Himbeerjoghurt mit Sahne - Jan Ranft - E-Book

Himbeerjoghurt mit Sahne E-Book

Jan Ranft

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Beschreibung

54 Kurzgeschichten entführen euch in Welt der Schwulen mit all ihren Facetten: humorvoll, tragisch, sexy, ehrlich, fantasievoll, nachdenklich und manchmal echt gemein. Erst als Matthias sich neu erschafft, hat er Erfolg bei den Männern. Oy und Eo finden zusammen und stellen sich gemeinsam den Gefahren einer urzeitlichen Welt. An einem Sonntagmorgen hat Leon seinen Traummann zu Gast – oder ist dieser Besuch tatsächlich nur ein Traum? Nach der Begegnung von Jonas und Jack geschehen merkwürdige Dinge. Beim Einkaufen im Supermarkt schmachtet Martin den Verkäufer an und philosophiert über die Parallelen zwischen der Schwulenwelt und einer Kühltheke: "Sind wir nicht alle Fruchtjoghurts?"

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 366

Veröffentlichungsjahr: 2024

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»Nicht die Schönheit entscheidet, wen wir lieben, sondern die Liebe entscheidet, wen wir schön finden.«

Sophia Loren

Jan Ranft

Himbeerjoghurt mit Sahne

schöne, tragische und gemeine Geschichten aus der Schwulenwelt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2012, 2018, 2024 Jan Ranft

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, D-22926 Ahrensburg

ISBN: 978-3-384-31939-5 (Paperback)

ISBN: 978-3-384-31940-1 (E-Book)

Himbeerjoghurt mit Sahne ist von Jan Ranft gelesen auch als Hörbuch erhältlich.

Coverfoto © Adobe Stock, Duncan/peopleimages.com Fotos auf Seite 250 © istockphoto und shutterstock

Gestaltung und Satz: Jan Ranft

Lektorat: Dr. Volker Sellmann

SELL & SELLMANN – Lektorat • Redaktion • Übersetzung

Ich danke Amélie Sophie Larivière für die Zeichnung zur Geschichte »Brüder«.

Das Werk einschließlich seiner Texte ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Weitergabe und Vervielfältigung, auch in Teilen, ist nicht gestattet. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors:

Jan Ranft, Karlstraße 8, 66111 Saarbrücken, Germany.

Charaktere, Handlungen und Handlungsorte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Toten sind rein zufällig.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

Homo

Vollmond

Letzte Worte

Schwuchtel

Sonne, Mond und Sterne

Brüder

Tod eines Fakers

Angebote

Blind Date

Game over

Gewinner und Verlierer

Alt

Nachklang

Himbeerjoghurt

Falsch verbunden

Späte Rache

Gestern

Morgen vielleicht

Der erste Schritt

Traumtänzer

Hokuspokus

Déjà-vu

Jagdfieber

Blick zurück

Neuanfang

Zlatko

Frank und die Fünf-Minuten-Freunde

Leons Gast

Papa

Bescherung

Niklas

Ohne Worte

Trio infernal

Die zweite Chance

Langschläfer

Verkehrte Welt

Letzte Klappe

Freunde

Versteckspiel

Frauensachen

Krokodilstränen

Fremdkörper

Drei Wünsche frei

Femme fatale

Grüne Augen

Karneval der Schwulen

Plan B

Liebeskummer

Pulsschlag

Billige Anmache

Ladies and Gentlemen

Frank und Ben

Revanche

Saschas Rückkehr

Namensregister

Handlungsorte

Autorenvita

Danksagung

Zitronenjoghurt mit Buttermilch

Himbeerjoghurt mit Sahne

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

Danksagung

Himbeerjoghurt mit Sahne

Cover

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Vorwort

Dem einen oder anderen sagt mein Name vielleicht etwas. Mancher erinnert sich an Jan vom Studio 3-Podcast: Von 2007 bis 2012 habe ich jeden Sonntag in meinem Audioblog Geschichten aus meinem Leben und aus der Welt der Schwulen erzählt. Mein Podcast richtete sich vor allem an eine schwule Zuhörerschaft, aber ich hatte auch viele nicht-schwule Abonnenten. Mit meinen Inhalten habe ich zu zeigen versucht, dass Schwule in ihrer Lebensrealität mit ganz genau den gleichen Erfahrungen und Erlebnissen konfrontiert sind wie alle anderen Menschen auch.

In meinen Sendungen habe ich erzählt, was mich bewegt, was mich zum Lachen bringt, was mich traurig oder wütend macht. Viele meiner Hörer fanden sich in meiner Gefühlswelt wieder und fieberten mit. Mal lustig, mal ernst, immer aber informativ ging es um schwule Väter, um das Leben von Homosexuellen in den 1920er Jahren, um das Recht, Blut spenden zu dürfen, ums Älterwerden in der Gay Community oder um die schwul-lesbischen Filmtage und den Kölner CSD. Ich habe Interviews geführt mit Schwulen in São Paulo, Tel Aviv und Wrocław, mit Holger Edmaier oder Ralf König, und nicht zuletzt habe ich immer wieder kleine Anekdoten aus der »Welt der Schwulen« serviert. Dabei handelte es sich um Alltagsgeschichten von homosexuellen Männern, mitten aus dem Leben gegriffen. Meine ausgedachten Charaktere haben die unterschiedlichsten Dinge erlebt, die eigentlich jeder schwule Mann kennt. Matthias aus Mannheim ist einer der Ersten, den ich erfunden habe, und Tod eines Fakers war die erste Kurzgeschichte im Podcast. Eigene Erfahrungen sowie Erlebnisse, die Freunden fast genauso passiert sind, finden sich in Angebote, Liebeskummer und Game Over wieder.

Dass ich Geschichten erzähle, begann vor langer Zeit. In der dritten oder vierten Klasse sollten wir einen Aufsatz zum Thema Wenn ich doch fliegen könnte schreiben. Während die anderen Kinder von Reisen in die unterschiedlichsten Länder berichteten, drehte es sich in meinem Text um einen Jungen, der sich im Wald verirrt und schließlich von einem wolfsähnlichen Wesen in einen Vogel verwandelt wird.

