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Ein Mord, viele Verdächtige: Tauchen Sie ein in einen Krimi voller Wendungen, der die dunkle Seite der menschlichen Natur offenbart! Ein Mann ist tot, ermordet durch einen Schlag ins Genick. Er liegt auf dem Gehweg, umgeben von Feldern, die Kirche in Sichtweite. Kommissar Kilian Stockberger und sein Team ermitteln, und was sie herausfinden, bringt die Ordnung ins Wanken. Der Tote war ein gerissener Immobilienhai, der die Welt nach seinen Regeln bauen wollte. Jetzt ist er Vergangenheit und die Verdächtigen geben sich die Klinke in die Hand …
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Ein Mensch bleibt sich in extremen Situationen selten treu. Wie rätselhaft das Leben doch sein kann, mit seinen versteckten Ermunterungen für eine böse Tat. Hauptkommissar Kilian Stockberger und sein Team ermitteln in einem Mordfall, der ihre bisherigen Erfahrungen sprengt.
„Man hat oft gesagt, mit Gewalt lasse sich nichts beweisen. Das hängt jedoch davon ab, was man beweisen will.“
Oscar Wilde
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Ende
Der Fahrer des Krankenwagens fuhr langsam die enge Straße entlang, das Martinshorn ausgeschaltet, er hörte die Kirchenglocken, denn es war Sonntag, hinter ihm ein weiteres Auto mit dem Notarzt. Sie bogen in eine noch schmalere Straße ein, um den Pfad zum Unglücksort zu erreichen. Zwei Fußgänger winkten von Weitem, hektisch. Der Notarzt konnte vor Ort nichts mehr machen, stellte aber Ungereimtheiten fest. Er informierte die Polizei, die sieben Minuten später eintraf. Die eingeschaltete Sirene füllte den Raum, die gewohnte Stille zwischen Natur und bürgerlicher Trotzburg zerriss.
Vorher schon, aber gänzlich anders und nur wenige Kilometer entfernt, mischte sich ein unwirscher Ton in die Stille der Gewohnheit. Das Haus hatte drei Stockwerke mit sechs Wohnungen. Nun war es nicht so, dass alle Mieter zur gleichen Zeit ausgezogen wären. Wenn aber schon einer nicht mehr da ist, sieht das Fenster wie ein Totenauge aus. Denn wenn das Leben dort nicht mehr wohnt, trifft der Blick auf stumpfe Leere. So zogen die Menschen nacheinander aus, und mit dem letzten toten Fenster hing der Bauunternehmer seine fünf mal fünf Meter große Werbefläche an die Hausfront: ABBRUCH, RÜCKBAU, ENTKERNUNG UND ENTSORGUNG. Ein neues Haus mit Tiefgarage und Aufzug sollte dort entstehen, versehen mit allen Annehmlichkeiten für feinstes Wohnen. Die Menschen, die Monate später in dieses Haus zogen, waren so ganz anders als jene, die hier rausmussten. Das war erst der Anfang, denn Haus für Haus entstand in diesem Stadtteil ein anderes Leben, empor gewandt, dem Schönen zugeneigt, aber der Straßenname blieb, als sei nichts passiert.
Wenn er seine Kunden anlächelte, um vertrauenswürdig zu wirken, zuckte seine obere Lippe. Denn sein Lächeln war ein Kraftakt. Er musste diesen Ausdruck in sein Gesicht hineinzwingen. Das führte dazu, dass nicht nur seine Lippe zuckte, sondern zugleich das gesamte Gesicht unharmonisch wirkte, weil seine Augen unbeteiligt und kalt blieben.
Axel Ahlers war ein Tausendsassa. Ein Alphatier. Mein Wille geschehe. Seine Berufung lag darin, aus verunsicherten Menschen überzeugte Kunden zu machen. Sie folgten ihm. Sie folgten ihm dankbar. Sie schätzten sich glücklich, dank einer günstigen Fügung ihres Lebens an ihn geraten zu sein.
Ich helfe ihnen, ihre Träume wahrzumachen. Ich bin ein guter Mensch.
Wenn Axel Ahlers diese Worte nur für sich aufsagte, veränderte er seine baritonhafte Klangfarbe zu einem hauchdünnen Körper, als würde er zu einem Kleinkind sprechen.
Er hatte seine Rolle längst gefunden. Er war, in Wahrheit, ein Nehmer.Ihm ging es ums Geld. Um viel davon.
Ich helfe, Träume wahrzumachen.
Summend wiederholte er die Worte und versetzte sie mit verletzendem Übermut, indem er dem Mann im Spiegel Küsse zuwarf. Die Parodie lag ihm. Er fantasierte darüber, wie seine Kunden im Gespräch immer sorgloser wurden, und er sie dann mit einem Rutsch über den Tisch zog, ohne dass sie es bemerkten.
Die meisten seiner Kunden hatten gerade eine Familie gegründet und träumten nun ihren Traum von einem Eigenheim.
Die Träumer-Kunden, die vor ihm saßen, waren vorher von Bank zu Bank geschickt worden, um den Traum zu finanzieren. Sie kannten zur Genüge die achselzuckenden Gesichter der Bankberater mit ihrem niederschmetternden Urteil: Bleiben Sie lieber in Miete.
Sie bekamen keinen Kredit, nirgends, bis sie auf Axel Ahlers stießen. Da saßen sie nun und schauten ihn angesichts der kniffligen Geldfrage schüchtern an, und er spürte, wie mächtig er war, und er genoss seinen Status als Entscheider – Eigentum ja oder nein. Sein Stolz verbündete sich nicht mit Arroganz, dafür war er zu gerissen. Er setzte vielmehr auf die Beschützernummer. Wir schaffen das schon, war so ein Satz, der in keinem seiner Kundengespräche fehlen durfte. Das Wörtchen „Wir“ vermittelte den Kunden das Gefühl, er würde selbst für die Schulden geradestehen, ein bisschen zumindest und dass sie doch gar nicht so mittellos dastünden, um sich Eigentum leisten zu können. Er legte Berechnungen zur Finanzierung vor und sagte, Eigentum sei die beste Wertanlage. Dabei schaute er in die Augen von Ehepaaren die dankbar nickten. Sie durchschauten weder seine Zahlen noch seinen Charakter. Sie fühlten sich in guten Händen.
