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Geschichte einer fiktiven Lesung, die unvorhergesehen in die reale Lesung eines italienischen Starautors über Terrorismus übergeht und die Stadt in Angst und Schrecken versetzt.
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Seitenzahl: 238
Veröffentlichungsjahr: 2021
Novemberabend in einer Universitätsstadt in Deutschland. In der alten Buchhandlung am Schlossplatz laufen die Vorbereitungen für eine letzte Autorenlesung.
Fabian Faber, der Ich-Erzähler, steht gegenüber an der Ecke des Palais Stutterheim. Ihn interessiert nicht die Lesung des Jung-Autors. Seine Gedanken schweifen ab. Er stellt sich eine Jubiläums-Lesung vor; eine Lesung im großen Stil, die bisher nicht stattgefunden hat und wohl auch nie mehr dort stattfinden wird. Vier Schauspielerinnen und Schauspieler vom Theater schlüpfen in die Rollen bekannter Detektive und Autoren der Weltliteratur und versuchen gemeinsam in Form einer Lesung den Mord an einer jungen Frau zu klären.
Faber ahnt nicht, wie seine Geschichte, deren Spur zu einem Jahre zurückliegenden Mord in Florenz führt, auf das verweist, was noch kommen wird: Nur einige hundert Meter entfernt, im Forum eines weltweit agierenden Konzerns liest am selben Abend ein italienischer Starautor aus seinem neuen Buch über Terrorismus. Fabers Geschichte wird sich als reale Vorgeschichte einer grausamen Wirklichkeit erweisen, die wie ein Sturm über diese verträumte Universitätsstadt hereinbricht.
Marius Prévot, geboren 1942 Autor und Wirtschaftswissenschaftler, lebt in Franken und auf einer Nordseeinsel. Himbeerpalast (Neufassung: 2021) und Noch einmal Paris (2021) sind nach den großen Erfolgen von Ferne Tage in Franken (2015), Eine Straße in Franken (2010), Himbeerpalast (2004) und Riesenrad (2002), weitere Romane.
Marius Prévot
Himbeerpalast
Roman
1 .Auflage 2021 Neufassung des Romans
Himbeerpalast von 2004
© Christine Probst, Erlangen
Herausgeber: Kristina Probst Verlag
Autor: Marius Prévot
Umschlagmotiv: Foto des Autors
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,
22359 Hamburg
ISBN Taschenbuch: 978-3-347-36643-5
ISBN Hardcover: 978-3-347-36644-2
ISBN e-Book: 978-3-347-36645-9
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… oder doch nur eine unwahrscheinliche Geschichte?
Ich zögere, noch immer betroffen von den Ereignis-sen, die ich möglicherweise selbst heraufbeschwor. Am Ende wird der Leser vielleicht zu dem Schluss gelangen, dass es sich weniger um die Schilderung eines mysteriösen Kriminalfalles als um die einer Liebesgeschichte handelt, in deren Mittelpunkt Katya, genauer gesagt, Katya Sommerfeld, eine junge Buchhändlerin, steht. Auch wäre »Das Jubiläum, das nicht stattfand« als Titel durchaus sinnvoll. Aber was nicht stattfindet, kann schlecht von Interesse sein. Es gibt bei genauer Be-trachtung, so viele Möglichkeiten. Ich muss zugeben, etwas ratlos zu sein, und überlasse daher dem Leser die Entscheidung. Vielleicht auch, weil ich in mancher Hinsicht voreingenommen bin. Voreinge-nommen, ja - es ist das richtige Wort. Weil ich anfangs glaubte den Gang der Geschichte zu kennen, und dennoch überrascht war von den tatsäch-lichen Ereignissen, die meine unwahrscheinliche Geschichte ein- und überholten und ihr im Nachhinein eine Bedeutung zukommen ließen, mit der ich nicht gerechnet hatte.
»Es giebt eine Reihe idealischer Begebenheiten, die der Wirklichkeit paralell läuft. Selten fallen sie zusammen. Menschen und Zufälle modificiren gewöhnlich die idealische Begebenheit, so daß sie unvollkommen erscheint, und ihre Folgen gleichfalls unvollkommen sind.«
Zitat aus: Novalis Schriften, Band 1, Seite 363
Hrsg. von Ludwig Tieck und Fr. Schlegel, Paris 1837
I
AM MORGEN DES vierzehnten November hängen Arbeiter in schwarzen Overalls, auf Hebebühnen in luftiger Höhe über dem Schlossplatz schwebend, Lautsprecher im Geäst der kahlen Bäume auf. Übermütig treibt ein böiger Wind die letzten Blätter der Platanen durch die Hauptstraße dem Platz zu und lässt sie zur Erbauung des Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth, des Gründers der Universität, ausgelassen einen Reigen tanzen. Dann, mit einem Mal, zerreißt das bleierne Grau tief dahinjagender Wolken, Sonnenlicht blitzt aus einem kobaltblauen, ungewöhnlich klaren Himmel hervor und hüllt den Platz und das bronzene Standbild, für Momente nur, in eine für mich überraschende, unwirkliche Frühlingsstimmung.