Fantastisches und Gruseliges habe ich mir also wirklich schon immer gerne ausgedacht. Ich erinnere mich daran, dass ich den Kindern meiner Schwester die Geschichte vom Klärgruben-Heini erzählt habe, einem fiktiven Jungen, der beim Sturz in ein Plumpsklo stirbt und anschließend als Geist umherspukt. Im Studio 3 habe ich zu Halloween immer gruselige Geschichten präsentiert. Späte Rache, Femme fatale und Hokuspokus gehören dazu. Wobei letztere Erzählung ursprünglich ebenfalls ein Schulaufsatz gewesen ist, natürlich aber ohne eine Drag-Wahrsagerin. Auch Verkehrte Welt ist im Schulunterricht entstanden. Damals ging es jedoch noch um einen Geschichtenerzähler, der im Mittelalter einen fantasielosen Mann in die Zukunft schickt, wo dieser schließlich – überrollt von den Wundern unserer Zeit – Märchen gar nicht mehr so unglaubwürdig findet. Blind Date, Nachklang, Leons Gast, Trio infernal – diese und noch einige andere Geschichten im vorliegenden Buch stammen aus dem Podcast, den es nun nicht mehr gibt. Den Karneval der Schwulen habe ich fürs Studio 3 zusammen mit der Musik von Camille Saint-Saëns produziert.

Während meiner Jugend in den 1990er Jahren habe ich drei Hefte vollgeschrieben. Die Antwort, eine tragische Lovestory zwischen einer Vietnamesin und einem US-Soldaten, findet sich in abgewandelter Form in Pulsschlag wieder. Die zweite Chance stammt ursprünglich auch aus diesen frühen Heften, ebenso haben dort die Geschichte Himbeerjoghurt und die Idee mit den Visitenkarten ihre Wurzeln. Wohlgemerkt: Damals schrieb ich noch ohne schwule Konnotation, keine der Figuren war explizit homosexuell. Das zu thematisieren wagte ich da noch nicht.

Meine erste schwule Geschichte ist Letzte Worte, die 1996 entstand, nachdem ich einen bewegenden Artikel über die AIDSStation des San Francisco General Hospital gelesen hatte. Hier ließ ich mich auch von Hans Christian Andersen inspirieren, dessen Märchen ich schon immer sehr mochte.

In der Abi-Zeitung meines Abitur-Jahrgangs 1994 konnte ich mich über meine allererste Veröffentlichung freuen: Der Wunsch des alten Mannes. Erst achtzehn Jahre später entschloss ich mich, meine Geschichten zu überarbeiten, in einer Art Anthologie zu sammeln und als Buch herauszubringen.

In einer inzwischen vergriffenen Erstauflage dieses Buchs hatte ich exakt neununddreißig Geschichten zusammengetragen. Meine ursprüngliche Idee war, danach einen Roman über Martin und Simon zu schreiben. Ich bin jedoch bei den Kurzgeschichten geblieben, für diese Ausgabe kamen neue Geschichten dazu. Simons und Martins Abenteuer habe ich aufgegriffen, und in einem zukünftigen Buch sollen sie in Form von Kurzgeschichten weitererzählt werden. Ebenso auch die Erlebnisse der anderen Protagonisten, die ihr nun hier kennenlernen werdet.

Himbeerjoghurt mit Sahne bietet also einen facettenreichen Einblick in alles, was ich seit meiner Kindheit geschrieben habe. Wer meine Kurzgeschichten liest, wird viel über mich, den Mann hinter den Zeilen, erfahren. Und wer mich persönlich kennt, entdeckt bei der Lektüre ganz viel meiner eigenen Biografie wieder.

Es empfiehlt sich übrigens, die einzelnen Episoden der Reihe nach zu lesen, denn sie sind chronologisch angeordnet. Aus dem Namens- und Ortsregister am Ende des Buchs erschließen sich zudem ganz neue Zusammenhänge, denn Matthias, Tom, Frank und Patrick tauchen in mehreren Handlungssträngen auf.

Abschließend bleibt die brennende Frage: Warum heißt dieses Buch eigentlich Himbeerjoghurt mit Sahne? Nun ja, Martins Kühltheken-Philosophie hat mich dazu inspiriert: »Wir alle sind nur Fruchtjoghurts im Kühlregal des Lebens.« Welche Sorten seid übrigens ihr?

Ich hoffe, ihr seid auf den Geschmack gekommen! Habt viel Spaß und Freude beim Lesen!

Homo

Am Morgen hatte Oy ihn zum ersten Mal gesehen. Da war er noch weit entfernt gewesen. Oy hatte beobachtet, wie er auf einen der Bäume im Tal geklettert war und von den reifen Früchten gegessen hatte. Ein Jäger und Sammler – immer auf der Suche, immer unterwegs, stets woanders. Von weither musste er gekommen sein. Vielleicht von da, wo der Fluss geboren wurde, am Ende des Himmels?

Eine unerklärliche Anziehungskraft ging von dem Fremden aus. Solche Gefühle hatte Oy noch nie zuvor gespürt. Noch nicht einmal bei Imi, die in der letzten kalten Zeit erfroren war. Vielleicht war es so, weil dieser Unbekannte ein Andersmensch war, groß und schlankwüchsig, so wie Oys Mutter.

Oy betrachtete das Stück Elfenbein, das um seinen Hals hing. Seine Mutter hatte den Anhänger aus dem Stoßzahn eines Mammuts für ihn geschnitzt: einen kleinen Mann, so wie er einmal einer gewesen war. Es war eine schöne Zeit gewesen, damals. Doch nun waren all diese Gefühle von Liebe und Glück plötzlich wieder da. Oy dachte zurück an die gemeinsame Jagd. Sein starker Vater hatte ihm alles gezeigt, alle Tricks: Wie man das Rentier mit dem Speer erlegt, wie man das Mammut vor sich hertreibt und schließlich dazu bringt, von einer Felsenklippe zu stürzen. Auch, wie man den Säbelzahn tötet.

Oys Eltern waren gestorben, als er noch ganz jung war. Ihre Körper lagen begraben im Tal bei den Dornrosen. Ihre Geister aber waren eins geworden mit dem Tal, und sie sprachen zu ihm, wenn er Rat suchte oder wenn er sich alleine fühlte.

