüschel zu Brei. Zu beiden Seiten seiner breiten Stirn schob sich direkt neben den Ohren anstelle der Augen jeweils eine goldgelbe Blume durch die Zweige und das Moos. Die Blütenblätter waren sanduhrförmig um eine dunkle Mitte herum angeordnet. Die Zweige, die den Körper bildeten, liefen am Bauch zu einem knorrigen Knoten zusammen, aus dem ein gedrehter Stamm ragte, der das kleine Schaf mit dem Boden verband.

Es beobachtete uns misstrauisch aus seinen merkwürdigen Blütenaugen. Nach einer Weile hob es einen seiner Hinterläufe und kratzte sich an der Flanke.

Mein Herz flatterte vor Aufregung, als ich dieses Wunder vor mir sah. Sogar mein abgestumpfter, langweiliger Aufseher schwieg ehrfürchtig. Der Moment, in dem man etwas eigentlich vollkommen Unmögliches mit eigenen Augen vor sich sieht, ist immer wieder beeindruckend.

Doch dann krampfte sich das Lamm zusammen und aus seiner Kehle drang ein heiseres, leises Rascheln. Als würde eine Windbö durch Laub fahren. Einmal, zweimal. Es hustete, falls man das von einer Pflanze überhaupt behaupten durfte.

»Das geht jetzt schon seit einer Woche so«, übersetzte der Assistent Doğans Worte. »Davor hat es das nie gemacht.«

»Okay«, sagte ich. »Dann schauen wir mal, was ich herausfinde.«

Langsam und mit gesenktem Blick näherte ich mich dem Lamm und hielt ihm die flachen Hände hin. Es wirkte nicht sonderlich gefährlich und würde wohl auch nicht weit kommen, falls es einen Fluchtversuch wagte. Aber jedes Tier – besonders, wenn es so schutzlos war – hatte es verdient zu wissen, dass ich nicht gekommen war, um ihm wehzutun.

Das Lamm verfolgte meine Bewegungen mit seinen Blütenaugen. Als ich einen Streifen Sonnenlicht durchquerte, öffneten und schlossen sich die Blütenblätter kaum merklich, und zwei gebogene Spalten, die sich direkt über seinem Maul befanden, dort, wo bei einem echten Schaf die Nüstern gewesen wären, bebten sanft. Nach jedem achtsamen Schritt blieb ich kurz stehen, damit das Lamm nicht in Panik geriet.

Als ich ihm nahe genug gekommen war, um es zu berühren, hielt ich ihm einen Handrücken hin, damit es daran schnuppern konnte. Ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, wie die Sinne des Blätterlamms funktionierten. Also behandelte ich es wie jede andere Kreatur.

Mit einem flüsterzarten Schnauben, das nach Thymian und Sauerampfer roch, gab mir das Lamm zu verstehen, dass ich die Überprüfung zu seiner Zufriedenheit bestanden hatte. Es war bereit, mir zu erlauben, mich vorübergehend in seine Angelegenheiten einzumischen. Es stupste meine Hand mit dem Kopf beiseite und machte sich wieder über das Gras her.

»Dann legen wir mal los«, sagte ich zu dem Lamm und zu mir selbst und legte die Hand an sein Laub.

Die Verbindung war sofort da.

Bei meiner ersten Begegnung mit einer Kreatur hatte mich dieser Moment überwältigt. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich über eine besondere Fähigkeit verfügte oder was gleich geschehen würde. Inzwischen hatte ich durch Herumexperimentieren gelernt, die Gefühle zu kontrollieren, die der Körperkontakt zu den Kreaturen in mir auslöste. Ich konnte die Verbindung jetzt langsam aufdrehen wie einen Wasserhahn, sodass sich die Gefühle sanft über meine eigenen legten, anstatt über mich hereinzubrechen wie eine Flutwelle. Ich hatte sogar gelernt, sie voneinander zu trennen und nicht mehr alle auf einmal, sondern eins nach dem anderen zu spüren.