Axel Ahlers war fiebrig und ruhelos, aber im Gespräch mit den Kunden übte er sich in Geduld, um sie in Sicherheit zu wähnen, und er sagte Sätze, die seine wahren Absichten verschleierten. „Ich weiß, dass Sie sich so sehr nach eigenen vier Wänden sehnen. Aber wichtige Entscheidungen im Leben brauchen Zeit. Überlegen Sie sich das deshalb in aller Ruhe“, sagte er, bevor sie mit einem Lächeln in den Abend entließ. Dabei dachte er nur: Unterschreibt endlich den Vertrag.
Sein Büro lag abseits der noblen Königsallee. Zu gerne hätte er dort sein Wirkstätte gehabt, zwischen Armani und Dior, zwischen Jil Sander und Prada, um sich vom pulsierenden Zeitgeist inspirieren zu lassen und unter seinesgleichen zu sein. Aber er wusste, dass bei Geldgeschäften jeder Anschein von Protz das Vertrauen gefährdete, weil nur Demut und Bescheidenheit die Herzen der Kunden öffneten.
Nach diesem Motto richtete er auch sein Büro ein. Entgegen einer schwunghaften Moderne dominierten schwere Möbel aus einer anderen Zeit mit gediegenem Charme das Ambiente. Darin drückte sich eine Haltung aus, die typisch für die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg war. Wertarbeit – ehrlich und gründlich. Im Besprechungszimmer stand eine blaue Porzellanschüssel mit frischem Obst, das kein Kunde anrührte. Wie sollte er auch, inmitten eines Verkaufsgespräches, in einen Apfel beißen? Gleichwohl drückte die Obstschale Zukunft aus. Wer Obst aß, lebte gesund.
Ein Hingucker war diese Obstschale auf jeden Fall, weil sie wie ein willkommener Fremdkörper die geschmackliche Eintönigkeit des Raumes auflöste. Ästhetische Kontraste, so war Axel Ahlers überzeugt, trügen dazu bei, eingeübte Denkmuster aufzulösen. Zum Beispiel den Drang, erst einmal Nein zu sagen. Die Obstschale war ein Mittel zum Zweck: Unterschreibt endlich den Vertrag.
Was sein Äußeres anbelangte, verzichtete er auf vordergründige Hingucker. Denn zu seiner sorgsamen Imagepflege als vertrauenswürdiger Kaufmann gehörte modische Zurückhaltung. Er trug immer taubenblaue Anzüge mit taubenblauen Krawatten. Selbst ihn überraschte, wie serös er darin wirkte. Privat bevorzugte er durchaus gewagte Farben und Muster und schreckte auch vor roten Jacketts nicht zurück.
Der geneigte Himmel stimmte den Abend mit violettem Blau ein, begleitet von einem zarten Orange, wechselte dann in ein tiefes Rot, ehe die Nacht alle Farben ins Dunkle zog, und Axel Ahlers war wieder einmal mehr als zufrieden mit sich. Sein Gewinn vor Steuern lag im ersten Halbjahr 23 Prozent über dem des Vorjahreszeitraums. Nur eine kleine Delle hatte es in den vergangenen zehn Jahren gegeben, sonst aber führte die Ertragskurve steil nach oben.
Er öffnete die Tür zu seiner Veranda im charmanten Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel; die warme Luft drückte gegen den Rhythmus seines Atems. Er schloss die Tür wieder, um die Zirkulation der kälteren Luft durch die Klimaanlage nicht zu unterbrechen. Er nahm eine Zigarre aus seinem Humidor aus Ebenholzfurnier mit matter Optik, eine Churchill aus Nicaragua, Ringgröße 47. Die fühlte sich gut an, zwischen seinen Fingern. Eine Nicaragua musste es auf jeden Fall sein, schon weil seine rauchenden Freunde auf Cohiba standen. Cohiba war für ihn eine Mitläufer-Zigarre, hey, ich gehöre dazu, weil ich sie mir leisten kann. Mitlaufen war seine Sache nicht. Deshalb gehörten zu seinem Lieblingswortschatz auch Worte wie „Unikat“ und „Original“.
Er zog kräftig an der Zigarre, sodass die Wangen der Backen sich nach innen wölbten; beim genussvollen Auspusten wurde daraus ein Blasebalg. Er schaute vom Sessel auf das Regal mit seinen Whiskys, Cognacs und Rums. Er entschied sich für den A.H. Riise Centennial Celebration Rum, mit dem passenden Glas, das von unten mit breitem Bauch nach oben enger wurde. Dabei entsprach diese Form partout nicht seiner Trinkgewohnheit, nämlich kräftig zu schlucken, wie aus einem Bierglas. Nun musste er sich aber dem Nippen hingeben. Kontrolliert und träge floss der 38-prozentige Alkohol durch seinen Hals, dabei schüttelte er sich leicht. Tatsächlich fühlte er sich mit jedem Schluck befreiter. Die besondere Freiheit der Promille-Eroberung, die den Kopf leicht erwärmte und zarte Müdigkeit durch die Sinne fließen ließ.
Nur eine Brücke trennte Oberkassel von der City mit ihrer feierlaunigen Altstadt – aber diese Brücke wirkte nicht wie eine Verbindung von hier nach dort, sondern wie eine Zugbrücke. Die Menschen jenseits der Altstadt genossen ihr „Unter-sich-sein“. Sie pflegten einen, wie man so schön sagte, gehobenen Lebensstil. Das wiederum traf empfindlich den Gerechtigkeitsnerv derjenigen, die das Leben der Oberkasseler Bürgerschaft missmutig verfolgten. Axel Ahlers amüsierte dieser Neidfaktor, und in heiteren Runden ließ er sich Mal zu der Frage hinreißen, ob ein Fiat-Fahrer etwa ein besserer Mensch sei als ein Porsche-Fahrer?
