Himmelsherrscher - Eileen Stortz - E-Book

Himmelsherrscher E-Book

Eileen Stortz

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Beschreibung

Teuflischer Heist trifft himmlische Revolte. Todesteufelin Ramona kämpft, seit sie denken kann, als Soldatin im Krieg gegen den Himmel. Jetzt soll sie ihre Loyalität in einer Sondermission beweisen und ein bedeutsames Relikt stehlen – leider befindet es sich im Thronsaal der Engel und damit im Herzen der Goldenen Stadt. Lenia ist die Tochter und Thronfolgerin des tyrannischen Himmelsherrschers. Zumindest so lange, bis sie vor ihrem Vater in Ungnade fällt und aus dem Palast verstoßen wird. Um das Reich zu befreien, muss sie den König stürzen. Dafür braucht sie Verbündete … … aber ist der Feind deines Feindes auch dein Freund?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Leseempfehlung:
Contentwarnung:
Teil 1: Himmelsleiden
Kapitel 1: Tod und Entscheidung
Kapitel 2: Sturmwolken
Kapitel 3: Krähenfeld
Kapitel 4: Kindheitsträume
Kapitel 5: Rache
Kapitel 6: Besuch im Exil
Kapitel 7: Nebelfänger
Kapitel 8: Begegnungen
Kapitel 9: Die Goldene Stadt
Kapitel 10: Löwenzahn
Kapitel 11: Von Sklaven und Königen
Kapitel 12: Im Untergrund
Kapitel 13: Macht
Kapitel 14: Anerkennung
Kapitel 15: Das Mosaik
Kapitel 16: Der Freiheit Preis
Kapitel 17: Bestimmung
Kapitel 18: Lichtmagie
Kapitel 19: Konsequenzen
Kapitel 20: Kerben im Parkett
Kapitel 21: Telefondienst
Kapitel 22: Koexistenz
Kapitel 23: Prinzessin
Teil 2: Revolution
Kapitel 1: Heute
Kapitel 2: Des Königs Krone
Kapitel 3: Vater
Kapitel 4: Scherben
Kapitel 5: Versprochen ist versprochen
Kapitel 6: Bühnenspiel
Kapitel 7: Verdammt
Kapitel 8: Wegweiser
Kapitel 9: Wähl weise
Kapitel 10: Zu Hause?
Kapitel 11: Königin
Teil 3: Höllenglut
Kapitel 1: Der Todesteufel, der den Tod besiegte
Kapitel 2: Fallende Masken
Kapitel 3: Chandra Daiya
Kapitel 4: Spuren
Kapitel 5: Das Dorf der Todesteufel
Kapitel 6: Versteckspiel
Kapitel 7: Neue Wege
Glossar
Danksagung
Über die Autorin
Über To|Be|Read
Mehr von Himmel und Hölle …

Himmelsherrscher

Eileen Stortz

Copyright 2025 © Eileen Stortz

Erschienen im To|Be|Read-Schreibkollektiv.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne die ausdrückliche Zustimmung der Autorin ist unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin.

Eileen Stortz

c/o WirFinden.Es

Naß und Hellie GbR

Kirchgasse 19

65817 Eppstein

E-Mail: [email protected]

Website: www.moonriverdreams.de

ISBN Taschenbuch: 9783759285072

Coverdesign: Katharina Hoppe (https://www.limes-design.com/)

Lektorat: Lauren Hegemann (https://enchanted-editing.de/)

Dieses Buch ist für alle, die ihr Zuhause noch nicht gefunden haben.

Beginnt die Suche bei euch selbst. ♥

Leseempfehlung:

Ab 16 Jahren

Dies ist ein unabhängiges Prequel zur Seelenmachtsaga. Du musst zuvor kein anderes Buch der Autorin gelesen haben, die Geschichte ist in sich abgeschlossen.

Contentwarnung:

(Kann Spoiler zur Geschichte enthalten)

Explizite körperliche und psychische Gewalt, Kälte/Zurückweisung von einer Bezugsperson, Totschlag, Diskriminierung queerer Personengruppen (wird benannt, verurteilt und aufgelöst), Sklaverei, Demütigung, (versuchter) Suizid, Verstümmelung, Tierleid, explizite sexuelle Handlungen, Freiheitsberaubung, Alkoholkonsum, Tod, Verlust, Trauer, Todessehnsucht, Verherrlichung des Todes

Teil 1: Himmelsleiden

Kapitel 1: Tod und Entscheidung

Der Friedhof war menschenleer. Mondlicht überwarf die Grabsteine mit silbrigen Leichentüchern. Regen hatte die Luft gewaschen, so stach der Duft des Waldes beinahe unangenehm in der Nase. Uralte Tannen warfen ihre Schatten seit jeher über Spaziergänger und Wanderer. Doch in dieser Nacht ging niemand hier spazieren.

Fast, als wäre sie allein.Ramona presste sich die Hände auf den Bauch, um ihr Keuchen zu dämpfen, und rannte weiter. Hinter einem Baum hielt sie inne; ein Blick über die Schulter. Sie waren ihr noch auf den Fersen, auch, wenn sie sie nicht sehen konnte. Weiterlaufen. Sie schlug einen Haken, kam schlitternd an einem verwitterten Grabstein zum Stehen und duckte sich.

Silhouetten schossen vorüber. Gold glänzte im Mondlicht. Verdammt knapp. Wie viele waren es? Zwei? Aber im Wald hatte es nach einer größeren Gruppe geklungen …

Es war nicht mehr weit jetzt. Gebeugt schlich sie den Weg zurück, den sie gekommen war, zu einem Grab am Rand des Friedhofs. Der Stein ragte vor ihr auf, malte einen langen Schatten auf den Matsch unter ihren Füßen. Obenauf thronte eine steinerne Figur.

Der magische Mechanismus war nicht alt und darauf ausgelegt, schnell und leise zu funktionieren. Ein Abdruck ihres Fingers auf der eingeritzten Rune, und der Stein glitt beiseite. Endlich. Ramona huschte durch die Öffnung in beißende Finsternis. Ihre Augen waren in der Nacht ohnehin zuverlässiger als zu Tage. Außerdem kannte sie die Treppe hinab in- und auswendig. Unten angekommen fand sie statt Drake moosüberzogene Wände, Stühle und leere Gangabzweigungen vor. Ihr Herz verkrampfte sich. Er würde es schaffen.

»Ramona Gyden.« Ein hagerer Mann mit fettig blondem Haar schritt ihr aus einem der Gänge entgegen.

»Leon.« Sie nickte ihm zu. Musste sie ausgerechnet ihren Unteroffizier als Erstes antreffen?

»Hast du es?« Er fixierte sie mit schmalen Augen.

Vorsichtig holte sie das Tuch aus der Tasche und schlug es zur Seite. Auf ihrem Handteller wirkte die Belohnung ihrer Strapazen enttäuschend klein. Vier Scherben, eingelassen in hellen Fels, die Oberflächen glattgeschliffen, rot und schwarz. Farben, die sie sofort an Drake erinnerten. Sie seufzte resigniert. »… mit Umwegen.«

Leon nahm ihr das Fragment aus der Hand. »Die da wären?«

»Sie haben mich erwischt … Man könnte fast meinen, erwartet, denn ich war wirklich leise. Dann ließen sie mir bis zum Friedhof keine Ruhe. Ich hätte sie ja getötet, aber ich konnte einfach nicht einschätzen, wie viele es waren.« Ramona zuckte mit den Schultern.

Leon nickte. War er gar nicht überrascht? »Das ist nicht der erste Fall, der in der letzten Zeit so ablief.«

Ramona runzelte die Stirn, setzte zur Frage an. Da betrat ihr Leutnant Ryan Carrol den Raum. »Sehr gut, Mona.« Seine Stimme war ein leises Raspeln. »Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen.« Mit dem einen grünen Auge musterte er sie, über der Höhle des anderen trug er eine schwarze Augenklappe.

»Sie wurde verfolgt.« Leon stand auf einmal stramm. Arschkriecher.

Ryans Narben bildeten eine lebendige Hügellandschaft auf seinem Gesicht. »Nicht schon wieder.«

»Gab es sowas öfter?«, fragte Ramona.

Der Leutnant lachte auf. »Allerdings. Leider auch schon mit Erfolg. Claire konnte ihnen nicht entkommen.«

»Claire ist tot?«

»Ja.« Ryan sah zu Boden. Anstand, keine Trauer.

Ramona nahm einen tiefen Zug von der kühlen Moderluft. Reiß dich zusammen. Sie räusperte sich.»Habt ihr was von Drake gehört?«Ganz blödes Thema.

»Nein. Aber bei ihm mache ich mir die wenigsten Gedanken.«

Eigentlich hätte er längst zurück sein müssen. »Wer ist sonst noch draußen?«

»Zyan und Zoé. Die beiden hätten schon vor einer Woche wieder da sein sollen.«

»Verdammt.« Nur weil der Tod mit ihr verbunden war, bedeutete das nicht, dass sie ihm ihre Freunde gönnte.»Diese verfluchten Engel und ihre scheiß Waffen! Natürlich haben die uns voll im Griff. Sie können jederzeit in ihr verkacktes Licht zurückkehren, und wenn ihr fetter König schon zu sonst nichts taugt, dass er sein Militär vernachlässigt, kann man nicht von ihm behaupten.« Ramona marschierte in Richtung der Stühle, als wollte sie sich setzen, hielt inne, kehrte um. »Wenn wir nur nicht hier feststecken würden. In dieser deprimierenden Welt voller Menschen und ihren deprimierenden Seelen. Ich will doch nur, dass es endlich aufhört.« Ihre Augen brannten. Gerade so konnte sie verhindern, mit dem Fuß aufzustampfen wie ein Kind.