Was hier auf dem Schlossplatz vor sich geht, sind nichts anders als die alljährlichen Vorbereitungen des Weihnachtsmarktes, dachte ich. In wenigen Tagen wird man eine kleine Stadt brauner Holzbuden mit rotweiß gestreiften Dächern, eingefasst von künstlichen Tannengirlanden, aufbauen. Lebkuchenhäusern werden sie gleichen, mit engen Gassen, in denen erwartungsvolle Kinder mit glänzenden Augen ihre Eltern an der Krippe vorbei zu den geschwind sich drehenden weißen und braunen Pferdchen, den Elefanten und Gockelhähnen des Kinderkarussells vor dem Eingang des Schlosses zerren werden. Eine riesige, dort hingestellte Tanne (riesig aus Sicht der Kinder, ansonsten eher bescheiden und lieblos wirkend) mit vielen kleinen Lichtern, goldenen und glänzendroten (sicherlich leeren) Geschenkpaketen, Glocken und voluminösen Schleifen wird die Illusion von Besinnlichkeit und Freude auf das Fest vorgaukeln.
Aber noch war vieles anders als in den vorangegangenen Jahren. Ich stellte mir einen riesigen Bildschirm auf einem stählernen Rohrgerüst vor, diagonal zur Linie zwischen dem Standbild und dem Eckhaus am Schlossplatz aufgebaut, in dem sich die Buchhandlung befindet. Und Absperrgitter mit weiß-roten Planken stellte ich mir vor, die bereits entlang der Hauptstraße die Fahrbahn vom Gehweg trennen, in die ein flegelhafter Wind hineinfegt, ungeduldig an ihnen rüttelt, bis sie zu kippen beginnen, sich drehend abwenden, und der sie mit einer einzigen Böe schließlich wütend und mit lautem Geschepper zu Boden wirft. Ich beobachte, stelle ich mir vor, wie besorgte Menschen einige der Absperrungen wieder aufstellen oder zwischen den Schaufenstern an die Hauswand lehnen. Andere lässt man einfach liegen. Spaziergänger und Radfahrer machen einen großen Bogen um sie, als wären sie schon immer Bestandteil eines gewollten und besonders ausgeklügelten Hindernislaufes in der Fußgängerzone. Auch die Geschäftigkeit einiger offensichtlich wichtiger Leute fällt mir auf, stellte ich mir vor. Einige von ihnen in das intellektuelle Schwarz der Künstler gekleidet, die zuvor Limousinen aus der Nachbarstadt und sogar aus der Landeshauptstadt entstiegen sind, die nun ihre Mantelkragen hochschlagen und mit gebieterischer Gestik die Vorbereitungen begleiten. Oder jene, die hastig allerlei Gerät – Stative, zusammengeklappte Reflektorschirme, Scheinwerfer und Kameras sind zu erkennen – durch die weitgeöffnete, zweiflügelige Glastür der Buchhandlung schleppen. Kräftige Männer, ebenfalls in Schwarz gekleidet (warum nicht im Matrosenanzug, fragte ich mich), tragen schwer an riesigen, silberfarbenen Metallkoffern, als kehrten sie gerade von einer mehrmonatigen Weltumsegelung heim. So, oder so ähnlich sollten die Vorbereitungen des großen Jubiläums eigentlich ablaufen, überlegte ich mir, wären die Buchhändler es ihren literaturbegeisterten Kunden, zu denen ich mich seit vielen Jahren zähle, schuldig. Es war, als sei ich aus der Zeit gekippt. Vielleicht war es auch die der Langeweile entsprungene Lust, meinen Gedanken einfach freien Lauf zu lassen. Wie dem auch sei, ich schuf mir, während ich vor Kälte zitternd im gelben Licht der Straßenlaterne an der Ecke des Palais Stutterheim ausharrte und einige Augenblicke lang gedankenversunken auf die sich mit einem infinitesimalen Zischen verabschiedenden Schneeflocken im sterbenden Feuer des Maroni-Ofens neben mir starrte und unter den Klängen einer Balalaika, mit der sich, mir gegenüber vor der Buchhandlung, ein hagerer Russe mit langen Haaren und khakifarbenem Militärmantel die Sehnsucht nach den Weiten seiner Heimat aus der Seele spielte, meine eigene Jubiläumsfeier der Buchhandlung am Schlossplatz.