Im Fall des Lamms empfand ich eine ganze Reihe von Sinneseindrücken, die mir zwar unbekannt waren, aber gleichzeitig etwas sagten. Das Kribbeln an meiner Zungenspitze passte zu dem elektrisierenden Bitzeln, das durch meine Wirbelsäule fuhr. Direkt unter meiner Haut pochte eine angenehme Wärme, kam und ging, kam und ging. Das Sonnenlicht weckte Vorfreude in mir und in meinem Bauch strahlte ein langsamer, dünner Puls, der aus der Erde selbst zu kommen schien.

Auch die Verbindung zwischen dem Lamm und Doğan spürte ich. Es war sich seiner Gegenwart überaus bewusst und empfand ihm gegenüber so etwas wie Gehorsam. Doğans Kommen und Gehen, die Ebbe und Flut seines Dufts im Garten bestimmten das Zeitgefühl der Kreatur.

Es war seltsam, diesen mir fremden Mann auf einer so vertrauten, persönlichen Ebene wahrzunehmen. Es erschien mir übergriffig. Als würde ich heimlich bei Fremden durchs Fenster spähen. Aber ich lernte daraus, dass der Rhythmus seiner Anwesenheit und die Spuren, die er im Garten zurückließ, der Mittelpunkt waren, von dem aus das Lamm seiner Welt einen Sinn verlieh.

All das nahm ich in mich auf, ließ es durch mich hindurchspülen und balancierte es vorsichtig in meinem Bewusstsein – ein stabiles, zuverlässiges Gleichgewicht entstand und ich konnte beides nebeneinander in mir tragen: das Lamm und mich.

»Da bist du ja«, flüsterte ich.

Das Lamm sah mich an und seine Blütenaugen öffneten sich eine Spur weiter. War das, was ich da im Dunkel seiner Pupillen schimmern sah, Vertrauen? Spürte es mich auch? Ich hatte keine Ahnung, wie mich die Kreaturen wahrnahmen. Ich wusste nur, dass sich etwas in mir öffnete, um sie in mich einzulassen, und sich danach nicht wieder schloss.

Der ruhige innere Rhythmus des Lamms schwappte über meinen eigenen hinweg. Ich ließ meine Aufmerksamkeit sachte über seine Körperfunktionen streifen – den Nährstofffluss, die Speicherung des Sonnenlichts, die Umwandlung von Kohlendioxid in Sauerstoff, die Aufnahme von Informationen durch die Blätter und das Wurzelsystem. Als mein Dad noch lebte, hat er mir in seiner Tierarztpraxis beigebracht, wie man diagnostiziert. Und das hier war meine ganz eigene Art von Diagnostik. Auf diese Weise gewann ich Verständnis für die Kreaturen, denen ich begegnete, und konnte ihnen helfen.

Keine dieser Wahrnehmungen war mir vertraut, aber sie fühlten sich alle richtig an. Ich spürte weder Angst noch Schmerz oder Unwohlsein. Das Lamm funktionierte, wie es sollte – monoton und träge. Langsame Schritte, langsame Nahrungsaufnahme, langsame Atemzüge. Und ich funktionierte ebenfalls, wie ich sollte. Mein Bewusstsein war ein steter Fluss, der meinen Körper und das Lamm miteinander verband.

Auf einmal schoss ein grell gezackter Krampf durch den Körper des Lamms und schüttelte mich so heftig durch, dass ich meine gesamte Kraft aufbringen musste, um die Verbindung aufrechtzuerhalten. Der Husten hämmerte gegen meine Rippen und reizte meine Lunge weiter, auch nachdem der Anfall vorüber war. Als würde in einem Winkel meiner Bronchien ein Steinchen oder Stachel festsitzen.

Ich atmete tief durch und ließ mich wieder auf die Verbindung ein. Da war er, der Fluss des Lebens. Das schwerfällige, gleichmäßige Pulsieren des Wohlbefindens.

»Noch mal«, flüsterte ich. »Diesmal bin ich bereit.«

Das Lamm hustete erneut. Ich war gewappnet und spürte dem Hustenreiz nach, wie er sich gnadenlos aus der Stelle mit dem festsitzenden Stachel herausschälte. Er steckte dicht unter den rechten Rippen. Ich schob die Hand um die Brust des Wesens und fühlte, wie ich mich dem wütenden, quälenden Kratzen darin näherte.