Jetzt lächelte er müde und zündete die erloschene Zigarre wieder an. Das Glas mit dem Rum schwenkte er wie ein Rotweinglas, vernahm mit einem leichten Stöhnen die aufsteigenden Geschmacksnuancen. Dann schaute er durch das Glas hindurch und fand es lustig, die Bilder an der Wand verschwommen zu sehen. Das größte Bild in einem weich wirkenden Holzrahmen zeigte einen Indianer in gelbroten Farblinien, der keck mit seinem rechten Auge blinzelte, als wollte er sagen: Stell dich nicht so an, mach mal etwas Verrücktes.
Die Glocken von Sankt Nikolaus läuteten für den Sonntagsgottesdienst, und die morgendliche Sonne deutete an, dass sie diesen Tag mit herausfordernder Hitze begleiten würde, obwohl es schon auf den September ging. Nichts bewegte sich am Horizont, als wären Wind und Wolken schlafen gegangen. Die Himmelshaut schien auf einer dünnen, blauzarten Glasscheibe zu liegen. Darunter wurde die Luft zum Atmen dünner und die angestrengten Gesichter suchten nach Kühlung.
Frauen in hochgeschlossenen Blusen wedelten mit kleinen Fächern vergeblich nach einer erlösenden Brise. Ein Mann wischte sich mehrmals mit dem Ärmel seines Jacketts den Schweiß von der Stirn. Seine Frau reichte ihm daraufhin ein Papiertaschentuch. Der Mann schaute abweisend. Die Glocken von Sankt Nikolaus läuteten noch ungeduldiger. Kein Mensch trug auf dem Weg zur Kirche eine Sonnenbrille. Vielleicht dachten diese Menschen, dass Gott ihnen in die Augen sehen wollte. Der Gang zur Kirche war keine Freizeitveranstaltung.
Zur gleichen Zeit fuhr ein schwarz lackierter Kastenwagen langsam durch den dörflich anmutenden Düsseldorfer Stadtteil, der Himmelgeist hieß, als würde ein gütiges Wesen hoch über den Wolken seinen Bewohnern ein beschütztes Leben schenken. Die Menschen engagierten sich im Heimatverein oder in der Freiwilligen Feuerwehr, oder sie genossen einfach nur ihr Schützenfest, ihre Pfarrkirmes, ihr Oktoberfest und natürlich mit den Kindern das Osterfeuer, den Umzug mit Sankt Martin und die Nikolausfeier.
Am Wochenende radelten Ausflügler an diesen Ort, der nur ein paar Kilometer von der Düsseldorfer Innenstadt entfernt war und doch einen scharfen Widerspruch zum Stadtgeschehen mit seiner Hektik bildete. Um lauffaule Autoausflügler vom verbotenen Parken abzuhalten, trieben Arbeiter entlang einer Böschung mannshohe Holzbalken in den Boden. Die Wiesen, Weiden und Felder führten den Blick in die Weite. Über den Deich hinweg trug der Wind manchmal die dröhnenden Motorgeräusche der Rheinschiffe. Am Horizont bildeten sich Kondensstreifen der Flugzeuge, die in den Süden flogen. Eine Landschaft von spröder Schönheit, ohne Prätention. Genau darin lag ihr Charme, der nicht betören wollte, sondern sich ehrlich niederließ im Blick seiner Betrachter. Ein schmaler Weg führte durch diese Landschaft, die auch Kulisse war. Er begann an der Dorfkirche, vorbei an neuen Häusern mit weißem Putz und flachen Dächern, die auf dem Grundstück eines alten Bauernhofes errichtet worden waren. Hier wohnten Unternehmensberater, Investoren, Ärzte.
An diesem Morgen versperrten Fahrzeuge der Polizei jeglichen Zutritt. Eine junge Kollegin brachte gerade ein rot-weißes Plastikband an. Darauf stand in schwarzen Buchstaben großgeschrieben: POLIZEIABSPERRUNG. Den schwarzen Kastenwagen ließ die Beamtin pflichtschuldig durch, um abzuholen, was der Geist des Himmels zurückgelassen hatte.
Der Tote trug einen taubenblauen Anzug und eine taubenblaue Krawatte. Farblich aufeinander abgestimmt waren Schuhe und Gürtel im dunklen Braun. In seiner Brieftasche befanden sich 1250 Euro in Scheinen, ein paar Münzen, eine goldene Kreditkarte, zwei Scheckkarten und der Personalausweis.
Der Mann hieß Axel Ahlers. Als er starb, war er 48 Jahre alt.
Ein Hase blieb kurz stehen, reckte sein zittriges Köpfchen, flüchtete dann in zackigen Bewegungen über die Wiese und sprang über die Maulwurfhügel.
„Ein schlechter Zeuge“, murmelte Hauptkommissar Kilian Stockberger, Leiter der Düsseldorfer Mordkommission. Er schaute Meister Lampe fahrig hinterher, bis er das Tier an die Tiefe der Landschaft verlor. Die heiße Luft bildete in der Weite seidenartige Vorhänge, als hätte er eine falsche Brille auf; wenn er sich die Augen zukniff, dachte er für einen Moment, er stünde am Meer und schaute den Männern mit ihren Strohhüten zu, wie sie ihre Fischerboote ans Land zogen.
Die Spurensicherung hatte zunächst mit Klebefolien Partikel von der Leiche entnommen, die das Labor später als fremdes Zellmaterial zuordnen könnte, wie Speichel, Haare, Schuppen und Fasern. Sie untersuchten auch die Hände des Toten nach Abwehrspuren und fotografierten dreidimensional den Tatort. Während Kilian auf die Uhr schaute, ohne sich die Zeit zu merken, arbeiteten sich die Kollegen und Kolleginnen in Ruhe vor, lautlos - nicht nur mit Routine, sondern auch mit spürbarem Sinn, um den Tatort zu lesen.