Zugegeben, ich war selbst überrascht von der Klarheit der üppig blühenden Bilder, die meiner Vorstellungskraft in der Vertikalen entsprangen. Erlebe ich sie in dieser Ausgeprägtheit sonst nur in der Horizontalen (zu Hause entspannt auf dem weißen Ledersofa liegend, als würde der große Sigmund Freud – wenn auch damals, der besseren Wirkung wegen, auf einem Perserteppich bedeckten Sofa – soeben meiner Psyche das Fliegen beibringen). Auch überlegte ich mir schon einmal, endlich ein der absoluten und mir bislang unbekannten Wahrheit entsprechendes Portraitfoto von mir anfertigen zu lassen, das mich in der Vertikalen zeigt, obwohl in der Horizontalen aufgenommen – in der Vertikalen, mit geschlossenen Augen und einem verklärten, der Wirklichkeit entrückten Gesichtsausdruck, der, falls man diesen Zustand – wie ich vermute – einer Totenmaske nicht unähnlich und doch erfüllt von blühendem Leben ist, falls man diesen Zustand noch als einen eher diesseitigen zu betrachten vermag.
Vier Tage nach jenem bereits eingangs erwähnten vierzehnten November, einem Dienstag, der nicht gerade der Tag des Herrn war (ich verfluche diesen Tag!), reihte sich in meiner Vorstellung abermals Bild an Bild, bis sie sich zusammenfügten zu einem, zugebenermaßen recht laienhaften Film. Ungeduldig versuchte ich, das Geschehen in der erleuchteten Buchhandlung beobachtend, in einer der Sitzreihen weißer Plastikstühle endlich Katya, meine Angebetete, zu entdecken (ich kann nicht der Versuchung widerstehen, diesen antiquierten, aber so ehrlich klingenden Begriff zu gebrauchen, den ich jetzt, einige Monate später, mit noch immer wachsender Wehmut gebrauche). Ich sah, wie sie damit beschäftigt war, den Literaturbegeisterten die wenigen noch freien Plätze zuzuweisen, während der mit Bürstenhaarschnitt und dunkler Brille auftretende (wie affig, denke ich noch heute) und von den Printmedien hochgejubelte Jung-Autor des heutigen Abends bereits ungeduldig am Pult stand, um endlich mit der Lesung aus seinem neuesten Werk beginnen zu können. Und dabei hatte er die linke Hand so großkotzig lässig in der Hosentasche, dass man neidisch werden konnte, während er gerade mit der Rechten in einem von zwei seiner (?) Bücher blätterte, die er, versehen mit farbigen Papierstreifen als Lesezeichen, neben einem leeren Glas und einer Flasche Selters vor sich liegen hatte. Nur ungenau erkannte ich, was in dem großen Raum der Reiseabteilung in der Buchhandlung vor sich ging. Zum ersten Mal hatte man wegen des zu erwartenden Ansturms sogar den die ganze Mitte einnehmenden Kartentisch entfernt. Die Schaufensterdekoration und die der Größe nach aufgereihten Globen verdeckten einen Teil der Sicht ins Innere. Ich blieb mit meinen Gedanken draußen auf der Hauptstraße vor der Buchhandlung. Zu meiner Linken der den Platz beherrschende Sandsteinbau des Schlosses mit seiner Einflüsse der französischen Klassizistik offenbarenden strengen Linienführung, der die Universitätsverwaltung beherbergt und nun, von meinem Standort aus, wie ich mir vorstellte, von einem drei oder vier Meter hohen und etwa sechs Meter breitem flimmerndem Bildschirm verdeckt wird. Ich stelle mir vor, wie sich zunehmend erwartungsfrohe Menschen hinter den Absperrungen versammeln, und bin erstaunt, wie viele Literaturbegeisterte in dieser Stadt und seiner Umgebung diesem wohl epochalen Ereignis folgen. Oder ist es doch nur die primitive Neugier bloßer Gaffer, hervorgerufen durch die wenige Tage zuvor begonnenen Vorbereitungen, die trotz des schlechten Wetters ein für diese Stadt ungeahntes Ausmaß an Aufmerksamkeit erreichen? überlegte ich. Dabei blieb lange Zeit im Dunkel, welch bedeutendes Ereignis bevorsteht. Die Presse hüllte sich wieder einmal in penetrantes Schweigen. Nicht der kleinste Hinweis war in den Tageszeitungen zu entdecken. Lediglich über eine komplexe Story, ein 45-minütiges Filmepos eines Studenten, wurde im Lokalteil berichtet und über Kunstwerke als Geldanlage, eine Präsentation der Werke des Amerikaners Tom Wesselmann, eines frühen Vertreters der Pop Art, in der HypoVereinsbank, und wohl nur für einen erlesenen Kundenkreis gedacht; alles absolut bedeutungslos für das literarische anspruchsvolle Bürgertum, bedenkt man, was tatsächlich im Zentrum der Universitätsstadt bevorsteht, dachte ich. Erst die Einsicht eines aufmerksamen Kulturredakteurs in der Nachbarstadt (welch eine Schmach!) sollte endlich am Tag zuvor in einem Artikel des überregional erscheinenden Feuilletons der Wochenendausgabe auf die epochale Bedeutung des literarischen Großereignisses aufmerksam machen.