Alleine war Oy schon lange, es passierte nicht oft, dass er einem anderen Jäger begegnete. Der letzte, der es gewagt hatte, in sein Revier vorzudringen, den hatte er vertrieben. Viele Sonnen und Monde war das jetzt her. Diesen hier aber nun, den vertrieb er nicht. Der machte Oy neugierig, weil er anders war.

Am Abend suchte der Eindringling am Waldrand nach Holderbeeren. In einem Ledersack sammelte er sie, den er über der Schulter trug. Er war so beschäftigt mit dem Holderbaum, dass er den Säbelzahn nicht bemerkte, der sich von hinten an ihn heranschlich. Das Tier war noch jung und nicht so stark, doch sicher stärker als der Fremde, der keine Waffen bei sich trug. Oy war ein guter Schütze, er musste eingreifen und helfen. Von Weitem zielte er mit dem Speer seines Vaters und traf genau, das gefährliche Raubtier war sofort tot.

Der Andersmensch allerdings war so erschrocken, dass er sich ängstlich unter den Holderbaum kauerte. Oy ging zu ihm hin und beugte sich zu ihm herab. Erleichtert blickte der Fremde zu ihm auf. Seine Augen waren offen und freundlich, sie glänzten wie dunkler Bernstein. Oy zog ihn zu sich empor, der andere umarmte ihn und lachte. Gut einen Kopf größer als Oy war er. Aufgeregt redete der Fremde drauflos und machte Zeichen mit den Händen. Die Worte, die er beim Reden benutzte, kannte Oy nicht, und doch verstand er, dass sein Name Eo war.

Oy blickte die ganze Zeit über, während Eo sprach, in dessen braune Augen, und auf einmal war da dieses Gefühl. Es war wie bei der Rentier-Jagd: Sein Herz schlug wild, so aufgeregt war er. Seine Hände zitterten und ihm wurde ganz heiß. Bei Imi hatte er das manchmal auch gefühlt, doch nie so stark wie jetzt.

Oy nahm Eo noch einmal in die Arme und drückte ihn sanft an sich. Da wurde Eo ganz still und legte seine Arme ebenfalls um ihn. Oy drückte seinen Kopf an Eos Brust, und Eo streichelte Oys Rücken. Oys Lippen berührten Eos Haut. Oy wurde hart und spürte, dass auch Eo hart wurde. Oy machte es so, wie er es manchmal machte, wenn die Sonne noch schlief und er hart war. Bald schon kam die Erlösung, und auch bei Eo war es so. Die beiden leckten einander lachend ab, dann liefen sie zum Fluss und tollten darin umher, genau wie damals, als Oy noch klein gewesen war.

Als sie endlich erschöpft am Ufer saßen und sich von den letzten Sonnenstrahlen des Tages trocknen ließen, rieb Eo eine kleine blaue Blume an Oys Arm. Oy lächelte, es roch gut auf seiner Haut. Bis die Dämmerung kam und die ersten Sternlichter am Himmel blinkten, hielten sie einander im Arm. Es würde schnell kalt werden, und die wilden Tiere würden in der Dunkelheit auf die Jagd gehen. Zeit, sich einen Platz für die Nacht zu suchen und Feuer zu machen. Oy führte Eo zur großen Felsnische, die so hoch gelegen war, dass kein Säbelzahn und kein Wolf sie erreichen konnte – dort war Oys Lager. Er machte Feuer mit den Steinen, die ihm seine Eltern vermacht hatten. Die Männer saßen am Feuer und aßen vom Fleisch des Rens, das Oy noch am Morgen erlegt hatte, und von den Holderbeeren, die Eo gesammelt hatte.

Oy griff in eine der Pfützen neben dem Feuer und beugte sich zu Eo hinüber. Mit roter Erde malte er ihm einen Kreis auf die Stirn, bei sich selbst tat er das Gleiche. Eo lächelte ihn an, stand auf und malte mit den Fingern mit der roten Erde zwei Kreise auf die Felswand. Zwei Kreise, die sich berührten: Oy und Eo zusammen.

In dieser Nacht schlief Oy zum ersten Mal seit langer Zeit nicht mehr alleine. Eo blieb bei ihm und hielt die ganze Nacht über seine Hand. Später, als die Sonne noch schlief und der Mond am Himmel schimmerte, erwachte Oy. Er kletterte auf einen Felsvorsprung und blickte über das Tal, zum Wald hinüber und zum Fluss. Dann fasste er einen Entschluss: Er wollte nicht länger alleine sein, sondern bei Eo bleiben und mit ihm ziehen.

Als die Sonne aufgegangen war, packte er alles zusammen, was er mitnehmen konnte. Noch ein letztes Mal blickte er zurück ins Tal und verabschiedete sich von den Geistern seiner Ahnen. Dann nahm er Eos Hand, und sie machten sich auf den Weg. Zusammen waren sie stärker als alleine. Auch wenn ihre Sprachen verschieden waren, so waren ihre Gefühle die gleichen. Oy und Eo würden beieinander bleiben, bis zum Ende ihrer Zeit.

Was die beiden wohl erwartete, vor 40.000 Jahren?

Vollmond

Jack Freeman war erst seit Mai hier. Im Munitionsdepot Wenigerath in Morbach, einer kleinen Stadt mitten im Hunsrück, gelegen in einem Waldgebiet in Rheinland-Pfalz im Südwesten der Bundesrepublik Deutschland, in Europa, am anderen Ende der Welt. Weit weg von Bangor, Queen City of the East in Maine, Jacks amerikanischer Heimat.

»Schon komisch, in einem Land zu sein, in dem dein Großvater vor fünfundvierzig Jahren die Nazis bekämpft hat«, dachte Jack. Seltsam, mit ehemaligen Feinden hier im Kalten Krieg Seite an Seite zu stehen, immer bereit und trotzdem voller Hoffnung, all die Waffen hier niemals einsetzen zu müssen. Unter Reagan und Gorbatschow deutete sich immerhin eine Entspannung an, Perestroika und Glasnost. Es lag etwas in der Luft, Jack konnte nur nicht sagen, was.