Kilian wirkte abwesend, aber er war es nicht. Er verhielt sich häufig so, wenn er sich in ein mögliches Tatgeschehen hineindachte und sich von der Außenwelt abschottete, um seiner Erfahrung nachzuspüren und erste Eventualitäten abzuschätzen. Aber zu diesem Zeitpunkt spürte er: gar nichts. Er verfolgte die weitere Arbeit der Spurensicherer, die mit ihren Overalls, Haar- und Mundschutz, Schutzbrillen, Handschuhen und Überschuhen wie Mondmenschen aussahen, und wartete darauf, dass ihm der Gerichtsmediziner Dr. Albert Justus erste Hinweise auf die Umstände des Todes gab.
Kilian und Albert pflegten ein unkompliziertes Miteinander. Sie duzten sich. Genaugenommen schätzten sie das jeweils Gegensätzliche. Sie spielten mit ihrem Humor, der auf Außenstehende wie ein Geheimcode wirkte. Kilians Kollegin Cosima Wagner hielt den Doktor trotz oder wegen seiner medizinischen Kompetenz für durchgeknallt, aber das wertete sie je nach eigener Stimmung als Pluspunkt. Nämlich: Anders sein. Raus aus der Schablone. Einen großen Bogen um Gartenzwergsammler machen. Aber an Justus‘ Status als Junggeselle würde das alles nichts mehr ändern. Davon war sie restlos überzeugt. Denn er war sich ja manchmal selbst zu viel. Wie sollte er also mit einer Partnerin klarkommen?
Als Albert die Kommissarin erblickte, sagte er albern: „Oh, holde Schönheit.“
„Lass den Quatsch“, antwortete sie streng, lächelte dabei aber gnädig, um seine hilflosen Versuche, ein passendes Kompliment zu machen, nicht völlig ins Leere laufen zu lassen – und überhaupt, wunderte sie sich über seine mottenhafte Sprache aus einer vergangenen Zeit. Was hieß eigentlich „holde“?
Es wurde bereits Nachmittag. Ein Polizeihubschrauber flog über sie und fotografierte die gesamte Fläche, um mögliche Fluchtwege zu kartographieren. Von irgendwo klang etwas, was wohl Musik sein sollte. Der Spielmannszug des Schützenfestes begleitete den Schützenkönig zum Festzelt. Marschtrommeln, Querflöten, große Trommeln und Becken hallten durch Himmelgeist. Wumptata, Wumptata, Wumptata, Tätärä.
Kilian wippte dazu leicht mit seinem rechten Schuh auf und ab. Dabei konnte er mit Schützenfesten nichts anfangen. Er fand es grenzwertig, mit einer Uniform und soldatischem Getue durch die Straßen zu ziehen, nur weil ein Schützenbruder den Holzvogel abgeschossen hatte. Genau genommen war er auch kein Typ für Volksfeste, weil er dort vor lauter Leuten keine Menschen mehr fand. Aber er sah natürlich ein, dass solche Feste den Leuten Seelenheil vermittelten, und dass sich genau dort die Tradition verortete, ein Ort der Verlässlichkeit. Die Schützenpokale in der Vitrine der Gaststätte mit den gerahmten Fotos aus vielen Jahrzehnten an der Wand sorgten für warme Herzen, für ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das offenbar keine andere öffentliche Zusammenkunft so einvernehmlich zustande brachte wie das Schützenfest – eine scheinbar klassenlose Gesellschaft, ein Bündnis der Heiterkeit auf Zeit, bis der Alltag sich wieder ausbreitete mit seinen Gewohnheiten und Kränkungen.
Albert hob den Kopf des Opfers und tastete den Nacken ab. Dann schaute er den Kommissar an. Der blickte fragend zurück.
„Klar ist jedenfalls, dass dieser Mensch einen Genickbruch erlitt.“
„Genickbruch?“, fragte Kilian übereifrig zurück. Vielleicht wollte er in dieser Sekunde nur seine Überraschung ausdrücken. Mord durch Genickbruch.
Albert stöhnte auffällig; er könne noch nicht sagen, ob der Genickbruch tatsächlich die originäre Todesursache sei.
„Wie meinst Du das, dass Du noch nicht sagen kannst, ob der Genickbruch die Todesursache ist? Ist Genickbruch nicht immer tödlich?“
Albert antworte nur: „Nein!“
„Kommt jetzt noch etwas“, fragte Kilian lockend, „irgendetwas, um die Ermittlung abschließen zu können?“
„Nein, ich kann Dir nichts bieten, aber ich kann Dir zum Todeszeitpunkt sagen: wahrscheinlich zwischen 23 und 1 Uhr, von Samstag auf Sonntag also.“
Kilian fragte einen Kollegen der Spurensicherung, ob der Tote ein Handy dabeihatte, wovon er fest ausging. Hatte das Opfer darauf einen der jetzt so modischen Schrittzähler aktiviert, ließe sich leicht die Gehzeit hochrechnen und der Todeszeitpunkt genauer bestimmen. Das Smartphone hatte die Spurensicherung tatsächlich bereits mit anderen Utensilien wie Brieftasche und Schlüssel zur Auswertung ins Polizeipräsidium gebracht.
„Jetzt schon?“, fragte Kilian.
„Wir sind ja schon länger hier als Du.“
Kilian wandte sich ab, ging ein paar Schritte, dann wieder zurück zum Kollegen, fragte ihn, ob er schon sagen könne, ob der Fundort der Leiche auch der Tatort sei.
„Wir haben nichts gefunden, was dagegen spricht“, antwortete er.
„Es ist aber möglich, dass es nicht so ein muss?“
„Wie hätte die Leiche hierherkommen können?“, fragte er.
„Vielleicht mit einem Auto“, meinte Kilian.