Ich stellte mir vor, wie ich frierend etwas abseits der erwartungsvollen Menge stehe, rücke schließlich näher an die Hauswand, lehnte dort, abwechselnd mich mit abgewinkeltem Bein und der Schuhsohle daran abstützend, mit verschränkten Armen, um mich selbst zu wärmen, und da fiel mir ein, ich könnte in dieser aufreizenden Pose auf neben mir Stehende oder Vorbeikommende den Eindruck eines in die Jahre gekommenen Strichjungen erwecken, der auf Kundschaft wartet (dabei weiß ich bis heute nicht, ob es in dieser kleinen, sich so bieder darstellenden fränkischen Großstadt überhaupt so etwas gibt). Dann stellte ich mir vor, wie sich soeben ein kleiner Konvoi historischer Automobile, ausgehend vom Neuen Markt vor dem Rathaus, in Richtung Schlossplatz in Bewegung setzt. Etwas später dann am Hugenottenplatz, vom gleißenden Licht des Krans über der Baustelle der neuen Buchhandlung in Szene gesetzt, allen voran die Vorhut, angeführt von einem siebzig Jahre alten, auf Hochglanz polierten Lagonda, gefolgt von einem weißen Borgward Isabella aus den siebziger Jahren und einem Mercedes SSK aus dem Jahr 1929, alle zur Verfügung gestellt von den Veteranenfreunden der Stadt und Umgebung und vom Oldtimerclub der Nachbarstadt, geschmückt mit grün-orangen Fähnchen (den Farben der Buchhandlung) und bunten Luftballons, als würden sie gerade zu einer Frühlingsrallye aufbrechen. Natürlich haben sie nicht die werbewirksamen Hinweise der Sponsoren auf die der Vorhut in respektvollem Abstand folgenden Limousine, einen BMW 3200 Bertone Coupé aus den frühen sechziger Jahren, vergessen: Harte, weiche, Farblinsen, Tageslinsen, Monatslinsen, Jahreslinsen, steht auf den im Wind wirbelnden bunten Luftballonlinsen der Amberger Kunststofflinsenmanufaktur, während die Inhaber des Optikgeschäftes bereits erwartungsvoll unter der Ladentüre ausharren, um ihrem Fahrzeug zugleich übertrieben huldvoll zuzuwinken. Und es gibt noch anderes Sehenswertes, solches mit Schusters Schuhen und Stiefeln, ebenfalls in Form riesiger Luftballons, mehr hinter als über einem VW-Käfer 1302 aus den siebziger Jahren, aneinandergekettet in wirbelnden Schneeflocken schwebend, oder jene auf einem verkleideten Lieferwagen zur Schau gestellten skurrilen Plastikobjekte menschlicher Gliedmaßen eines Sanitätshauses am Marktplatz.