Mit seinen Kameraden verstand er sich gut, zu den Deutschen aber hatte er kaum Kontakt. Immerhin mochte er das deutsche Essen. Es schmeckte anders, aber es hatte etwas. Eines Abends saß er alleine in einer Gastwirtschaft in Morbach bei German Beer und Schnitzel mit French Fries, die hier »Pommes« genannt wurden. Im Radio lief gerade Taylor Dayne mit Tell it to my heart. Jack hatte einen Bärenhunger. Als er gerade Messer und Gabel ergriffen hatte und mit dem Essen beginnen wollte, schnappte ihm jemand von der Seite eine Handvoll Pommes vom Teller. Jack erschrak – und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes mit Dreitagebart, der ihn angrinste und dabei ungeniert die erbeuteten Pommes verdrückte. Jack fehlten die Worte.

Der junge Kerl nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihm. »Hi, I’m Jonas! Jonas Wolf. You’re new to Germany?«

Jack war perplex, wie offen dieser Kerl auf ihn zuging, aber irgendwie mochte er von der ersten Sekunde an seine ehrlichen braunen Augen, den Bart und die kurzgeschorenen Haare. »Ganz schön frech«, dachte er sich. Dann streckte er ihm die Hand hin. »Mein Name ist Jack Freeman. Ich bin neu in Deutschland, aber ich spreche Deutsch. Meine Mutter ist in Heidelberg geboren und hat meinen Vater dort kennengelernt. Er war auch G. I. , wie ich. Und du lebst hier in Morbach?«

»Nein, aber in der Nähe. Nicht weit von der kleinen Burgruine. Kennst du die?« Wieder griff sich Jonas eine Fritte und ließ sie in seinem Mund verschwinden.

»Wie gefällt es dir bisher in Deutschland? Alles ziemlich anders als in den Staaten, oder? Hier im Hunsrück gibt es nicht viel. Ein paar Dörfer, Wiesen, Felder und Wald. Ganz viel Wald.«

»Ich mag es irgendwie. Ist sehr ruhig hier. Nur meine Familie vermisse ich und bin froh, wenn ich sie demnächst wiedersehe. Im November fliege ich zurück. Ich habe eine große Familie, zwei Schwestern und zwei Brüder – bei uns ist immer Full House.«

»Wem erzählst du das? Ich habe sechs Brüder! Alle älter als ich. Mit vierundzwanzig bin ich der Jüngste. Im November, sagst du? Das ist ja schon in ein paar Wochen. Schade, ich finde dich nämlich total sympathisch.«

»Ich dich auch. Blöd, dass ich dich jetzt erst kennengelernt habe.«

An diesem Abend saßen sie noch lange zusammen, erzählten und tranken ein Bier nach dem anderen. Jack musste zurück zum Depot, und Jonas begleitete ihn noch ein Stück. Eine gute halbe Stunde zu Fuß über Wiesen und Felder. Der Mond erhellte den Weg.

Auf halber Strecke, vor einem kleinen Waldstück, verabschiedete sich Jonas.

»Ich nehme den Feldweg zurück nach Hause«, sagte er und lächelte Jack an. Dann zog er ihn an sich und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Einfach so, ohne Vorwarnung. Jack bekam eine Gänsehaut, er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Noch nie war er so von einem Mann berührt worden. Er wollte noch etwas sagen, doch Jonas hatte sich schon umgedreht und trabte durch die Dunkelheit davon. »Bis morgen!«, rief er Jack noch zu.

Im Wald reichte das Mondlicht, das durch die Wipfel der Bäume fiel, kaum aus, den Weg zu finden. Jack kramte seine Taschenlampe aus der Army-Jacke, schaltete sie ein und lief dann völlig aufgewühlt zurück zum Depot. In dieser Nacht konnte er kaum schlafen, zu durcheinander war er. Auch am nächsten Tag konnte er sich nicht auf seinen Job konzentrieren. Was ihm da widerfahren war, das brachte seine Welt aus dem Gleichgewicht. Ein Mann hatte ihn geküsst. Und es hatte ihm durchaus gefallen, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Sehr sogar. Bedeutete das, dass er schwul war? War es Jonas denn? Vielleicht … vielleicht aber auch nicht. Jonas war ja ganz offensichtlich einer, der sich nichts vorschreiben ließ und sich an keine Regeln hielt. Wahrscheinlich hatte er ihn nur ärgern wollen. Kein Grund also, sich Gedanken zu machen. Trotzdem, er sehnte sich nach Jonas. Mehr, als ihm lieb war.

Abends machte Jack sich auf den Weg nach Morbach und hoffte, Jonas wiederzusehen. Es wurde gerade dunkel, der Mond war schon aufgegangen, fast ein Vollmond. Jack hatte die Taschenlampe eingeschaltet, als er den kleinen Wald betrat. Ganz in der Nähe hörte er den Schrei eines Uhus. Unheimlich war es hier. Er hörte das Knacken von Ästen und das Rascheln von Laub. Plötzlich stand Jonas vor ihm. Jack erschrak so sehr, dass er laut aufschrie und die Taschenlampe nach ihm warf.

Jonas konnte ein Lachen nicht unterdrücken: »Mann, bist du schreckhaft! Ich bin’s doch nur.«

Er hob die Taschenlampe auf und gab sie Jack zurück.

»Bist du verrückt geworden? Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«

»Tut mir leid, das hab ich wirklich nicht gewollt. Ich gehe oft nachts hier spazieren. An die Geräusche und die Finsternis hab ich mich gewöhnt. Ich sehe ziemlich gut im Dunkeln. Wohin bist du unterwegs? Nach Morbach?«

»Ja, ich wollte …«

Jonas unterbrach ihn. »Du wolltest mich wiedersehen, stimmt’s? Ich hoffe, ich hab dich gestern nicht allzu sehr überrumpelt.«

Jack versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Ach Quatsch, ich mag dich. Da ist das schon okay. Wir sind ja nicht homosexuell oder sowas. Wir verstehen uns einfach sehr gut. Und ja, ich wollte mit dir vielleicht nochmal was trinken gehen.«

»Das freut mich. Weißt du was? Ich hab ne andere Idee. Gestern hab ich dir doch von der kleinen Burg erzählt. Gehen wir da hin? Sie liegt in einem Tal gleich neben der Hunsrückhöhenstraße, keine halbe Stunde entfernt.«

Jack zögerte kurz. »Hmmm … okay, klingt spannend. Gut, lass uns das machen.«

Sie schlenderten durch den Wald, über die Felder, vorbei an der B 327, auf der ein einsamer LKW in der Ferne seinen Weg Richtung Koblenz suchte. Die beiden lachten und redeten über alles Mögliche, über Reagan, Olympia in Seoul, den neuen Film Beetlejuice, der bald ins Kino kommen sollte, und über die Musik von Michael Jackson. Ein schmaler Weg führte zur Burgruine Baldenau, die wirklich sehr klein war. Nicht viel mehr als ein Turm und eine Mauer drumherum, auf einer kleinen Insel gelegen, umgeben von einem Wassergraben. Nebelschleier lagen in der Luft, aber trotzdem konnte man weit ins Tal blicken und die Lichter der Dörfer in der Umgebung sehen. Jack und Jonas gingen über eine Holzbrücke zum Innenhof der Burg und setzten sich auf eine Mauer.