„Der betonierte Weg ist sehr schmal, dann hätte das Auto das angrenzende Gras niederdrücken müssen. Das ist aber nicht der Fall.“
Die Möglichkeit einer Schubkarre verkniff sich Kilian. Sie erschien ihm absurd.
Montag früh. Cosima und ihr Kollege Miko Reichenhall betraten das Büro des Ermordeten. Sie stellten sich der Sekretärin vor und fragten nach ihrem Namen. „Ich heiße Adler, Franziska Adler“, sagte sie mit lauernden Augen.
Routinemäßig beschlagnahmten sie Computer und iPad. Außerdem ließen sie sich von der Sekretärin, deren Betroffenheit über den Tod ihres Chefs nur in Nuancen spürbar war, Terminpläne und Kundenlisten geben. Franziska Adler trug einen schwarzen Hosenanzug. Miko musterte sie schweigend, und die Gemusterte hatte offenbar den Eindruck, dass der Kommissar ihre schwarze Bekleidung als eine Geste der Trauer interpretieren könnte. Sie zeigte mit den Händen auf sich. „Ich trage immer schwarz. Schwarz ist eine souveräne Farbe. Sie drückt Stolz aus, ja, nein, ich meine Souveränität.“ Dabei schaute sie auf ihre rot lackierten Fingernägel.
„Ja, ja, die psychologische Farbenlehre“, kommentierte Miko und versuchte, aus dieser Frau schlau zu werden. Cosima ging es ähnlich. Die Sekretärin vermittelte eine trotzige Unnahbarkeit. Aber Cosima wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, weil jeder Mensch anders trauerte. Außerdem können auch Tränen lügen.
Cosima bat die Sekretärin, alle Auffälligkeiten und Besonderheiten der vergangenen Wochen aufzuschreiben. „Alles außerhalb Ihrer Routine.“
„Wie soll ich das denn machen?“, fragte sie gereizt. „Ganz einfach“, antwortete Cosima ruhig. „Gehen Sie mit Ihrem Terminkalender Tag für Tag durch, rückwärts von Samstag an.“ Während Frau Adler den korrekten Sitz ihrer Haare prüfte, die sie zu einem Knoten gebunden hatte, antwortete sie pikiert, dass sie sich erst einmal sammeln müsse, um die Situation zu verdauen.
Miko schaute sich im Büro von Alex Ahlers um. Merkwürdig, dass auf seinem Schreibtisch kein persönliches Foto zu sehen war. Unwillkürlich fragte er sich, wann er zum letzten Mal einen Schreibtisch ohne jeden Hinweis auf Freundin oder Freund, Ehepartner und Kinder gesehen hatte. Gut, da gab es Gerichtsmediziner Dr. Albert Justus, dessen Schreibtisch so nüchtern aussah, als müsste er darauf seine gerichtsmedizinischen Untersuchungen durchführen. Aber sonst?
„Hatte Herr Ahlers eine feste Beziehung?“, fragte er die Sekretärin, die ihn verdutzt anschaute, als sie aus der Kaffeeküche zurückkam.
„Mein Gott, das wüsste ich auch gerne. Hier riefen durchaus Frauen für ihn an. Er war ja nicht verheiratet, obwohl das heute keine Rolle mehr spielt. Er war wohl kein Typ für eine längerfristige Bindung.“ Miko konnte sich auch den umgekehrten Fall vorstellen, dass die Frauen es mit Alex Ahlers nicht länger aushielten.
„Zu mir war Herr Ahlers immer sehr nett“, sagte die Sekretärin, als müsste sie den Toten verteidigen.
Miko hatte sich festgelegt: Sie war keine Frau mit besonderer Ausstrahlung. Keine Frau, die das Büro eines Vorstandsvorsitzenden eines großen Konzerns leiten könnte. Wahrscheinlich hatte sie morgens nicht einmal Zeit, die Zeitung zu lesen, weil das Zurechtmachen für den Tag sehr aufwendig war. Schon saß er in der Machofalle. Ausgerechnet der „Frauenversteher“, wie ihn Cosima anerkennend neckte. Er hatte keine Probleme damit, dass Cosima in der Hierarchie über ihm stand. Und er spielte auch nie den harten Bullen, der den Polizeiberuf als naturgegeben männlich sah.
Während seine Kollegen das Büro des Opfers aufsuchten, fuhr Kilian noch einmal zum Fundort der Leiche. Das Auto parkte er an der Kirche. Fundort, dachte er – ein sonderbares Wort, denn was man fand, musste man zum Fundbüro bringen. Ich habe eine Leiche gefunden, die ich gerne abgeben möchte. Danke, sagte der freundliche Mann vom Fundbüro. Uns werden häufiger Leichen gebracht. Deshalb hat die Stadt auch zusätzliche Gelder für Kühlfächer bereitgestellt.
Der Fundort war in jedem Mordfall der erste wichtige Anhaltspunkt für die Ermittlungen Genau hier trafen Mörder und Opfer aufeinander. Genau hier endete ein Leben. Genau hier stand er nun, um seiner Intuition zu folgen. Er wollte keine anderen Stimmen, Meinungen und Bewertungen hören. Er wollte zu diesem Zeitpunkt auch keine Fragen beantworten. Er wollte buchstäblich seine Ruhe haben, damit der Tatort zu ihm sprechen konnte. Eine Art, es so oder so zu sehen, eine Eingebung, die vielleicht erst über den Umweg von vier oder fünf weiteren Gedanken den Blick öffnete.
Aus dem Ermittlungsprotokoll ging hervor, dass niemand laute Streitgespräche oder andere auffällige Geräusche gehört hatte. Das konnte auch daran liegen, dass sich die meisten Himmelgeister noch auf dem Schützenfest befanden oder zu Hause noch die stramme Schützenmusik hörten, und deshalb andere „Signale“ nicht wahrnahmen.