Ryan zog eine Braue hoch. »Dann sind wir schon zu zweit. Natürlich hast du recht. Aber so schlecht stehen wir gar nicht da. Ich war erst letzte Nacht in der Stadt und habe mich mit dem Kartografen-Team unterhalten. Die Replik ist lange nicht vollständig, doch wir haben genügend Teile, um davon ausgehen zu können, dass auch die Gegenseite den Weg nicht darstellen kann.«

»Eine Patt-Situation.« Leon nickte heftig.

Ramona funkelte ihn an, Unteroffizier hin oder her. »Patt? Wenn wir die Hölle hätten, vielleicht.«

Leons Miene versteinerte. »Seit Generationen hat keiner von uns diesen Ort gesehen. Die Märchen und Legenden, die ihr euch so fleißig einredet, entspringen reiner Fantasie. Also tu nicht so, als wüsstest du etwas darüber. Tu nicht so, als wären dann all unsere Probleme gelöst.«

Wut staute sich in ihren Knochen. Wie gut es täte, die überbordende Energie in einem Schlag auf sein dummes Gesicht zu entladen.

Schritte auf der Treppe. Keuchen hallte von den Steinwänden wider. Ramonas Muskeln krampften. Normalerweise hatten Engel keine Chance, hier reinzukommen. Schutzrunen verhinderten das. Aber Runen konnten brechen.

Er betrat die Halle.

Luft entströmte Ramonas Lungen. »Drake. Der Hölle sei Dank.«

An Leons Augenrollen vorbei warf sie sich in Drakes Arme. »Du lebst.« Feuerduft, die Knie wurden ihr weich. Wenn sie in dieser verfluchten Welt nur eine Schwäche hätte, wäre er das.

»Hast du auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, Mo?« Seine rauchige Stimme sickerte ihr unter die Haut. Sie blinzelte in glutrote Augen. Es gab keine Person, deren Gefühle offensichtlicher wären als Drakes. Er verbarg seine Launen nicht, das konnte er gar nicht. Und jetzt zeichnete Zuneigung seine Züge. Sanft küsste er sie, ohne sich um die Anwesenheit ihrer Vorgesetzten zu kümmern. Seine Lippen waren rau und fordernd. Ramona versank in seinem Kuss – und zuckte zusammen, als Ryan sich räusperte.

Ohne den Mund von ihrem zu lösen, hielt Drake ihm sein Fragment entgegen. Es war sehr klein. Mit jedem Hin und Her ging Substanz verloren. Irgendwann würde das Material nicht mehr ausreichen und das Mosaik für immer unvollständig bleiben. Dann hatten sie gar nichts mehr.

Ramona löste sich aus Drakes Umarmung. Wie hager sein Gesicht geworden war. Die Wangenknochen traten hervor wie Messer, die Lippen waren schmal, und sein schwarzes, von roten Strähnen durchzogenes Haar war glanzlos und struppig. »Was ist –« Blutflecken verliehen dem dunklen Pulli Farbe. »Sag nicht, du hast dich mit ihnen angelegt?« Natürlich kannte sie die Antwort. Einem Kampf ging Draco Reyker nicht aus dem Weg, wenn es sich vermeiden ließ.

Er zuckte mit den Schultern. »Sie waren nur zu dritt. Ich habe sie getötet.«

»Das hätte auch nach hinten losgehen können. Wie bei Claire.«

Er kniff die Augen zusammen, konzentrierte Glut. »Verfluchte Wichser.« Sein Zorn trieb heiße Wellen durch ihren Körper. »Ist Zyan schon zurück?«

»Nein, er –« Ryan hielt inne. Als hätten die beiden das Schicksal herausgefordert, ertönten erneut Geräusche auf der Treppe. Schluchzen, Schleifen. Eisige Klauen umfassten Ramonas Herz.

Zoé stolperte die letzten Stufen herab. Ramona hechtete vor und fing sie auf, bevor sie zu Boden ging. Die sonst so drahtige Kriegerin war nur noch Haut und Knochen und zitterte wie Espenlaub. Was umklammerte sie da mit schwarz verschmierten Händen? War das –

Drake stieß einen Laut aus, der kalt in Ramonas Ohren kleben blieb. Vorsichtig veränderte sie ihre Position. Scheiße. Sie hatte richtig gesehen. Weißes Rauschen füllte ihren Kopf. Verdreht wie eine zerstörte Puppe lag Zyan halb auf der Treppe. Es war sein Arm, den Zoé hielt. Ihre Miene war eine Maske des Horrors. Die Pupillen viel zu groß, die Lippen zu lautlosem Schrei verzerrt. Speichelfäden zogen sich über ihr Kinn, das schwarze Haar klebte ihr im Gesicht, sein Handgelenk drückte sie so fest, dass Flecken zurückbleiben würden. Totenflecken.

Ramona tastete nach Zoés schlammverschmierten Fingern. Nein, kein Schlamm, keine schwarze Erde; Blut verkrustete ihre Haut, hinterließ dunkelrote Spuren und beißenden Eisengeruch. Ramona schluckte. Sie musste jedes Gelenk einzeln umfassen, um Zoés Griff zu lösen. Halb trug sie sie zur Sitzecke hinüber und half ihr auf einen Stuhl.

»Sternensplitter. In der ganzen Brust verteilt.« Leon besah sich Zyans Wunde, seine Stimme war nüchtern. Musste das sein?Ramona durfte Zoé nicht loslassen. Sie würde sofort vom Stuhl kippen.

Drake richtete sich auf. Sein Haar sprühte Funken. Flammen loderten auf seiner Brust, schmolzen Löcher in seinen Lieblingspullover. Der Geruch nach verbrannter Synthetik mischte sich mit dem von Blut. »Das werden sie büßen.« Er flüsterte diese Worte, aber die Spannung darin füllte den gesamten Raum.

Zoé stierte weiter vor sich hin.

»Du bist auch getroffen.« Leon hastete zu ihnen herüber und deutete auf Zoés Oberarm. Matt glänzte es zwischen zerfetzten Muskelfasern und geronnenem Blut. Sie musste himmlische Schmerzen haben, doch kein Laut kam ihr mehr über die Lippen.

»Sie steht unter Schock.« Ramona strich ihr übers Haar. »Wir bringen sie zu Ayumi.« Die Truppenärztin würde sich um all ihre Wunden kümmern. Die körperlichen wenigstens.

Noch in derselben Nacht rief Ryan eine Krisensitzung im Konferenzraum ein. Fünfzehn Teufel gehörten nun noch zu der Truppe unter dem Friedhof. Es war nicht lange her, dass die Leitung in Krähenfeld diesen Stützpunkt eingerichtet hatte. Ramona war eine der ersten Bewohnerinnen gewesen, zusammen mit ihrer besten Freundin Jane, mit der sie aufgewachsen war.

Kaum hatte sie den Raum betreten, fiel Jane ihr um den Hals. »Was bin ich froh, dass du heil zurück bist.« Für einen Kuss auf Ramonas Wange musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen.

»Ich auch, das kannst du mir glauben. Gibt es was Neues?« Mit dem Kinn wies Ramona in Ryans Richtung, der sich mit einigen der anderen an den großen Tisch setzte.

»Du kennst ihn ja«, Jane wägte den Kopf hin und her, »so ganz darauf einlassen will er sich nicht.«

Ramona grinste breit. »Aber ich kenne auch dich. Du wirst ihm keine Wahl lassen.«

Jane lachte hell auf, und Ryans Blick verirrte sich kurz zu ihnen herüber. »Da hast du recht.«

»Ihr alle habt mitbekommen, warum wir hier sind«, eröffnete Ryan. »Unsere Missionen entwickeln sich allmählich zu Selbstmordkommandos. Die Feinde sind uns ständig einen Schritt voraus. Wirklich weiter kommen wir so nicht. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, eine Sondermission zu beantragen.«

»Sollen wir alle gemeinsam losziehen?«, fragte Larry.

»Das ist Quatsch. Je größer die Gruppe, desto mehr Aufmerksamkeit zieht sie auf sich. Wir sollten eine Untergrundaktion starten.« Zauberteufelin Hannah lehnte sich auf der Tischplatte nach vorn.

»Wir sollten etwas richtig Krasses aufziehen. Was aufs Spiel setzen. Die Feinde direkt ins Herz treffen.« Linus starrte Ryan herausfordernd an.

Das kannst du vergessen. Sie wagten nichts. Dafür hatten sie keine Ressourcen. Immer die Defensive, niemals im Angriff.

Doch der Leutnant nickte. »Linus hat recht. Diesmal müssen wir richtig zuschlagen. Wir kommen nie an das vollständige Mosaik heran, solange wir nicht dort suchen, wo sie es aufbewahren. Wir müssen endlich den Weg zur Seelenmacht finden und das Ruder herumreißen. Sonst gehen wir endgültig unter.«

Die Mienen der anderen spiegelten Ramonas Überraschung.

Jane lachte auf, etwas höher als sonst. »Du meinst, wir spazieren in den Himmel? Wiederholen die unmögliche Geschichte? Hältst du dich für Liem?« Ihre Stimme troff vor Ironie. »Die Unternehmung war schon damals zum Scheitern verurteilt. Dass die drei überhaupt ein paar Fragmente erbeutet haben, grenzt an ein Wunder.«

Ryans Auge heftete sich auf ihr Gesicht. »Runa, Nayiri und Liem waren die Letzten von uns, die wirklich etwas riskiert haben. Die uns tatsächlich vorangebracht haben. Seit damals sind fast neunzig Jahre vergangen. Es wird Zeit.« Ryan machte keine Witze. Aber unnötige Risiken? Das sah ihm nicht ähnlich.

Ramona biss sich auf die Unterlippe. Zeit für Helden? Nicht, wenn man zur sterbenden Spezies gehörte.

»Das ist Selbstmord, Ryan. Das ist dir klar, oder? Da können wir auch gleich hier rausmarschieren und uns ihnen stellen.« Jane stemmte die Hände in die ausladenden Hüften.

»Nur wenn wir erwischt werden, können sie uns töten.«

Jane schnaubte.