Vielleicht lag es an dieser sich in meiner Vorstellung eingenisteten Zurschaustellung menschlicher Körperteile, die in jenem Augenblick die Erinnerung an einen kaum 18 mal 15 Zentimeter messenden Stahlstich auslöste, den ich seit einigen Jahren im Arbeitszimmer meines bescheidenen, an einem kleinen See liegenden Vororthauses hängen habe. Ein in schlichtes Silber gerahmtes Blatt, das dennoch jeden, der den Raum betritt, sofort ins Auge springt. Ich hatte dieses Bild einige Jahre zuvor während einer Vernissage in Nürnberg erworben; nicht nur wegen des Mottos Saalfelder Metamorphosen, unter dem der Zyklus der ausgestellten Stiche stand, wobei ich mich nur für dieses eine von insgesamt vier Blättern entschieden hatte, weil mir das Motiv am rätselhaftesten erschienen war; ein sich in der unendlichen Weite verlierender Sandstrand und im Vordergrund ein mittig dargestellter großer, schräg in den Sand gesetzter Würfel, zu beiden Seiten flankiert von jeweils einem in gleicher Größe aufgestellten Fisch. Bizarre Details, die mir in jenem Augenblick, an der zugigen Ecke des Palais Stutterheim inmitten tanzender Schneeflocken ausharrend, wieder einfielen: Fische an den Flanken, gestützt durch sichtbares Ziegelmauerwerk, das die offensichtlich verwesten Innereien des Kadavers ausfüllt; alles in der surrealistischen Art der Darstellung an Salvadore Dalí erinnernd. Der Verwesungsprozess der Liebe, Jahrzehnte des miteinander Altwerdens, unsere eigene Vergänglichkeit, die wir, unsere aufrechte Haltung krampfhaft wahrend, versuchen, künstlich hinauszuschieben – so realistisch und deshalb in jenen Augenblicken für mich so deprimierend vorweggenommen. Es ist gut, dass Katya meine gedanklichen Assoziationen nicht mitbekommt, dachte ich, während ich sie von meinem Standort aus gut beobachten konnte. Sie würde mich mit ihren großen meergrünen Augen anschauen, den Mund zur Seite hin leicht verziehen (nicht Verächtlichkeit, eher nur Zweifel an meinen Überlegungen ausdrückend) und würde mich einfach für verrückt erklären. Sie würde mit mir nicht über die Philosophie des (vielleicht gemeinsamen, wie ich mir vorstellte) Altwerdens diskutieren wollen, weil sie in ihrem beneidenswerten Alter von gerade mal achtundzwanzig Jahren naturgemäß von der Sinnlosigkeit derartiger Überlegungen überzeugt ist, während ich mir mit meinen inzwischen Anfang Vierzig durchaus darüber Gedanken mache. Zwar nicht oft, aber manchmal – so wie damals, als ich das Bild erwarb, - ist mir danach, mich einer mitunter sogar vergnüglich erscheinenden geistigen Herausforderung zu stellen, ohne vorher zu wissen, auf was ich mich tatsächlich einlasse. Die Entschlüsselung eines Bilderrätsel also, das wahrscheinlich nur dem Urheber selbst in seinem stillen Kämmerchen irgendwo in der Abgeschiedenheit des Thüringer Waldes (?) bekannt sein wird, dachte ich. Ich gebe zu gerade diesen Reiz zu suchen, den Reiz, mehr als eine einzig wahre, eine einzig gültige Interpretation in einem Bild zu finden und sie zugleich mit einer durchaus subjektiv betrachteten Symbolhaftigkeit zu verknüpfen. Zumindest glaubte ich jetzt zu wissen, wie eine Metamorphose zur Metapher werden kann, ging es mir, an der Ecke des Palais Stutterheim stehend, durch den Kopf, erinnere ich mich. Und in sehr drastischer Darstellung: Nichts bleibt, wie es ist, und schon gar nicht die Zuneigung zu einer anmutigen und intelligenten jungen Frau wie Katya Sommerfeld, auch wenn ich mir das manchmal nicht eingestehen will oder nicht bereit bin, die Veränderung hinzunehmen. Durchaus verständliche Überlegungen in der mentalen Situation, in der ich mich gerade befinde, dachte ich. Und dann der Titel des Bildes, über den ich noch heute rätsle und der mich auch gleich wieder auf andere Gedanken bringen sollte: Die Leuchtkraft der Fischwappenstruktur steht in genau umgekehrtem Verhältnis zur Segelstellung des magischen Würfels – allerdings nur bei Westwind, steht in merkwürdig geformten, runenähnlichen Schriftzeichen darunter, erinnerte ich mich. Es war kein Westwind, eher schon ein Wind mit wechselnden Richtungen, wie sie ihn am Morgen im Radio angekündigt hatten, der jetzt plötzlich heftiger werdend, Schneeflocken (nahezu unmöglich, in die Buchhandlung gegenüber hineinzusehen) vor sich hertrieb.