In der Ferne hörte man die Schreie von Kranichen, die in einem Schwarm durch die Nacht zogen. »Die Halgäns fliegen wieder. Der Sommer ist vorbei … der Winter steht vor der Tür«, flüsterte Jonas. Hoch stand der Mond, es war kühl geworden. Sie saßen dicht nebeneinander und blickten zum Himmel empor. Jonas rückte ganz nah an Jack heran und legte den Arm um ihn, um ihn zu wärmen. Die Vogelschreie waren kaum noch zu hören. So saßen die beiden eine ganze Weile, ohne sich zu bewegen. Sie schwiegen.

Dann blickten sie einander an. Diesmal war Jack es, der Jonas zuerst küsste. Es war kein flüchtiger Kuss. Sie umarmten und streichelten sich.

»Mir ist es egal, ob ich jetzt schwul bin«, flüsterte Jack und streichelte Jonas über die Stoppelhaare.

»Mir ist sowieso wurscht, was die Leute sagen«, lachte Jonas. »Ich war schon immer anders als die anderen.«

Sie hielten sich an der Hand und betrachteten den Mond. Plötzlich fuhr Jack hoch, wie von der Tarantel gestochen, und deutete auf seine Armbanduhr. »Shit, ich muss zurück – sonst krieg ich Ärger!« Mit einem Satz sprang auch Jonas von der Mauer. »Okay, treffen wir uns einfach morgen wieder.«

Als sie ein Stück gelaufen waren, begann Jonas: »Morgen Nacht ist Vollmond … soll ich dir mal eine gruselige Geschichte erzählen? In Wittlich, nicht weit von hier, da wurde vor vielen Jahrhunderten der letzte Werwolf getötet. Außerhalb der Stadt gibt es einen kleinen Schrein, in dem immer eine Kerze brennt. Nur wenn diese Kerze erlischt, kann der Werwolf zurückkehren. Manchmal blasen die Jungs im Dorf als Mutprobe die Kerze aus, denn wer von einem Werwolf gebissen wird, der wird selbst einer und verwandelt sich in Vollmondnächten in eine Bestie.«

Jack spürte, wie erneut Angst in ihm aufstieg: »Fuck, warum erzählst du mir sowas? Ich muss den halben Weg alleine zurückgehen!«

»Nun mach dir nicht in die Hose. Das ist doch alles Aberglaube. Es gibt keine Werwölfe. Und durch einen Biss verwandelt sich auch niemand in irgendetwas. Mannomann, du Angsthase. Wenn du magst, begleite ich dich bis ans Depot, damit dir nichts passiert.«

»Ja, bitte«, seufzte Jack. »Aber jetzt komm, wir müssen uns beeilen, die vermissen mich bestimmt schon.«

Sie legten den Weg gemeinsam zurück, fast bis zum Munitionsdepot. Einige Meter vor dem Zaun verabschiedeten sie sich mit einer langen Umarmung. Jonas drückte Jack einen Kuss auf den Mund und sah ihm tief in die Augen. »Bis morgen, ich hab dich lieb.«

Jacks Herz schlug ihm bis zum Hals. Das, was Jonas da gesagt hatte, haute ihn um. Denn Jonas hatte ausgesprochen, was er ja irgendwie auch fühlte – tief in sich drin. Er hatte Schmetterlinge im Bauch.

Als er im Depot ankam, hatten die anderen ihn natürlich schon gesucht. Er musste sich eine Standpauke anhören und wurde dann zu Arrest in seiner Stube verdonnert. Mist, sein nächstes Treffen mit Jonas würde also ausfallen. Und er konnte es ihm nicht einmal mitteilen.

Am nächsten Abend saß Jack resigniert und alleine auf seiner Stube auf der Pritsche und las, als plötzlich die Tür aufging und Jonas vor ihm stand.

»Jonas! Was machst du hier? Wie bist du hier reingekommen?«, flüsterte Jack erschrocken. »Mach schnell die Tür zu, die anderen dürfen dich auf keinen Fall sehen!«

»Alles gut. Mich hat keiner bemerkt. Warum bist du nicht gekommen? Ich hab auf dich gewartet!« Enttäuschung stand in Jonas’ Gesicht, seine Augen sahen rot und geschwollen aus. Ganz so, als hätte er geweint. Wie sehr hatte auch Jack sich nach ihm gesehnt, und wie sehr freute er sich nun, dass er da war.

Jack stand auf und umarmte ihn: »Ich wollte ja, aber ich konnte nicht. Weil ich gestern Abend nicht pünktlich wieder zurück gewesen bin, hab ich Arrest bekommen.«

»Ich hatte schon Angst, du willst mich nicht wiedersehen. Ich hab dich total vermisst«, murmelte Jonas und drückte sich an ihn. Die beiden setzten sich auf die Pritsche und hielten sich einfach nur fest. Erst streichelten und küssten sie sich ganz sanft, dann immer leidenschaftlicher. Sie zogen sich gegenseitig aus und berührten sich überall. Für Jack war all das neu und überwältigend, und doch ließ er es geschehen. Es fühlte sich richtig an – und unheimlich gut. Jonas kniete sich hinter Jack und zog ihn dicht und ganz fest an sich heran. Ein kalter Schauer lief Jack über den Rücken, denn Jonas hielt ihn so fest umklammert, dass er kaum atmen konnte. Er küsste, saugte, leckte und biss Jack in den Nacken. Ein bisschen fest vielleicht, doch genau das erregte Jack. Sein Puls raste, seine Panik verflog im Nu und wich purer, wilder Lust. Jonas legte seinen Kopf an Jacks Hals, und Jack spürte seinen heißen Atem.