»Wie genau sollen wir uns denn im Himmel tarnen? Das Sonnenlicht, unsere Fähigkeiten … Abgesehen davon, dass man uns bereits am Himmelstor entlarven würde. Oder denkst du, die machen keine Tests? Vor neunzig Jahren vielleicht noch nicht, aber heute ganz sicher.« Ramona verschränkte die Arme vor der Brust. Ja, es musste etwas geschehen. Aber das? Das war reiner Wahnsinn.

»Ich melde mich freiwillig.«

Ramonas Arme fielen herab. Die Luft entwich pfeifend ihrem noch geöffneten Mund. Natürlich. Selbstmordmission? Da war er dabei. Vernunft war nie Drakes Stärke gewesen. »Das tust du nicht.« Sie wandte sich ihm zu und funkelte ihn an.

Er lehnte im Türrahmen. Wahrscheinlich war er geradewegs von Zyans Bahre zu ihnen gestoßen.

Larry prustete hinter vorgehaltener Hand. »Hörst du das, Draco? Fräulein Gyden verbietet es dir.«

Ramona hatte nicht einmal ein Schnauben übrig. Sie wusste, dass Larry schon lang ein Auge auf Drake geworfen hatte. Sie wusste auch, dass keine Macht der Welt Drake etwas ausreden könnte, was sich einmal in seinem Dickschädel festgesetzt hatte. Vermutlich nicht einmal die Seelenmacht. Er würde gehen. Und sie sicher nicht hier unten auf seine Todesnachricht warten.

Ryan war das offenbar ebenso klar. Er nickte Drake zu, als würde er einen Punkt auf seiner inneren To-do-Liste abhaken. »Das dachte ich mir. Also bist du auch dabei?«

Ramona seufzte tief. »Natürlich.«

Drakes Mundwinkel zuckten.

»Ich werde ebenfalls gehen. Noch jemand, damit ich den Vorschlag in Krähenfeld unterbreiten kann?«

»Ach, was soll’s. Ich lasse euch nicht allein sterben.« Jane verdrehte die Augen.

»Na gut. Danke. Morgen Abend fahren wir nach Krähenfeld, plaudern mit den Generälen und decken uns mit Sonnencreme ein.« Der Anflug eines Lächelns huschte über Ryans Gesicht.

Larry kicherte überdreht. »Setzt am besten schon mal euer Testament auf!«

Einer der Nachteile des Daseins als Todesteufelin war wohl die Sache mit dem Sarg. Um die teuflische Magie zu stärken, musste sie regelmäßig durch Kontakt zur jeweiligen Kraftquelle regeneriert werden. In der Unterwelt war das wohl kein Problem gewesen – dort gab es keine Sonne und stattdessen jede Menge Teufelswerk. Für hier oben hatten sich die Offiziere andere Wege einfallen lassen, die Soldaten stets am Maximum ihrer Kraft zu halten. So schlief Ramona tagsüber in einem engen, schwarzen und zu allem Überfluss recycelten Sarg. Die Geschichte, wie sie an ihn gekommen war, war weder erheiternd noch besonders angenehm.

Nun lag sie wach da, von den kalten Sargwänden und ihren noch kälteren Sorgen umgeben. Ein vorwitziger Sonnenstrahl hatte seinen Weg durch einen Riss in der Decke gefunden und brach sich an dem Spiegel, der an der einen Wand ihrer winzigen Kammer lehnte. Sie alle waren in getrennten Schlafsälen untergebracht, so waren die Vorschriften. Militante Schnarchsäcke. Wenn man nachtnächtlich sein Leben aufs Spiel setzte, hatte man doch wohl ein wenig Glück und Geborgenheit verdient. Und glaubten die wirklich, diese Regelung könnte die Soldaten von anderen Dingen abhalten? Ramona verdrehte die Augen.

Neben ihrem Sarg stand eine Urne voller Asche. Wann immer sie den Granitdeckel abnahm und sich das Pulver durch die Finger rieseln ließ, erfüllte sie Macht und Leben. Sonst brauchte sie dieses spezifische Werkzeug nur für den Kampf. Vielleicht sollte sie schon mal ein paar Tütchen abfüllen, wo sie ohnehin keinen Schlaf fand. Sie rappelte sich auf und trat zur Kommode hinüber.

Nach der Krisensitzung hatten sie die beiden Toten bestattet. Wie immer hatte Ramona das Ritual geleitet.

Sie zog einige Plastiktüten aus der obersten Schublade.

Mit Drakes Hilfe hatte sie die Leichen verbrannt und den Seelen geholfen, ihre Körper hinter sich zu lassen. Sie war noch nicht besonders gut darin, konnte körperloses Bewusstsein nicht sehen. Dabei fühlte sie sich wie eine Blinde, die einen Strauchelnden auffangen und ihm einen Weg weisen sollte, den sie selbst nicht sah.

Mit einer Hand hielt sie die Tüte auf, mit der anderen füllte sie das Pulver hinein. Immer nur eine kleine Portion, denn Nachschub zu besorgen war … aufwendig.

Die Asche hatten sie in getrennten Phiolen in einen hohlen Baumstamm beigesetzt. Der tote Stamm besaß eine Kraft, die Ramona jedes Mal schaudern ließ, wenn sie an ihm vorüberging. Auf seiner runzligen Rinde wuchs die Liste der Namen ganz allmählich weiter.

Kurzentschlossen klopfte sie sich die Aschereste von der Haut und verließ das Zimmer. Leise wie ein Schatten huschte sie durch die kalten Korridore in den Männerflügel.

Die Silhouette in ihrem Weg bemerkte sie gerade noch rechtzeitig, um nicht in sie hineinzulaufen. »Verdammt! Was machst du denn hier?«

Zoé starrte sie aus aufgerissenen Augen an. Hinter ihrem Rücken verschwand raschelnd ein Zipfel Papier. »Guten Tag.« Zoé schob sich hastig an Ramona vorbei und drehte sich nicht einmal mehr nach ihr um.

Sie stand unter Schock. Vermutlich hatte sie hier im Männerkorridor nach Zyan gesucht. Ramona folgte ihr in einigem Abstand; leise, um sie nicht zu erschrecken. Sie konnte sie schließlich nicht allein durch die Gänge geistern lassen. Aber Zoé schlich zielstrebig zurück ins Krankenzimmer. Bettfedern quietschten, Laken raschelten. Ramona atmete auf und wandte sich um.

Von Drakes Schlafstätte ging dämmriges Glimmen aus. Jeden Morgen vor dem Schlafengehen entzündete er Dutzende Kerzen, die das Kopfende seines Bettes hufeisenförmig umschlossen. Nah genug, dass der Schein seine Haut mit Energie tränkte, weit genug entfernt, um nicht die Laken zu entflammen. Der Rauch zog zur Decke und entwich durch die Ritzen.

Manchmal, wenn er besonders intensiv träumte, so wie jetzt, fing er selbst Feuer. Um seine Gestalt züngelten schläfrige Flammen, leckten an seiner Haut wie Hunde und verbrannten ihn nie. Wohl aber die Decken und den Stoff seiner Hose.

Ramona trat einen Schritt vor, seine Lider flogen auf. Stirnrunzelnd betrachtete er die Reste seiner Kleidung und den Zipfel des Kissens, der sich knisternd in die Luft ringelte. Er sprang auf, lockte die Flammen von der Hose auf seine Hände, wo sie erstarben. Das brennende Bett ignorierte er, stattdessen trat er auf Ramona zu und schloss sie in die Arme. Sein Haar schwelte und stand in alle Richtungen ab. Der Geruch nach Feuer und Rauch umhüllte Ramona wie ein Kokon. »Kannst du nicht schlafen, Mo?«

Sie schüttelte den Kopf an seiner Schulter.

Er küsste ihren Scheitel. »Wir werden es überleben.«

»Ich wünschte, du hättest dich nicht gemeldet«, flüsterte sie.

»Ich weiß. Aber du weißt, dass ich mich entschieden habe.«

Sie nickte. »Ich werde dich nicht allein lassen.«

»Ich weiß.« Seine Lippen waren Feuer auf ihrer Haut. »Der Sieg gehört uns«, raunte er, und Hitze versengte ihre Zweifel.

Kapitel 2: Sturmwolken

Lenia blinzelte. Eine Frühlingsbrise trug Vogelgesang durch die Lüftungsfenster ins Zimmer, bauschte die Gardinen mit dem Duft von Nelken und Rosen. Sie lag zwischen Samt und Seide in ihrem riesigen Himmelbett inmitten ihres noch größeren Schlafgemachs. Die Buntglasfenster spielten mit dem Sonnenlicht, und alle Farben des Regenbogens spiegelten sich auf dem Fußboden wider. Sie gähnte, rieb sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf.

Als hätte sie draußen darauf gewartet, stieß Cherry die mit Gold beschlagene Tür auf. Die Sklavin war klein und kräftig, hatte helle Haut und schlohweiß gelocktes Haar, dabei war sie gerade erst vierzig geworden.

»Lenia, Schätzchen, du bist ja schon wach.« Sie trat ans Bett, um die Kissen auszuklopfen. Lenia sprang auf, raffte die Laken zusammen und legte sie zum Auslüften über die polierte Fensterbank, bevor Cherry das auch noch tun konnte. Natürlich würde sich die Dienerin nie über ihr Schicksal beschweren. »Im Auge des Herrn sind wir alle gleichbedeutend. Ob König oder Sklave, der Wert unserer Seelen unterscheidet sich nicht«, pflegte sie zu sagen. Bewundernswert. Trotzdem gut, dass sie so etwas nur vor Lenia aussprach. Vater hätte dazu einiges zu sagen …

Nach einer schnellen Dusche durchblätterte Lenia die Bügel in ihrem Schrank, als suchte sie nach einer bestimmten Stelle in einem Buch. Am Ende entschied sie sich für eines ihrer liebsten Kleider. Weiß, knöchellang und voller Rüschen. Sie zog es über. Oh. Hatte sie schon wieder abgenommen? Im Spiegel musterte sie ihr schmales Gesicht. Das Gold ihrer Augen glänzte, und das Haar floss ihr wie Honig über die Schultern, verdeckte nur mäßig die spitzen Enden ihrer Schlüsselbeine. Auf ewig die kleine Prinzessin, ganz egal, dass sie bereits neunzehn war.