Klare Bilder, die nun wieder meiner Vorstellungskraft entsprangen, während ich, wie bereits erwähnt, an der Ecke des Palais Stutterheim stand, einen kleinen, schreienden Jungen vor mir wahrnehmend, dessen graue Schirmmütze im Wind auf die andere Straßenseite kullert, und den besorgten Aufschrei der Mutter zu hören glaube (der den Gedanken an den Verwesungsprozess der Liebe ebenso schnell wieder vergessen ließ, wie er sich in meinem Kopf zuvor ausgebreitet hatte) – als der Junge sich plötzlich losreißt, unter der Absperrung hindurchtaucht, während ihn schon der Lichtkegel der ersten Autoscheinwerfer inmitten der Straße erfasst. Und da sehe ich einen umsichtigen Ordnungshüter in blauer Uniform, der versucht, den Kleinen einzufangen, sehe den Knirps, wie er versucht, seiner Mütze näherzukommen, sich bückt und sie beinahe zu fassen bekommt – und sie doch nur wieder mit dem Fuß vor sich her kickt und in die andere Richtung davonrennt, nicht wie ein Kind, eher ungelenk, wie ein zu klein geratener Erwachsener, ein Gnom, der fast keine Haare auf dem Kopf hat und dessen fratzenhafte, von tiefen Falten durchzogene Visage ich einen Moment lang im Licht der Scheinwerfer zu erkennen glaube. Und sein blödes Lachen, eher ein hysterisches Schreien, das weder dem eines Kindes noch dem eines Erwachsenen ähnelt, fällt mir auf, stellte ich mir vor. Dann sehe ich ihn, wie er im Schutz der Röcke und Hosenbeine untertaucht (wo bleibt die Frage der Symbolhaftigkeit seines Auftritts? fragte ich mich später und fand keine Antwort). Es ist dieses schreiende Lachen oder lachende Schreien aus gegensätzlichen Richtungen, echogleich durch die Straßen hallend, das die wartende Menge ablenkt, sie narrt, bis weitere Vehikel, vom Hugenottenplatz kommend, unmittelbar vor uns auftauchen. Im ersten der Starreporter des Bayerischen Fernsehens Simon Gotthilf von der ihn begleitenden Kamera aufgenommen und nun erstmals auf dem Großbildschirm auf dem Schlossplatz zu sehen. Schon heißt seine sonore Stimme aus den schwarzen Lautsprecherboxen zwischen den kahlen Bäumen, die auf dem Platz und in der Hauptstraße versammelten, inzwischen unterkühlten Menschen willkommen. Er verspricht ihnen einen ereignisreichen Abend, kündigt unter dem Beifall der Menge die Schauspieler des Markgrafentheaters sowie des Schauspielhauses und des Stadttheaters der Nachbarstädte an, die heute Abend die Rollen bekannter Autoren und Detektive aus der einschlägigen Literatur übernehmen werden und sich aus Anlass des bedeutenden Jubiläums der Buchhandlung am Schlossplatz bereits in wenigen Augenblicken zu einer gemeinsamen Darbietung einfinden werden.
Gejohle und Beifall, trotz der einbrechenden Dunkelheit und des nasskalten Windes, stelle ich mir vor. Und da tritt auch bereits, von den Fernsehleuten geschickt inszeniert, das Begrüßungskomitee aus der großen zweiflügligen Glastür der Buchhandlung an der Ecke des Schlossplatzes: E.-M. Brook, der Geschäftsführer, ein seriöser, älterer Herr, groß und schlank mit gepflegtem weißen Bart, das Idealbild eines Buchhändlers alter Schule, der, flankiert von zwei sehr anschauenswerten jungen Damen (wie er es wohl selbst ausdrücken würde), die Bedeutung des Ereignisses stilvoll mit seinem gelbkarierten Sakko unterstreicht.
Alle stehen bereit, die große Autorin und die Detektive der Weltliteratur zu empfangen, die nun der Reporter, auf dem Großbildschirm über der Menge schwebend, der Reihe nach vorstellt: Miss Jane Marple aus London – Applaus! -, Miss Patricia Highsmith aus Tegna im Tessin - Applaus! -, soeben aus Brüssel eingeflogen Hercule Poirot – Applaus! -, Commissario Stefano Stefani aus Turin – Applaus! -: ich brauche nicht zu betonen, welch eine besondere Ehre dieser Stadt dadurch zuteilwird. Mit diesen Worten versucht der Starreporter das Ereignis der staunenden Menge zu verkaufen, stellte ich mir vor. Und dann der Dank an die Schauspieler, an Carmen Dufy, die in diesem Augenblick unter dem Beifall der Menge einem schwarzen neunzehnhundertfünfziger Jaguar MK V entsteigt (als Chauffeur glaube ich Mr. Stringer zu erkennen), Clair Morgan (wohl eher Zufall als Absicht!), die ihr in einem sechzig Jahre alten, rabenschwarzen Citroen 11 CV folgt, schließlich Sascha Wering in einem Peugeot 201 aus den dreißiger Jahren und als letzter Jan Offering im selbstchauffierten, aufreizend eindrucksvollen, viersitzigen Alfa Romeo 8 C 2300 Lungo aus dem Jahr 1932. Sie alle haben sich für diese besondere Art der Lesung zur Verfügung gestellt.