In einem Punkt aber legte sich Kilian bereits fest: Wenn der Mord geplant war, hatte der Täter seine Tat in aller Ruhe ausführen können und war unerkannt entkommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Besucher des Schützenfestes, etwa ein Liebespaar, noch ein paar Schritte an der Kirche in Richtung des Tatortes vorbeigingen, konnte der Mörder zwar nicht ausschließen, aber die Entfernung zum nah verlaufenden Fußweg war immerhin noch so groß, dass er rechtzeitig in mehrere Richtungen über die Wiesen ins Dunkle hätte fliehen können.
Kilian verinnerlichte den vorläufigen Bericht des Gerichtsmediziners, der ihn telefonisch durchgegeben hatte. Danach fand „eine Krafteinwirkung direkt auf die betroffene Struktur“ statt. Das Markhirn war verletzt. Der Bruch der ersten beiden Halswirbel führte zum sofortigen Tod. „Kein Eigenverschulden“, fabulierte der Kommissar lakonisch. Er legte sich fest, dass er einen Mörder suchte, der nicht nur die Technik des Genickschlags beherrschte, sondern auch genau wusste, wie er zuvor sein Opfer mit einem Hieb gegen Kehle oder Schläfe wehrlos machte. Sofort fielen ihm Kampfsportler, Pfleger, Ärzte und Chiropraktiker ein. Er nannte den Täter deshalb „Nischenmörder“. Dieses Wort gefiel ihm. Denn handelsüblich waren andere Mordwaffen wie Messer, Pistole, Baseballschläger, Beil, Axt, Knüppel, Getränkeflasche, Schere oder Gift. Mit dem sauberen Genickschlag erlebte er eine Premiere. Er hatte schon häufiger Selbstmörder gesehen, die sich mit einem Strick um den Hals fallen ließen und sich so den tödlichen Genickbruch zuzogen. Suizid durch Erhängen war die häufigste Methode. Jetzt musste er einen „unfreiwilligen“ Genickbruch aufklären.
Vier ältere Männer und zwei Frauen schauten auf die Markierungen der Spurensicherung, die noch deutlich zu erkennen waren. Der eine Mann kniff die Lippen zusammen. Ein anderer schien kräftig zu atmen, und die übrigen schauten sich verloren an. Sie hatten in der Online-Zeitung gelesen, was genau gefunden worden war. Ein Mensch ohne Leben. Hier in Himmelgeist. Dem Ort des natürlichen Todes. Hier starb man friedlich. Hier war der Tod nur mächtig, wenn eine Krankheit die Lebenszeit ablaufen ließ. Eine andere Macht, von böser Gewalt gelenkt, war hier nicht vorgesehen.
„Guten Morgen, mein Name ist Hauptkommissar Stockberger, ich untersuche den Fall.“
Eine Frau räusperte sich umständlich und fragte dann, was er denn mit „Fall“ meine.
Der Mann neben ihr, der zu einer grauen, viel zu weit geschnittenen Hose einen grauen Wolfskin-Pullover trug, schaute sie lehrerhaft an. „Mordfall“, sagte er als einer, der es besser wusste.
Ein anderer älterer Mann mit geradem Rücken starrte mit harten Augen und vorgezogener Lippe auf den Schauplatz, als stünde er vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten. Dabei drückte er einen Fahrradhelm gegen den Bauch.
„Was soll ich nur mit dieser Truppe anfangen?“, rätselte Kilian und eröffnete das Gespräch mit Schema-F-Fragen. Haben Sie etwas bemerkt? Kam Ihnen etwas ungewöhnlich vor? Haben Sie auf dem Schützenfest einen Mann im blauen Anzug und blauer Krawatte gesehen?
Die Antworten darauf: „Puh.“ „Tja.“ „Mmmhhh.“
Der Mann mit dem Helm versuchte es immerhin mit einem ganzen Satz: „Hier geht immer alles seinen Gang.“
„Und das bedeutet?“, fasste Kilian nach.
„Wer nicht hierhergehört, den erkennt man sofort.“
„Und wie?“
„Das hat man drauf oder nicht.“
Der Schauplatz des Schützenfestes lag nur wenige Gehminuten vom Fundort der Leiche entfernt. Das Tagesprogramm am Samstagabend lautete:
18 Uhr: Abholen der Majestäten.
18:45 Uhr: Kranzniederlegung am Ehrenmal und anschließend “Großer Zapfenstreich“ an der Kirche St. Nikolaus.
19:45 Uhr: Eröffnung des Festes im Festzelt, Proklamation Bürgerkönig, Übergabe Himmelgeist-Cup, Ehrung verdienter Schützen. 20:45 Uhr: Party.
Gut möglich, dass Alex Ahlers auf diesem Schützenfest gewesen war. Wer hat ihn gesehen? Mit wem war er zusammen? War er gesellig oder wirkte er angespannt? Um Antworten zu bekommen, müssten Kilian und sein Team die vielen Besucher befragen - illusorisch.
Seine Gedanken fuhren Karussell. Vielleicht hatte das Opfer seinen Mörder auf dem Schützenfest eher zufällig getroffen? Dann wäre eine spontane Tat wahrscheinlicher als ein geplanter Mord. Das würde bedeuten, das sich Opfer und Täter noch zu einem gemeinsamen Spaziergang entschlossen hatten, dann in einen Streit gerieten, der unkontrolliert sein tödliches Ende nahm.
„Wenig wahrscheinlich“, befand Kilian, als würde er sich dabei selbst zunicken. Ausschließen konnte er es zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht.
Über den Wiesen stand hauchdünner Tau, den die Sonne, die bereits in früher Morgenstunde lauernd über den Dächern lag, rasch aufsaugte. Hier war die Welt noch in Ordnung, sagten Leute, die hier nicht wohnten und sich vom dörflichen Charme des fast kleinsten Düsseldorfer Stadtteils beeindrucken ließen.