»Ich lass dich nie wieder los«, hauchte Jonas in Jacks Ohr.

Jonas rieb sich an ihm. Die Ahnung, was nun kommen könnte, machte Jack fast wahnsinnig. »Willst du mich …«, stöhnte er, und Jonas packte ihn, warf ihn auf den Rücken, beugte sich über ihn und nahm seine Beine auf die Schultern.

Erst tat es weh, doch schon bald gewöhnte Jack sich daran. Es gefiel ihm, Jonas genau so zu spüren. Immer heftiger stöhnten die beiden, und dann waren sie so weit. Erschöpft sanken sie auf die Pritsche, sahen sich an und lächelten müde. Jack schloss die Augen und genoss das Gefühl, ein Teil von Jonas zu sein und ihm zu gehören … für immer.

Es war um Mitternacht, als ein schrilles Heulen Jack hochfahren ließ. Er musste eingenickt sein. Die Sensoren am Grenzzaun hatten den Alarm ausgelöst. Die Tür der Stube stand weit offen, von Jonas fehlte jede Spur. Hatte Jonas den Alarm ausgelöst? Hatte er noch in der Nacht zurück ins Dorf gewollt? Hoffentlich war er dabei nicht erwischt worden, und hoffentlich hatten Jacks Kameraden nicht mitbekommen, dass er Besuch gehabt hatte. Wenn herauskommen sollte, dass er eine Affäre mit einem Mann hatte, würden sie ihn aus der Armee schmeißen, garantiert.

Jack zog sich hastig an und rannte durch die Tür über den Flur zum Haupttor. Er war als Erster dort. Am Zaun, direkt vor einem der Flutlicht-Scheinwerfer, stand eine große Gestalt, ein schwarzer Schatten. Der Schatten eines riesigen Hundes, der auf den Hinterläufen stand.

»Der Werwolf!«, schoss es Jack durch den Kopf.

Das Wesen sah ihm direkt in die Augen, Jack konnte sich vor lauter Angst nicht mehr bewegen. Einen Augenblick lang glaubte er, in diesen dunklen, glühenden Augen etwas Sanftes, Liebevolles zu erkennen. Alle Angst fiel mit einem Schlag von ihm ab, er wollte etwas rufen, doch da kamen die anderen Soldaten schon angerannt und feuerten Luftschüsse ab. Die Kreatur drehte sich um, sprang mit einem einzigen, unglaublichen Satz über den Zaun und verschwand heulend in der Dunkelheit des Waldes.

Groß war die Aufregung unter den Männern. Was sie da gesehen hatten, konnte unmöglich Wirklichkeit gewesen sein. Ihr Wachhund weigerte sich, die Spur in den Wald zu verfolgen, und als die Soldaten ihn an die Stelle führten, wo sich die Erscheinung gezeigt hatte, winselte er panisch, kniff den Schwanz ein und wollte nur noch weg.

Stimmte die Geschichte also, die Jonas Jack erzählt hatte? Oder war dieses Tier vielleicht nichts anderes als ein großer Hund gewesen, der sich verirrt hatte? Nach Tagen voller Fragen, Erklärungsversuchen, Unverständnis und Ratlosigkeit kehrte im Depot wieder Ruhe ein. Jack hoffte, dass Jonas es sicher nach Hause geschafft hatte. Sein eigener Arrest dauerte eine ganze Woche lang, doch Jonas besuchte ihn nicht wieder. Wie gerne wäre er einfach abgehauen, um bei Jonas zu sein. Er sehnte sich so sehr nach ihm.

Als Jack wieder in die Stadt durfte, unter der Auflage, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein, machte er sich sofort nach seinem Wachdienst auf den Weg nach Morbach. In der Gaststätte fragte er nach Jonas, doch dort kannte ihn keiner oder erinnerte sich an ihn. Im Wald und an der Burgruine rief er nach ihm und suchte – vergeblich. Jonas blieb unauffindbar, und das tat weh. Wie konnte er Jack so im Stich lassen und sich einfach nicht mehr melden? Bedeutete er Jonas denn nichts? Oder war ihm etwas zugestoßen? Hatte sein Verschwinden etwas mit der unheimlichen Begegnung am Zaun zu tun?

Vier Wochen nach all den aufregenden Ereignissen endete Jacks Zeit in Deutschland. Pünktlich zu Thanksgiving würde er wieder daheim bei seinen Eltern und Geschwistern sein. Die Lebensart in Europa und in Deutschland war ihm in all den Monaten fremd geblieben. Jonas allerdings ging ihm nicht aus dem Kopf. Einerseits war Jack verletzt und traurig, dass Jonas sich einfach so aus dem Staub gemacht hatte, andererseits machte er sich Sorgen, dass ihm ein Unglück zugestoßen sein könnte.

Jonas war Jacks erste Erfahrung, sein erster Mann, seine erste Liebe. Er würde ihn nie vergessen, das wusste er ganz sicher, auch wenn sein Herz nun gebrochen war. Als er übers große Meer flog, schaute er aus dem Fenster der Militärmaschine. Die Nacht war sternenklar. Der Mond stand hoch am Himmel, ein Vollmond, genau wie in jener Nacht vor einem Monat, als er und seine Kameraden durch die Alarmsirenen geweckt worden waren, als sie den großen Schatten gesehen hatten, der über den Zaun gesprungen und im Wald verschwunden war.

Jack blickte ins Mondlicht und spürte tief in sich plötzlich eine Sehnsucht und ein Verlangen aufsteigen, etwas Tierisches, einen Trieb. Fühlte es sich so an, schwul zu werden? Er wusste, dass Jonas etwas mit diesem Gefühl zu tun haben musste. Jonas hatte ihn verändert.

Letzte Worte

Durchs geöffnete Fenster wehte ein warmer Wind ins Krankenzimmer. Gary Grayson lauschte den Geräuschen der Stadt. Ein Freitag im Spätsommer 1994, die allabendliche Rushhour. Das Hupen der Autos, die nicht weiterkamen, und das entfernte Heulen einer Polizeisirene dort draußen in den Häuserschluchten mischten sich in Garys Kopf mit dem leisen Rauschen des Windes und dem Licht der Abendsonne, die so unerreichbar fern jenseits der stolzen Golden Gate Bridge unterging und ihre letzten Strahlen auf sein Bett warf.