»Du hast etwas gefunden?«, rief Karl, der vom Rand des Gartens aus zusah. »Was ist es?«

Seine Stimme und das unangenehme Prickeln, das ihr Klang in dieser unpassenden Situation in mir auslöste, brachten mich durcheinander. Meine Aufmerksamkeit schwebte zwischen zwei voneinander getrennten Realitäten – der kleinen, in sich geschlossenen Realität, in der Nährstoffe aus der Erde flossen und ein Fremdkörper in einem moosbedeckten Brustkorb feststeckte, und der Realität, in der es einen Karl gab.

Ich wollte ihm sagen, dass er still sein sollte, aber mit ihm zu sprechen, wäre zu anstrengend gewesen, jetzt, wo ich eine Kreatur vor mir hatte, die meine Hilfe brauchte. Mein Gefühl für den Stachel war auch so schon schwächer geworden. Gerade eben war sein Ursprungsort noch glasklar zu erkennen gewesen, doch jetzt verschwamm er, wurde weniger eindeutig.

Ich musste mich beeilen. Also ignorierte ich Karl und ließ zu, dass meine Augen, meine Ohren und mein Herz alles ausblendeten, was ich nicht kontrollieren konnte. Stattdessen konzentrierte ich mich nur noch auf die eine Sache, die ich beeinflussen und vielleicht sogar heilen konnte.

»Tut mir leid, falls sich das unangenehm anfühlt«, sagte ich zu dem Lamm. Dann schob ich sanft und so schnell ich konnte die Blätter, das Moos und die hellgrünen, knospenden Ranken beiseite. Direkt darunter kamen die Rippen zum Vorschein. Dicke, harte Äste, die sich zu einer gerundeten Höhle verbanden, in der sich …

Der Anblick war so seltsam, dass ich nach Luft schnappte. Leuchtend bunte Gebilde, die an Obst und Gemüse erinnerten, füllten seine Brusthöhle. Zwischen zwei lilafarbenen, auberginenähnlichen Früchten pulsierte gleichmäßig und sanft eine dunkelrote Knolle. Kürbisähnliche Auswüchse in Gelb, Grün und Orange drängten sich aneinander. Es war nicht zu übersehen, dass sie lebenswichtige Funktionen ausübten. Hier und da lugten Trauben aus kleineren, fruchtähnlichen Gebilden in Grün, Rot und Schwarz hervor. Auch sie schienen allesamt eifrig ihrem jeweiligen Zweck nachzugehen.

»Du bist so was von merkwürdig«, flüsterte ich dem Lamm zu.

Das dornige Gefühl in seiner Brust ließ nach. Als würde es sich zwischen den organartigen Gebilden verstecken, sodass es schwerer zu orten war. Aber ich wusste trotzdem, wo es sich verbarg. Zumindest genau genug, um es aufspüren zu können. Ich schob erst einen, dann zwei Finger zwischen die Rippen, und da es dem Lamm nichts auszumachen schien, drückte ich die Gebilde vorsichtig zur Seite, um dem Echo des Hustens folgen zu können.

Ich versuchte, das Schwindelgefühl abzuschütteln, das entstand, weil die Empfindungen des Lamms meine eigenen überlagerten und ich meine Finger gleichzeitig in seiner und in meiner Brust spürte. Weil ich Dinge darin bewegte, die eigentlich nicht bewegt werden sollten. Es tat nicht weh, aber es fühlte sich seltsam an. Beunruhigend. Ich durfte diese Gefühle nicht ignorieren. Denn sie waren es, die mich leiteten. Der Husten, der unangenehme Stachel – das war es, dem ich nachjagte. Aber dafür musste ich mein eigenes Bewusstsein ignorieren und mich einzig auf das Lamm und meine Finger konzentrieren. Bis ich schließlich auf eine Traube aus kleinen orangefarbenen Früchten stieß. Eine der Früchte im Zentrum der Traube war größer geworden als die anderen und aufgeplatzt. Das Fleisch im Inneren war braun und verschrumpelt. Ein rauer, harter Samen, der ungefähr die Größe meines Daumens hatte, steckte darin.