2
INZWISCHEN SIND ALLE Plätze in der Reiseabteilung besetzt. Auch die wenigen Stufen, die hinauf zur Taschenbuchabteilung führen. und selbst die Auslagen vor den Regalen, die sonst der Buchpräsentation dienen, hat man nicht verschont. Vor Amerika sitzt ein langhaariger junger Mann mit Pferdeschwanz und vor Norwegen und Schweden lassen sich zwei zierliche Japanerinnen Rillen der Regalbretter in den Rücken drücken. Ohne Zweifel hätte eine Lesung, die auf ein so reges Interesse stößt, ein Ausweichen in die Aula der Universität im danebenliegenden Schloss gerechtfertigt. So war es bisher immer. Aber diesmal ist es etwas anderes. Man will den Ort der Buchhandlung selbst würdigen, in dem vor zwanzig Jahren die ersten Gehversuche gewagt wurden und wo man inzwischen mit großem Stolz auf 662 Veranstaltungen zurückblicken kann. Man wolle nicht die Statistik überstrapazieren, meint E.-M. Brook, der Geschäftsführer, aber er könne mit Genugtuung behaupten, alle großen deutschsprachigen Dichter in diesen Räumen zu wahrhaft erinnernswerten Lesungen und Signierstunden begrüßt zu haben.
Auf dem Großbildschirm sehe ich nun deutlich Katya in der dritten Reihe ganz außen sitzen und angespannt das Geschehen auf dem Podium beobachten. Man hat vier kleine quadratische Tische vor den Zuhörerreihen aufgebaut, stellte ich mir vor. Dazwischen jeweils einige Zentimeter Abstand gelassen. Patricia Highsmith (für sie hat man sogar den Holztisch aus ihrem Tessiner Haus eingeflogen!), Miss Jane Marple und Commissario Stefano Stefani haben bereits ihre Plätze eingenommen, besprechen noch den Ablauf der Lesung. Nur Hercule Poirot, dieser kleine Mann von eindeutig unbritischem Aussehen mit seinem eiförmigen, etwas schiefgehaltenen Schädel, scheint sich mit seiner Rolle noch nicht abgefunden zu haben. Er steht mit dem Rücken zum Publikum und verfolgt mit dem Zeigefinger auf einem großen beleuchteten Globus die Route des Orient-Express. Istanbul – Ah ja, précisément, murmelt er verschmitzt lächelnd vor sich hin und zwirbelt dabei genüsslich seinen starrgewichsten schwarzen Schnurrbart nach oben. Es sieht aus, als habe er soeben des Rätsels Lösung gefunden, als ihn Miss Marple höflich, aber bestimmt auffordert, neben ihr Platz zu nehmen, schließlich sei sie kein Ungeheuer, und sie würde ihm auch nicht zu nahekommen.
*
Und da taucht auch dieses kleine Biest wieder auf, mit irrer Freude inmitten der Straße um die mit bunten Luftballons geschmückten Autos tanzend, die Aufmerksamkeit auf sich lenkend wie ein Kasperle, bis es wieder zwischen den Beinen und Röcken der Menge untertaucht, eine Spukgestalt nur, und dann die durch die Luft peitschenden Schüsse, ein ohrenbetäubendes Knallen aus dem Hinterhalt, das die bunten Luftballons der Reihe nach zerplatzen lässt. Frauen, die hysterisch zu schreien beginnen, fallen mir auf, stellte ich mir vor.
Für einen Augenblick lähmendes Entsetzen, das dem Frohsinn in den Gesichtern wich, plötzlich musikalische Untermalung aus den in den Bäumen hängenden großen schwarzen Lautsprecherboxen, Titelmelodie einer bekannten Krimiserie (warum nicht die der Miss-Marple-Serie?, frage ich mich) aus dem Fernsehen, die zur Einstimmung des Ereignisses über den Schlossplatz schallt und sich in den Straßen und dunklen Gassen verliert; Spannung, was jetzt kommen wird, schnell laufende, sich überschlagende Bilder von der aus dem Innern der Buchhandlung nach draußen schwenkenden Fernsehkamera, auf den riesigen Bildschirm auf dem Schlossplatz übertragen, für Momente nur noch schnell durchlaufende Linien und Geflimmer, dann wieder Bilder aus der Buchhandlung mit den inzwischen zur Lesung bereiten Akteuren, eine weitere Kamera, die wieder langsam zu den erwartungsvollen, inzwischen irritierten Menschen draußen schwenkt, bis sie sich schließlich selbst staunend im Großformat auf dem Bildschirm erkennen. Dann klatscht die Menge Beifall, nimmt an, dass dies nichts anderes sei als nur Teil einer von den Fernsehleuten geschickt inszenierten, skurrilen Effekthascherei. Kurz darauf