Gary kam es vor, als ob die Stadt um ihn trauerte und nach ihm riefe. Als er sich die Hand vor seine Augen hielt, damit die Sonne ihn nicht blendete, konnte er unter der papierdünnen Haut das Blut in seinen Fingern sehen.

Wie gerne wäre er jetzt dort draußen, so wie früher, würde sich die Nacht im Castro um die Ohren schlagen oder den Seelöwen am Fisherman’s Wharf zuschauen, dabei ein Krabbensandwich essen, vielleicht mit seiner alten Irish-Terrier-Dame Ella im Bernal Heights Park spazieren gehen. Doch nun konnte Gary dies alles nicht mehr. Er war müde und bereits zu schwach geworden, um sich im Bett aufrichten zu können.

Seine Gedanken wanderten zurück in die Zeit, als er einst in die Stadt gekommen war. Aufgewachsen in einem kleinen Ort im Sonoma County, hatte ihn San Francisco schon immer wie ein Magnet angezogen. Mit siebzehn landete er hier, ein hübscher, typisch kalifornischer Junge, blonde Haare, braungebrannt und drahtig. Er hatte die Schule abgebrochen, war daheim rausgeflogen und stand schließlich mit leeren Taschen in dieser fremden, faszinierenden Stadt.

San Francisco nahm ihn auf und schenkte ihm ein neues, aufregendes Leben. Er versuchte sein Glück als Bote für den San Francisco Globe, und im Laufe der Jahre schaffte Gary es zu einem eigenen Büro und einer eigenen wöchentlichen Kolumne auf der Business-Seite der Zeitung.

In San Francisco lernte er die freie Liebe kennen, dort durfte er endlich seine Liebe leben. Gary dachte an Robin, seinen ersten Freund, und an John, mit dem er achtzehn Jahre zusammengelebt hatte. Mit ihm hatte er das schöne Haus auf den Bernal Heights gekauft, das jetzt leer stand. Sie hatten so viele Pläne gehabt, doch John wurde krank und musste schließlich seinen Job aufgeben. Gary blieb die ganze Zeit über bei ihm und pflegte ihn, bis er schließlich in seinen Armen starb. Die Erinnerung daran schmerzte noch heute.

Der warme Wind aus der Bucht strich über Garys Gesicht und trocknete die Tränen, die in seinen Augen standen. Alles, was ihm wichtig war, das war dort draußen. Seine Vergangenheit, sein Leben, seine Träume und seine große Liebe. Für ihn war John nicht tot, er war frei. Gary aber war hier zurückgeblieben, alleine, war gefangen in einem sterbenden Körper. Die Krankheit hatte ihm alles genommen, was er gehabt hatte, und er wusste, sehr bald würde sie ihm, wie damals John, den Tod bringen.

Er hörte die Schwestern, die sich im Nebenzimmer auf den Schichtwechsel vorbereiteten. Der Lärm des Großstadtverkehrs verebbte langsam, im Krankenzimmer wurde es stiller.

Zuerst war er Gary gar nicht aufgefallen. Still stand er neben seinem Bett, schien darauf gewartet zu haben, dass Gary ihn bemerkte. Er war ein gutaussehender junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, sah zu ihm hin und lächelte ihn an. Eine unwirkliche Ruhe ging von dem Unbekannten aus. Es erschien Gary, als ob dieser Fremde schon die ganze Zeit da gewesen wäre, obwohl er ihn erst jetzt wahrnahm. Ihm war, als kenne er den Mann schon ewig, so, wie man einen alten Freund kennt, und doch sah er ihn gerade zum ersten Mal.

»Wer bist du?«, flüsterte Gary.

Der Mann lächelte, nahm Garys Hand und legte sie in die seine.

»Woher kommst du?«

»Von dort draußen«, antwortete der Mann mit ruhiger Stimme und blickte hinaus zu den ersten Sternen. Seine Augen waren blau wie der Sommerhimmel, und sie glänzten wie der Pazifik unten am Baker Beach, wenn sich die Sonne darin spiegelte. Die Ruhe und die Stärke, die der Unbekannte ausstrahlte, gaben Gary die Kraft zu einem Lächeln.

»Komm«, sagte der Fremde.

In diesem Augenblick erkannte Gary ihn. Er spürte, wie eine Träne über seine Wange rann. Der Besucher beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn liebevoll auf die Stirn. Da spürte Gary nichts als Stille. Der Engel nahm ihn in seine Arme, er hielt ihn fest und er trug ihn, als sie nach draußen flogen.

Schwuchtel

Hastig packte David seine Schulsachen in den Ranzen und stürmte aus dem Haus. Es war schon halb neun, als er endlich im Bus saß. Eine Doppelstunde Mathe lag vor ihm und eine Standpauke des Lehrers, weil er schon wieder zu spät zum Unterricht kam. Durch die verdreckten Scheiben starrte David hinaus in den Regen und fing an zu träumen. Die Busfahrt gab ihm die Möglichkeit, für ein paar Minuten aus der Realität zu flüchten, in sein eigenes Reich, eine Fantasiewelt, in der er ein Held war, den jeder mochte.

In ein kleines Heft schrieb er Geschichten von seinen Abenteuern als Fürst der Falken, Herrscher der sieben Weltmeere. Drachen, Seeungeheuer und starke Krieger zeichnete er. Außer Mike hatte er niemandem je davon erzählt.

Mit einem Ruck kam der Bus zum Stehen. »Sakra! Scheiß Fahrradfahrer!« Der Busfahrer zeterte noch, als David schon die Treppenstufen zum Schultor hinaufhastete. Viertel vor neun! Wie erwartet konnte er sich wieder das Gemeckere des Lehrers anhören und das Geflüstere und Gekichere der Zwillinge Wanja und Tanja, die in Mathe hinter David saßen. Er war nicht sehr beliebt in der Klasse. Ein Außenseiter, einer, über den alle lachten. Aber das war ihm egal, denn er hatte ja Mike, seinen besten Freund.