Kilian dachte an seinen Freund, den Psychologen Dr. Robert Kirsch, der sich auf einer Vortragsreise über die erotische Anziehungskraft von Mördern befand, und bei dieser Gelegenheit auch sein Buch über dieses Thema promotete – ein Buch für die Masse, das ihm hohe Auflagen bescherte. Sein wissenschaftliches Interesse galt aber der schaurigen Annahme, dass jeder Mensch zum Mörder werden konnte. Kilian zog ihn immer dann zu Rate, wenn die Aufklärung eines Falles stockte. Er schätzte seine klugen Analysen über die verborgenen Eigenschafen eines braven Bürgers, der zum Mörder wurde, und seine grundsätzlichen Gedanken über die Entwicklung einer Tat. Robert meinte: Wenn ein Mörder die Tat plante, war er nicht nur Stratege des Todes, sondern auch ein Gefangener seiner Psyche mit all ihren verwinkelten Ängsten und Ausfallerscheinungen. Seine Aufgabe sah er nicht nur darin, sich in den Mörder hineinzuversetzen, sondern auch in das Leben des Opfers, um daraus eine Verbindungslinie bis zum Todeszeitpunkt zu ziehen, dem Tag, an dem beide zusammentrafen.
Für Außenstehende waren Robert und Kilian ein seltsames „Paar“. Auf der einen Seite der akademische, manchmal zur Überheblichkeit neigende und auffallend modisch gekleidete Psychologe. Kilian dagegen pflegte keinen besonderen Stil, redete nüchternes Deutsch und war frei von Allüren.
Kilian ging durch Himmelgeist, um sich von irgendetwas beeindrucken zu lassen. Auffällig erschien ihm die Langsamkeit der Menschen, die er weit unter dem Düsseldorfer Durchschnitt ansetzte. Und wenn ein Bus kam, und dann noch ein Bus aus der anderen Richtung, kam es auf der Straße sogar zu einem Stau. Einen richtigen Stau mit fünf bis zehn Autos. Tatsache war, dass an Arbeitstagen in jeder Stunde drei Busse in die eine Richtung fuhren und drei in die andere, sechs also insgesamt. Einige Bewohner starteten sogar eine Petition wegen des Lärms dieser Unverschämtheit, ohne daran zu denken, ein Ohr für die im Minutentakt lärmenden Flugzeuge am Himmel zu haben.
Kilian kaufte am Kiosk eine Zeitung und hörte Gesprächsfetzen.
„Mensch, dass so etwas bei uns passiert.“
„Wer ist denn da gestorben?“
„Der ist nicht gestorben, der ist getötet worden.“
„Ja, ja, das meine ich ja.“
„Mensch, dass so etwas bei uns passiert. Das hätte ich nie gedacht.“
„Ich auch nicht, wem ist es denn passiert?“
„Da muss ich mal den Pastor fragen.“
„Hoffentlich ist der Mörder keiner von uns.“
„Oh Mia, schrecklich, so ein Gedanke. Nein, der kommt niemals von hier.“
„Hast ja recht, Lieschen.“
Vor den meisten Häusern hingen rot-weiße Schützenfahnen und über der Straße rot-weiße Wimpelketten. Manche Häuser waren besonders auffallend geschmückt – darin wohnten der Schützenkönig und die Kompaniechefs.
Die Auswertung des Schrittzählers auf Alex Ahlers Smartphones ergab, dass er am Sonntag von Mitternacht bis zu seiner Ermordung 1858 Schritte gegangen war, also rund 1,3 Kilometer. Punkt Mitternacht schaltete sie auf null und zählte dann wieder aufwärts. Für diese Strecke brauchte ein Mensch mit der Größe des Toten bei gemütlichem Schritttempo etwa 22 Minuten.
Der Todeszeitpunkt war demnach ungefähr 00:22 Uhr.
Kilian las den Bericht der Kriminaltechnik über das Smartphone weiter durch, fauchte „Mist“, denn seine Hoffnung, dass der Standortverlauf auf dem Handy aktiviert war, um den Ausgangspunkt festzustellen, zerschlug sich.
Eine erste Durchsuchung der Wohnung von Alex Ahlers hatte die Polizei bereits am Sonntagmorgen nach dem Auffinden der Leiche vorgenommen. Sie prüfte das Offensichtliche wie Einbruchspuren, ob benutzte Gläser auf Besuch hinwiesen oder ob es Hinweise darauf gab, dass er die Wohnung übereilt verlassen hatte. Fehlanzeige. Merkwürdig war allerdings, dass vom Flur bis zum Wohnzimmer einzelne Seiten mehrerer Zeitungen zerstreut auf dem Boden lagen, während Ahlers ansonsten penibel Ordnung hielt.
Nun waren Kilian, Cosima und Miko selbst auf dem Weg, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Sie durchtrennten das blaue Polizeisiegel, gingen durch den Flur, links führten zwei Türen zum Wohnzimmer und zum Esszimmer. Von dort gelangten sie in die Küche. Die Tür auf der rechten Seite des Flures führte zu einem Gästeschlafzimmer mit Bad. Eine Toilette befand sich am Ende des Flurs. Die Wendeltreppe führte in ein Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer, das Bad und in ein Ankleidezimmer mit wuchtigen, verspiegelten Schränken, in denen auf der rechten Seite sechs blaue Anzüge hingen.
„Business-Outfit“, bemerkte Kilian. Links davon farbige Jacketts vornehmlich von Versace und Etro. „Freizeit-Outfit“, ergänzte Miko.
„Blauer Anzug. Blaue Krawatte“, hörte er sich selbst reden, „genau mit solcher Kleidung fanden wir ihn“. Cosima schloss daraus, dass der Tote einen Geschäftspartner oder einen Kunden in Himmelgeist getroffen haben musste. „Jedenfalls war er wohl nicht zum Spaß dort.“
„Geschäftliche Termine am Samstagabend?“, hakte Miko nach.
„Das soll in der Immobilienbranche vorkommen“, meinte Cosima trocken.
Miko fand in einer Schublade im Büro ein paar Fotos von Alex Ahlers – ein Porträtfoto von einem Fotostudio und Aufnahmen von geschäftlichen Anlässen.