auf dem Großbildschirm in flimmernden Pixeln der Größe nach geordnete Globen auf einem halbhohen Bücherregal hinter den Akteuren des heutigen Abends, als die Kamera in der Buchhandlung über die Köpfe der Anwesenden schwenkt, schließlich das Geschehen draußen abtastet und den letzten vorbeifahrenden Oldtimer der Veteranenfreunde, einen grünen Opel 4/16 von 1928, mit den in den Farben der Buchhandlung im Wind wirbelnden grünen und orangefarbenen Luftballons vor der Buchhandlung noch ein letztes Mal groß in Szene setzt. Ein Neugieriger hinter dem geschlossenen Fenster im ersten Stockwerk der Stadtbibliothek gegenüber, der zwischen den Regalen hindurchblickt; das Gesicht eines nicht mehr ganz jungen Mannes mit vollem Haar und weichen melancholischen Zügen, etwas narzisstisch veranlagt – vielleicht –, wer kennt sich schon selbst genau? (oder doch nur ein gewolltes Spiegelbild von mir selbst, so wie manch mittelalterlicher Maler sich am unteren Rand eines Gemäldes einschmuggelte), daneben der schreiende Titel eines Buches, der einem sogar von der Straße aus ins Auge fällt: ZEITBRÜCHE, am Ende des dem Fenster zugewandten Regals, als sei dieser Titel absichtlich dort hingestellt, verwunderter, fragender Gesichtsausdruck, für einen Augenblick die auf ihn da oben gerichtete Kamera – er bemerkt es kaum, sähe er sich nicht selbst für ebendiesen kurzen Moment in Großaufnahme auf dem Bildschirm über dem Schlossplatz gegenüber, das gibt’s doch nicht?! Dann der Kameraschwenk zum beleuchteten Schloss, langsam und bedeutungsvoll aufsteigend zur Attika des Mittelrisalits, mit den über die Stadt schauenden Sandsteinfiguren Jupiter und Herkules, Mars und Minerva, in den Blitzableiter Stäben sich nun gebündeltes grünes und orangefarbenes Licht einer vom Schlossplatz zum Himmel gerichteten Laserkanone spiegelt. Dann der Schwenk zurück in die Hauptstraße, veränderte Dimensionen, die Welt erwartungsvoller Menschen, die umliegenden Gebäude, Teil einer winterlichen Modelleisenbahnstadt, die im Abendlicht vor sich hinträumt, auf das Unabänderliche zu warten scheint.
3
ICH HATTE MICH mit Katya darauf verständigt, sie nach der Lesung im TASSO zu treffen, einem Restaurant in der Nähe des Bahnhofs, einem langgezogenen Glashaus, rechtwinklig zur unmittelbar daran vorbeiführenden Bahnstrecke zwischen zwei Mauern gesetzt: den Resten der alten Stadtmauer aus Sandstein und einer zwei Stockwerke hohen, nur von innen erkennbaren Sichtbetonwand, aus deren Stirnseite intensiv blaues Licht auf die nächtliche Straße flutet. Zwei Monate zuvor war es Katya, die mich dorthin entführt hatte. Sie schien dort bereits längere Zeit bekannt zu sein (mir war die aufreizend freundliche Begrüßung des jungen Mannes hinter der langen Theke nicht entgangen), und nun fragte ich mich, warum ich mich wieder für dasselbe Lokal entschied, wo doch aller Ärger seinen Anfang nahm, auch wenn sie es danach vehement abgestritten hatte: Du spinnst ja, du bildest dir irgendetwas ein, oder: Deine Phantasie geht wieder einmal mit dir durch, womit sie manchmal recht hat, aber so war es nicht, nicht dieses Mal, was auch ihre in meinen Augen überzogene Reaktion nicht widerlegen konnte. Dabei hatte ich damals nur wissen wollen, was denn los sei, als wir im Anschluss an einen Kinobesuch im Manhattan noch ein paar schöne Stunden miteinander verbringen wollten, über den Film Der Pianist redeten, als sie plötzlich einen Anruf auf ihrem Handy erhielt, und wir uns beide erstaunt mit vollem Mund ansahen und sie mit den Schultern zuckte, als hätte sie keine Ahnung, wer sie da zu erreichen versuchte oder was dies zu bedeuten habe, die Gabel an den Tellerrand legte und das so anstößig piepsende Ding kurz aus ihrer über der Stuhllehne hängenden Tasche zog und nicht einmal nach der Nummer auf dem Display schaute, sondern es einfach mit einem Knopfdruck abwürgte. Sie schien verärgert über die Störung, aber genau seit diesem Augenblick so offensichtlich innerlich über etwas beunruhigt, was mich neugierig und zugleich besorgt machte.