Lenia seufzte und warf einen Blick aus dem geöffneten Fenster. Der Palastgarten mit seinen bunten Gewächsen und dem sprudelnden Springbrunnen lag im goldenen Morgenlicht. Am liebsten hätte sie direkt einen Spaziergang unternommen. Aber Lorenzius Light reagierte auf Verspätungen niemals mit Nachsicht – wie auch auf jedes andere Vergehen. Also straffte sie die Schultern und trat gefolgt von Cherry durch die Tür des Schlafgemachs.

»Guten Morgen, Majestät.« In seiner goldenen Rüstung sah ihr riesiger Leibwächter aus wie eine Statue.

»Guten Morgen, Rikard.«

In schweigender Prozession marschierte das ungleiche Trio durch die breiten, lichtdurchfluteten Korridore des Königspalastes. Dies war eine architektonische Eigenart des Gebäudes, die Lenia schätzte: Keiner der Gänge war kalt und dunkel, denn sie waren selten zu beiden Seiten von Zimmern gesäumt. Mindestens eine Wand – oder manchmal die Decke – bot Raum für große Fenster, durch die das Tageslicht fiel und sich warm über die Fliesen und roten Teppiche ergoss.

Es war genug Platz, die Sklaven zu passieren, die stets durch die Gänge eilten oder die abertausenden Scheiben polierten. Lenia lächelte, wenn sie einen ihrer scheuen Blicke traf, und freute sich, wenn einer der Mutigeren dies erwiderte. Den anderen nahm sie nicht übel, wenn sie sich hastig verbeugten und das Weite suchten. Es war bloß ein Echo ihrer Angst. Denn die Furcht vor Lorenzius Light hatte den ganzen Palast infiziert.

Wie eine fette Kröte auf einem Seerosenblatt saß der Herrscher des Himmels auf dem Stuhl am Ende der Holztafel. Träge blätterte er in einer Ausgabe des Himmelskuriers. Auf dem aschblonden Haar trug er die Goldkrone, die er kaum jemals herunternahm. Die verschnörkelten Blumenranken und der blaue Edelstein, der wie ein einzelnes Auge in ihrer Mitte glomm, waren wunderschön. Trotzdem: Die Vorstellung, das Ding einmal tragen zu müssen, schnürte Lenia die Luft ab.

Gleich zwei Sklavinnen versorgten Lorenzius mit klebrigen Frühstückscroissants. Außerdem Orangensaft, den er durch einen dicken Strohhalm schlürfte.

Meinen, ein Reich beherrschen zu müssen, aber nicht selbst essen können … Lenia verzog das Gesicht und schlüpfte in die Küche, die nur ein Fünftel von der Größe der Hauptküche im Keller besaß. Wie jeden Morgen positionierte sich Rikard an der Tür, als könnte er sie vor ihrem eigenen Vater beschützen. Rührende Geste.

Palastköchin Kira begrüßte sie mit zahnlosem Lächeln: »Guten Morgen, Prinzessin. Wie hast du geschlafen?«

Sie lächelte ebenso breit zurück und nahm den Teller entgegen. »Wunderbar, Kira. Und du?«

»Gut, nur etwas kurz. Du kennst ja deinen Vater … Nachts hat er immer den doppelten Appetit.« In Kiras Augenwinkeln wuchsen Lachfältchen, und nicht die leiseste Anklage schwang in ihrer Stimme mit. Alle akzeptierten. Niemand hinterfragte.

Danach hatte Lenia keinen Hunger mehr, setzte sich aber trotzdem an die Tafel. Auf den Stuhl, der am weitesten von ihrem Vater entfernt war. Den Sklaven, der ihr den Stuhl zurechtrücken und das Brötchen schmieren wollte, wies sie mit einer Handbewegung ab.

»Was soll das denn wieder werden? Lass den Sklaven seine Arbeit tun. Sonst bleibt ihm nichts im Leben.« Lorenzius Light lachte dröhnend, als hätte er soeben den Witz des Jahrhunderts gerissen. Sein Schnauzer bebte. Mit Augen, die fast zwischen Wangen und Brauen verschwanden, blitzte er sie an.

»Ich kann das auch selbst tun«, flüsterte sie. Sie hatte diese Furcht so satt!

»Kannst du nicht lauter sprechen?«

Hölle, heute schien er einen besonders schlechten Tag zu haben. »Ich brauche keine Hilfe beim Brötchenschmieren«, rief Lenia über den Tisch. Fast hätte sie aufgelacht. Wie absurd war dieser Mann?

»Die Prinzessin braucht dabei also keine Hilfe?« Die Frage des Königs stand drohend im Raum.

Lenia nickte und versank hinter ihrem Teller.

Er schubste eine seiner Fütterfrauen so heftig zur Seite, dass sie mitsamt Karaffe zu Boden ging. »DIE PRINZESSIN HAT GEFÄLLIGST ZU REALISIEREN, WER SIE IST, VERDAMMT NOCHMAL! WIE SOLL MEIN REICH JEMALS RESPEKT VOR DIR ERLANGEN, WENN DU NOCH NICHT EINMAL DEN UNRAT AN SEINEN PLATZ VERWEIST?« Frischgepresster Orangensaft ergoss sich über die Fliesen und versickerte in den Fugen.

Lenia wimmerte. Die Sklavin rappelte sich hektisch auf und sammelte die Scherben auf. In ihrer Hast schnitt sie sich daran. Rot mischte sich unter Orange wie die perverse Karikatur eines Sonnenuntergangs. Lenias Magen drehte sich um.

»Lenia, Schätzchen, du bereitest deinem alten Vater Sorgen.« Der König stützte das Doppelkinn in die Hände und betrachtete sie.

»Respekt erringt man nicht, indem man Leute ausnutzt, die einem unterstehen. Man muss ihn sich verdienen. Dafür sind Gewalt und Furcht der falsche Ansatz.«

Des Königs Gesichtsfarbe änderte sich um Nuancen. Schweinchenrosa zu Veilchenviolett. Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen und ihre Worte rückwirkend ausgelöscht.

»Willst du damit andeuten, das Volk hätte keinen Respekt vor mir?«

»Es fürchtet dich. Furcht ist nicht Respekt. Und nur Respekt kann wahre Untergebenheit hervorrufen.« Das war zu weit.

Die Atmosphäre im Raum lud sich auf wie vor einem Gewitter. Lenia duckte sich und wartete auf den ersten Blitzschlag. Ihr Zorn war ins Nichts verraucht. Zurück blieben kalte Furcht und Reue.

Sie spürte die verstohlenen Blicke auf sich. Stille breitete sich im Raum aus. Kira stand in der Tür zur Küche, eine Pfanne mit Rührei in der einen, einen Krug mit Milch in der anderen Hand. Beides hatte sie offenbar völlig vergessen, denn stetig tropfte Milch auf den Boden und das Ei rutschte gefährlich nah an den Pfannenrand. Rikard sah mehr denn je aus wie eine Statue. Nur die geballten Fäuste verrieten seine Anspannung.

»Für diese Behauptungen solltest du dich entschuldigen, Tochter.«

Lenia zuckte zusammen. Sie presste die Lippen fest aufeinander – und schüttelte den Kopf.

»Wenn du also denkst, du wüsstest besser, wie man sich Respekt in dieser Welt verschafft, wie man überlebt ohne Sklaven und ohne Wächter, dann brauchst du all das hier ja nicht.« Der König sprach viel zu ruhig. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, ehe er wieder an Lenia hängenblieb. »WORAUF WARTEST DU ALSO NOCH? VERSCHWINDE! ZUR HERRSCHERIN TAUGST DU OHNEHIN NICHT. HAU AB UND KOMM JA NIE WIEDER ZURÜCK!« Das musste der ganze Palast gehört haben.

Das meint er nicht ernst. Lenia zitterte. Es begann in den Fingerspitzen und übertrug sich von da auf ihren gesamten Körper. Er starrte sie an wie ein Raubvogel; dann zuckte sein Schnauzer – und er lächelte böse.

»Nein! Das könnt Ihr nicht tun, Majestät.« Kira fiel aus der Erstarrung und baute sich neben Lenia auf. Die Hände um Pfannengriff und Krug ballte sie zu Fäusten, als würde sie gleich damit in den Krieg ziehen.

»Ich kann nicht? Werft diese aufmüpfige alte Krähe in den Kerker.«

Sofort kam Bewegung in die beiden Wachen in den goldenen Rüstungen am Eingang. Sie packten Kira an den Armen, sodass Pfanne und Krug zu Boden schepperten, und zerrten sie zur Tür.

»Lasst mich los! Ich kann selber laufen.« Kira spuckte nach den Männern, trat und zeterte. Sie waren Steine.

Taubheit erfüllte Lenias Körper. Gedankenscherben klirrten in ihrem Kopf. Oh, wenn sie nur die letzte halbe Stunde rückgängig machen könnte. »Verzeih mir, Kira. Das ist alles meine Schuld. Ich werde dich da rausholen.« Tränen fluteten ihre Augen. Dummes Gör. Dummes, dummes Gör.

»Liebes Kind, das ist nicht wahr. Mein Schicksal soll dich nicht belasten.«

Schluchzend sank Lenia zu Boden.

»Worauf wartest du? Verschwinde endlich!«, keifte der König.

Lenias Glieder waren schwer wie Blei. Sie hockte auf den kalten Fliesen und wimmerte wie ein geprügelter Welpe. Cherry griff ihr unter die Arme, zog sie auf die Füße und half ihr aus dem Raum. Sie führte Lenia hinaus aus dem Palast und auf die Straßen des Himmels.