»Hab ich dich«, murmelte ich und nahm den Samen mit zwei Fingern. Dann zog ich ihn zwischen den Rippen des Lamms hervor.

Als ich sein wolliges Moosfell über den Rippen zurechtstrich, hustete es erneut. Aber diesmal fühlte es sich anders an, dünn und oberflächlich, nur ein müder Schatten des Hustens, den ich zuvor gespürt hatte. Ich schloss die Faust um den Samen. Er strahlte eine merkwürdige Dringlichkeit aus, sodass ich das Bedürfnis verspürte, ihn ganz fest zu halten.

Mit dem Samen in der Hand entfernte ich mich von dem Lamm. Die Gefühle, die meine eigenen überlagert hatten, legten sich und lösten sich schließlich ganz auf, bis ich nur noch meinen eigenen Körper wahrnahm. Die Verbindung zu beenden und zu mir selbst zurückzukehren, brachte mich kurz durcheinander, als wäre ich beim Treppensteigen ins Nichts getreten.

»Und?«, fragte Karl.

»Ich glaube, ich konnte ihm helfen«, sagte ich, nachdem sich meine Atmung beruhigt hatte. »Etwas hat ihm auf … Ach, es ist schwer zu beschreiben. Jedenfalls konnte ich das Problem beseitigen.«

Der Samen in meiner Hand hatte etwas Lebendiges an sich – eine Art Tonschwingung, die in meinen Ohren summte und es mir schwer machte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Vorstellung, ihn Karl zu zeigen, löste dasselbe stachelige, falsche Gefühl in mir aus, das der Samen in dem Lamm verursacht hatte.

»Verstehe«, sagte Karl wenig beeindruckt. »Und jetzt ist es gesund?«

»Sollte es zumindest sein«, antwortete ich.

Ich war bemüht, normal zu reden, aber wegen des Summens in meinen Ohren fiel mir das gar nicht so leicht. Ich hielt die Luft an und hoffte, dass Karl nichts davon merkte. Er sah erst das Lamm, dann mich an und zuckte zufrieden und gelangweilt mit den Schultern. Als er kurz wegsah, ließ ich den Samen in meiner Hosentasche verschwinden und das Summen verstummte.

Dann strich ich dem Lamm noch einmal über die Flanke und spürte dort, wo sich der Samen befunden hatte, nur noch einen sanften, verschwommenen Schmerz. Das Lamm würde sich noch einige Tage lang wund fühlen, vielleicht hin und wieder husten. Aber es würde heilen.

»Das wird der Käufer gerne hören«, sagte Karl, während er sich zum Gehen wandte.

Bei dem Wort »Käufer« ließ ich die Hand sinken. Die Verbindung war durchtrennt. Das Gefühl, betrogen worden zu sein, schoss wie Eiswasser durch meine Adern.

»Es ist glücklich hier«, protestierte ich. »Es will nicht verkauft werden.«

»Wie dir vielleicht entfallen ist, nehmen wir keine Befehle mehr von Tieren entgegen.« Sein Tonfall war kühl und eine Spur anklagend. An den Assistenten gerichtet fuhr er fort: »Bitte teile unserem Gastgeber mit, dass es zu einem Verkauf kommen wird. Zu fairen Konditionen.«

»Und wenn er nicht verkaufen will?«, fragte ich. »Sag ihm, dass er die Wahl hat, nicht zu verkaufen.«

»Davon kann ich nur abraten«, erklärte Karl geduldig. »Er scheint ein guter Mensch zu sein, der ein gutes Leben vor sich hat. Er kann den Verkauf höchstens ein wenig hinauszögern. Das ist den Ärger nicht wert, den er sich damit einhandeln würde. Sich und …«, er schwieg kurz und warf einen Blick in Richtung Haus, »… seinen Eltern.«

Stille senkte sich über den kleinen Garten. Die unausgesprochene Drohung hinter Karls Worten hallte von den Wänden um uns wider, wodurch sie größer zu werden schien und den Innenhof kleiner und beengter wirken ließ.