Sie waren schon Sandkastenfreunde gewesen, hatten zusammen ein Baumhaus errichtet, auf dem Kirschbaum im Garten von Mikes Großvater. Einen Staudamm hatten sie gebaut und den kleinen Fluss so weit zurückgestaut, dass die ganze Wiese überschwemmt worden war. Heimlich waren sie in ein leerstehendes Haus am Stadtrand eingestiegen und hatten sich dort ihr Versteck eingerichtet. Am liebsten wäre David immer mit Mike zusammen gewesen – da war dieses Gefühl. Etwas, das er nur empfand, wenn er bei ihm war, etwas, das er überhaupt nicht beschreiben oder einordnen konnte.

Dann, vor ein paar Wochen, als die beiden wieder bei Mikes Opa auf dem Land gewesen waren, war etwas passiert. Ein gewaltiges Gewitter zog auf und entlud sich, sie hatten in einer Scheune Schutz suchen müssen, um nicht nass zu werden. Ganz dicht hatten sie beide beieinander gesessen. Auf einmal hatte Mike seinen Arm um ihn gelegt. In Davids Kopf hatte sich plötzlich alles gedreht, seine Gefühle waren Achterbahn gefahren. Mit einem Mal war ihm klar geworden, was los war. In diesem Moment hatte sein Leben sich für immer verändert, denn er erkannte, was er war. Als es aufgehört hatte zu regnen, waren sie schweigend zurück zum Haus des Großvaters gegangen. Über das, was da gerade passiert war, sprachen sie kein Wort.

In der Folgezeit hatte David Mikes Nähe gesucht, doch der hatte sich immer mehr vor ihm zurückgezogen. Ihre Freundschaft wurde nie wieder so, wie sie einmal gewesen war. Neuerdings hatte Mike außerdem eine Freundin und plötzlich keine Zeit mehr für ihn. Jennifer, das hübscheste Mädchen in der Klasse. Es tat David weh, wenn er die beiden sah.

»Wenn’s Dir wirklich ernst wäre mit unserer Freundschaft, dann würdest du Deine Zeit mit mir verbringen und nicht nur mit ihr.« Niemals hätte er sich getraut, Mike das so zu sagen. Schreiben, das konnte er. So, wie er seine Geschichten aufschrieb, hatte er also einen langen Brief an Mike verfasst und darin all seine Gefühle gestanden. Diesen Brief hatte er gestern heimlich in Mikes Schultasche gesteckt.

Endlich klingelte es zur großen Pause, alle strömten aus den Klassenzimmern. Endlich würde er die Chance haben, mit Mike über alles zu reden. Wie er den Brief wohl aufgenommen hatte? Ob er die gleichen Gefühle für ihn in sich trug wie David für Mike? Vielleicht. Nein, ganz bestimmt, das spürte er. David freute sich und fühlte sich so stark wie sein Held aus den Geschichten, die er sich ausdachte. Es war gut, dass er so mutig gewesen war und sich das mit dem Brief getraut hatte. Er würde Mike für sich zurückgewinnen, alles wäre dann wieder so wie früher … und noch viel besser.

»Schwuchtel!« David glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.

»Na, du Schwuli?« Es war Steffen Herrmann, der ihm auf dem Pausenhof grinsend den Weg versperrte. Steffen war der beste Sportler in der Klasse, nebenbei noch im Ringerverein und einer, der immer auf Ärger aus war. Lukas Murr und Daniel Trentz hatte er im Schlepptau. »Wir haben uns das schon gedacht. Du bist also ein Hinterlader.«

Lukas hielt einen Stein in der Hand. David hatte keine Chance, sie befanden sich in einer verlassenen Ecke des Schulhofs, es gab keine Möglichkeit, noch irgendwie wegzulaufen.

Gerade jetzt wünschte er sich in seine Fantasiewelt, doch kein Falke würde ihm nun zu Hilfe kommen. An das Sommergewitter dachte er, und an Mikes Arm der ihn festhielt. Wenn doch alles anders wäre! Vielleicht, irgendwann? Das war das Letzte, was ihm in den Sinn kam, bevor der Stein ihn am Kopf traf.

Sonne, Mond und Sterne

Kevin stand vor dem Schaufenster einer Boutique und betrachtete sich die teuren Krawatten und die Anzüge. Irgendwann wollte er auch so schicke Klamotten haben. Er sah den Männern hinterher, die an ihm vorbeischlenderten, und denen, die aus dem Laden kamen. Lange blickte er ihnen nach und wartete auf ein Zeichen.

In München war an diesem Mittwoch im August 1999 viel los. Überall sah man diese unsäglichen SoFiBris, die Menschen versammelten sich, um das Himmelsereignis des Jahrhunderts zu bestaunen. Männer und Frauen mit Einkaufstüten hasteten an Kevin vorbei, in der Fußgängerzone waren Straßenmusikanten in indianischen Trachten mit Panflöten unterwegs.

El cóndor pasa

Das Gedudel ging Kevin auf den Geist, aber er konnte hier jetzt nicht so einfach abhauen, noch nicht. In der Woche zuvor war es doch genau hier so gut gelaufen!

Wie ein Raubtier im Käfig schlich er auf und ab, lauerte. Männer sahen ihn flüchtig an, doch Kevin wartete auf ein Lächeln. Er wartete und schaute, lehnte sich an die Wand und wartete weiter, auf einen etwas zweideutigen, erwiderten Blick.

Vor knapp zwei Jahren hatte er mit der Sache angefangen. Damals war er fünfzehn gewesen. Im Kaufhaus hatte er an den Spielekonsolen gezockt, schon den ganzen Nachmittag lang, als ein Mann ihn ansprach. Ob er sich zwanzig Mark verdienen wolle. Kevin sollte ihn dann anfassen, in der Kabine der Kaufhaustoilette. Nur anfassen, nichts weiter, und dafür zwanzig Mark. Das war eine Menge Geld für Kevin. Geld, von dem er sich schließlich ein Tamagotchi kaufte. Sein Vater hätte ihm für so etwas nie im Leben auch nur eine Mark gegeben.

Vielleicht waren dieser Mann und alle die, die danach kamen, für Kevin so eine Art Vater-Ersatz. Sein richtiger Vater trank viel und schlug ihn oft.

Helmut, ja, der war anders. Kevin traf sich oft mit ihm, sie