Cherry schob sie entschieden vorwärts; Lenia schüttelte den Kopf. Sie umklammerte den steifen Stoff ihrer Uniformjacke. Das Wappen des Palasts prangte darauf wie ein Mahnmal. »Geh zurück, du gehörst ihm. Er wird dich bestrafen!«

»Rede keinen Unsinn, Lenia. Ich lasse dich nicht allein.«

»Wo sollen wir nur hin?« Die Schuld machte das Denken schwer. Warum nur hatte sie nicht einfach still sein können? Pappelstämme verschmolzen zu Schlieren.

»Wir gehen zu Neal. Ihm können wir vertrauen.« Cherry nahm sie bei der Hand.

Gute Idee. Lenia nickte vor sich hin. Neal Gray war der einzige Freund, den sie jemals gehabt hatte. Als Kinder hatten sie miteinander gespielt; heute half er dem Palast mit seinen Finanzen. Trotzdem würde er für sie da sein, ganz bestimmt.

Auf dem Weg zu seinem Haus mussten sie dem höllischen Verkehr des Himmels trotzen. Für Fußgänger auf dem Ozeanboulevard war es eine Kunst, die Querstraßen lebendig zu überqueren. Über grobes Kopfsteinpflaster holperten Pferdekutschen und solarbetrieben Autos, Rikschas, Fahrräder und Motorroller. Warum nur hatten die Herrscher zugelassen, dass dieses Reich so herunterkam? Die Magie, die der Goldenen Stadt früher einmal Leben eingehaucht haben sollte, kannte Lenia fast nur noch aus Büchern.

An der ersten Abzweigung gestikulierte Cherry nach links. Sankt-Gwain-Straße stand auf dem Straßenschild. Lenia hielt sich nah an sie und die Hände neben ihrem Kopf. Lärm und der Gestank nach Schweiß, Pferdedung und Zigarettenqualm umhüllten sie. Oh, würde doch nur Rikard sie begleiten. Er hätte allein durch seine Erscheinung eine Schneise in die Menge geschlagen.

In die deutlich schmalere Seitenstraße abzubiegen, erwies sich als Segen. Sie ließen sich aus dem Treiben spucken und in eine Straße, die gesäumt war von herrschaftlichen Fassaden. Die Goldene Stadt war wie ein kunterbuntes Mosaik aus verschiedensten Kulturen und Ständen. Den Ozeanboulevard säumten hauptsächlich Villen. Hier in der Parallelstraße zur Königsallee führten sich die protzigen Gebäude fort, aber in anderen Vierteln gab es auch graue Betonbauten, denen man die Zweckmäßigkeit, möglichst vielen ein Dach über dem Kopf zu bieten durchaus ansah.

Dank seiner Abstammung gehörte Neal zur gehobenen Schicht und bewohnte eine Villa in der Sankt-Gwain-Straße. Im Vorgarten blühte ein Kirschbaum, und hinter einem Beet voller Tulpen kletterten pinke Rosen an der Wand empor. Den Eingang, eine Tür mit Beschlägen aus Himmelsgold, erreichten Lenia und Cherry über marmorne Treppenstufen.

Neal musste sie vom Fenster aus gesehen haben, denn er öffnete sofort. Er spähte an ihnen vorbei nach draußen, winkte sie zu sich hinein. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, doch er stellte keine Fragen. Ganz kurz drückte er Lenia an sich. Sie schwindelte.

Der Eingangsraum wurde vom Licht weniger Glühlampen nur spärlich erhellt, und sie fröstelte, als Neal sie losließ. Im Salon, wo das Feuer im Kamin munter flackerte und Sofa wie Sessel herumstanden, war ihr gleich wohler zumute. Cherry erzählte, und Neal nickte jedes ihrer Worte kommentarlos ab. Lenia erschauerte unter dem ernsten Blick aus seinen goldenen Augen.

»Ich weiß, wo ihr unterkommen könnt. Ich bringe euch hin.«

Kapitel 3: Krähenfeld

Heißer Atem wallt mir über die Haut, überzieht mich mit einem Schauer nach dem nächsten. Ramona rekelte sich. Seine Finger greifen mein Shirt, die Lippen brennen auf meinem Hals. Sie drehte sich seufzend zur anderen Seite. Ich schiebe die kokelnden Reste seiner Hose nach unten, berühre ihn und streiche sacht bis zur Spitze. Sie schmatzte, streckte sich – und schrie auf.

Übelkeit erregender Schmerz zuckte ihr durch die Fingerkuppen. »Autsch, verflucht!« Mit tränenden Augen lutschte sie daran herum und funkelte die Kerzen neben dem Bett an, als hätten sie ihren Angriff geplant.

Drake blinzelte und gähnte ausgiebig. »Was los?« Er sah zu ihr auf. »Oh, du bist noch hier.«

»Ja, verdammt.« Der Schmerz ließ allmählich nach. Dafür hatte sie Zeit, an sich herunterzublicken. »Mist.« Die Aschereste auf den angesengten Laken hatten ihren nackten Körper gründlichst gezeichnet. Ihre Haut war schwarz verschmiert, wie eine Strafe für ihr unverzeihliches Benehmen.

Drake kicherte verhalten, und ihr böser Blick richtete sich auf ihn. »Du hast leicht lachen.« Auf seiner feuerfesten Haut hinterließ der Ruß natürlich keine Spuren. Sie konnte nur hoffen, dass Ryan sie so nicht zu Gesicht bekam. Oder Leon. Die Sache mit der militärischen Disziplin nahmen die beiden leider viel zu ernst. Wobei … seit Jane sah Ryan das Ganze nicht mehr ganz so eng …

Ramona sprang auf und versuchte, die Aschespuren fortzuwischen. Vergeblich. Sie verteilte das Zeug eher noch.

Drake rappelte sich auf, griff nach ihren Handgelenken und zog sie an sich heran. »Mach dir keinen Stress, Mo.« Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste sie. Süßes Verlangen zog durch ihren Körper.

»Keine Zeit«, hauchte sie mit heißen Wangen. »Ich muss mich waschen gehen.«

Drake musterte sie von oben bis unten. »Ich finde, es steht dir. Hat einen sehr todesteufeligen Touch.«

Ramona schnaubte. »Tja, Ryan wird das anders sehen.« Rasch warf sie sich die Klamotten über und zog die Kapuze der schwarzen Sweatshirtjacke möglichst tief ins Gesicht. Wie ein Schatten hetzte sie durch den Männerkorridor und erreichte aufatmend die Dusche der Frauen. Das kalte Wasser aus der rostzerfressenen Leitung weckte auch ihre übrigen Lebensgeister. Ganz bekam sie die Kohleschmiererei jedoch nicht von ihrer Haut hinunter. Ein deutlicher Graustich blieb zurück. Vielleicht hatte Drake in dieser Hinsicht recht – ging für einen Todesteufel gerade noch so durch. Das Meiste ließ sich ohnehin durch Kleidung überdecken. Beherzt klatschte sie sich gefühlte Tonnen aus Janes Make-up-Vorrat ins Gesicht. Ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber noch nicht karnevalsverdächtig. Sie rundete den Anblick mit etwas Puder ab und drapierte den dunklen Pony schräg auf ihrer Stirn.

Da schneite Jane zusammen mit Zauberteufelin Hannah und Truppenärztin Ayumi herein. »Abend, Mona.« Dafür, dass die letzte Nacht von Bestattungen und zweifelhaften Zukunftsplänen geprägt gewesen war, waren sie in erstaunlich guter Stimmung. Konnte man sich wirklich an alles gewöhnen? Sogar den Krieg?

Hannah und Ayumi verschwanden in den Duschen; Jane blieb vor Ramona stehen und musterte sie argwöhnisch. »Na, diesen Stil kenne ich doch. Konntet mal wieder nicht voneinander lassen, hm?« Sie zwinkerte. Ramona war dankbar, dass ihre Schminkkunst jegliche Wangenröte verbarg.

»Ryan und Leon fällt das eh nicht auf. Zumindest nicht, wenn du aufhörst, so schuldbewusst zu gucken. Moment.« Jane hob eine Hand, als wollte sie ihr das Haar aus der Stirn streichen. Stattdessen hielt sie in der Luft inne und drehte die Handfläche nach oben. Zarter Nebel löste sich aus Ramonas Haar und versickerte zwischen Janes Fingern. »Trocken haben sie mehr Volumen. Gern geschehen.« Sie warf ihr einen Luftkuss zu und folgte den anderen.

Gerade als Ramona das Sammelsurium an Schminkartikeln zusammenraffen wollte, betrat Zoé das Bad. Unter ihren großen Augen lauerten Schatten, das knielange Haar, das sie sonst zu aufwendigen Frisuren einflocht und hochsteckte, damit es ihr im Kampf nicht im Weg war, lag ihr stumpf wie ein Teppich über dem Rücken. Sie ging gebeugt, als drückte das Gewicht sie nieder, sah stumm geradeaus. Schwaden aus Finsternis klebten an ihrer Haut und folgten ihren Bewegungen träge.

Ramona stellte die Kosmetiktasche ab, ihre Hände zuckten. Am liebsten hätte sie Zoé umarmt, aber sie wirkte so teilnahmslos … Es ziepte in ihrer Brust. Diesen Schmerz kannte sie gut. »Es tut mir leid, was passiert ist. Ob du darüber reden, oder schweigen möchtest: Ich bin für dich da. Wir alle stehen hinter dir, und glaube mir, wir werden uns an ihnen rächen.« Das klang beinahe primitiv, aber manchmal war Rache der einzige Halt. Mit fast zehn Jahren hatte Ramona ihre Eltern an die Engel verloren und Janes Familie hatte sie adoptiert. Ihre beste Freundin immer bei sich zu wissen, war ein Trost gewesen. Erst die Ausbildung zur Soldatin jedoch hatte sie endgültig ins Leben zurückgeholt.

Endlich sah Zoé sie tatsächlich an. »Ich weiß. Und ich bin dir dankbar dafür.« Damit wandte sie sich ruckartig ab und verließ den Raum, ohne sich auch nur die Hände gewaschen zu haben.