„Adrett“, kommentierte Cosima, und griff noch einmal den Hinweis der Sekretärin auf, dass sie immer wieder mal wieder Anrufe von Frauen entgegengenommen hatte, die sich mit Ahlers privat treffen wollten. „Privat deute ich als Beziehung“, sagte sie, fand dafür aber weder im Bad noch in den Schränken einen Beleg.
„Tja, was sagt uns das?“, fragte Kilian ohne besonderes Interesse.
Cosima schaute ihm bedächtig in die Augen und lächelte gütig. „Es sagt uns, dass Herr Ahlers entweder wirklich keine Freundin hatte oder dass er abends keine andere Person dahaben wollte.“
Miko suchte nach einem Ausdruck, um Axel Ahlers damit zu beschreiben.
„Von anderen Männern habe ich auch nichts gefunden“, kam ihm Cosima zuvor.
„Er hatte einfach keinen Bock auf eine Partnerschaft?“, resümierte Miko.
„Mensch, macht doch nicht so ein Ding daraus“, forderte Kilian mürrisch, „was wissen wir schon über seine sexuelle Orientierung?“ Entscheidend war für ihn aber doch zu wissen, ob Ahlers eine Beziehung, egal ob zu einem Mann oder einer Frau führte, weil die meisten Mordfälle klassische Beziehungstaten waren. Miko fiel jetzt der Begriff ein, den er gesucht hatte. „Ahlers war ein Nonkonformist.“
„Also ein einsamer Wolf “, übersetzte Cosima.
„Das ist aber eine brutale Verkürzung des Wortsinns. Ich glaube, ihm war der Lebensstil der allermeisten Menschen völlig egal. Er machte einfach sein Ding. Basta.“
„Auch das wissen wir nicht“, meinte Kilian beim Hinausgehen. Er hatte um 17 Uhr einen Termin in der Rechtsmedizin.
„Mein Gott“, stöhnte Miko, „ist es eigentlich normal, dass wir in der vierten Augustwoche noch so ein Wetter haben?“
„Klimawandel“, meinte Cosima. „Schon mal davon gehört?“
Miko hatte ein schmales Handtuch dabei, um sich damit den Schweiß auf seiner Stirn wegzuwischen, der sich zu kleinen Perlen formierte. Gewiss, er schwitzte wegen seines stattlichen Übergewichts schneller als seine Kollegen. Aber er mochte seinen Körper, wie er ausgiebig betonte – ein Körper, der sich nicht mit Salatblättchen und Diätdressing zufriedengab.
Cosima akzeptierte Mikos kulinarische Hingabe durchaus. Aber sie verstand nicht, warum er immer zu enge Hemden trug. Sein Bauch drückte so heftig gegen den Stoff, dass die Knöpfe schon mal abrissen und wegsprangen. Weil er sie dann nicht mehr wiederfand oder auch zu bequem war, sie in gleicher Größe und in gleicher Form nachzukaufen, nähte er sich mitunter die Knöpfe an, die er zufällig fand. Feine Nuancen von Weißtönen oder anderer Farben, ob matt oder poliert, aus Perlmutt, Horn, Kasein oder Holz waren ihm dabei völlig egal.
Cosima studierte die Zeitungsseiten auf dem Fußboden und stellte fest, dass nur der Wirtschaftsteil auf dem Wohnzimmertisch lag. Daraus schlussfolgerte sie, dass Alex Ahlers kaum erwarten konnte, die Zeitungen schon beim Betreten der Wohnung hastig nach den Nachrichten aus seiner Branche zu durchsuchen.
Kilian war pünktlich. Das Institut für Rechtsmedizin auf dem Gelände der Universitätskliniken lag fast in der Mitte zwischen Frauen- und Kinderklinik. In der einen Klinik wurden Kinder geboren, in der anderen Kinder geheilt. Im Totenhaus, wie Kilian die Rechtsmedizin nannte, herrschte dagegen zeitlose Stille. Er fand den Kontrast dieser Gebäude, Leben und Tod, zwar nicht makaber, aber warum musste die Rechtsmedizin einen so zentralen Platz einnehmen?
Die äußere Gestalt des „Totenhauses“ – ein Stock, Flachdach, vorgezogener Eingangsbereich – erinnerte ihn chinesische Architektur, an die Gebäude der Kommunistischen Partei mit ihrem puristischen Schick. Das hatte er im Fernsehen mal so gesehen.
Albert erwartete ihn bereits. Die Treppe hinunter, dort, wo die Leichen lagen, um ihnen Gerechtigkeit zu schenken – ein Geschenk, das sich keiner wünschte. Tod war Tod. Er vermittelte kein Spüren und Erkennen mehr, es sei denn, im Himmel erbarmte sich dem Toten ein leibhaftiger Gott. Kilian hielt sich mit religiösen Themen zurück, weil der Glaube für ihn eine Frage des Alters war. Wenn der Mensch dem Tod näherkommt, desto gläubiger wird er, weil ihm keine andere Möglichkeit bleibt, um Hoffnung zu schöpfen. Übersetzt: Er fühlte sich noch zu jung für den Glauben.
„Ah, da bist Du ja.“ Albert war bester Stimmung. Das war allerdings nichts Besonderes. Mitunter war diese Fröhlichkeit für seine Kollegen anstrengend, weil sie glaubten, er müsse immer seinen Sonnenschein zeigen, auch wenn es in ihm hagelte. Wer schlecht drauf war, konnte Alberts Heiterkeit ohnehin nicht ertragen, weil diese Stimmungen einander bekämpften. Ernst wurde Albert immer dann, wenn er die Ergebnisse seiner Obduktion nicht nur mitteilte, sondern auch verständlich erläutern musste. Er liebte seinen Beruf. Er amüsierte sich über Menschen, die ihn fremdelnd anschauten, als sie erstmals hörten, dass er Gerichtsmediziner sei.