Der Assistent redete langsam mit Doğan. Ich las Wut und Trotz aus Doğans Blick, als er zwischen dem Lamm und Karl hin- und hersah. Aber je länger der Assistent sprach, desto mehr wich Doğans Wut einem Ausdruck stummer Hilflosigkeit. Und da wusste ich, ohne auch nur ein einziges Wort verstanden zu haben, dass die Fells gewonnen hatten und das Lamm verkauft werden würde.

Ich sah Doğan an und schüttelte traurig den Kopf. Ich hätte ihm gern gesagt, dass ich das alles nicht gewollt hatte. Dass ich den Samen dort gelassen hätte, wo er war, wenn ich den Verkauf damit hätte verhindern können. Dass sie mich genauso reingelegt hatten wie ihn. Doch nichts davon spielte eine Rolle.

In seinen Augen war ich nicht besser als Karl.

Der Blütenblick des Lamms schweifte zu mir.

»Es tut mir leid«, sagte ich. Aber meine Worte bedeuteten ihm nichts und so beschäftigte es sich wieder mit seinem Gras, seinem Hafer und dem kleinen Radius um seinen Stamm, der das Einzige war, was es vom Leben kannte.

»Nun denn«, sagte Karl so unbekümmert wie jemand, der sich kurz vom Esstisch entschuldigte. Dann klatschte er in die Hände und rieb die Handflächen aneinander, um zu unterstreichen, was er damit gemeint hatte: Es war an der Zeit zu gehen.

In der Hoffnung auf einen winzigen Hinweis auf Vergebung oder Versöhnlichkeit sah ich Doğan ein letztes Mal an. Aber da war nur eine bebende, hoffnungslose Wut in seinen Augen und bodenlose Scham dort, wo mein Herz hätte sein sollen.

Draußen auf der Straße durfte der Assistent seine Augenbinde wieder abnehmen. Karl reichte ihm einen Umschlag, den er mit einer kleinen Verbeugung entgegennahm und in seiner Tasche verschwinden ließ. Dann wandte er sich ab und ging die Kopfsteinpflastergasse entlang davon, bog um eine Ecke und war fort.

Karl setzte sich ebenfalls in Bewegung und bedeutete mir, ihm zu folgen, den Hügel hinab bis zur Hauptstraße. Als wäre nichts passiert. Während ich ihn beobachtete, empfand ich dieselbe hilflose Wut wie Doğan. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, mit Karl in einem Auto zu sitzen. Geschweige denn einen halben Tag mit ihm im Flugzeug zu verbringen.

»Wer ist der Käufer?«, fragte ich barsch. »Ich will es wissen.«

»Das geht dich nichts an«, antwortete Karl vor mir, ohne mich anzusehen.

»Sag es mir. Das ist das Mindeste, was ihr mir schuldig seid.«

Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Ich schulde dir nichts weiter als dein übliches Honorar«, antwortete er. »Aber als kleine Gefälligkeit werde ich dieses eine Mal eine Ausnahme machen und es dir zeigen.«

Er holte sein Handy heraus und hielt mir das Display hin, auf dem er die Wikipediaseite eines nicht gerade sympathisch aussehenden osteuropäischen Oligarchen aufgerufen hatte, der ein Fleischverarbeitungsimperium sein Eigen nannte und angeblich Verbindungen zum organisierten Verbrechen pflegte.

Karl sah zu, wie ich den Eintrag las.

»Das könnt ihr nicht machen«, sagte ich.

»Das darfst du ihm gern persönlich erklären.« Karl nickte mit gehobener Braue in Richtung Handy. »Ich bin mir sicher, er ist einer von der verständnisvollen Sorte.«

»Ihr schickt das Lamm zum Schlachter. Wortwörtlich!«

»So läuft das Geschäft«, antwortete Karl. »Vielleicht wird er durch uns ja Vegetarier.«

»Das ist nicht witzig«, sagte ich. »Du hast mich belogen. Mich reingelegt.«

»Dann sind wir ja ansatzweise quitt.«

»Was soll das denn bitte heißen?«, fragte ich.