»Das geht ja gut los«, begrüßte Ryan sie, als Ramona und Jane fünf Minuten später in die Eingangshalle traten.

»Was ist denn nun wieder sein Problem?« Jane rollte mit den Augen. Ramona hob nur die Schultern. Wenn ihr Leutnant gereizt war, fand er immer eines.

Ryan fixierte Jane. »Momentan wäre das wohl eure Unpünktlichkeit. Glaubt ihr, die Läden in Krähenfeld haben ewig geöffnet?«

»Seit wann kennst du dich mit menschlichen Shoppinggewohnheiten aus?«, konterte sie sofort. »Es ist erst sieben. Ein paar Stunden reichen, um das zu bekommen, was wir brauchen. Die Zentrale wird uns ohnehin erst ab zehn empfangen. Also kein Grund für Stress.«

Ramona schob sich zwischen die beiden, die aussahen, als würden sie sich in der nächsten Sekunde entweder an die Kehlen oder an die Wäsche gehen.

Glücklicherweise stieß in diesem Moment auch Drake zu ihnen. »Dann kann die Party ja starten. Ich fahre.«

Beim Austritt durch den Stein drehten sie sich in alle Richtungen, jeden Schritt begleitete ein Blick über die Schulter. Am liebsten hätte Ramona Zoé gebeten, ihnen ihre Dunkelheit zu leihen. Noch hatte der Feind die Gruft nicht finden können, aber sie kamen stetig näher. Ob sie Späher herschickten?

»Die meisten Engel, die es so weit geschafft haben, sind tot«, murmelte Jane. Mit unangenehm laut knirschenden Schritten marschierten sie in Richtung Ausgang.

»Ein Überlebender reicht, uns alle zu vernichten.« Ryan war ohne Schwarzseherei nicht vollständig. Einen hoffnungsvollen Satz einfach so stehen zu lassen, sprach wider seine Natur.

»Was ist mit denen, die Zyan getötet haben? Kamen die davon?« Drakes Augen glommen in der Abendluft.

»Alle tot. Den einen hat Zoé geradezu zerfetzt. War eine ziemliche Sauerei.« Ryan hob die Schultern. Ein Gentleman, wie er im Buche stand.

»Natürlich hat sie das. Er hat die Liebe ihres Lebens getötet – vor ihren Augen. Ihre Gefühle dabei möchte ich mir nicht einmal vorstellen.« Ramona griff nach Drakes Arm und wehrte sich entschieden gegen die Bilder, die sich in ihren Verstand drängen wollten.

»Nein. Das sollte man sich tatsächlich nicht vorstellen. Könnte einem gehörig die Nacht versauen.« Damit zog Ryan den Autoschlüssel aus der Jackentasche und öffnete die Fahrertür des flaschengrünen Klappergestells, das ihrer kleinen Truppe zur Verfügung gestellt worden war.

»Ich wollte –«, fing Drake an, aber der Leutnant hatte sich schon hinein und die Tür hinter sich zu fallen lassen. »Arschloch.« Schnaubend stieg Drake hinten ein und machte Platz, damit Ramona nachrücken konnte.

Janes Nüstern bebten, aber sie hielt sich zurück. Die beiden waren nicht zusammen, und ihr stand es nicht zu, so mit ihrem Vorgesetzten zu sprechen. Was sie nur an ihm fand? Er musste ziemlich gut in der Kiste sein. Jane erzählte ihr nicht, worüber sie sprachen – auch weil Reden nicht unbedingt zu ihren Hauptbeschäftigungen zählte – aber sie hatte definitiv schon mehr Emotionen in die Sache investiert, als Ramona ihr geraten hätte. Sie konnte nur hoffen, dass Jane tat, was sie am besten konnte: auf sich selbst aufpassen.

Die ganze Fahrt über herrschte Schweigen. Drake starrte beleidigt aus dem Fenster, Ryan stur geradeaus und Jane nachdenklich auf ihre Hände. Ramona seufzte tief und traf Janes Blick im Rückspiegel. Fast synchron zogen sie beide eine Braue nach oben. Wenn schon eine zwanzigminütige Autofahrt in dieser Konstellation so angenehm war, wie würde dann erst ihr himmlischer Urlaub werden?

Endlich bewegten sie sich auf befahreneren Straßen und passierten die ersten Mehrfamilienhäuser, die zur Kleinstadt Krähenfeld gehörten. Ryan lenkte den Wagen so bald wie möglich in eine Seitenstraße, in der sie ohne Schwierigkeiten einen Parkplatz fanden.

Als Drake ausstieg, atmete er mit ausgebreiteten Armen ein. »Ah, Stadtluft ohne Leichenmoder«, rief er lauter als notwendig. Ein Hundegänger wandte sich mit verzogenem Gesicht zu ihm um.

»Ja, nur Abgase und Pisse«, brummte Ryan.

Ramona und Jane verdrehten wie auf Kommando die Augen. Jane hakte sich bei ihr unter und zerrte sie mit sich. »Komm, Mona. Wir lassen uns den Abend nicht verderben. Ein wenig shoppen ist gut für die Nerven und von diesen Hohlköpfen wegzukommen das einzig Richtige für den Verstand.«

»Wo du recht hast …« Ramona grinste.

Aber natürlich schlenderte Drake unschuldig pfeifend hinter ihnen her, und auch Ryan hatte offenbar keine Lust, sich seine Garderobe allein zu besorgen. Für ihren Ausflug in den Himmel würden sie anständige Kleidung benötigen. Nicht die ledernen Rüstungen und engen Kampfanzüge, die sie für Missionen und Training nutzten, ebenso wenig die Shirts, Jeans und Jogginghosen, die sie in der Stadt oder zu Hause trugen. Bei den Engeln Verdacht zu erregen, konnten sie sich nicht leisten, und es war nun einmal eine Tatsache, dass sich die wenigsten Goldaugen gern in dunklen Farben kleideten.

»Wir müssen etwas gegen deine Augen tun«, bemerkte Ryan trocken.

Drakes rubinroter Blick spiegelte sich in einem der Schaufenster. »Wieso nehmen wir sie nicht einfach raus?« Er zuckte die Achseln.

Kaltes Starren. »Würde ich. Aber auch das fällt auf.«

Bevor Drake den Augenklappenwitz, an dem er hundertprozentig feilte, vom Stapel lassen konnte, packte Jane den Leutnant am Arm. »Warum gehen wir zwei nicht in dieses Geschäft für Herrenmode dort«, sie deutete auf einen Laden auf der anderen Straßenseite, »und besorgen dir einen hübschen Anzug, während Drake und Ramona ein paar Kontaktlinsen auftreiben?« Mit aufeinandergepressten Lippen dirigierte sie Ryan über die Straße.

»So viel zur gemeinsamen Shoppingtour. Im Himmel dürft ihr zwei euch nicht so kindisch aufführen.« Ramona seufzte und nahm Drake bei der Hand.

»Kindisch? Kann ich ja nichts für, dass dieser Kerl so drauf ist.«

Ramona schüttelte den Kopf. »Lass ihn einfach sein, wie er ist. Kein Grund, den Macho raushängen zu lassen.«

Er grinste. »Dabei magst du die Machonummer doch, oder?« Er zog sie zu sich herum.

Sie entwand sich seinem Griff. »Wir kaufen dir jetzt Kontaktlinsen, Macho.«

Grummelnd folgte er ihr bis zu dem Laden, den sie dafür im Sinn hatte. Die Tür öffnete sich mit melodischem Klingeln, der Anblick drinnen erschlug sie fast. Wozu brauchte man so viele Farben?

»Meinst du nicht, dass es auffällt, wenn ich mit LSD-Regenbogen-Augen dort oben auftauche?« Drake blinzelte in überquellende Regalreihen. Unmöglich, ein einzelnes Produkt zu erkennen. Alles verschwamm zu einem knallbunten Schleier.

Trotzdem fand Ramona, was sie suchte. Es gab sogar welche in Gold. »Drake?«

»Hier!« Strahlend kam er um eine Ecke gestiefelt.

»Was ist das denn?«

»Ein Hut.«

»Das sehe ich, aber …«

»Er ist hell und ein super Sonnenschutz.«

Und gehörte vermutlich einem alternativen Indiana Jones.»Okay. Leg ihn dazu.« Es ergab keinen Sinn, über weiße Cowboyhüte mit rotem Rand zu diskutieren.

»Die sind schön, aber ich finde die, die du jetzt trägst, besser.« Fasziniert starrte die Verkäuferin in Drakes rote Augen. Ihr Haar trug die Farbe von Erdbeereis, und der Geruch, der sie umgab, unterstützte diesen Eindruck. »Die sehen auch eeecht echt aus.«

»Nett von dir. Aber auf die nächste Kostümparty gehe ich als Engel.« Drake grinste so breit, dass er seine spitzen Eckzähne entblößte.

Sie runzelte die Stirn. »Als Teufel fänd ich dich glaubwürdiger. Wieso geht nicht deine Freundin hier als Engel? Wär doch süß.«

Ramona lächelte mindestens ebenso falsch wie sie. »Zuckersüß, eine tolle Idee.« Sie knallte die Münzen auf den Tresen.

Die Verkäuferin zog die Brauen hoch, zählte und zuckte die Schultern. »Dann schöne Party.«

»Im Himmel musst du dann aber überzeugender sein.« Drake wackelte mit dem Zeigefinger vor ihrer Nase herum.

Ramona drückte ihm seinen Hut auf den Kopf. »Der Himmel wird ein ganz schöner Albtraum.«

»Die reinste Hölle.«

In der überfüllten Haupteinkaufsstraße trafen sie wieder mit den anderen zusammen. Jane hatte Ryan von einem schneidigen grauen Anzug überzeugen können und bestand nun darauf, endlich selbst mit Ramona auf Kleidungssuche zu gehen. Zu viert betraten sie eine mehrstöckige, hell erleuchtete Boutique, in der trotz der späten Stunde noch viel zu viele Menschen herumwuselten.

»Das ist ja der reinste Hindernislauf.« Drake wich gerade so ein paar vorbeistöckelnden Damen aus, die keine Notiz von ihm nahmen, sondern hastig auf die Auslagen zuhielten. »Als wollte ich ihnen etwas wegschnappen.« Kopfschüttelnd warf er sich einen der billigen Kunstpelze über, die seine Konkurrentinnen zuvor eingehend betrachtet hatten. »Puh, ist das flauschig. Hatschi!« Funken stieben auf und der Pelz fing Feuer.

»Drake, verdammt. Lösch das«, zischte Ryan. Gleich würde auch er zu qualmen anfangen. Die ersten Leute wandten sich schnüffelnd nach ihnen um.

»Nur keine Aufregung. Das ist ohnehin scheußlich.« Ohne Eile blies Drake über die winzige Flamme, die augenblicklich erlosch.

Ramona schüttelte den Kopf. »Bitte sag mir nicht, du tust das absichtlich«, raunte sie ihm im Vorbeigehen zu, so leise, dass Ryan sie nicht hören konnte. Der Leutnant hatte sich von ihnen entfernt – vermutlich, damit niemand auf die Idee kam, sie gehörten zusammen. Drake zwinkerte ihr zu und blieb ihr eine Antwort schuldig.

Jane seufzte tief. »Hier. Probier’ das an.« Sie drückte ihm ein Hemd und ein hellbraunes Tweedjackett an die Brust und schob ihn in Richtung der Umkleiden. »Sein Verhalten wird uns irgendwann den Kopf kosten.«

Ramona zuckte die Schultern. »Er ist risikobereit und hitzköpfig, aber trotzdem gut in seinem Job. Bisher ist er noch von jeder Mission heimgekehrt. Er weiß, wann Schluss ist. Die Mittelweltler nimmt er einfach nicht ernst.« Sie durchstöberte eine Reihe Röcke.

»Sollte er aber. Wir leben im Krieg, in einer Welt, in die wir nicht gehören. Wir müssen alles ernst nehmen.«

Ramona suchte sich zwei Exemplare aus und ging zu den Blusen über. »Erkläre ihm das und nicht mir. Ich finde, ein wenig Humor hat noch niemandem geschadet. Wenn wir uns nicht einmal jetzt noch eine kleine Auszeit gönnen dürfen, für welches Leben kämpfen wir dann überhaupt?«

Jane wandte sich stirnrunzelnd ab. Sie waren in diesem Krieg geboren worden und würden sehr wahrscheinlich in ihm sterben. Sie kannten kein anderes Leben und eine Zukunftsperspektive hatten sie nicht. Vielleicht überlebten sie diese Mission und erreichten damit sogar etwas. Wenn sie das Mosaik eroberten, könnte das teuflische Volk die Seelenmacht finden und an sich bringen. So würden sie die Engel schlagen und den Krieg gewinnen. Und dann? Alltag? Wie Jane gesagt hatte: Sie gehörten nicht in diese Welt. Warum sollte sich Ramona hier ein Leben aufbauen wollen? Vielleicht würde die Macht ihnen einen Weg in die Hölle offenbaren. Aber allein die Vorstellung, sie könnten ihre Mission abschließen und überleben war schon unrealistisch genug. Wozu also weiter planen als bis zum nächsten Schritt?

Dieser ließ sie straucheln und beinahe in ein volles Regal stürzen. »Huch!«

Drake fing sie auf. »Mo, Mo, Mo, deine Reflexe lassen zu wünschen übrig.« Er trug die Sachen, die Jane ihm ausgesucht hatte, und tatsächlich standen sie ihm nicht schlecht. »Na?« Er drehte sich vor Ramona hin und her.

»Noch die Kontaktlinsen dazu, und die Engelsfrauen werden sich reihenweise vor dir auf die Knie werfen«, versicherte sie und lachte über seinen ernsthaft besorgten Gesichtsausdruck.

Er grinste und zog den Hut aus einer Tüte. »Den hatte ich fast vergessen.«

»Das war es dann mit den Engelsfrauen.« Ramona schüttelte den Kopf und machte sich ebenfalls auf den Weg zu den Umkleiden.

Am Ende ihrer Shoppingtour hatten sie alle sowohl neue Sonnenbrillen als auch tageslichttaugliche Outfits vorzuweisen. Einige Flaschen Sonnencreme mit Schutzfaktor hundert brachten die Einkaufstüten fast zum Überquellen. Es war zehn vor zehn und die meisten Geschäfte läuteten den Feierabend ein.

Schweigend schritten sie durch sich leerende Gassen in Richtung der Zentrale. Das hohe Gebäude war so würdelos, dass es schon fast an eine Beleidigung grenzte. Selbst die Straßenlaterne vor dem Eingang schien es nicht für nötig zu befinden, es zu beleuchten – nicht, dass sie Licht gebraucht hätten.

Uringestank verpestete die Gasse. Vermutlich rührte der Geruch von dem Obdachlosen, der sich wenige Meter weiter in einem Hauseingang zusammengerollt hatte. Neben seinem Kopf lag eine leere Bierflasche.

Ryan schnaubte bei dem Anblick auf, und Ramona presste die Lippen aufeinander. Was konnte eine Seele so niederträchtig machen, dass man sich derart über ein fremdes Schicksal erhob? Es war viel zu leicht, in diesem Leben den Pfad zu verlieren.

Im kalten Licht des Fahrstuhls stellte Jane den Leutnant zur Rede: »Er kann doch nichts für sein Los. Sicher hatte er es sich nicht ausgesucht.«

Ryan schnaubte. »Die Ausgangslage kann man nicht immer beeinflussen. Was sie aus einem macht, schon.«

»Dann frage ich mich, wieso du und deine Ausgangslage sich dafür entschieden haben«, wisperte Drake so leise, dass nur Ramona ihn hörte. Er würde es nie zugeben, aber Ryans geballten Zorn wollte auch er sich nicht aufbürden.

Im obersten Stock wurden sie von einem Teufel mit dunkler Haut und violetten Augen erwartet. »Guten Abend. Folgen Sie mir bitte.« Er führte sie den Korridor entlang, hielt vor einer Tür inne und beschwor einen Schlüsselbund aus dem Nichts herauf.

Anders als der Fahrstuhl waren die Räume allesamt unbeleuchtet. So machte das Gebäude von außen den verlassenen Eindruck, den es bieten sollte. Der Zauberteufel bat sie, in einem kleinen Vorzimmer voller Stühle zu warten, und klopfte derweil an eine angrenzende Tür.

»Herein«, bellte eine Stimme, die auf einem Schlachtfeld wohl am besten aufgehoben wäre. Der Zauberteufel verschwand durch die Tür und kam kurze Zeit später wieder heraus. »General Guerrier und Oberst Tàolù empfangen Sie nun.« Er hielt ihnen die Tür auf und trat mit einladender Geste beiseite.

Ramona hatte bisher nur mit wenigen ihrer Vorgesetzten persönlich gesprochen, doch General Guerrier war sie schon begegnet. Er hatte sich der Rekrutierung ihrer Truppe angenommen, als die Gruft zum Stützpunkt hergerichtet worden war.

»Guten Abend. Es freut mich, dass Sie alle kommen konnten.« Der General erhob sich von seinem Drehstuhl und reichte jedem von ihnen die Hand über die Akten hinweg, die sich auf dem Tisch vor ihm stapelten. Er war ein hochgewachsener Kriegerteufel mit heller Haut, blauen Augen und einem einnehmenden, wenn auch durchtriebenem Lächeln. Unter seiner Nase kringelte sich sein wohlgepflegter Schnurrbart, der Kopf dagegen war kahl wie eine Christbaumkugel.

Neben ihm stand, nicht ganz so einschüchternd, mit schlanker Figur und pechschwarzem Haar Oberst Tàolù. Anders als Guerrier trug er keine Militärjacke, sondern einen schlichten schwarzen Anzug. Außerdem ein strahlendes Lächeln. »Leutnant Carrol. Es ist immer wieder eine Freude, Sie hier zu begrüßen.«

»Dass sich so viele von Ihnen freiwillig melden, spricht für Ihre Truppe. Setzen Sie sich doch bitte.« General Guerrier rieb sich die Hände und nickte zu den Klappstühlen auf ihrer Seite des Schreibtischs. »Vier verschiedene Gattungen. Das kann von Vorteil sein, auch wenn Sie mit ihren Fähigkeiten dort oben natürlich vorsichtig sein müssen; das Tageslicht wird Sie genug auszehren. Sie sind sich natürlich darüber bewusst, dass wir keine Möglichkeit haben werden, mit Ihnen in Kontakt zu treten? Sobald Sie die Himmelspforte durchschritten haben, sind Sie auf sich gestellt.«

Gar nicht dumm, die Fakten aufzuzählen, die sie ohnehin schon kannten: Guerrier wollte prüfen, ob sie auch keinen Rückzieher machen würden. Tja, sie würden sterben. Aber das änderte rein gar nichts. Ramona hielt seinem Blick stand.

»Wir haben Informationen, wonach sich die restlichen Teile des Mosaiks noch immer an ihrem ursprünglichen Platz befinden: im Thronsaal des Königspalastes.«

Informationen? Von vor neunzig Jahren vielleicht. Oder hatte seither nochmal ein Teufel den Himmelspalast von innen gesehen?Ramona unterdrückte ein Seufzen.

»Natürlich können wir nicht hundertprozentig sicher sein, dass sie dort noch sind, aber die Engel erwarten schließlich nicht, dass einer von uns so töricht sein könnte, ihr Reich zu betreten. Erneut.« Betretenes Schweigen.

Oberst Tàolù lächelte grimmig. »Für den Eintritt durch das Portal können wir Sie mit Täuschungszaubern ausrüsten. Trotzdem wird diese ganze Mission ausschließlich von der Authentizität Ihres Gebarens abhängen. Wir können nur Hilfestellung leisten. Die Verantwortung liegt bei Ihnen. Sie werden in den Palast eindringen müssen, und das ist ohne Erlaubnis des Königs ein unmögliches Unterfangen. Sie werden den Tyrannen selbst täuschen müssen und direkt vor seiner Nase agieren.«

»Haben Sie auch schon einen Plan entwickelt, wie uns das gelingen kann?« Drake stützte die Ellbogen auf dem metallenen Tisch ab.

General Guerrier tauschte einen Blick mit Tàolù. »Nun, darüber wollten wir mit Ihnen sprechen …«

Ramona räusperte sich. »Ich hätte eine Idee. Wenn das … erwünscht ist?«

Der General nickte ihr zu. »Bitte.«

Als sie geendet hatte, klopfte Guerrier auf den Tisch. »Diese Kreativität wird Ihnen im Himmel sicher dienlich sein, Frau Gyden. Doch bedenkt: Der Teufel steckt im Detail. Wir werden mit unserem Requisiten-Team etwas aushecken, das euch Glaubwürdigkeit verschafft.«

Dann konnte ja nichts mehr schiefgehen.

»Dein Plan gefällt mir.« Ryan musterte sie über den Spiegel im Fahrstuhl. Das grelle Licht machte die Haut um seine Narben herum wächsern.

»Danke.« Ramona straffte die Schultern. Ein Lob? War denn schon wieder Jul?

»Wir müssen uns dort oben mächtig zusammenreißen. Und vor allem dürfen gewisse … Spannungen nicht zur Nachlässigkeit führen.« Wie die meisten seiner Anordnungen klangen die Worte des Leutnants wie eine Drohung.

»Wir werden schon sehen, wer am professionellsten ist.« Drake durchschritt die Fahrstuhltüren als Erster. Jane und Ramona wechselten einen Blick. Die Zerreißprobe hatte begonnen. Mal sehen, wer in einem Stück daraus hervorgehen würde.

Draußen in der Gasse umfing sie Dunkelheit. Ramona atmete erleichtert aus.

Ein Schatten wankte auf sie zu.

»Was willst du?«, knurrte Ryan dem Obdachlosen entgegen. Schwankend kam der vor dem Leutnant zum Stehen und suchte Halt an dessen Jackenkragen. Seine Arme starrten vor Schmutz. Trotzdem hob sich das Tattoo einer dornenumrankten Messerklinge deutlich davon ab.

»Fass mich nicht an.« Ryan wollte ihn von sich schieben, aber der Fremde krallte sich fest.

»Sie warten auf … euch. Sie sind dort.« Seine Rechte zitterte durch die Luft.

War das …? Jup. Eine Gänsehaut überzog Ramonas Nacken. Sie zückte ihr Messer.

Jane und Drake fuhren herum. Ryan stieß den Obdachlosen von sich und riss sein Schwert aus dem Rucksack. Keine Sekunde zu früh. Er lenkte den Sternensplitter mit einem Schlag ab. Das Geschoss traf die Bierflasche. Klirren. Sternenglut erstarb im Spiegel Tausender Scherben. Jane ballte die Fäuste. Nebel stieg aus dem Asphalt und umhüllte sie wie ein Schutzwall.

Da. Ein Glimmen in einem Hauseingang. Ramona kannte es zu gut. Der Lauf einer Sternsplitterpistole beim Nachladen. Sie schleuderte das Messer. Ein Ächzen. Das Glimmen erlosch.

»Leichtsinnig, diese Späher«, murmelte Drake. Zwischen seinen Fingern sprangen Funken umher, doch ertranken im Nebel, bevor sie sich entfalten konnten.

Dort, hinter der Mülltonne. Hektisches Rascheln. Mit erhobenem Schwert stürmte Ryan darauf zu. Ein Lichtstrahl durchschnitt die Nacht, streifte Ryans Arm. Der Leutnant heulte auf. Aber er bremste nicht, bohrte dem Engel das Schwert in den Bauch und faltete ihn zusammen wie einen Klappstuhl. Der Engelslaser schepperte ihm aus der Hand und rollte unter die Mülltonne.

Waren da noch mehr? Ramona schlich auf ihr Opfer zu. Glassplitter knirschten unter ihren Sohlen. Tatsächlich nur ein Späher. Er trug nicht einmal eine Rüstung. Sie kickte ihm die wuchtige Waffe aus der Hand, zog das Messer aus seiner Brust. MorsMollis nannte sie die Knochenklinge. Angeblich besaß jeder Todesteufel eine von der Sorte. Und wenn man den Legenden Glauben schenkte, tötete sie schmerzlos.

Jane kniete sich neben den Obdachlosen, der zuckend am Boden lag. »Da ist Blut an seiner Jacke. Sie haben ihn angegriffen.«

Ramona funkelte Ryan an. »Hab ich auch gesehen. Er wollte uns nur helfen. Hat uns wahrscheinlich das Leben gerettet.«

Ryan zuckte die Achseln. Blut, Darmreste und Scheiße troffen von seiner Klinge auf den Asphalt. »Sehr ritterlich. Leider auch ziemlich dumm. Er wird es nicht schaffen. Das Blut ist bereits in den Lungen.« Es schäumte, warf Blasen um seinen Mund.

»Geh beiseite.« Ramona schob sich an ihrem Vorgesetzten vorbei. Sie konnte die Galle schon schmecken, die der Zorn in ihr hochtrieb. Sie ließ sich zu Jane auf den Boden sinken und sah dem Mann in die trüben Augen.

Röchelnd streckte er ihr eine Hand entgegen; am Zeigefinger steckte ein kupferner Ring. Seine Haut war klebrig und kalt. Sanft strich sie darüber. »Gleich ist es vorbei.« Sie zog ihm das Messer über die Kehle. Ein sauberer Schnitt, ein gnädiger Tod. Sein Ende zupfte an ihrer Seele. Sie müsste … mit ihm gehen? Ihn hinüberbegleiten, das Grau durchschreiten … Sie blinzelte, schüttelte den Kopf, erhob sich. Was waren das für bescheuerte Gedanken? Das Ganze nahm sie mehr mit, als gut für sie war.

»Ich werde General Guerrier hiervon in Kenntnis setzen und fragen, wie wir mit dieser Sauerei verfahren sollen.« Ryan zückte sein Telefon. Mit einem Schnappen sprang es auf. Die Wunde an seinem Arm leuchtete rubinrot im Schein des Displays. Ramona runzelte die Stirn. Der Kerl war glatt wie Glas. Was würde passieren, wenn ein Splitter ihn traf?

Kapitel 4: Kindheitsträume

Hinter Neal betraten Cherry und Lenia die kleine Wohnung. Sie lag im Dachgeschoss eines schmalen Reihenhauses, dessen graue Fassade sich etwas krumm in die Wolken wand. Nach dem Fußmarsch durch die überfüllten Straßen des Himmels und den unzähligen Treppen, die sie soeben hinter sich gebracht hatten, blieb Lenia atemlos im Türrahmen stehen. »Wem gehört sie?« Ihr Blick glitt durch das erste Zimmer. Ein eingestaubter roter Polstersessel, ein vollgestopftes Bücherregal, an der Wand daneben ein angerosteter Degen.

»Dir«, antwortete Neal selbstverständlich.

»Nein. Das ist Unsinn. Jemand muss doch hier leben. Sie sieht nicht verlassen aus.« Aber auch nicht bewohnt. Dicke Spinnweben zierten die Fensterbank.

»Sie gehörte Greg Formers.«

»Und wo ist er?« Cherry lugte in den Flur, der sich dem Wohnzimmer anschloss.

Lenia stieß sich vom Türrahmen ab, um das Bücherregal in Augenschein zu nehmen, überflog nacheinander die Aufschriften. Krieger der Wolken lautete ein Titel. Sie zog ihn heraus. In der Palastbibliothek gab es wenig Unterhaltungsliteratur. Hauptsächlich alte Schriften, bedeutende Lehrbücher mit staubtrockenen Texten – und natürlich Bibeln. Sehr, sehr viele Bibeln.

»Er wurde getötet.«

Lenia zuckte so heftig zusammen, dass sie das Buch fallen ließ. Dumpf kam es am Boden auf. »Getötet? Von wem?« Sie entfernte sich rasch von den alten Möbeln, fast fürchtete sie, daran Blutflecken zu entdecken.

»Er hat den falschen Leuten vertraut. Das reicht in diesen Zeiten schon. Seht das lieber als Warnung, euch so bedeckt wie möglich zu verhalten.«

In Lenias Brust wurde es eng. »Und wie kommst du an seine Wohnung?« Vielleicht wollte sie das alles gar nicht wissen.

»Über eine Art … Organisation. Diese Wohnung wurde zur Verfügung gestellt und für einen solchen Fall vorbereitet.« Ein wenig konfus gestikulierte er in Cherrys und Lenias Richtung.

»Einen solchen Fall?«

»Geflohene Sklaven.« Cherry legte ihr sanft eine Hand auf den Arm. »Das bedeutet, diese Wohnung ist ein sicherer Ort.«

»Fürs Erste.« Neal runzelte die Stirn. »Essen ist im Kühlschrank, Kleider und Bettzeug sind in den Schlafzimmern, Waschsachen im Bad und Geld in der Kommode. Und hier«, er kramte in der Hosentasche seines silbernen Anzugs herum, »sind die Schlüssel.«

Lenia nahm den Bund entgegen und senkte die Lider. »Ich kann all das nicht annehmen. Das ist nicht für mich gedacht, sondern für Leute, die vor mir fliehen. Wenn deine Organisation wüsste –«

»… sie wissen es nicht. Und die Sklaven fliehen nicht vor dir. Du bist nun eine von uns, das werden die anderen einsehen.« Für seine Verhältnisse sprach Neal sehr sanft und verständnisvoll. Er zog sie in eine kurze Umarmung, die sie unter anderen Umständen in Hochstimmung versetzt hätte.